Tote Hose - Ray Müller - E-Book

Tote Hose E-Book

Ray Müller

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Beschreibung

Eine Leiche im Starnberger See, mitten im Winter, bei Schneesturm. Kommissar Anton Maria Biersack von der Münchner Mordkommission will eigentlich gerade sein Liebesleben wieder aktivieren. Doch der tote Schwarze in Lederhosen hat Vorrang, und so lässt der Kommissar seine Verabredung bereits beim ersten Rendezvous stehen und übernimmt die Ermittlungen. Seine Recherchen führen ihn in Münchens Schickeria und den südlichen Speckgürtel der Stadt, wo er herausfinden wird, was Schwarze Magie mit Bayern, Jazz mit Rioja und Schönheitschirurgen mit organisiertem Verbrechen zu tun haben. Spannend, lässig, bayerisch.

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Seitenzahl: 405

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Ray Müller

Tote Hose

Ein Kriminalroman vom Starnberger See

LangenMüller

© 2013 LangenMüller in der

F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Wolfgang Heinzel

Umschlagfoto: Ray Müller

Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering

ISBN 978-3-7844-8149-4

www.langen-mueller-verlag.de

»Ich weiß ehrlich nicht, was die Leute meinen,

wenn sie von der Freiheit des menschlichen

Willens sprechen.«

Albert Einstein

Kapitel 1

Hauptkommissar Anton Maria Biersack hatte Angst. Das kam in seinem Leben nicht oft vor, aber er war jetzt in einer Situation, die in seinem Leben auch noch nicht oft vorgekommen war, genauer gesagt nie.

Die Rahmenbedingungen waren nicht ungewöhnlich, er saß in einem Café in der Schellingstraße. Ungewöhnlich war eher die innere Spannung, die sich von Minute zu Minute verdichtete und in seinem Magen einen merkwürdigen Druck erzeugte. Abi, wie die Kollegen seinen Namen freundschaftlich verkürzten, mochte diesen Druck nicht. Er hatte sich auf etwas eingelassen, worin er keinerlei Erfahrung hatte, und er fragte sich langsam, ob das alles nicht eine dumme Idee war.

Blind date – das klang ja auch nur auf Englisch geheimnisvoll.

Natürlich war Waldfee, wie sie sich im Internet nannte, am Telefon sehr nett gewesen. Auch dass sie kein Foto in ihr Profil gestellt hatte, fand er sympathisch, das klang nach einer selbstbewussten Frau, die sich nicht öffentlich zur Schau stellen wollte. Die den Mut hatte, Dinge anders zu machen als die meisten Kandidatinnen, die sich auf den Webseiten der Kontaktbörse Parship tummelten.

Sich beim ersten Treffen zum Lunch zu verabreden – Mittagessen klang ihm zu sehr nach Kantine –, ging auf einen Rat seines Kollegen Herbert zurück, der ihn zu dieser Aktion überredet hatte und der bei der Partnersuche im Cyberspace auf einschlägige Erfahrungen zurückblicken konnte.

»Wenn sie schiach ist, kannst immer schnell gehen. Hast halt nur eine kurze Mittagspause, die Arbeit ruft und so. Doch abends hockst du fest, da kannst nicht aus. Und glaub mir, ein Dinner mit einer Greislichen ist die reinste Folter. Da kannst’ nur noch einen Herzinfarkt simulieren.«

Immer wenn die Tür zur Straße aufging, klopfte dem Hauptkommissar das Herz bis zum Hals. War sie es oder war sie es nicht? Als eben die korpulente Matrone mit dem giftgrünen Ledermantel und den zwei Aldi-Tüten durch die Drehtür kam und sich so verdächtig umgesehen hatte, hatte er sich spontan hinter der Zeitung versteckt. Zum Glück suchte die Dame nur eine Toilette. Er überlegte, wie er sich im schlimmsten Fall verhalten würde. Die Frauen seines worst-case-Szenarios sahen entweder aus wie eine Mischung aus Doris Day und einer betagten buddhistischen Nonne oder sie hatten diese kumpelhafte Unbekümmertheit mancher TV-Moderatorinnen, deren sinnloses Geplappere man im wirklichen Leben wohl nur durch Mord im Affekt abstellen konnte. Und die Vollschlanken, die gingen gar nicht. Obwohl er sich dabei immer etwas schämte, denn so ein Vorurteil grenzte natürlich an ästhetischen Rassismus. Aber er konnte nicht anders, damit mussten er und die Dicken leben. Wieder drehte sich die Glastür. Eine grazile Schönheit betrat den Raum. Der Kommissar legte die Zeitung weg und richtete sich auf.

Das könnte sie sein, blond, schlank, mit einem hautengen Pulli und einer Jeans, die ihre langen Beine betonte und den lässig-lasziven Gang dazu. All das vielleicht ein wenig zu elegant für seine Gehaltsgruppe, doch so emanzipiert, wie Waldfee war, würde sie über solche Nuancen hinwegsehen. Zielstrebig ging die Dame auf den Kommissar zu und winkte. Dieser erhob sich und setzte sein charmantestes Lächeln auf. Vor Aufregung hatte er feuchte Hände, die er schnell an der Tischdecke abwischte.

Eine unnötige Maßnahme, denn je näher die schöne Unbekannte kam, desto mehr schien sie durch ihn hindurchzulächeln. Der Kommissar drehte sich um. Das Lächeln galt dem smarten jungen Mann am hinteren Tisch, der jetzt seinen Laptop zuklappte und die Dame heftig umarmte.

Der Kommissar setzte sich wieder. Er sah auf die Uhr, seine Fee war bereits acht Minuten zu spät. Die meisten Tische im Café waren inzwischen besetzt. Viele Studenten, einige Rentner und dazwischen ein paar blasse Büromenschen im dunklen Businessanzug, wohl aus den umliegenden Banken und Versicherungen. Ein etwas verwahrloster Typ mit Jeanshemd, Hornbrille und Vollbart tippte in die Tastatur seines Computers und schaufelte dabei Tagliatelle mit Lachsstreifen in sich hinein. Immer wieder tropfte Sauce auf die Tasten, die er mit dem Zeigefinger wegwischte und diesen dann, ohne hinzusehen, ableckte.

Zwei ältere Damen, die rechts von ihm saßen, löffelten ihr Risotto an Mousse vonRoten Beten, während ihr weißer Pudel unterm Tisch nach Speiseresten schnüffelte. Der Kommissar stand auf und ging zur Toilette. Nicht weil er musste, sondern weil er einen Blick in den Spiegel werfen wollte. Als »kerniger Typ« hatte er sich beschrieben, sportlich und tatkräftig, »gereift im Spannungsfeld des Lebens«, optimistisch – das war gelogen – und genussfreudig, also irgendwie zwischen Epikur und Dionysos. Diesen Tipp hatte er von Herbert. Frauen liebten Poesie und Bildung sowie kulinarische und erotische Kompetenz, die man anfangs allerdings diskret zu vermitteln habe.

Als er im Waschraum der Herrentoilette stand, überkamen ihn Zweifel. Irgendwie verlieh die preiswerte Fielmann-Brille seinem rundlichen Gesicht und dem großen Kopf mit den schütteren Haaren einen biederen Ausdruck.

Kein hartgesottener Ermittler der Mordkommission, eher ein Erdkundelehrer aus Passau. Nur die kleine Narbe am Kinn, Spur einer Verhaftung, bei der ein Verdächtiger plötzlich mit dem Messer auf ihn losgegangen war, konnte als kleines Indiz eines nicht ganz so biederen Berufs durchgehen. Das bewegte und manchmal auch aufregende Leben, das er führte, sah man ihm nicht an. Irgendwie war das ungerecht.

