Was die Toten sehen - A. K. Turner - E-Book

Was die Toten sehen E-Book

A. K. Turner

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Beschreibung

Ein Sturz aus dem 10. Stock, eine Abschieds-SMS, eine Tote, die nicht schweigt: Selbstmord – oder Mord? Der Forensik-Thriller »Was die Toten sehen« von A. K. Turner ist der 4. Fall für die toughe Cassie Raven, den Punk-Superstar in der Gerichtsmedizin. Beinahe läuft Cassie Raven auf dem Weg zur Arbeit in eine Polizei-Absperrung. Die große Blutlache auf dem Weg vor dem Wohnblock und ein Polizist auf einem Balkon im 10. Stock sagen der erfahrenen Pathologie-Assistentin alles, was sie wissen muss. Cassie ist also nicht überrascht, dass in der Leichenhalle ein mutmaßlicher Suizid auf sie wartet. Doch als sie die Tote sieht, ist sie fassungslos: Denn die ist niemand anderes als Bronte, eine extrem beliebte Sängerin, die kurz vor dem ganz großen Durchbruch stand – und eine ehemalige Klassenkameradin von Cassie. Es gibt eine Abschieds-SMS, die nahelegt, dass Bronte mit dem Erfolgsdruck nicht umgehen konnte. In der Presse war mehrfach von Drogen- und Alkoholexzessen zu lesen. Aber ein paar kleine Ungereimtheiten bei der Sektion lassen Cassie nicht los. Als dann auch noch DS Phyllida Flyte in den Fall verwickelt wird, braucht Cassie gute Nerven und ihre besondere Gabe … Cool, tough, schwarzhumorig – und genial geschrieben: die erfrischend ungewöhnliche Thriller-Reihe aus England Die unangepasste Cassie Raven sorgt für frischen Wind in der Gerichtsmedizin: schwarzhumorige Spannung für die Fans von »Silent Witness« und Leser*innen von Tess Gerritsen, Kathy Reichs oder Patricia Cornwell. »Stark […] mit einer der spektakulärsten Wendungen in der zeitgenössischen Kriminalliteratur.« Sunday Times A. K. Turners Forensik-Thriller aus London erscheinen auf Deutsch in folgender Reihenfolge: - Tote schweigen nie - Wer mit den Toten spricht - Tote klagen an - Was die Toten sehen

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Seitenzahl: 419

Veröffentlichungsjahr: 2025

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A. K. Turner

Was die Toten sehen

Ein Fall für die Rechtsmedizin. Cassie Raven ermittelt

Aus dem Englischen von Marie-Luise Bezzenberger

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Tod durch einen Sturz aus großer Höhe: Als erfahrene Pathologie-Assistentin weiß Cassie Raven, was sie erwartet, als sie den Leichensack öffnet. Trotzdem ist sie fassungslos, sobald sie die Tote sieht. Denn die ist niemand anderes als Bronte, eine talentierte, extrem beliebte Sängerin, die kurz vor dem ganz großen Durchbruch stand – und eine ehemalige Klassenkameradin von Cassie. Es gibt eine Abschieds-SMS, die nahelegt, dass Bronte mit dem Erfolgsdruck nicht umgehen konnte. Also ein klarer Fall von Selbstmord? Ein paar kleine Ungereimtheiten bei der Sektion lassen Cassie nicht los. Als dann auch noch DS Phyllida Flyte in den Fall verwickelt wird, die ebenfalls Zweifel hat, braucht Cassie gute Nerven und ihre besondere Gabe …

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

Flyte

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

Flyte

14. Kapitel

15. Kapitel

Flyte

16. Kapitel

Flyte

17. Kapitel

Flyte

18. Kapitel

Flyte

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

Flyte

22. Kapitel

23. Kapitel

Flyte

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

Flyte

27. Kapitel

Flyte

28. Kapitel

29. Kapitel

Flyte

30. Kapitel

Flyte

Flyte

31. Kapitel

32. Kapitel

Flyte

33. Kapitel

34. Kapitel

Flyte

35. Kapitel

36. Kapitel

Flyte

37. Kapitel

Flyte

38. Kapitel

Flyte

39. Kapitel

Flyte

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

Flyte

44. Kapitel

Flyte

45. Kapitel

46. Kapitel

Flyte

47. Kapitel

48. Kapitel

1. Kapitel

Der Himmel begann gerade, die tintenschwarze Oberfläche des Kanals aufzuhellen, und das Piepsen und Quaken des frühmorgendlichen Chors erstarb allmählich. Cassie Raven war mit gesenktem Kopf rasch dahingeschritten, den Blick auf den Treidelpfad gerichtet. Im Geist ging sie noch einmal den Krach durch, den sie gerade mit ihrem Freund gehabt hatte. Und deswegen wäre sie beinahe mit voller Wucht dagegengelaufen.

Was zum …?

Ein stählernes Gitter versperrte den Weg. Und ein paar Schritte dahinter war eine rote Lache auf dem Boden, die exakt die Form einer Cartoon-Sprechblase hatte. Sie wusste sofort Bescheid.

Blut, ein guter Liter. Der Farbe und der Viskosität nach war es vor vier oder fünf Stunden vergossen worden; durch den Kontakt mit der Luft wandelte sich das Hämoglobin bereits in Eisenoxid um – dieselbe Komponente wie Rost. Eine Erinnerung daran, dass der menschliche Körper im Großen und Ganzen nur ein ausgeklügelter Chemiebaukasten war.

Jetzt kam eine Polizistin auf sie zumarschiert und schüttelte den Kopf. »Sie können hier nicht durch, Sie müssen sich einen anderen Weg suchen.«

»Was ist denn passiert?«, wollte Cassie wissen und deutete mit dem Kinn auf die Lache. Eine Stichwunde? Messerstechereien waren in Camden nicht gerade ungewöhnlich, meistens waren dabei Drogen im Spiel.

»Ich bin nicht befugt, mich dazu zu äußern«, erwiderte die Polizistin und musterte Cassies Tattoos.

Verständlich. Vielleicht wussten die Angehörigen ja noch nicht, dass jemand, der ihnen nahestand, verletzt war – oder wohl eher tot.

Die Blutlache sah zu ordentlich aus, zu wenig verschmiert, um von einer Stichwunde herzurühren. Mit zusammengekniffenen Augen schaute Cassie zu dem Gebäude hinauf, das über dem Kanal aufragte – ein riesiges Lagerhaus viktorianischen Baustils, das zu einem Wohnhaus mit hochpreisigen Apartments umgebaut worden war –, und erhaschte einen kurzen Blick auf etwas. Ein Mann, anscheinend in eine Polizeiuniform gekleidet, spähte über das Geländer eines schmalen Balkons.

Neunter, vielleicht zehnter Stock.

Ein Unfall? Oder Suizid? So oder so, aus dieser Höhe – da würde sie dem oder der Betroffenen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit später in der Leichenhalle begegnen. Für plötzliche Todesfälle hatten die Cops Absprachen mit den Beerdigungsinstituten hier in der Gegend getroffen, damit sie Leichen auch außerhalb der Öffnungszeiten anliefern konnten.

Cassie behandelte alle ihre Gäste mit Hingabe und Respekt, doch da sie selbst schon Momente der abgrundtiefen Verzweiflung erlebt hatte, hatte sie zu Selbstmördern stets eine besondere Bindung verspürt. Bevor sie kehrtmachte, sagte sie zu der Polizistin: »An Ihrer Stelle würde ich das Blut abdecken, bis die Tatortreiniger hier aufkreuzen. Falls jemand von der Familie vorbeikommt.«

Verdutzt von dem Befehlston, den die junge Frau mit der Punkfrisur angeschlagen hatte, blieb die Polizistin zurück.

 

Dass sie Archie gegenüber so ausgerastet war, machte ihr zu schaffen. Sie wohnten erst seit neun oder zehn Wochen zusammen auf ihrem Kanalboot, doch sie bekam schon wieder dieses klaustrophobische Gefühl, das ihr von ihrem ersten und einzigen – und gescheiterten – Versuch, mit jemandem zusammenzuleben, noch allzu vertraut war.

Das Gute war, sie arbeiteten beide mit Toten – Archie als Pathologe, Cassie als Sektionsassistentin –, was bedeutete, dass sie sich ohne die ständige Selbstzensur über die Arbeit unterhalten konnten, die bei Zivilisten notwendig war. Zuerst hatte sie ihn nicht leiden können, hatte ihn als privilegierten, vornehmen Jungmediziner abgestempelt. Doch über die Leichen hinweg hatten sie sich nach und nach ineinander verliebt, und nach ein paar Monaten als Paar hatte sie schließlich den Sprung gewagt und eingewilligt, mit ihm zusammenzuwohnen.

Er war verträglich und man konnte Spaß mit ihm haben – und der regelmäßige Sex war definitiv ein Bonus. Das Schlimme war, das Kanalboot war nicht gerade geräumig, und die Decke in der großen Kajüte war an der höchsten Stelle nur eins achtundachtzig hoch – genau Archies Körperlänge –, sodass er sich ständig den Kopf stieß. Sie zuckte dann immer in unwillkürlichem Mitleiden zusammen, aber es machte sie auch wahnsinnig, und sie wusste, dass das echt unfair war. Als er heute Morgen zu schnell aus dem Bett aufgestanden war und sich den Kopf angehauen hatte, hatte sie ihn angefahren: »Herrgott noch mal, Archie! Muss das jeden Morgen sein?« Und das Schlimmste war, er hatte nicht zurückgeblafft, sondern sie nur mit diesem (zunehmend vertrauten) waidwunden Blick bedacht.

Ihr kam der Gedanke, dass es ihr vielleicht genauso ging wie ihm – dass sie nicht mehr genug Kopffreiheit hatte.

 

In der Leichenhalle duschte Cassie in der Damenumkleide; das war ihr übliches Vorgehen, seit Archie zu ihr aufs Boot gezogen war. Wenn sie sich morgens beide gleichzeitig für die Arbeit fertig machen mussten, war das wie ein komplexer Tanz – oder wie eine Clownszene. Nachdem sie saubere OP-Kluft angezogen hatte, brachte sie ihre Lippen- und Augenbrauenstecker wieder an ihren Platz und raffte ihr Haar oben auf dem Kopf zu einem Knoten zusammen. Ihr Spiegelbild ließ sie wissen, dass es an der Zeit war, das Haar im üblichen Nachtschwarz nachzufärben und den Undercut nachschneiden zu lassen. Sie schnitt dem Spiegel eine Grimasse, zückte ihr Handy und tippte eine SMS an Archie. »Sorry, dass ich vorhin so ein Arsch war. Hole uns nachher ein Curry. Cxxx«

Sie war früh zur Arbeit gekommen, um sich ein paar Augenblicke des Alleinseins zu gönnen, bevor die anderen eintrudelten. Cassie trat in die friedvolle Kälte des Kühlraums, wo nur das leise Summen der gigantischen Kühleinheit zu hören war, und begann, Inventur zu machen – oder, wie sie es im Stillen lieber nannte, die Gästeliste durchzugehen. Sie schritt an der Wand aus poliertem Stahl entlang und öffnete jede Mulde, um die Identität, das Geburtsdatum und die Identifikationsnummer des jeweiligen Bewohners mit ihren Unterlagen abzugleichen. Dabei sprach sie leise zu den weiß verhüllten Leichen in den Fächern, als könnten sie sie immer noch hören.

»Morgen, Mr H., Dr. Curzon untersucht Sie heute, um herauszufinden, woran Sie gestorben sind, und ein paar Antworten für Ihre Familie zu finden …« – »Hallo, Mrs V., Sie verlassen uns heute Vormittag. Ich habe gehört, der Gottesdienst findet in Ihrer Kirche statt, da, wo Sie und Mr V. geheiratet haben. Das ist schön …« Ein paar halblaute Worte für jede und jeden ihrer Ladys und Gentlemen, die ganze Reihe der Schubfächer entlang.

Cassie hatte schon immer mit den Toten in ihrer Obhut geredet, als wären sie noch am Leben. Die Leichenhalle hatte sie stets als ein Schattenland betrachtete, in dem die kürzlich Verstorbenen zwischen Leben und Tod hingen, zwischen Begräbnis und Einäscherung. Ein Zwischenstadium, in dem sie sich ihrer Umgebung vielleicht noch ein wenig bewusst waren. Natürlich war das irrationaler Blödsinn und widersprach auch ihrer ansonsten wissenschaftlichen Einstellung. Doch es war eine Überzeugung, die ihrer Arbeit einen Sinn verlieh, und sie fühlte sich dadurch für diese Seelen verantwortlich, solange sie sie betreute.

In Mulde 8 lag ein Neuankömmling, der vom Beerdigungsinstitut während der Nacht eingeliefert worden war. Cassie suchte den Eintrag in der Liste und erkannte die Adresse des Apartmentblocks am Kanal, wo sie heute Morgen die Cops gesehen hatte. Dort stand: Weibl. Erw., geb.: derzeit noch unbekannt, mutmaßl. S.J. Angopoulis. Die Person, die vom Balkon gestürzt – oder gesprungen – war, war also eine Frau.

Cassie zog die Mulde heraus und machte sich daran, den Reißverschluss des Leichensacks zu öffnen. Sie begrüßte ihre neuen Schützlinge immer gern von Angesicht zu Angesicht. Doch beim Anblick des Gesichts durchfuhr sie ein heftiges Schaudern, und das kam nicht von der Dauerkälte, die in der Kühlkammer herrschte. Ihr viszerales Nervensystem heulte auf wie eine Sirene. Der Schädel der jungen Frau wies auf der linken Seite eine schwere Impressionsfraktur auf, und ihr Gesicht war von der Schläfe bis zum Unterkiefer blauviolett verfärbt. Trotzdem war sie ohne Weiteres zu erkennen.

Sie hieß nicht »Angopoulis«. Ihr Name war Angelopoulos.

Sophia Angelopoulos. Besser bekannt als Bronte.

2. Kapitel

Cassie riss sich zusammen und gab sich Mühe, ganz normal zu sprechen, so wie mit jedem anderen ihrer Gäste. »Hallo, Sophia«, sagte sie leise. »Lange nicht gesehen. Du bist in der Leichenhalle von Camden, und ich kümmere mich um dich. Wir werden versuchen, rauszufinden, was passiert ist.«

 

Als sie sich das letzte Mal gesehen hatten, waren sie vierzehnjährige Schulmädchen gewesen, Klassenkameradinnen in der Camden High. Klassenkameradinnen, aber keine Freundinnen. Cassie verspürte ein Aufwallen des schlechten Gewissens. Sie beugte sich vor und versicherte eindringlich: »Es tut mir ja so leid, dich hier zu sehen, Sophia. Ich versprech’s dir, wir tun unser Bestes für dich und für deine Familie.« Insgeheim fragte sie sich, ob sie vielleicht irgendeinen Hinweis auf die letzten Gedanken der Verstorbenen auffangen würde, wie es bei den Toten in ihrer Obhut manchmal geschah.

 

Beim ersten Mal hatte sie erst seit ein paar Monaten hier gearbeitet. Sie hatte nach einer Mrs P. gesehen, einer alten Dame, die an einer Schädelfraktur gestorben war, nachdem sie an einem eiskalten Morgen vor ihrer Haustür gestürzt war. Cassie hatte plötzlich ein ganz merkwürdiges Gefühl gehabt – ein Gefühl des Abgleitens in einen Zwischenraum zwischen Traum und Realität –, und dann hatte sie dieses eine Wort gehört, Verflixt! Nichts Dramatisches oder Geheimnisvolles, einfach nur ein Ausdruck des Schocks der alten Dame. Was, wie sie genau wusste, natürlich auch nur Einbildung gewesen sein könnte. Aber trotzdem …

Jetzt legte Cassie unbeholfen die Hand auf Sophias kalte Schulter, kniff die Augen fest zu und wartete. Doch das einzige Geräusch war das leise Summen der Kühleinheit.

Was hast du denn erwartet?, schalt Cassies innere Stimme. Warum sollte sie ausgerechnet mit dir reden?

Tatsächlich hatte Cassie die erwachsene Sophia nach der Schule einmal aus der Ferne gesehen: im Dingwall’s, einem von Camdens Musikclubs, vor ein paar Jahren. Sophia hatte auf der Bühne gestanden und gesungen. Das pummelige kleine Mädchen hatte sich in eine schöne, schlanke junge Frau mit einer Wolke aus fast schwarzem Haar verwandelt. Sleeve-Tattoos bedeckten beide Arme.