Natürlich hatte er sich heute etwas zurechtgemacht, blauer Blazer, weißes Hemd, ein lila Schal, der ihm etwas schwul vorkam, aber die Farbe war ja »in«. Dazu eine Jeans, die am Bauch so eng war, dass er am Tisch den oberen Knopf locker machte, um wenigstens einigermaßen sitzen zu können. Doch das half alles nichts. Anton Maria Biersack sah aus wie der Beamte, der er war. 53 Jahre alt, gut in Form, aber eben nicht mehr jung. Bald schon ein Auslaufmodell.

Er wusch sich das Gesicht. Dabei tropfte Wasser auf seine Hose, ausgerechnet in den Schritt. Das musste er mit der Zeitung abdecken. Und wenn schon. Auf Kleinigkeiten kam es nicht an. Mehr sein als scheinen, da war er sich mit der Telefonfee gleich einig gewesen. Das ganze Lifestyle-Getue schien ihr genauso zuwider zu sein wie ihm. Gott sei Dank.

Er zog den Hemdkragen etwas auseinander, damit seine Brusthaare sichtbar wurden, kämmte die wenigen Haare, die ihm blieben, kühn nach hinten und verließ den Raum.

Als er wieder zurück an seinen Tisch ging, wäre er fast über die Hundeleine gestolpert, denn der Pudel der beiden alten Damen ging nun unter seinem Tisch auf Nahrungssuche. Mit dem rechten Fuß schob er das Tier beiseite. Es bellte erschrocken und lief mit eingezogenem Schwanz zurück zu den Damen, die ihm, dem Rohling, sogleich missbilligende Blicke zuwarfen.

Der Kommissar sah wieder auf die Uhr. Schon 13 Minuten zu spät. Wie lange würde er warten? Welche Zeitspanne war angemessen, welche hingegen verletzte die männliche Würde und konnte nicht hingenommen werden?

Er hatte keine Ahnung. Dafür hatte er langsam Hunger. Der Kommissar, der gerne kochte, wenn ihm dafür Zeit blieb, was nicht allzu oft der Fall war, studierte die Speisekarte. Vielleicht sollte er schon etwas bestellen, denn wenn die Dame gar nicht käme, hätte er wenigstens gegessen Er entschied sich für Mozarella mit Rucola und Serranoschinken, denn dazu passte ein Glas Rotwein. Mittags trank er normalerweise nie, doch das war kein normaler Tag. Außerdem hatte er das Gefühl, dass das seiner Psyche jetzt nicht schaden konnte. Überhaupt wunderte er sich, was so alles in ihm vorging.

Er, der in seinem Leben eine Menge Leichen gesehen, Sterbende in den Armen gehalten, Eltern von Ermordeten getröstet hatte und zweimal sogar auf Angreifer schießen musste, hatte plötzlich einen flatternden Puls. Weil er mit einer Frau Mittagessen sollte.

Ein Kratzen am Schuh des linken Fußes irritierte ihn. Er sah nach unten, der Pudel war zurück und zerrte mit den Zähnen an seinen Schuhbändern. Der Kommissar griff nach seinem Wasserglas, das noch halb voll war und beugte sich unter den Tisch. Grimmig schüttete er die Flüssigkeit über das Tier. Der Hund zuckte zusammen und rannte winselnd davon. Er stellte das Glas auf den Boden und schnürte sich den Schuh zu. In diesem Augenblick ertönte über ihm eine Stimme.

»Das ist der Anton, stimmt’s?«

Der Kommissar fuhr hoch, sein Kopf schrammte gegen die Tischkante. Ein kurzer Schmerz zuckte durch seine Schläfen, dann richtete er sich auf. Vor ihm stand eine große, hagere Frau von etwa 45 Jahren, mit langen, lockigen Haaren, in die sie frische Blüten gesteckt hatte. »Ich bin Hildegard, die Waldfee.« Die Stimme war etwas schrill. Ihr Gesicht, das trotz der Falten fast kindlich wirkte, strahlte.

»Woher wissen Sie, dass ich …?«

Die Dame zeigte auf die grüne Baseballmütze, die auf dem Stuhl hing und die sie als Erkennungszeichen vereinbart hatten. »Ach so.« Er versuchte ein Lächeln. Sie nahm die Mütze hoch und las die Aufschrift »San Francisco.«

»Wie schön, ich reise ja auch so gerne.« Das Lächeln des Kommissars verschwand. »Hat mir ein Kollege mitgebracht«, murmelte er und sah sich sein Gegenüber genauer an. Hildegard trug einen bunten, etwas ausgeleierten Strickpullover, über dem eine dicke Kette baumelte. Sie hatte einen afrikanischen Einkaufskorb aus dem Dritte-Welt-Laden dabei, gefüllt mit Obst und Gemüse. Ganz oben lag eine rote Rose. Sie stellte den Korb auf den Stuhl, nahm die Blume und überreichte sie dem Kommissar. »Für dich, Anton.«

Ihm blieb nichts anderes übrig, als das stachelige Ding zu nehmen, auch wenn er nicht wusste, was er damit machen sollte. »Später darfst du mir ja welche schenken.« Der Kommissar bemerkte, dass die Gäste an den umliegenden Tischen die Szene mit Interesse verfolgten. Er, der seit Jahrzehnten nicht mehr errötet war, wurde rot.

Hildegard beugte sich vor und musterte sein Gesicht.

»Mein Gott, du blutest ja.«

Bevor er reagieren konnte, hatte sie ein etwas altmodisches Stofftaschentuch aus einem Lederbeutel geholt und tupfte damit seine Schläfe ab. Nun erwachte der Kommissar aus seiner Erstarrung. »Lass das. Das ist doch nichts.« Er warf die Rose auf den Tisch, packte die Hand mit dem Tuch und zog sie sanft, aber unnachgiebig zur Seite. Dann wusste er nicht mehr weiter. Hildegard anscheinend auch nicht, denn für einen Augenblick war es still.

Nun bellte der Pudel.

»Setz dich doch«, flüsterte der Kommissar. Doch dann spürte er, dass noch etwas fehlte. »Und – guten Tag übrigens.« Etwas hilflos streckte er seine Hand aus, welche Hildegard mit beiden Händen drückte. Dabei sah sie ihm in die Augen.

»Ich freu mich ja so.« Der Kommissar senkte den Blick. An den Fingern ihrer Hände steckten indische Ringe. Er setzte sich, denn das war die beste Methode, seine Hand wieder frei zu bekommen. Hildegard nahm ebenfalls Platz, sie überragte ihn deutlich. Im nächsten Augenblick legte sie die linke Hand auf seinen rechten Unterarm und schloss die Augen.

»Ich wusste es. Du strahlst gutes Karma aus.«

Um sich aus ihrem Griff zu lösen, griff er nach der Speisekarte und reichte sie weiter.

»Ich hab schon bestellt, such dir was aus«, hörte er sich sagen und wunderte sich, wie leicht ihm das von den Lippen kam. Sie schob die Karte von sich und beugte sich nah zu ihm, etwas zu nah.

»Such du mir doch was aus«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Aber keine Tiere.« Dann, mit Blick auf das Weinglas, etwas schärfer: »Und natürlich keinen Alkohol.«

Der Kommissar nickte.

»Haben die Mango-Lassi?«

Er wusste nicht, was ein Mango-Lassi war, und es war ihm auch egal. Seine Hände waren wieder feucht, auf seiner Stirn perlte Schweiß, obwohl es im Raum kühl war. Um Zeit zu gewinnen, gab er vor, die Karte zu studieren.

Er hätte mit Herbert einen Notruf vereinbaren sollen, zur Sicherheit, so nach zehn Minuten. Eine Art rescue-call, wie ihn Prostituierte mit ihrem Zuhälter vereinbaren, bevor sie in fremde Wohnungen fahren.