Obwohl sie nur das Vorprogramm für eine andere Band war – damals hatten die Medien sie noch nicht als »aufgehenden Stern am Musikhimmel« bezeichnet –, hatte sie eindeutig enormes Talent. Zwar war sie zierlich gebaut und gerade mal eins sechzig groß, doch ihre jazzige Altstimme hatte eine Intensität, die Cassie erschauern ließ. Ein Bouzoukispieler in der Begleitband verlieh einigen der Lieder eine Tiefe, die bis ins Mark drang. Sie hatte nicht gewusst, wer da auftreten würde, als ein Freund sie zu dem Gig mitgeschleift hatte, denn diese neue Inkarnation des Mädchens, das sie als Sophia Angelopoulos gekannt hatte, nannte sich Bronte – der Name der griechischen Göttin des Donners.

 

Die Tür zum Korridor ging auf, und ihr Kollege Jason trat ein.

»Was steht denn für heute auf der Speisekarte?«, erkundigte er sich gelangweilt.

»Ein wahrscheinlicher Schlaganfall, ein Tod während einer OP und ein Sturz aus großer Höhe – vorausgesetzt, sie steht auf der Liste für die Routineautopsien. Da muss ich noch bei der Rechtsmedizin nachfragen.«

»Selbstmord?«

»Weiß ich nicht, solange ich den Bericht nicht gesehen habe.« Cassie zögerte. »Ich hab sie gekannt … ein bisschen. Von der Schule her.« Damit hoffte sie, sämtliche anzüglichen Kommentare abzuwürgen, zu denen Jason sich vielleicht verleitet sehen könnte. Sie hatte ihn schon öfter dafür zurechtweisen müssen, dass er die Leichname als »Kadaver« bezeichnet oder sexistische Bemerkungen über die Oberweite der Frauen vom Stapel gelassen hatte. Genau wie Sophia war Cassie erst siebenundzwanzig, nur gut halb so alt wie Jason, doch sie war die leitende Sektionsassistentin, und in ihrer Leichenhalle begegnete man den Toten mit Anstand und Respekt.

Dass Sophia – Bronte – eine Prominente war, über die regelmäßig in der Boulevardpresse berichtet wurde, wenn auch nicht immer aus dem richtigen Grund, brauchte man ja nicht zu erwähnen. Cassie hielt die Luft an und rechnete halb damit, dass er die Tote erkannte, doch zum Glück wandte er sich nur achselzuckend ab und brummte: »Ich geh mal schnell raus, eine rauchen.«

Cassie fuhr den Computer hoch. Noch nichts zu der Frage, ob Sophia eine Routineautopsie bekommen sollte – die bei einem unnatürlichen oder unerwarteten Todesfall durchgeführt wurde, bei dem aber keinerlei Verdachtsmomente vorlagen – oder ob die komplette forensische Version vorgesehen war. Das geschah, wenn die Polizei Grund zu der Annahme hatte, dass eine Straftat vorlag. Es war gerade erst neun Uhr – also eine halbe Stunde nach Dienstbeginn in der Rechtsmedizin –, doch sie wollte unbedingt mehr herausfinden.

»Dorothy? Hi, hier ist Cassie.«

Dorothys warmherzige, freundliche Stimme antwortete. »Ich nehme an, Sie rufen wegen diesem armen Mädchen vom Kanal an?« Eine kurze Pause entstand, als sie in ihrem Computer suchte. »Sophia Angelopoulos?«

Also war wenigstens der Nachname korrigiert worden. »Wird im Polizeibericht ihr Künstlername erwähnt? Bronte?«

Wieder eine Pause. Dorothy sah in ihren Notizen nach. »Hier steht nichts davon.«

Es hörte sich also an, als hätten die Cops noch nicht mitgekriegt, dass sie es hier mit einem toten Promi zu tun hatten. So eine Überraschung.

»Wie sieht’s aus?«, fragte Cassie. »Routine oder forensisch?«

»Nur Routine. Der zuständige Polizeibeamte – ein Sergeant Hickey – hat nichts Verdächtiges gemeldet. Anscheinend hat sie einen Abschiedsbrief hinterlassen … Na ja, eine SMS.«

 

Eine halbe Stunde später hatte Cassie Sophia die Kleider von den allmählich steif werdenden Gliedern geschält und sie auf ihren Arbeitstisch gelegt. Sie nahm eine leere Leichenkarte für weibliche Tote – zwei simple Umrisszeichnungen eines weiblichen Körpers, eine für die Vorder- und eine für die Rückseite – und begann, darauf Kreuze für die sichtbaren Verletzungen zu machen. »Das tun wir, um den Pathologen auf alles hinzuweisen, was vielleicht näher untersucht werden muss«, erklärte sie Sophia leise.

Ein Kreuz für die Kopfverletzung, natürlich. Sie drehte Sophias Kopf sachte von einer Seite zur anderen und stellte fest, dass er wackelig war wie der einer Puppe. Halswirbelfraktur in Höhe C1–C2. Ein zweites Kreuz am Hals. Sorgsam arbeitete sie sich an dem Leichnam hinab und markierte mehrere Prellungen und Abschürfungen – wahrscheinlich das Resultat des Aufpralls –, ehe sie Sophias Arme so drehte, dass die Handflächen nach oben zeigten. Unwillkürlich zuckte sie zusammen, als sie die Narben auf der weichen Haut an den Innenseiten der Oberarme erblickte. Da kann man sich ritzen, ohne dass es jemand sieht. Sie waren silbrig weiß, schon lange verblasst. Vielleicht stammten sie sogar aus Sophias Schulzeit … aus ihrer beider Schulzeit. Sie machte Kreuze an den entsprechenden Stellen und wusste, dass dies als Beweis für frühere mentale Probleme gelten würde.

Sophias linker Unterarm war ganz wabbelig. Multiple und komplexe Frakturen der Elle und der Speiche, wahrscheinlich hatte sie reflexartig den Arm ausgestreckt, bevor sie auf dem Boden aufgeschlagen war. Die rechte Handfläche und die Unterseite der Finger waren ebenfalls aufgerissen – eine Ansammlung von Abschürfungen, wie eine Galaxie aus getrocknetem Blut. Das war unerwartet, denn alle anderen Verletzungen befanden sich auf der linken Körperseite, die beim Aufprall offenbar das meiste abbekommen hatte.

Als die Karte fertig ausgefüllt war, deckte Cassie Sophias nackten Körper bis zum Hals mit einem Laken zu. Normalerweise würde sie das nicht tun – Leichen waren hier nichts Besonderes –, doch die Vorstellung, dass Jason sie nackt sah, jung und zumindest vom Hals abwärts noch immer schön, gefiel ihr nicht.

Bisschen spät, jetzt einen auf Beschützerin zu machen, bemerkte ihre fiese innere Stimme.

 

Als Dr. Curzon hereingerauscht kam, um die äußerliche Untersuchung von Sophias Leiche vorzunehmen, begrüßte sie ihn mit einem Lächeln und versuchte es sogar – wenn auch zähneknirschend – mit ein bisschen Small Talk.

»Wie war die Konferenz?«, fragte sie. »Auf Bermuda, stimmt’s?«

Curzon runzelte die Stirn. Ihre Interaktionen liefen normalerweise rein funktional und fast schon unterkühlt ab. Er hatte aus seiner Abneigung ihr gegenüber nie einen Hehl gemacht. Eine Ablehnung, die zum Teil auf einer Art Abwehrreflex gegen ihre Tattoos und Piercings beruhte, zum Teil aber auch darauf, dass sie eigene Ansichten hatte. Für Curzon waren eigene Ansichten das Exklusivrecht des Pathologen und keine Option für irgendeine großmäulige Sektionsassistentin, die nicht wusste, wo ihr Platz war. Und schon gar nicht für eine, die gelegentlich die Dreistigkeit besaß, etwas zu hinterfragen, das er an einem Leichnam übersehen hatte.

»Sehr annehmbar«, antwortete er und plusterte sich sichtlich auf. »Ich habe im Loren gewohnt, am Pink Beach, und mein Vortrag wurde sehr wohlwollend aufgenommen.« Letzteres mit einem Lächeln, das Bescheidenheit anpeilte und an der Hürde der Selbstgefälligkeit eine Bruchlandung hinlegte.

»Hört sich toll an«, beteuerte sie, ehe sie ihm den Bericht der Rechtsmedizin über Sophias Tod reichte. Ihre Charmeoffensive hatte durchaus Methode. Curzon konnte auch zu seinen besten Zeiten schludrig sein, weil er die Liste abarbeiten und sich wieder seiner Privatpraxis widmen wollte. Doch von Archie wusste sie, dass Curzons Frau sich das Leben genommen hatte, was bedeutete, dass er dazu neigte, Suiziden hier in der Leichenhalle mit persönlichen Vorurteilen zu begegnen.

Cassie war nicht bereit, Sophia darunter leiden zu lassen. Es musste zwei Jahre her sein, dass Dr. Curzon beim Nachhausekommen von dem grauenhaften Anblick seiner Frau begrüßt worden war, die in der Garage an einem Dachbalken hing. Vielleicht hatte er sich ja inzwischen damit abgefunden?

Curzon warf auf einen kurzen Blick auf Bronte. »Wieder mal eine Narzisstin, der es egal war, dass sie wertvolle Zeit und Ressourcen der Polizei verschwendet«, bemerkte er bissig.

Oder vielleicht auch nicht.

»Was ist denn verkehrt an einer friedlichen Überdosis im Bett? Wenigstens stört man dabei nicht die Nachbarn.« Mit einem abfälligen Schniefen gab er ihr den Bericht zurück. »Ich nehme an, sie war auf Drogen? Laut dem Polizeibericht wurden in der Wohnung anscheinend synthetische Cannabinoide gefunden.«

Er streckte die behandschuhte Hand aus und kippte Sophias armen zertrümmerten Kopf von einer Seite zur anderen, sodass Cassie unwillkürlich zusammenzuckte. »Was die Todesursache betrifft, besteht jedenfalls kein Zweifel. Dislozierte Halswirbelfraktur und schweres Schädeltrauma durch Kollision mit terra firma. Die Lividität deutet darauf hin, dass sie erst nach drei bis vier Stunden gefunden worden ist.«

Damit meinte er die violette Verfärbung von Sophias linker Gesichtshälfte, die auch an ihrer linken Schulter, dem linken Oberarm und der linken Hüfte zu sehen war. Das waren keine Hämatome, sondern das Blut war dorthin gesackt, wo ihr Körper dem Erdboden am nächsten gewesen war, und dann geronnen.

»Mir ist da eine Abschürfung aufgefallen«, sagte Cassie vorsichtig und drehte Sophias rechte Handfläche nach oben, um sie ihm zu zeigen. »Schwierig, das mit dem Rest der Verletzungen in Einklang zu bringen. Die Frakturen am linken Arm zeigen doch ganz deutlich, dass sie auf der linken Seite gelandet ist.« Sie demonstrierte mit ihrem eigenen Arm, was sie meinte.

Curzons Mundwinkel senkten sich herab. Er würdigte die aufgeschürfte Hand kaum eines Blickes und zuckte die Schultern. »Hat sich wahrscheinlich auf dem Weg nach unten irgendwo aufgeschrammt. Ich denke, das kann man unter unbedeutend verbuchen.« Er bedachte Cassie mit einem warnenden Blick.

Bleib schön in deiner Spur.

Und damit ging er zu Jason hinüber, um sich seinen nächsten Kunden vorstellen zu lassen.

Cassie beugte sich herab, bis ihr Kopf auf einer Höhe mit Sophias dunklen Locken war. »Beachte ihn gar nicht, Sophia«, sagte sie leise, als wären sie wieder auf dem Schulklo und kotzten sich über einen Lehrer aus. »Der ist ein professionelles Sackgesicht.«

Bronte. Ich heiße Bronte.

Cassie blinzelte. Die Worte schienen in der Stimmlage der vierzehnjährigen Sophia von damals von dem Leichnam aufzusteigen: ein wenig harsch, irgendwie beleidigt. Als rationaler Mensch war Cassie klar, dass sich das alles wahrscheinlich in ihrem Kopf abspielte, aber trotzdem respektierte sie stets, was sie von den Toten zu hören bekam.

»Dann also Bronte«, sagte sie.

3. Kapitel

Als die Klinge von Cassies Skalpell durch die zarte Haut unterhalb von Brontes Schlüsselbein drang, wartete sie auf das übliche mentale Umschalten. Den nötigen Perspektivwechsel, nach dem sie den Leichnam, den sie aufschnitt, nicht mehr als Menschen, sondern als lebloses Objekt betrachtete, das es zu analysieren galt.

Nichts. Der Leichnam war noch immer die sonderbare kleine Sophia Angelopoulos aus Mrs Hoopers zehnter Klasse.

Cassie verspürte ein Aufflackern der Panik. Das war ihr noch nie passiert, nicht einmal, als sie jemanden unter dem Messer gehabt hatte, dem sie sehr viel nähergestanden hatte.

Komm schon, befahl sie sich energisch und zwang sich, den zweiten Schnitt der Ypsilon-Inzision zu setzen, der am Schlüsselbein begann und dort, wo vielleicht ein Medaillon auf der Brust hängen würde, auf den ersten traf. Doch ihre Hand zitterte.

Ihr fiel auf, dass Brontes Augen halb offen waren. Das kam einfach nur vom Erschlaffen der Gesichtsmuskeln, wenn die Leichenstarre nachließ … doch als sie diesen halb hinter den Lidern verborgenen Blick auf sich spürte, trat ihr der Schweiß auf die Stirn. Rasch schaute sie zu Jason auf der anderen Seite des Sektionssaals hinüber, der gerade damit beschäftigt war, mit einer Rippenschere den Brustkorb eines älteren Herrn zu öffnen. Dann griff sie nach der Rolle mit dem blauen Papier, das sie zum Putzen benutzten, riss einen halben Meter ab und legte ihn mit noch immer zitternden Händen über Brontes Gesicht.

»Tut mir leid«, sagte sie halblaut. »Ich kann einfach nicht …«

Es funktionierte. Ihr rasender Herzschlag wurde langsamer, und sie konnte den Schnitt entlang der Körpermitte setzen.

Zehn Minuten später, nachdem Cassie die Eingeweide in einem Stück in den wartenden weißen Bottich verfrachtet hatte, nahm sie das blaue Papier weg, das das Gesicht verhüllte. Jetzt, wo der Körper vom Hals bis zum Schritt eine leere Hülle war, hatte sich die übliche Abgrenzung zu ihrem eigenen Schutz endlich eingestellt. Brontes Leichnam war anonym geworden, kein Mensch, sondern ein Rätsel, das gelöst werden musste. Und das würde so bleiben, bis die Eingeweide wieder in den Körper gepackt und dieser zugenäht worden war.

Sie sah, dass Dr. Curzon an seinen Sektionstisch getreten war, trug den Bottich mit beiden Händen hinüber – Eingeweide waren erstaunlich schwer, sogar die von jemand so Zierlichem wie Bronte – und kippte ihn aus. »Soll ich den Schädel öffnen, Dr. Curzon?«

»Nicht nötig«, antwortete Curzon, ohne sie anzusehen.

Normalerweise hätte sie das auch so gesehen: Angesichts der Schwere des Schädeltraumas bedurfte es keiner Bestätigung einer fatalen Hirnverletzung. Diesmal jedoch blieb sie neben ihm stehen, als er anfing, die Organe mit raschen Schnitten voneinander zu trennen. Sie senkte die Stimme. »Hören Sie, ich sollte Ihnen wahrscheinlich sagen, dass sie Sängerin ist. Ihr Name ist Bronte.« Er sah sie verständnislos an. »Jedenfalls, sie ist so eine Art angehender Star … Ich würde mich also nicht wundern, wenn die Medien eine Riesensache aus ihrem Tod machen. Ich sag’s nur.«

Er sah sie an und verstand sofort. »Na, dann schauen wir uns ihr Gehirn mal an«, sagte er matt.

Cassie ging zu ihrem Tisch zurück und hoffte, dass Dr. Curzon seinen strammen Arsch absichern würde, indem er Bronte eine gründlichere Autopsie zuteilwerden ließ als üblich. Eine Routineautopsie konnte durchaus in nur dreißig oder vierzig Minuten abgewickelt werden. Und das war ja auch kein Wunder: Im Gegensatz zu dem vierstelligen Betrag, den sie für eine komplette forensische Leichenschau in Rechnung stellten, bekamen Pathologen hierfür nur so um die hundert Pfund pro Leichnam.