Hildegard rückte näher. Ihr Atem hatte einen eigenartigen Geruch, den er aber nicht definieren konnte, denn er wurde von indischen Essenzen überlagert. Die kannte er zwar auch nicht, stellte sie sich aber giftgrün oder zumindest in exotischen Farben vor. Er warf einen Blick unter den Tisch. Ihre schlanken Füße steckten in lila Wollsocken, die in Wanderschuhen steckten. Hildegard legte die Hände auf den Tisch.

»Ich finde, du siehst nett aus. Ganz so, wie ich mir dich vorgestellt habe, nach unseren Mails. Und den langen Telefonaten. Da warst du ja schon richtig romantisch.« Beim letzten Satz wurde ihre Stimme so laut, dass sich die Köpfe der Business-Gäste neugierig hoben, sogar der bärtige Computerfreak blickte kurz von seinem Monitor auf.

Der Kommissar stutzte. Er war sich ganz sicher, nicht romantisch gewesen zu sein.

Das war keine seiner herausragenden Eigenschaften, obwohl Herbert ihn immer darauf hingewiesen hatte, dass dies bei Paarungsversuchen die halbe Miete wäre. Vielleicht verwechselte sie ihn. Angeblich nahmen in der Schnupperphase – vielleicht auch noch danach – Frauen in der Partnerbörse gerne Kontakt zu mehreren Anwärtern zugleich auf. Und umgekehrt natürlich ebenfalls.

Den Kommissar schauderte es. Die Idee, an einem Wochenende mehrere solcher blind dates abarbeiten zu müssen, erschien ihm wie eine Einladung ins Fegefeuer.

»Darf ich dich etwas fragen?«, unterbrach ihre Stimme seine Überlegungen.

»Nur zu.« Er sah sie nicht an, sondern fixierte weiterhin die Karte, ohne wirklich darin zu lesen. »Jetzt mal ganz ehrlich.« Diese Einleitung hätte ihn warnen sollen. »Wie findest du mich? Entspreche ich deinen Erwartungen, wenigstens ein bisschen?«

Der Kommissar spürte, dass er wieder rot wurde. Er drehte sich zu ihr. Augen, die ihn erwartungsvoll anstrahlten, Hände, die nervös mit den Ringen spielten, ein Mund, der ein verwundbares Lächeln wagte.

Da er keine Worte fand, sagte er nichts. Doch insgeheim fragte er sich, ob er sich jemals so elend gefühlt hatte wie in diesem Augenblick.

Dann geschah das, womit er nicht mehr gerechnet hatte. Sein Telefon läutete. Einer Feder gleich, die aus der Halterung schnellt, sprang er auf und entfernte sich ein paar Schritte vom Tisch. Dabei suchte er so hastig nach dem Gerät in der Tasche seines Sakkos, dass er sich verhedderte. Noch bevor er das Telefon ans Ohr drücken konnte, vernahm er die rettende Stimme. »Hallo Chef, ich will ja jetzt nicht stören.« Hier machte sein Kollege Herbert eine Pause, um seiner Verantwortung als Mitwisser nachzukommen. »Wirklich nicht.«

»Du störst nicht, verdammt noch mal«, zischte der Kommissar ins Mikrofon und wanderte Richtung Garderobe. »Es tut mir leid. Aber da ist ein Toter. Im Starnberger See. Taucher haben die Leiche eben geborgen.«

»Danke. Bin schon unterwegs.« Er nahm seinen Mantel vom Haken und lief zurück zum Tisch.

»Ich muss weg, sofort. Die haben jemanden gefunden.«

Anton bemühte sich, seine Erleichterung zu verbergen, was ihm nicht ganz gelang. Hildegard starrte ihn mit großen Augen an, ihr Blick eine Mischung aus Enttäuschung und Faszination.

»Eine Leiche? Tot?«

»Das sind Leichen eigentlich immer«, flüsterte er und legte diskret einen Geldschein auf den Tisch. Hildegard öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch es war zu spät. Der Kommissar war bereits an der Tür, winkte noch einmal kurz und stürzte hinaus auf die Straße. Es regnete, doch das bemerkte er nicht.

Nach ein paar Schritten blieb er stehen und atmete tief durch. Er kam sich vor wie ein zum Tode Verurteilter, bei dessen Hinrichtung im letzten Moment das Beil der Guillotine geklemmt hatte. Am liebsten hätte er seinen Kollegen umarmt, obwohl ihm dieser alles eingebrockt hatte. Oder die rettende Leiche, aber das wäre zu viel des Guten und gegen die Vorschrift.

Kapitel 2

Nach der dritten roten Ampel auf der Fürstenrieder Straße, die grundsätzlich nur aus roten Ampeln bestand, klemmte er das Blaulicht aufs Dach und fuhr zügig auf der linken Spur Richtung Autobahn. Es regnete stärker.

Während der Scheibenwischer monoton seine Spuren über die Windschutzscheibe zog, dachte Kommissar Anton noch einmal an die »blinde« Verabredung, der er jetzt glücklich entronnen war. Natürlich hätte er gerne wieder ein weibliches Wesen an seiner Seite gehabt, oder wenigstens im Bett. Seit sich seine Frau für einen anderen entschieden hatte und die gemeinsame Tochter bei ihrem Freund in Dänemark lebte, hatte er viele einsame Nächte verbracht. Zu viele.

Auch wenn die unregelmäßigen Arbeitszeiten ihn manchmal vor dem Trübsinn bewahrten, ganz verdrängen konnten sie ihn nicht. Und dass Petra gerade auf einen Investmentbanker reingefallen war, empfand er als persönliche Kränkung. Es war wie ein schlechter Witz, und deshalb hatte er niemandem die Wahrheit erzählt. Er sprach nur von einem Geschäftsmann, der viel unterwegs war. Dass der Typ das Hundertfache von ihm verdiente, musste ja nicht jeder wissen. Abgesehen davon, wie kam ein Mann, der jede junge Frau haben konnte, ausgerechnet auf eine Frau wie sie?

Schon dass sie sich überhaupt begegnet waren, war einer dieser unmöglichen Zufälle gewesen. Schließlich spielte Petra nicht Golf, flog nicht erster Klasse, wobei sie überhaupt selten flog, und zum Flughafen fuhr sie an diesem Tag nur, um die Tochter abzuholen, die aus Kopenhagen kam.

Die Maschine war verspätet, deshalb ging sie ins Bistro, um bei einem Cappuccino die Zeit abzusitzen. Der Typ, dessen Abflug ebenfalls verspätet war, hatte die gleiche Idee. Warum hatte er sich nicht in die Businesslounge verkrochen, wo er hingehörte?

Zugegeben, Petra sah mit ihren 38 Jahren noch verdammt attraktiv aus. Schließlich konnte sie jetzt, wo die Tochter aus dem Haus war, sich ihrem Körper ungestört widmen: Yoga, Pilates, Qi-Gong, Nordic Walking. Manchmal auch Bauchtanz oder Tango. Klar, sie war fit. Und frech, jedenfalls manchmal, und wenn sie frech war, war sie sehr sexy. Vielleicht war sie ja dem Banker gegenüber frech gewesen. Der war das bestimmt nicht gewohnt, Typen wie der waren das Reden wahrscheinlich überhaupt nicht gewohnt, sie starrten ja den ganzen Tag auf ihre Zahlenreihen im Computer. Ein Cyber-Autist eben. Was hatte ihr an so einem Gestörten überhaupt gefallen? Zugegeben, Anton hatte Petra in letzter Zeit etwas vernachlässigt. Wenn man pingelig war. Aber in einer guten Ehe war man das nicht. Ob sich der reiche Autist besser um sie kümmerte?

Er hatte kaum mehr Kontakt mit ihr. Sie lebte mit diesem Mann jetzt offshore, in Guernsey. Bisher hatte Anton gar nicht gewusst, dass es eine Insel mit einem solchen Namen überhaupt gab.