Jason musste gelauscht haben, denn sie hatte noch nicht einmal die Knochensäge angeworfen, als er schon angelatscht kam. Er starrte Brontes Gesicht an. »Ist das die? Du weißt schon, die Sängerin? Die in allen Zeitungen war, total hackedicht?«

»Jep.« Cassie sah das berüchtigte Foto von Bronte in der Regenbogenpresse vor sich. Darauf war es Nacht, und sie trug ein knappes Abendkleid, war aber barfuß und eindeutig betrunken oder bekifft oder beides. Der Lippenstift verschmiert, die Wimperntusche im ganzen Gesicht verteilt. Die Paparazzi hatten sie vor der Tür ihres Apartmentblocks erwischt, und sie hatte sich gerade umgedreht, um sie anzubrüllen. Zorniges Gesicht, offener Mund – ein von einem brutalen Blitzlicht grell beleuchteter Augenblick. Eine der Schlagzeilen unter dem höchst unvorteilhaften Bild hatte lauthals verkündet: Bronte – Nervenzusammenbruch! Und der Zwischentitel darunter fragte scheinbetroffen: Große Sorge – Wird der labile Star die nächste Amy?

Dreckschweine.

Die Anstrengung des Nachdenkens verzerrte Jasons Gesicht, doch dann platzte er heraus: »Bronte! Ja, die kenne ich! Die hat Clean Break rausgebracht.«

Cassie zuckte mit finsterer Miene die Achseln.

Jason sah sie ungläubig an. »Das musst du doch mal gehört haben? Der größte Dance-Track vom letzten Sommer.« Die Erregung hatte ihm das Blut in die ohnehin geröteten Wangen getrieben. »Wir hatten hier drin noch nie ’n Promi!«

Cassie stellte sich so hin, dass sie ihm die Sicht auf Brontes Leichnam versperrte, und sah ihn an. »Hier drin ist sie kein Promi, okay? Wir behandeln sie genauso, wie wir jeden anderen unserer Gäste behandeln würden, verstanden?«

Jason zuckte die Schultern, doch als er davonging, konnte sie ihn den Ohrwurm singen hören, der, wie sie sich ganz schwach erinnerte, letzten Sommer überall gespielt worden war. »Break, break, I need a break, break, break. Gimme a break …«

Nachdem sie den oberen Teil der Schädeldecke entfernt hatte, um Brontes Gehirn freizulegen, fiel ihr Blick plötzlich auf Wasser, das die ganze Zeit über den Sektionstisch floss und das Blut in den Abfluss zwischen ihren Füßen spülte. Hastig griff sie nach der Tischkante, wurde jäh zu jenem schrecklichen Moment im Duschraum zurückkatapultiert, als sie in der zehnten Klasse gewesen war.

Ein dünner Streifen von etwas, das wie Blut aussah, in dem Wasser, das auf den Abfluss zuströmte. Gedämpftes Gelächter.

Dann das hohe, schrille Wimmern eines Mädchens.

4. Kapitel

Am Abend holte Cassie auf dem Heimweg Abendessen: Thai, das mochte Archie am liebsten. Da ihr klar war, wie mies sie in letzter Zeit drauf gewesen war, nahm sie sich fest vor, heute Abend auf »liebe Freundin« zu machen. Als sie die Stelle erreichte, wo Sophia alias Bronte in den Tod gestürzt war, sah sie verblüfft, dass die Polizeiabsperrung schon weg war. Stattdessen lag dort ein einsamer Riesenstrauß weißer Rosen, die ziemlich teuer aussahen. Keine Karte, aber vielleicht war der Strauß ja von ihren Angehörigen. Sie hockte sich dort, wo sie die Cartoon-Sprechblase aus Blut gesehen hatte, auf die Fersen, fand jedoch keine Spur mehr davon. Unwillkürlich nickte Cassie. Die Tatortreiniger hatten ihre Sache gut gemacht. Ihr graute bei dem Gedanken, dass Sophias Blut für jeden Gaffer zu sehen gewesen wäre: Heutzutage würden die Bilder in null Komma nichts in sämtlichen sozialen Medien auftauchen.

Cassie schaute zu dem Balkon hinauf, wo sie am Morgen den Polizisten gesehen hatte, und furchte die Stirn. Es sah aus, als wäre Bronte mehr oder weniger senkrecht hinuntergestürzt. Wenn man vom Balkon sprang, würde man sich doch bestimmt abstoßen, oder nicht? Damit man unterwegs nicht irgendwo gegenknallte.

Als sie an Bord der Dreamcatcher stieg und die Kabinentür öffnete, fand sie Archie auf der Sitzbank vor, die Knie hochgezogen und den Laptop dagegengelehnt. Macavity lag neben ihm. Der Kater – ihr Kater – blickte mit einer Hingabe zu ihm auf, die er ihr so gut wie nie entgegenbrachte. Trotzdem, sie musste zugeben, dass es eine heimelige Szene war, vor allem angesichts des warmen Dunstes in der Kabine und des harzigen Geruchs nach Holzrauch, der in der Luft lag.

»Super, du hast das Ding in Gang gekriegt«, stellte sie fest und betrachtete den Holzofen, der emsig vor sich hin bullerte. Sie brauchte immer eine Ewigkeit, um das hinzubekommen. »Wie hast du das gemacht?«

»Oh, keine Ahnung. Hab einfach nur das Anzündholz genommen und für ordentlich Zug gesorgt.« Er bedachte sie mit seinem süßesten Grinsen. »Dyb, dyb, dyb.«

»Hä?«

»Dyb. Do your best. Ich möchte zu Protokoll geben, dass ich als Wölfling bei den Pfadfindern als Erster mit einem Feuermach-Abzeichen ausgezeichnet worden bin.«

»Na klar. War das, bevor du beim Gymkhana geglänzt hast?«

Archie hätte genauso gut auf einem anderen Planeten aufgewachsen sein können als sie. Eliteinternat in Wiltshire, Reiten, unzählige Fische und bepelzte Tiere zur Strecke bringen … dann die Harrow School, Schulchor, Rugby … und so weiter, bla, bla, bla. Währenddessen hatte Cassie mit fünfzehn die Schule geschwänzt, um mit ihren Punk- und Goth-Kumpels am Kanal zu kiffen oder auf Friedhöfen Cider zu trinken und sich gegenseitig krude Tattoos zu stechen. Archie hatte nach der Schule ein »Gap Year« in Vietnam und Kambodscha verbracht, ehe er sein Medizinstudium in Oxford begonnen hatte, während Cassie nach dem Mittelschulabschluss die Schule geschmissen hatte und mit siebzehn von zu Hause ausgezogen war, um in einem von Junkies besetzten Haus zu wohnen.

Während sie das Essen auspackte, griff er nach dem Tisch, der sich vor der Sitzbank herunterklappen ließ. »Kannst du mal die Nachrichten checken?«, fragte sie. »Ob da irgendwo Bronte erwähnt wird?«

»Charlotte oder Emily?« Er runzelte die Stirn und grinste dann breit. »War nur ein Witz. Von der habe selbst ich schon gehört. Das ist diese Bad-Girl-Sängerin mit dem Bad-Boy-Freund, richtig?«

»War diese Bad-Girl-Sängerin. Sie ist mein neuester Gast. Laut den Cops ist sie vom Balkon gesprungen.«

»Krass!« Er scrollte auf seinem Handy. »Jep, hier haben wir’s. ›Eilmeldung: Laut der Polizei von Camden handelt es sich bei der Frau, die vom Balkon einer Wohnung am Kanal gestürzt ist, um die psychisch labile Sängerin Bronte.‹«

Cassie blinzelte heftig. Jäh wurde ihr klar, dass »labile Sängerin« das Epitaph ihrer ehemaligen Klassenkameradin sein würde. Dass ihre Chance, ihre turbulenten Zwanziger zu überstehen und irgendeine Art Frieden zu finden, für immer dahin war.

Beim Essen berichtete sie Archie von den Verletzungen. »Halswirbelfraktur, massives Schädeltrauma, multiple Frakturen von Ulna und Radius an einem Arm.«

Er nickte und wickelte dabei mit der Gabel ein paar Nudeln auf. »Alles ziemlich normal bei einem Fall aus großer Höhe.«

»Ich weiß nicht«, antwortete Cassie bedrückt. »Sie hatte Abschürfungen an der falschen Hand. Und wenn sie gesprungen wäre, kann man sich doch schwer vorstellen, dass sie da aufgekommen ist, wo sie gelegen hat.« Sie mimte mit den Fingern einen Sprung. »Ich würde sagen, sie ist keinen Meter vom Rand ihres Balkons entfernt gelandet.«

»Und das heißt?«

Sie zuckte die Schultern. »Wenn man von einem Gebäude springt, dann stößt man sich doch bestimmt wenigstens ein bisschen ab? Aber da, wo sie gelandet war, das war mehr so, als wäre sie runtergefallen, wie … wie ein Stein.« Bestimmt würden doch die Cops solchen Details nachgehen? Oder eben nicht … Cassie schob ihren Teller mit grünem Curry halb leer gegessen weg.