Seitdem lag ihm Herbert mit seiner virtuellen Kontaktbörsein den Ohren, als ob er eine Aktie wäre. Und seine Tochter sah das auch. »Du bist doch noch rüstig.« Das hatte er als Beleidigung empfunden. Rüstig waren Achtzigjährige, aber nicht Männer, die fast noch im Zenit standen. Und noch etwas hatte sie gesagt.

»Papa, du bist zwar nicht George Clooney, aber innen drin, wo’s keiner sieht, da bist du lieb. Und sogar attraktiv.«

Sogar! Und: Wo’s keiner sieht! Das hatte ihn, den hartgesottenen Kriminaler, irgendwie traumatisiert. Wie sollte er je wieder einer Frau gegenübertreten, wenn seine Werte unsichtbar waren? Vor allem –waswar denn dann sichtbar? War er erotisch eine no-name-Packung, die man nimmt, wenn man nichts Besseres mehr kriegen kann?

Er stellte den Scheibenwischer eine Stufe höher und versuchte, sich aus seinem gedanklichen Labyrinth zu befreien. Die Leiche wurde zwischen Ambach und Ammerland gefunden, also an der ruhigen Ostseite des Sees, dem privilegierten Ufer, wo alte Villen aus der Gründerzeit neben den immer zahlreicheren, aber selten geschmackvollen Prachtbauten der Neureichen standen.

Als er in Münsing links abbog, begann es zu schneien. Er fragte sich, wer bei diesem Sauwetter auf die Idee kommen konnte, im See zu tauchen. Wahrscheinlich war es der deutsche Prinzipienkult. Samstag ist Tauchen angesagt, ob bei Sonne oder Schnee, bei einem Taifun oder Erdbeben, das war egal.

Sobald er den Wagen der Kollegen und den des Notarztes auf der Uferstraße sah, parkte er seinen zwischen den Bäumen. Herbert wartete inmitten einer Gruppe von Tauchern, die unbeholfen in ihren Anzügen herumstanden. Das Schneetreiben hatte zugenommen. Im dichten Flockenwirbel waren frierende Leute im Gummianzug ein bizarrer Anblick.

Herbert löste sich aus der Gruppe und kam Anton entgegen. Er schüttelte betrübt den Kopf: »Wirklich Chef, das wollte ich nicht. Gerade beim ersten Gespräch, wo man sich erst einfühlen muss.«

Der Kommissar unterbrach ihn: »Kein Wort mehr darüber.«

Herbert zeigte sich sichtlich betroffen und nickte mitfühlend: »Verstehe, sie war greislich.«

»Geht dich das was an?« Der Kommissar musterte den Kollegen scharf. »Also, wo ist sie?« Dieser verstand nicht sofort. »Die Leiche«, knurrte sein Chef ungeduldig.

Kriminalhauptmeister Herbert Knorr zeigte wortlos auf einen Körper, der neben dem Notarztwagen unter einer Decke am Boden lag. Anton kniete sich nieder und zog das Tuch zurück. Vor ihm lag ein großer, kräftiger Mann, das Gesicht vom Wasser aufgedunsen. Die Augen waren weit geöffnet und starrten ins Leere, das nasse karierte Hemd klebte am Oberkörper. Doch was den Kommissar wirklich überraschte: Der Tote war ein Schwarzer. Und er trug eine kurze Lederhose.

»Ein bayerischer Neger«, murmelte Herbert.

Es schneite jetzt so heftig, dass das schwarze Gesicht des Toten langsam weiß wurde.

»Sonst noch was Auffälliges?«, murmelte der Kommissar, dem der lakonische Humor seines Kollegen manchmal auf die Nerven ging. Außerdem begann er zu frieren, denn er hatte seinen Mantel im Auto gelassen.

Der Kollege wuchtete den Toten auf den Bauch. Dann wies er mit dem Finger auf eine Wunde am Hinterkopf. »Der war wahrscheinlich schon vorher tot.« Nun drehte er den Toten wieder um. »Die Leiche war mit Gewichten beschwert, aber eins hat sich gelöst. Deshalb trieb der Körper unter Wasser dahin.«

»Und wer hat ihn gefunden?«

Herbert zeigte auf ein blondes Mädchen in der Gruppe der Taucher, das zitternd dastand, ob noch vor Schreck oder wegen der Kälte, war nicht ersichtlich. Wahrscheinlich beides. Der Kommissar ging zu ihr.

»Erzählen Sie mir bitte noch einmal, was Sie gesehen haben. Aber nur kurz, denn Sie müssen sich dringend umziehen, sonst werden Sie krank.«

Das Mädchen, das bereits blaue Lippen hatte und zu husten begann, wiederholte, was sie bereits zu Protokoll gegeben hatte. Dass die Leiche in etwa fünfzehn Metern Tiefe plötzlich aufgetaucht war und dicht an ihrer Taucherbrille vorbei im Wasser dahintrieb. Zuerst hatte sie das für eine Halluzination gehalten.

»Es war ja sowieso schon so dunkel, und dann kommt da dieses seltsame Etwas, das du erst gar nicht als Mensch erkennst, weil es doch auch schwarz ist. Und dann kam der Schock. Und du kannst ja nicht schreien. Und dann war die Luft weg und dann…«

Ein kräftiger blonder Mann trat vor und unterbrach den Redefluss.

»Claudia hielt den Atem an. In Panik. Kann man verstehen, darf man als Taucher aber nicht. Dann wollte sie ihre Weste aufblasen, um schnell hochzukommen, soll man auch nicht. Da verwechselte sie auch noch die Knöpfe und sackte nach unten. Deshalb hielt sie sich an den Füßen des Toten fest.«

»Sind Sie der Tauchlehrer?«, fragte der Kommissar.

»Richtig. Bernd Stammer.«

Er streckte die Hand aus, was der Kommissar in diesem Moment nicht unbedingt angebracht fand. Die Augenzeugin setzte ihren Bericht fort.

»Den anzufassen, mein Gott, das war so schrecklich, da war’s dann ganz aus. Ich hab mein Mundstück verloren, hab nix mehr gesehen und wär dann fast selber dran gewesen.«

Der Tauchlehrer hob beschwichtigend die Hand.

»Na ja. Standardsituation. Ich war natürlich gleich da. Buddy-Breathing und dann langsam auftauchen. Üben wir ja dauernd.«

Der Kommissar fror jetzt erbärmlich. Die Selbstsicherheit seines Gegenübers ging ihm auf die Nerven. »Eine Standardsituation? Ich muss gestehen, für mich nicht. Auch wenn mir Tote sozusagen berufsmäßig nahe stehen.«

Er trat einen Schritt vor und legte dem Mädchen beruhigend die Hand auf die Schulter. »Ich glaube, das haben Sie ganz gut gemacht. Jetzt ziehen Sie sich endlich was Warmes an. Mein Kollege wird später noch einmal auf Sie zukommen.«

Den Tauchlehrer wollte er ignorieren, doch nachdem er sich ein paar Schritte entfernt hatte, kehrte er noch einmal um.

»Sagen Sie mal, warum tut man sich das an, Tauchen im Schneetreiben?«

Der Angesprochene sah ihn überrascht an.

»Das Wetter spielt doch keine Rolle, im Wasser gibt’s kein Wetter mehr.«

»Und was sieht man dann?«

»Nichts.«

Der Kommissar versuchte sich das Nichts vorzustellen, es gelang ihm nicht.

»Das heißt, wir haben natürlich Lampen, aber in diesem See gibt es sowieso nichts zu sehen.« Der Tauchlehrer lächelte. »Außer Steine.«

Wie aufregend, dachte der Kommissar und wischte sich mit der Hand den Schnee vom Kopf, der sich dort angesammelt hatte.

»Und warum taucht man dann überhaupt?«

»Weil es ein geiles Gefühl ist. Unter dir – die schwarze Unendlichkeit. Und du schwebst da drüber, schwerelos. Wie die Astronauten im Weltraum.«

Als wäre ihm sein Enthusiasmus nun doch peinlich, fügte er noch schnell hinzu.

»Und außerdem ist heute Samstag. Unser Tauchtag.«

»Das ganze Jahr über?«

»Natürlich.«

Ein leises Lächeln erschien auf dem Gesicht des Kommissars.

»Ich verstehe«.

Anton ging zurück zu seinem Wagen. Er hatte es geahnt, deutsche Gründlichkeit. Beim Sport verstand der Mensch in diesem Land keinen Spaß. Radfahrer, die einfach radelten, wie es Anton seit seiner Kindheit getan hatte, gab es nicht mehr. Heute keuchten sie in knallbunten Trikots an ihm vorbei und brüllten erbost beim ersten Hindernis, wozu natürlich auch jeder normale Radler zählte. Selbst die ergrautesten Rentner sahen aus, als seien sie gesponserte Profis und die Tour de France ihre nächste Pflichtübung.

Als der Kommissar im Wagen saß und den Motor anlassen wollte, tauchte das Gesicht von Herbert am Seitenfenster auf. Seine Gesten machten deutlich, dass er noch etwas Wichtiges mitzuteilen hatte. Anton ließ die Scheibe herunter.

»Und?«, fragte sein Kollege leise. Der Kommissar runzelte die Stirn, denn schon wirbelten Schneeflocken ins Innere des Wagens. »Was – und?«

Herbert zwinkerte vieldeutig: »Hat’s geprickelt? Wenigstens ein bisschen?«

Die Scheibe surrte hoch und durchschnitt den bösen Blick, den Herbert erntete. Der Kommissar fuhr los.

Kapitel 3

Am Ende der Uferstraße blieb Anton stehen und sah hinaus auf den See. Der starke Westwind ließ dunkle Wellen mit kleinen, weißen Schaumkronen ans Ufer rollen. Der Himmel war grau und düster, das Wasser fast schwarz. Nur die Schneeflocken tanzten, weiße Flecken zwischen kahlen Bäumen. Die Gegend wirkte entrückt und verloren, sie hätte irgendwo sein können, auch in Lappland oder Sibirien.

Wer den See vom Sommer her kannte, wenn Badegäste jede freie Fläche zuparkten und wie Ameisen über die wenigen, frei zugänglichen Ufer herfielen, musste sich jetzt fremd vorkommen. Der Kommissar stieg aus. Für einen Augenblick wollte er die seltsame Stimmung erleben, die heute über dem See lag. Kaum hatte er die Tür geöffnet, fuhr ihm der eiskalte Wind ins Gesicht. Unerbittlich bog der Sturm die kahlen Bäume, übertönte fast das dumpfe Klatschen der Wellen, die sich am Ufer brachen. Und an den Holzstegen, die verloren hinaus ins Wasser ragten. Ein monotones Geräusch, einziges Lebenszeichen in einer grauen, kalten Welt. Jedenfalls kam es dem Kommissar so vor. Wasser, das sich bewegte, erschien ihm manchmal wie ein lebendiges Wesen. Jedenfalls lebendiger als der Tote, den sie eben geborgen hatten.

Ein einsamer Jogger mit Anorak und Mütze kam auf ihn zu. Der Kommissar stieg wieder ein und fuhr weiter. Als er an dem Läufer vorbeikam, sah ihn dieser grimmig an. Fremde waren hier nicht erwünscht. Der Mann wollte die Kälte und Einsamkeit für sich. Anton spürte, in diesem durch den eisigen Winter von der Außenwelt abgeschlossen Paradies war er nicht willkommen.

Das war er leider oft. Sein Beruf ließ ihm keine Wahl, auch wenn er das manchmal gerne vermieden hätte.

Während er durch den Wald nach Holzhausen fuhr, kreisten seine Gedanken um den neuen Fall, den er zu bearbeiten hatte. Was veranlasst einen Mörder, eine Leiche im See zu versenken? Das war umständlich, man brauchte ein Boot, das Risiko gesehen zu werden, war hoch. Es gab bequemere Methoden, einen Toten verschwinden zu lassen. Und originellere. Er erinnerte sich noch gut an die zwei Männer, die vor einigen Jahren einen Bankdirektor entführt hatten.

Sie hatten den Mann gefesselt und geknebelt, aber so unglücklich, dass er dabei erstickt war. Und was taten sie mit der Leiche? Sie fuhren nachts auf das Gelände eines großen Gebrauchtwagenhändlers und entsorgten den Mann im Kofferraum eines der herumstehenden Wagen. Aber sie wählten nicht irgendein Modell, sondern einen ausrangierten Leichenwagen, der dort seit Monaten stand. Das gefiel dem Kommissar, er sah darin eine kleine ironische Geste, fast surreal. So etwas kam bei Verbrechern nicht oft vor. Während damals eine Großfahndung lief, lag der Tote drei Wochen in seinem Versteck. Erst als das Auto schließlich doch verkauft werden sollte und sich ein Interessent den Wagen ansah, wurde die Leiche entdeckt. Da es Hochsommer war, konnte der Bankdirektor nur noch schwer identifiziert werden.

Dummerweise hatten die Entführer übersehen, dass die Zufahrt zum Gelände mit einer Lichtschranke gesichert war und eine verborgene Kamera jedes Fahrzeug fotografierte. Dennoch hatten sie nur einen der Verbrecher geschnappt. Aber der wollte nicht reden.

Als der Kommissar zur Autobahnauffahrt hochfuhr, lag dort bereits so viel Schnee, dass der Wagen kurz ins Rutschen kam. Er bemerkte, dass er fror, schon lange funktionierte die Heizung in seinem alten Peugeot nicht mehr richtig. Meist war er im Dienstwagen unterwegs, aber heute war Samstag, und er hatte frei gehabt. Doch nun war er froh, einen neuen Fall zu haben. So brauchte er nicht mehr länger an die Begegnung mit Hildegard zu denken, die ihm vielleicht sonst noch im Magen gelegen hätte. Dafür beschäftigte ihn jetzt eine Leiche.

Ein Schwarzer im Schnee, in kurzen Lederhosen, ein seltsames Bild. Obwohl er es nicht wissen konnte, war der Kommissar davon überzeugt, dass man das Opfer nicht in dieser Kleidung ermordet hatte. Die Hose hatte also etwas zu bedeuten, aber was? Ihm war klar, dass er am Anfang einer aufreibenden Ermittlung stand. Wer eine Leiche im See versenkte und ihr vorher eine Lederhose anzog, war kein Täter mit den üblichen Motiven. Hier steckte etwas anderes dahinter, und für einen Augenblick fragte sich Anton, ob Hildegard nicht das kleinere Übel gewesen wäre.

Da sich Herbert um den Papierkram kümmern würde und der Bericht des Pathologen nicht vor Montag zu erwarten war, fuhr er nach Hause. Der Kommissar wohnte in der Au, nahe am Isarufer, wo er früher immer mit dem Hund spazieren gegangen war. Als die Tochter klein gewesen war, hatten sie sich einen Cockerspaniel angeschafft, in den sich Anton gegen seinen Willen verliebt hatte.

Es war immer wieder rührend zu sehen, wie unmittelbar ein Hund Freude äußern konnte. Die Palette an Reaktionen war vielfältig. Sie ging vom diskreten Schwanzwedeln, bei dem der Kopf zwar regungslos zwischen den Pfoten ruhte, die Augen aber jede Bewegung des Herrn verfolgten, bis hin zur stürmischen Begrüßung, bei der der Hund vor Freude winselnd an ihm hochsprang, mit den Vorderfüßen seine Oberschenkel umklammerte und versuchte, seine Hände abzulecken, während der buschige Schwanz aufgeregt hin und her wirbelte.