»Aber keinerlei Anzeichen für Fremdeinwirkung?«, fragte Archie. Er legte den Kopf schief. »Das macht dir zu schaffen, das sehe ich doch.«

Sie biss sich auf die Lippe, überlegte, wie viel sie ihm sagen sollte. »Ich hab sie gekannt, von der Schule her.«

»Wart ihr befreundet?«

Sie schüttelte den Kopf und stand auf, um ihren Teller wegzubringen und sich ein Bier aus dem Kühlschrank zu holen. Wie sollte sie die Zehnte-Klasse-Politik an ihrer staatlichen Mädchenschule erklären? Die rivalisierenden Cliquen, die brutale Hackordnung, in der die Zicken und die Mobberinnen ganz oben und Mädchen wie sie und Sophia, die einfach nicht dazu passten, ganz unten gestanden hatten.

Dass Sophia so plötzlich weg war, war nicht meine Schuld, sagte sie sich.

Früher hätte Cassie DS Phyllida Flyte angerufen, um den Fall mit ihr zu besprechen. Doch das letzte Mal, dass sie mit der verklemmten Polizistin gesprochen hatte, lag sechs Monate zurück. Seitdem hatte Flyte bei der Londoner Polizei gekündigt, nachdem ihre inoffiziellen Ermittlungen gegen einen der Officers dort beinahe mit ihrem Tod geendet hatte. Jetzt arbeitete sie für das Independent Office for Police Conduct, die Behörde, die Beschwerden über Cops nachging. Dort würde sie angesichts der Masse von Geschichten über das Verhalten von Beamten der Londoner Polizei, die in letzter Zeit ans Licht kamen, bestimmt alle Hände voll zu tun haben.

Als ein lebhaftes Bild von irgendeinem zwielichtigen Cop vor ihrem inneren Auge auftauchte, der sich unter Flytes starrem Eisblick wand, lächelte Cassie zum ersten Mal an diesem Tag.

Flyte

An diesem Tag hatte Phyllida Flyte, ehemals Detective Sergeant, ihre erste große Prüfung in ihrem neuen Job absolviert. Sie war nervös gewesen, aber nicht im negativen Sinne: Fünfzehn Jahre im Polizeidienst hatten sie gelehrt, dass ein bisschen Angst einem Kontrahenten gegenüber durchaus von Vorteil sein konnte.

Und nachdem sie die Fallakte gelesen hatte, war Kontrahent genau der Begriff, mit dem sie PC Ashley Skinner beschreiben würde.

Flyte saß Skinner und der für sie zuständigen Vertreterin der Polizeigewerkschaft gegenüber, um ihre erste Befragung als Ermittlerin des Independent Office for Police Conduct, auch IOPC genannt, durchzuführen. Neben ihr saß ihr Mentor William Wentworth, ein erfahrener Ermittler und ehemaliger Staatsanwalt.

Das Vernehmungszimmer hatte rein gar nichts mit den kahlen Verhörräumen eines Polizeireviers gemein. Es war in einem beruhigenden Pastellton gestrichen und an den Wänden hingen gerahmte Drucke.

Nachdem sie die Rechtsbelehrung vorgelesen hatte, blickte Flyte auf und bemühte sich, zu lächeln. »Wie Sie ja wissen, geht es bei dieser Befragung um Katya Adamskys Kontaktaufnahme mit der Polizei und spezifisch um Ihr Handeln vor dem Mord an ihr durch ihren Ehemann Pawel. Sollten wir tatsächlich entscheiden, dass hier ein Klagegrund vorliegt, könnten Sie zu einer Dienstverfehlungs-Vernehmung oder -Anhörung vorgeladen werden, die wiederum zu einem Disziplinarverfahren führen kann.«

Mit einem kurzen Blick zu William vergewisserte sie sich, dass sie den Juristenjargon richtig hinbekommen hatte. »Aber um das alles mal beiseitezulassen, wir müssen hier einfach herausfinden, was passiert ist.«

Ashley nickte inbrünstig. »Da sind wir schon zwei«, beteuerte sie und setzte ihr allerhilfsbereitestes Lächeln auf. Flyte stellte fest, dass sie sich die Zähne hatte bleichen lassen, wahrscheinlich extra für dieses Gespräch.

Ashleys dienstliches Verhalten wurde hinsichtlich ihres Handelns – oder genauer, ihres Nicht-Handelns – bei einem Fall von häuslicher Gewalt unter die Lupe genommen, der damit geendet hatte, dass die einunddreißigjährige Katya Adamsky von ihrem Ehemann gewürgt, niedergestochen und zu guter Letzt totgeprügelt worden war.

»Ihnen war bekannt, dass Katya ihren Mann bereits bei der Polizei angezeigt hatte, bevor Sie das erste Mal bei ihr waren?«

»Ja, aber sie hat nie gesagt, dass er sie geschlagen hätte. Das ist erst bei seinem Prozess rausgekommen.«

»Hm.« Flyte zog ihre Notizen zurate. »Nichtsdestotrotz gab es dort bereits häufiger Vorfälle, unter anderem haben Nachbarn einen Mann wiederholt ›Ich bringe dich um!‹ brüllen hören. Und als Sie zum ersten Mal dort hingefahren sind, lag das daran, dass Katya die Polizei angerufen und gesagt hat, sie hätte ›Angst vor ihrem Mann‹. Ist das korrekt?«

»Ja, aber als wir da waren, hat sie gesagt, sie will die Anzeige zurückziehen.«

Flyte bedachte sie mit einem säuerlichen Lächeln. »Nicht gerade ungewöhnlich bei Opfern häuslicher Gewalt, vor allem, wenn der Täter noch im Haus ist. Als Sie also mit PC Dodds dort waren, haben Sie die beiden befragt.« Mit gefurchter Stirn blickte sie rasch auf ihre Notizen. »Separat?«

»Ja, sicher.« Ashley nickte.

»Laut Ihren Aufzeichnungen hat sie nichts von Gewalt gesagt. Aber Ihnen sind frische Fingerabdrücke an ihrem Hals aufgefallen, Würgemale. Was hat sie gesagt, woher sie die hatte?«

»Sie hat gesagt, die wären von einem Sexspiel.«

»Aha.« Flyte hielt inne und blätterte eine Seite ihrer Akte um. »Der Ehemann hat PC Dodds dasselbe erzählt. In genau denselben Worten.«

Wieder ein Nicken.

»Aber laut Ihrer beider Notizbücher haben diese Gespräche mit Katya und ihrem Mann genau zur selben Zeit stattgefunden, um 23 Uhr 15 – in ihrer Wohnküche.« Sie lächelte abermals. »Wie groß ist dieser Raum, Ashley?«

Unbehaglich zuckte Ashley die Schultern. »Kann ich nicht sagen.«

»Also, nachdem ich dort war und selbst nachgemessen habe, kann ich Ihnen sagen, dass er dreieinhalb Meter lang und zweieinhalb Meter breit ist. Es ist also klar, dass Sie Katya in Hörweite des Mannes befragt haben, der ihr die Verletzungen am Hals zugefügt hat.«

»Der hat nicht hingehört«, beteuerte Ashley, warf jedoch ihrer Gewerkschaftsvertreterin einen beklommenen Blick zu.

»Schauen wir uns doch mal das weitere Vorgehen an, ja?«, fuhr Flyte fort. »Sie haben das Risiko bei der Meldung des Vorfalls als ›mäßig‹ angegeben anstatt als ›hoch‹. Das bedeutete, dass Katyas Fall nicht automatisch Priorität gehabt hätte, wenn sie sich wieder bei der Polizei meldet.«

Ashley schwieg.

»Wie viele Fälle von häuslicher Gewalt haben Sie schon bearbeitet, Ashley?«

»Oh, Hunderte«, versicherte Ashley. »Da draußen gibt’s massenweise Männer, die ihren Jähzorn nicht im Griff haben.«

Die »Rot gesehen«-Erklärung für häusliche Gewalt – die, wie Flyte wusste, von zahllosen Studien als inadäquat und gefährlich eingestuft worden war. Alle vier Tage wurde eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner umgebracht, und die meisten dieser Frauen hatten vorher unter klassischem missbräuchlichem Verhalten gelitten – und deswegen auch häufig Anzeige erstattet.

Wieder schaute Flyte auf ihre Notizen. »Katya hat Ihnen gesagt, ihr Mann lässt sie nicht mit ihren Freundinnen ausgehen und hat ihr ihre Autoschlüssel weggenommen.«

»Ja, aber ich hab dafür gesorgt, dass er ihr die Schlüssel zurückgibt. Und hab ihm ins Gewissen geredet.«

»Ins Gewissen geredet.« Flyte ließ die Phrase eine Weile in der Luft hängen. »Ist Ihnen nicht der Gedanke gekommen, dass das ein Warnsignal war? Ein klassisches Anzeichen von Kontrolle und missbräuchlichem Verhalten? Ein Muster aus Kontrolle und Misshandlung, das oft eine Eskalation zu schwerer Körperverletzung und sogar Mord ankündigt?«

»Ich fand ihn einfach nur … rechthaberisch.« Wieder zuckte Ashley die Schultern. »Ich meine, die haben doch eine ganz andere Kultur da in Osteuropa, nicht wahr?«

Flyte starrte sie an. »Haben Sie den Leitfaden zu häuslicher Gewalt des College of Police gelesen?«

»Noch nicht.«

»Noch nicht? Den gibt es seit vier Jahren!« Flyte hörte, wie ihr Mentor William sich räusperte. Ruhig bleiben, ermahnte sie sich.

»Ist Ihnen die Silent Solution bekannt, Ashley?«

»Ja.« Ashley setzte sich gerade auf – diesmal wusste sie die Antwort. »Damit können die Leute lautlos bei der Polizei anrufen und 55 eintippen, um anzuzeigen, dass sie in Gefahr sind.«

»Aber Sie haben Katya das nicht gesagt? Nicht einmal als Vorsichtsmaßnahme?«

Ashley schüttelte den Kopf. Ihr war eindeutig zu spät klar geworden, dass ihre Antwort ein Fehler gewesen war.

Die Silent Solution war speziell für Opfer häuslicher Gewalt eingeführt worden. Katyas Handy war neben ihr auf dem Küchenboden gefunden worden. Irgendwann hatte sie während der zweistündigen Gewaltorgie ihres Ehemannes die Chance gehabt, den Notruf zu wählen und dann nicht aufzulegen. Offenbar hatte sie den urbanen Mythos geglaubt, ein Anruf, bei dem sich niemand meldete, würde automatisch einen Besuch der Polizei nach sich ziehen. Als er keine Antwort bekommen hatte, hat der Telefonist in der Zentrale aufgelegt und war davon ausgegangen, dass sich da jemand verwählt hatte. Kurz danach war Pawel dorthin zurückgekehrt, wo Katya lag, und hatte sein Werk vollendet.

Es hatte noch eine weitere Stunde gedauert, bis Katyas Schwester, die sie nicht erreichen konnte, die Wohnung betreten und ihren übel zugerichteten, blutigen Leichnam gefunden hatte. Sie war nach oben geeilt und hatte Katyas zehn Monate alte Tochter, die zum Glück der Raserei ihres Vaters entgangen war, in ihrem Bettchen vorgefunden.

 

»Wissen Sie, was mich wirklich wütend macht, ist, dass die beiden wussten, da ist ein Baby im Haus, aber es war ihnen völlig egal.« Flyte ließ ihrem Mentor William gegenüber in einem Coffeeshop Dampf ab. »Die haben sogar unterwegs haltgemacht, um sich bei Kentucky Fried Chicken etwas zu essen zu holen!«

»Ist ein ziemlich übler Fall«, pflichtet William ihr nickend bei. Nachdem er an seinem Tee genippt hatte, sah er sie freundlich an. »Das kann für Sie ja nicht leicht sein, so die Fronten zu wechseln«, meinte er. »Und Leute, die früher mal Polizeikollegen waren, als Verdächtige betrachten zu müssen.«

Sie nickte und drückte die Zitronenscheibe über ihrem Earl Grey aus. In Wirklichkeit jedoch dachte sie, wie leicht es ihr fiel, wie befriedigend sie es fand, ihre ehemaligen Kollegen bei der Londoner Polizei zur Rechenschaft zu ziehen. Zu oft hatte sie in ihrer Zeit als Detective den Mund gehalten und sich nicht gegen die Einstellungen aufgelehnt, denen sie begegnet war: Frauen gegenüber, Homosexuellen … jedem gegenüber, der nicht weiß, männlich und hetero war. Den anderen gegenüber. Es war sechs Monate her, dass ihre kurze Karriere als Detective beim Morddezernat unter Umständen geendet hatte, die ihr Restvertrauen in die Polizei zerstört hatten. Als sich die Gelegenheit geboten hatte, beim IOPC zu arbeiten, hatte sie nicht lange gezögert, bevor sie eine temporäre Aussetzung des Dienstverhältnisses bei der Londoner Polizei beantragt hatte – Polizisten durften nicht beim IOPC tätig sein. Es war ein schlimmer Moment gewesen, als sie nach fünfzehn Jahren ihren Dienstausweis zurückgegeben hatte, doch sie hatte keine Zweifel gehabt und war sicher gewesen, dass aus der Trennung auf Zeit eine Scheidung werden würde.

»Also«, fragte sie, »wird Ashley Skimmer wegen ihres Versagens entlassen, durch das Katya umgekommen ist?«

»Wir stellen lediglich fest, ob ein Klagegrund vorliegt«, antwortete William geduldig. »Wie Sie wissen, liegt es danach nicht mehr in unserer Hand, sondern in der Verantwortung der Kommission, die die Klage gegen sie anhören und entscheiden wird, ob eine Entlassung oder ein Disziplinarverfahren angezeigt ist.«

»Wahrscheinlich bekommt sie nur eins auf die Finger und wird zu einer Fortbildung verdonnert, stimmt’s?« Flyte konnte die Bitterkeit in ihrer eigenen Stimme hören.

Er betrachtete sie nachdenklich. »Hören Sie, Phyllida, es ist vollkommen verständlich, dass Sie sehr gute persönliche Gründe haben, danach zu streben, dass die Polizei von London sich zusammenreißt. Darauf arbeiten wir alle hin. Aber persönliche Gründe mal beiseite, wir müssen auch bedenken, wie wir am besten bessere Dienstleistungen seitens der Polizei erreichen.« Er beugte sich zu ihr hinüber und senkte die Stimme. »Wenn alle Ashley Skimmers entlassen werden würden, würde die Londoner Polizei über Nacht Tausende Streifenbeamte verlieren. Wir haben festgestellt, dass es in ihrem Revier üblich war, häusliche Gewalt nicht ernst zu nehmen, und sie hat sieben tadellose Dienstjahre vorzuweisen.«

»Ja, aber …«

»Sanktionen gegen Polizeibeamte, die sich Verfehlungen haben zuschulden kommen lassen, sind wichtig, natürlich, aber wir dürfen nie den Lernaspekt unserer Arbeit außer Acht lassen. Verbesserungsmöglichkeiten zu identifizieren und zu empfehlen, kann in der täglichen Arbeit wirklich etwas bewegen.«

Flyte nickte halbherzig. Allmählich ging ihr auf, dass es einen großen Vorteil gehabt hatte, es mit waschechten Kriminellen zu tun zu haben. Als Polizistin war man nicht dafür zuständig, sie zu belehren und zu hätscheln, sondern nur dafür, sie zu schnappen und hinter Gitter zu bringen.

5. Kapitel

Am nächsten Tag sah Cassie auf dem Weg zur Arbeit einen Haufen Leute auf dem Treidelpfad herumwuseln, dicht bei der Stelle, wo Bronte abgestürzt war.

Als sie näher kam, sah sie, dass einige mit ihren Handys auf Brontes Balkon zielten oder Selfies machten, ohne Zweifel posteten sie die Bilder auf Social Media. An der Grenze zwischen Pfad und Grundstück lagen jetzt haufenweise in Plastikfolie gehüllte Blumen, Karten – manche davon selbst gemacht – und das eine oder andere Windlicht. Als sie an dieser Pop-up-Totenwache vorbeiging, bückte sich gerade eine junge Frau, um mit tränenüberströmtem Gesicht ein weiteres Bündel Tulpen an dem Kanal-Schrein niederzulegen. Cassie wich ihrem Blick aus, diese öffentlich zur Schau gestellte Trauer um eine Fremde war ihr unangenehm.