Das Wochenende hatte schon begonnen, deshalb fand Anton Biersack einen akzeptablen Parkplatz. Er klemmte eine alte Zeitung vor die Windschutzscheibe, so würde er morgen kein Eis abkratzen müssen, und ging ins Haus. Um sich aufzuwärmen, nahm er nicht den Lift, sondern lief über die Holztreppe hoch in den vierten Stock.

Als er auf die Haustür zuging, zuckte er zusammen.

Auf dem Fußabstreifer lag – eine rote Rose.

Wie Hildegard ins Haus gekommen war, wusste er nicht, aber er wusste, jetzt brauchte er einen Drink. In Romanen trinken Detektive, wenn sie wieder einmal etwas Schreckliches entdeckt hatten, er aber brauchte den Whisky wegen einer Rose. Bedenklich, dachte er und sperrte auf.

War er vielleicht etwas neurotisch? Bisher war ihm das nicht aufgefallen, hatte er doch jeden Vorwurf dieser Art bisher weit von sich gewiesen. Vor allem, wenn er von seiner Frau kam. Dass ihm jetzt solche Gedanken kamen, ärgerte ihn, deshalb wollte er die Rose in den Mülleimer werfen. Doch nach zwei Schritten blieb er stehen. Nein, einer Neurose, so er denn wirklich eine hätte, würde er ins Auge sehen. Einer Neu-Rose? Eigenartig, Wortspiele waren seine Sache nicht, doch vielleicht war er heute besonders sensibilisiert.

Er nahm ein Weißbierglas aus dem Abwasch, füllte es mit Wasser und steckte die Blume hinein. Wäre doch noch schöner, wenn er diesen Anblick nicht aushalten würde.

Mit einem Lächeln stellte er die Rose auf den Küchentisch. Sie war ja im Grunde ein Kompliment. Eine Frau, die er kühl abserviert hatte, hinterließ ihm einen liebevollen Gruß. Ihm, dem Kriminalbeamten mit dem Charme eines Erdkundelehrers.

Er holte eine Flasche Glenmorangie aus dem Schrank, den Drink für die Härtefälle des Lebens. Heute hatte er den Whisky ganz sicher verdient.

Dann schaltete er den Computer an. Sieben E-Mails – vonder Waldfee.

Er löschte sie alle und trank sein Glas in einem Zug leer.

Dann sah er, dass der Anrufbeantworter blinkte. Spontan wollte er auch diese Nachrichten löschen, doch das ging nicht, es hätte ja ein dienstlicher Anruf darunter sein können. Mit dem Finger auf der Löschtaste lauschte er sich vorsichtig durch die Meldungen. Als die erste weibliche Stimme ertönte, drückte er sofort die Taste, doch es war seine Tochter. Zu spät. Dann kam Hildegard, zweimal, sie sagte nichts.

Doch wiesie das tat, zeigte ihm, das konnte nur sie sein.

Der Kommissar musste lächeln. Eine so unqualifizierte Behauptung hätte er sich im Dienst nicht leisten können.

Abends im Bett lag er noch lange wach. Nicht nur wegen des neuen Falls, sondern auch wegen des akuten Neuroseverdachts, den er sich anscheinend gerade einredete.

Je länger er über den heutigen Tag nachdachte, desto stärker spürte er einen Druck im Bauch, der sich nach schlechtem Gewissen anfühlte. Wenn es um Frauen ging, stellte sich dieses öfter ein. Er überlegte, was er falsch gemacht hatte. War er zu abweisend gewesen? Das wäre ungerecht gewesen. Hatte sich Hildegard nicht auch auf das Rendezvous gefreut?

Bestimmt hatte sie zu Hause länger überlegt, was sie anziehen sollte, um für ihn attraktiv zu sein? Hatte sie sich die Blüten extra für ihn ins Haar gesteckt? Möglich. War sie nicht sehr offen und ehrlich gewesen, viel mutiger als er? Hatte sie sich nicht wirklich um ihn bemüht, bis zuletzt?

Und das, obwohl er alles andere als nett zu ihr gewesen war. Gut, vielleicht war sie nicht verwöhnt, es sollte ja in der Tat schreckliche Männer geben. Dennoch, war es fair gewesen, all ihre Bemühungen einfach vom Tisch zu wischen? War das ein würdiger Abgang für den »sanften Panther«, wie er sich im Netz genannt hatte?

Der Kommissar wälzte sich aus dem Bett. Erstaunt über sich selbst ging er ins Nebenzimmer, wo der Computer stand. Er fuhr das E-Mail-Programm hoch und fing an zu tippen.

… habe mich gefreut, dich zu treffen. Du hast mich wirklich überrascht.

Das war nicht gelogen.

Für die Blume vor der Tür und deine Nachrichten danke ich dir.

War das gelogen? Er wusste es nicht und hatte auch keine Lust, darüber nachzudenken.

Leider wird mich der neue Fall so in Beschlag nehmen, dass ich keine freie Minute mehr haben werde. Du solltest dich also lieber um einen anderen Kandidaten kümmern, der dich sicher auch eher verdient als ich. Alles Gute! Anton

Das Wort »Kandidaten« gefiel ihm nicht, doch als er es ändern wollte, merkte er, seine rechte Hand hatte den Text schon abgeschickt. Auch gut.

Er fühlte sich besser. Auch wenn ihm durchaus klar war, wem er es verdankte, dass er sich so unverbindlich aus der Affäre ziehen konnte – einer Leiche in Lederhosen. Als der Bildschirm wieder erloschen war, trank er noch ein Glas Single Malt. Dann ging er ins Bett. Vielleicht würden ihn nach diesem merkwürdigen Tag seltsame Träume heimsuchen. Doch es kamen keine.

Kapitel 4

Am Sonntag schlief er länger als erwartet. Als er aufwachte, schneite es nicht mehr. Der Himmel war grau, alles andere trübe. Eigentlich konnte man so etwas gar nicht Wetter nennen.

Seine rechte Hand lag auf seinem nackten Bauch. Dieser fühlte sich durchaus noch flach an. Doch Anton machte sich keine Illusionen. Er wusste, das lag nur daran, dass er auf dem Rücken lag und sich alles gut verteilen konnte. Um diese Vermutung zu überprüfen, legte er sich auf die Seite. Wie erwartet nahm da sein Bauch an Volumen zu. Im Stehen war es leider ebenso. Überraschend war das nicht. Seit er Knieprobleme hatte und deshalb keine Skitouren mehr machen und auch nicht mehr joggen konnte, hatte er nur noch selten Gelegenheit, etwas für Körper und Kondition zu tun.

Anfangs war das kein Problem, denn wenn er sich nicht anstrengte, merkte er auch nicht, wie anstrengend es geworden war, sich anzustrengen.

Anton stand auf. Warum er sich in solchen Überlegungen verirrt hatte, wusste er nicht. Als er im Bad vor dem Spiegel stand, fiel es ihm wieder ein. Es war der Bauch. Genauer der Ansatz oder die Möglichkeit eines Bauchs. Doch warum kam er auf das heikle Thema gerade jetzt? Im nächsten Augenblick wusste er es. Hildegard. Das Café. Sein diskreter Versuch, am Tisch den oberen Knopf der Jeans zu öffnen. Da hatte er zum ersten Mal festgestellt, sein Körper war dabei, sich in einer Weise zu verändern, die ihm nicht zustand. Schon gar nicht, wenn Frauen das mitbekamen.

Nein, Anton war nicht eitel. Das konnte jeder anhand seiner Garderobe überprüfen, von der die meisten Stücke für einen undercover-Einsatz am Bau bei Schwarzarbeitern geeignet waren, auch wenn ein solcher nicht zu den Aufgaben eines Hauptkommissars gehörte.

Aber allein vor dem Spiegel, so wie jetzt, war die Lage ernst. Das hatte mit Eitelkeit nichts zu tun, eher mit Fairness. Denn diesen ästhetischen Anspruch an sich selbst erwartete er von einer Frau ja auch. Body & Soul sozusagen. Und da die Seele unsichtbar war, blieben die Blicke am Körper hängen. Fazit: Er musste etwas tun. Aber vielleicht nicht sofort.

Der Kommissar drehte sich um und warf einen Blick auf die schmutzige Wäsche, die vor der Waschmaschine lag. Männer ohne Frauen verwildern, hatte ihn Herbert gewarnt. Durchaus möglich. Hätte sich mit der Waldfee etwas ergeben, hätte er natürlich aufgeräumt. Und geputzt. Unordentlich war Anton nicht, jedenfalls nicht in seinen Augen. Er unterschied nur streng zwischen wichtig und unwichtig.

Die Lebenszeit eines Menschen war schließlich begrenzt. Wie viele Wochen und Monate man im Laufe seines Lebens im Stau, auf der Toilette oder in Warteschlangen vor den Kassen der Supermärkte verbrachte, hatte er neulich in der Zeitung gelesen. Die genauen Zahlen wusste er nicht mehr, aber sie hatten ihn schockiert. Deshalb die Hierarchie der Notwendigkeiten. Anton putzte nur noch, wenn er vorher seine Brille aufgesetzt hatte, denn ohne diese verblassten Anlass und Motivation auf geheimnisvolle, aber nicht unangenehme Weise.

Während er seinen Gedanken nachhing, hatte er vergessen, dass in der Leichenhalle ein ermordeter Schwarzer lag, dessen Seele ihn jetzt vielleicht beobachtete. Weil er der einzige Mensch war, der ihr Genugtuung verschaffen konnte. Das würde den Toten zwar nicht wieder lebendig machen, aber es würde Anton dem nie erreichbaren Ziel näher bringen, für das er seinen Beruf gewählt hatte. Wenigstens ein kleines Stück. Einem Ziel, das er in einem Wort zusammenfassen konnte: Gerechtigkeit.

Er begann sich anzuziehen und wählte eine ältere Cordhose. An der abgeschabten Gürtelmarkierung konnte er erkennen, dass sein Volumen in den letzten Jahren um zwei Löcher zugenommen hatte. Sollte er nicht doch ins Fitnessstudio gehen? Nur einmal, als kritischer Selbstversuch. Allerdings hatte er sich über Kollegen immer lustig gemacht, wenn diese von neuen Trimm-dich-Oasen schwärmten. Schon rein philosophisch konnte er solchen Bemühungen nichts abgewinnen.

Zielte nicht die ganze technologische Entwicklung des Menschen darauf ab, ihm schwere Arbeiten abzunehmen? Diese wurden zunehmend an Maschinen delegiert. Und jetzt, wo es nichts mehr gab, bei dem man sich anstrengen konnte, zahlten die Leute dafür, sich wieder quälen zu dürfen. War das nicht pervers?

Würde man einem Schwarzen im Kongo oder einem Indio im Amazonas erzählen, weiße Männer würden viel Geld ausgeben, um schwere Dinge heben zu dürfen, der Mann würde wohl nur den Kopf schütteln. Was auch der Kommissar bei solchen Gesprächen gerne tat.

Allerdings, manchmal gab ihm das Schicksal einen Wink. In unmittelbarer Nähe seiner Wohnung hatte letzte Woche ein neues Studio eröffnet: The Body Factory. Der plakative Prospekt im Briefkasten war nicht zu übersehen.

Fit for Life! work out / chill out – for body & soul.

Bio-Wellness-Bereich, Öko-Sauna, Aroma-Massagen, Anti-Aging-Programm

Ayurveda coaching, Power Meditation.

Was man eben so alles braucht, um sich wohlzufühlen. Darunter waren Fotos von sehr schlanken Mädchen an stählernen Maschinen und gut aussehende Typen, die Gewichte stemmten und aussahen, als wären sie Models für exclusive Herrenunterwäsche. Was ein group fitness-Kurs war, konnte sich Anton ja noch vorstellen, aber die Auswahl von 99 Varianten, die dort angeboten wurden, überstieg die Grenzen seiner Fantasie. Das Cardio-Kino auf Plasmaschirmen natürlich auch. Andererseits musste er sich davor hüten, den Anschluss an den Zeitgeist nicht zu verlieren. Was immer das war. Schon rein berufsmäßig. Vielleicht sollte er einfach mal hingehen, inkognito sozusagen.

Den Gutschein für das »Probetraining« hatte er noch nicht weggeworfen, vielleicht auch das kein Zufall.

Und jetzt? Es war Sonntag, 10 Uhr 30. Der Kühlschrank war leer. Irgendwohin zum Brunchen? Warum nicht? In die angesagten Cafés kamen viele Frauen, allerdings selten allein. Eher mit emanzipierten Freundinnen, denen sie ihr Leid mit Männern klagen konnten oder mit denen sie einfach so demonstrativ gut drauf waren, dass Anton depressiv wurde. Außerdem waren die nicht seine Altersklasse. Die ging am Sonntag in die Pinakothek und abends ins Theater. Oder zum Konzert in den Herkulessaal. Das war nicht seine Welt. Nicht dass er es nicht versucht hätte. Doch klassische Musik langweilte ihn, da konnte er nichts dafür. Eine Bildungslücke, zu der er stand.

Gegen Kunst hatte er nichts, solange es keine pompösen alten Gemälde waren und er sie nicht allzu lange betrachten musste. Und nicht zu oft. Insgeheim bewunderte er Künstler sogar, denn anscheinend stiegen dieser aus der auf Leistung und Profit getrimmten Gesellschaft einfach aus. Oder gar nicht erst ein. Die machten da nicht mit, malten, was sie wollten, und ob es Geld brachte oder nicht, war ihnen egal. Jedenfalls sah es so aus.

Der Kommissar ging ins Wohnzimmer und nahm den Bademantel, die losen Blätter der Zeitung und drei einzelne Socken vom Sofa. Warum Socken immer wieder in der Waschmaschine verschwanden und einer dann als Single übrig blieb, konnte er sich nicht erklären. Inzwischen hatte er eine ganze Schublade voll einzelner Socken, die sich auch bei größter Toleranz nicht kombinieren ließen.

Er schaltete den Fernseher ein. Er blieb bei einem Sender hängen. Wieder eine der üblichen Expertenrunden. Diesmal waren sich alle schnell einig. Kernenergie war gefährlich. Das hatten sie als Experten ja schon immer gesagt. Sonst war meistens die eine Hälfte der Leute dafür, die andere dagegen. Solche Runden wurden mit Kalkül auf Konfliktpotenzial zusammengesetzt. Das brachte Quote. Wie schlechte Nachrichten oder Katastrophen.

Er schaltete ab und schob eine CD in die Stereoanlage. Anton liebte Jazz, auf diesem Gebiet kannte er sich aus, wusste aber auch, dass er mit dieser Liebe ziemlich allein war. Petra hatte sie geduldet, doch die meisten Kollegen im Büro wussten nicht einmal, wer Stan Getz war, und Charlie Parker hielten die Jüngeren für den Erfinder des Anoraks.

Ob Hildegard ein Herz für Jazz gehabt hätte? Dass diese Frage jetzt in seinem Gehirn auftauchte, verunsicherte ihn. Wohl kaum, wahrscheinlich schwärmte sie für Eso-Musik, diese wabernden Klangwolken, die nie aufhören wollten.

Er drückte auf den Startknopf. Leise begann das Saxofon von Jan Garbarek die ersten Töne zu suchen. Anton lehnte sich zurück und schloss die Augen. Es würde ein ruhiger Sonntag werden.

Kapitel 5

Am nächsten Morgen regnete es nicht mehr. Wie immer fuhr der Kommissar mit der U-Bahn ins Büro, und wie immer machte er sich ein Vergnügen daraus, die Titelseiten der Boulevardblätter zu studieren, welche die Menschen neben ihm lasen oder versuchten zu lesen, wenn es voll war. Die Schlagzeilen liebte er besonders.

Störfälle im sensiblen Organismus des FC Bayern waren immer ein Thema, vor allem die Seelenzustände der Gladiatoren auf dem Platz, hinter dem Platz oder im heiligen Gral des Präsidiums. Und natürlich Gewalt und Sex, wobei dieser den Hang zum Voyeurismus besser bediente. Sex in jeder Variante war immer eine detaillierte Meldung wert. Vor allem wenn ein prominenter Friseur oder Zahnarzt involviert war, die in der Münchner Society stets in ausreichender Zahl zur Verfügung standen.

Auch Denkversuche oder Bierzeltsprüche regionaler Politiker waren beliebt. Ebenso die Auflistung der endlosen Baustellen, der jährliche Biergartentest, die jährliche Wahl der schönsten Münchnerin und andere Großereignisse. Und natürlich sein Ressort, das Verbrechen. Da München eine relativ friedliche Stadt war, kam Mord in den Schlagzeilen eher selten vor, dann aber umso drastischer.

An diesem Montag langweilten ihn die Überschriften. Es ging um irgendeine Prinzenhochzeit. Er holte seinen Kalender hervor und ging die Woche nach Terminen durch. Es waren nur zwei. Eine Vorsorgeuntersuchung und eine TÜV-Inspektion bei Peugeot. Gedanklich fügte er noch den unverbindlichen Besuch der Fitness-Oase hinzu.

Als der Kommissar das Büro betrat, saß Herbert an seinem Schreibtisch und las die Abendzeitung, Sektion Fußball. »Jetzt geht’s dahin«, meinte er vergnügt, als er seinen Chef erblickte. »Womit?«, knurrte Anton, der sich wunderte, warum sein Gegenüber nicht anständig guten Morgen sagen konnte wie andere auch.

»Mit dem Trainer. Den Saustall schaut sich der Hoeneß nicht mehr lang an.«

Anton war kein Fußballfan, auch wenn er bei großen Spielen nicht ungern zusah, vor allem wegen der aufgeregten Wichtigkeit, die im Fernsehen dann alle ausstrahlten. Er musterte seinen Kollegen, der weiterhin ungerührt seinen Artikel las. Im Grunde mochte er diesen langen, dürren Kerl, der ihn mit seinem Lockenkopf und den schlaksigen Bewegungen an ein großes Kind erinnerte. Eines, das auch in schwierigen Momenten ganz unbekümmert blieb. Seine Art, die Dinge grundsätzlich ohne Vorurteile zu sehen, war in der Arbeit von Vorteil.

Außerdem konnte Herbert Knorr, wenn er wollte, einen gerissenen Charme an den Tag legen, der ihm bei Ermittlungen manchmal Türen öffnete, die dem Kommissar verschlossen blieben.

»Und? Gibt’s auch andere Dinge, die dich interessieren?«, fragte er den Kollegen und wusste, dass darin eine gehörige Portion Ironie lag, denn Herbert interessierte sich sozusagen für alles. Zwar hatte dieser sein Philosophiestudium abgebrochen – angeblich war er lieber mit Menschen als mit deren Gedanken zusammen –, doch er las ständig die abstrusesten Zeitschriften und war in allen möglichen Online-Foren. Dort korrespondierte er mit Leuten aus der ganzen Welt. Fußball war für ihn nur eine Nebensache, die er gerne zu Hauptsache machte, um seinen Chef zu ärgern. Das Gleiche tat er mit seinem ausgeprägten Dialekt, den er jederzeit unterdrücken konnte, wenn es angebracht war. Zum Beispiel bei Verabredungen mit Cyberdamen.

Daran schien er sich jetzt zu erinnern, denn er sah den Kommissar prüfend an. »Schönheit ist relativ. Und sie vergeht.«

»Redest du von dir?« Der Kommissar ahnte, worauf Herbert hinauswollte.

»Die Frau von Sokrates soll auch hässlich gewesen sein.«

»Wieso – auch?«

»Ich dachte nur, weil du so schweigsam bist. In Bezug auf die Waldfee.«

Wie zum Teufel konnte er diesen Namen kennen?

»Sie hat heute früh hier angerufen. Sie wünscht dir alles Gute.«

Der Kommissar erschrak, was Herbert nicht entging.

»Keine Angst. Sie wird sich nicht wieder melden.«

»Hat sie das auch gesagt?«

»Nicht direkt.«

»Wie dann?«

»Ich hab’s ihr nahegelegt.«

Er machte eine Pause, damit sein Chef diese Initiative auch würdigen konnte.

»Ich muss dir doch den Rücken freihalten«, ergänzte er dann. »Ich meine bei der Arbeit.« Der Kommissar warf einen Blick auf den Fußballbericht, den Herbert immer noch zu studieren schien. »Welcher Arbeit?«

Jetzt erst legte sein Kollege die Zeitung weg. »Ich war schon beim Pathologen. Der kam heute früher, weil er wieder Streit zu Hause hatte.«

Der Kommissar, der versuchte, sich vom Privatleben der Kollegen fernzuhalten, schwieg und sah zum Fenster hinaus. Eben hatte sich eine Krähe auf den kahlen Baum gesetzt.

»Und?«

»Es gibt da ein paar Merkwürdigkeiten.«

Der Kommissar drehte sich um.

»Du meinst abgesehen von der Lederhose?«

»Genau. Er hat nämlich eine Wunde am Rücken. Und keine Fingerabdrücke.«

»Was soll das heißen?«

»Dass man die Haut seiner Fingerkuppen weggeätzt hat, damit keine Abdrücke mehr sichtbar sind.«

Das waren keine guten Nachrichten. Wer sich solche Mühe machte, war ein Profi. Nun würde es schwer werden, den Toten zu identifizieren. Die Leiche war in einem Zustand gewesen, dass ein Foto von dem Toten nicht unbedingt weiterhelfen würde. Mit der wirklichen Person hatte das wenig zu tun.

»Und die Zähne?«

»Den Gebissabdruck hab ich. Aber ob wir ihn damit identifizieren können, ist fraglich. Wenn er hier nicht beim Zahnarzt war, hilft uns das kaum. Wer weiß, wo der herkommt.«

»Stimmt. Afrika ist groß«, murmelte der Kommissar und wusste im gleichen Moment, dass das keine besonders scharfsinnige Bemerkung gewesen war.

»Amerika auch.« Herbert öffnete das Fenster und starrte hinaus, als stünde gegenüber die Freiheitsstatue. Natürlich, der Mann konnte genauso gut Amerikaner sein. Der Kommissar ärgerte sich, dass er darauf nicht selbst gekommen war.

Er ging zur Kaffeemaschine und drückte auf den Knopf mit der Aufschrift Cappuccino.

Oder Franzose. Als Anton mit seiner Frau einmal in Paris war, waren sie in der Metro an der verkehrten Haltestelle ausgestiegen und in einem Viertel gelandet, in dem anscheinend nur Afrikaner lebten. Sie hatten dort keinen einzigen Weißen gesehen.

»Das lässt uns viele Optionen«, sagte er leise. »Zu viele.« Erst jetzt bemerkte er, dass kein Kaffee aus der Maschine kam, sondern oben eine rote Lampe blinkte. Keine Milch. Verständlich, es war Montag.

Der Kommissar ging zurück an den Schreibtisch. »Todesursache?«