Sie war sechzehn gewesen, als die Nachricht, dass Amy Winehouse – Camdens berühmteste Bewohnerin und Ex-Junkie – nach einer Wodka-Sause gestorben war, wie eine Bombe eingeschlagen hatte. Cassie war untröstlich gewesen, und die tiefe Trauer hatte wochenlang angehalten. Merkwürdigerweise konnte sie sich nicht erinnern, dergleichen empfunden zu haben, als man ihr im Alter von vier Jahren gesagt hatte, dass ihre Eltern beide ums Leben gekommen waren.

Sie und ihre Freunde hatten den kompletten »Amy’s Tod«-Trip durchgezogen, hatten eine nächtliche Totenwache vor ihrem Haus gehalten, eine Pilgertour durch all die Pubs gemacht, in denen Amy getrunken hatte, und waren später zu ihrem Grab auf dem Edgwarebury Cemetery gezogen, um dort eine schwarze Kerze anzuzünden und (ohne jegliche Ironie) eine Flasche Supermarkt-Wodka zu leeren. In den letzten paar Jahren jedoch hatte sie erlebt, wie Amy von einem echten Menschen mit riesigem Talent zu einer Marke gemacht worden war, und Camden war zu einem Magneten für Todes-Touristen geworden. Cassie behagte das nicht. Sicher, es war auch echte Bewunderung dabei, aber für viele war der vermeidbare Tod einer labilen jungen Frau auch eindeutig ein »Pseudoangst«-Kick.

Bronte war doch ganz bestimmt noch nicht berühmt genug, um dasselbe auszulösen?

Fünfzehn Minuten später bekam sie die Antwort darauf. Sie bog um die Ecke, trat auf den Parkplatz der Leichenhalle und blinzelte angesichts dessen, was sie vor sich sah, verblüfft. Zwei Fernsehteams filmten das Gebäude, eine japanische Reporterin im Kostüm sagte vor der Kamera ihren Text auf, und ein Haufen x-beliebiger Zivilisten hatte die Handys auf die Leichenhalle gerichtet.

Scheiße, was …?

Die hatten eindeutig erfahren, dass Brontes Leichnam sich hier befand. Cassie spürte, wie ihr Blutdruck in die Höhe schnellte, als sie den Parkplatz überquerte und dabei mit einer jungen Frau mit pink gefärbtem Bürstenschnitt kollidierte, die das Gebäude filmte und dabei rückwärtsging. Sie drehte sich um und setzte ein breites, unechtes Lächeln auf. »’tschuldigung!« Dann jedoch lief sie neben Cassie her. »Ich bin Charly.« Sie machte eine Pause, damit Cassie sich ebenfalls vorstellen könnte, was diese ignorierte. »Du siehst aus, als würdest du hier arbeiten. Ist doch furchtbar, oder? Hast du gesehen, wie sie Bronte eingeliefert haben?«

Cassie sagte nichts, doch das tat den Fragen keinen Abbruch. »Hat schon eine Leichenschau stattgefunden? Wann erfahren wir, woran sie gestorben ist?« Inzwischen hatten sie den Eingang der Leichenhalle erreicht. »Hast du irgendwas für mich, das ich zitieren kann?«, drängte Charly.

»Klar«, antwortete Cassie. »Fick dich ins Knie.«

Erst da wurde ihr klar, dass die Frau sie die ganze Zeit gefilmt hatte, sie hielt ihr Mobiltelefon ganz unauffällig in Hüfthöhe. Na super.

So rasch sie konnte, zog sie ihre Schlüsselkarte durch das Lesegerät und war sich dabei des weiten Bogens der auf sie gerichteten Handys und Kameras grauenvoll bewusst. Mein Gott. War das hier eine Kostprobe dessen, wie das Leben für Bronte gewesen war?

Sie ging auf kürzestem Weg ins Büro des Managers der Leichenhalle. »Großer Gott, Doug, haben Sie gesehen …?«

»Ich weiß, ich weiß.« Doug machte sich schon zu besten Zeiten ständig Sorgen um alles Mögliche, jetzt jedoch war sein Gesicht bleich und zerfurcht, und er rieb sich mit der Hand das Brustbein; das tat er immer, wenn er Sodbrennen hatte.

»Wie sind die denn drauf?«, empörte sich Cassie und wühlte in ihrer Tasche nach Säureblockern. »Ist das nicht unerlaubtes Betreten des Grundstücks?«

»Anscheinend handelt es sich da um eine Grauzone«, seufzte er. »Aber die Polizei ist schon unterwegs. Die können Platzverweise aussprechen, damit es kein öffentliches Ärgernis gibt.«

»Na, Gott sei Dank! Stellen Sie sich mal vor, man kommt und will den Leichnam von jemandem sehen, den man geliebt hat, und steht plötzlich vor so was!« Sie schüttelte den Kopf. »Kommen Brontes … ich meine, Sophias Angehörige nachher?«

Doug nickte. »Ja, ihre Eltern kommen in einer Stunde – ich dachte, das gibt Ihnen genug Zeit, sie … zurechtzumachen.«

»Also, Wunder kann ich nicht wirken«, knurrte sie und sah im Geist das lädierte Gesicht und den eingedrückten Schädel vor sich.

»Ich weiß, Sie werden Ihr Bestes tun. Wenigstens gibt’s heute keine Autopsieliste. Ach, und nur damit Sie Bescheid wissen, die Eltern haben sich schon vor Jahren getrennt und können sich anscheinend nicht ausstehen, aber sie haben sich auf einen Waffenstillstand geeinigt, um den Leichnam zusammen zu besichtigen, weil Sophia es so gewollt hätte.«

»Oh, toll.« Cassie reichte ihm die Tabletten. Zerstrittene Ehepaare konnten ein Albtraum sein: Anstatt sie einander wieder näherzubringen, beschwor der Tod eines Kindes oft alten Groll herauf.

Sie verzichtete auf die Dusche und stieg sofort in ihre OP-Kluft, bevor sie sich daranmachte, Bronte für die Besichtigung herzurichten.

Nachdem sie die in einen Leichensack gehüllte Gestalt auf eine Rollbahre verfrachtet hatte, brachte sie sie in den Sektionsaal. Da heute keine Autopsien stattfanden, hatte Jason frei. Das hieß, keine Dance-Music aus dem Radio, kein Pfeifen und keine geschmacklosen Bemerkungen. Ihrer Stimmung war das durchaus zuträglich. Tage im Spa, Walgesänge, Yoga – das brauchte sie alles nicht, die Momente, die sie hier ganz allein verbrachte, nur in Gesellschaft ihrer Gäste, das kam für sie der Entspannung am nächsten.

Bronte aus dem Leichensack herauszuholen, war jetzt, da die Totenstarre nachließ, einfacher. Wieder deckte sie ihren nackten Körper zu, diesmal mit einer roten Samtdecke, die extra für Besuche gedacht war. Dann ließ sie den Blick über die Schäden an Gesicht und Schädel wandern. Nach der Autopsie hatte sie den Schädel sorgfältig mit Watte und Mull ausgestopft, sodass die natürliche Wölbung des Kopfes mehr oder weniger wiederhergestellt war. Die violette Verfärbung von der Schläfe bis zum Unterkiefer jedoch stellte sie vor eine größere Herausforderung.

»Okay, Sophia, dann machen wir dich mal hübsch für deine Mum und deinen Dad.«

Cassie bemerkte, dass sich das rechte Auge wieder geöffnet hatte und sie gereizt zu mustern schien.

Sei nicht albern, ermahnte sie sich.

Rasch nahm sie ein wenig Watte, hob das Augenlid sanft an und schob mit einer Pinzette einen kleinen Wattestrang darunter, ehe sie das Lid darüberzog. »Durch das bisschen Reibung bleibt das Auge zu«, erklärte sie halblaut, tat dasselbe mit dem linken Auge und drückte sanft die Lider zu.

Zum Glück war die Haut über dem Wangenknochen unversehrt und musste nicht mit winzigen Stichen genäht werden. Mit Grundierung und Abdeckcreme – beides hatte sie auf dem Weg zur Arbeit im Drogeriemarkt gekauft – machte Cassie sich ans Werk und stäubte zehn Minuten später eine letzte Schicht Puder darüber. Die Verfärbung war immer noch da, doch jetzt war sie nicht mehr als ein Schatten.

Brontes langes, lockiges Haar hatte sie gestern schon gewaschen und mit einem Handtuch bearbeitet, doch es war immer noch feucht. Sie schaltete den Föhn an, den sie in ihrem Spind aufbewahrte, und trocknete das Haar Strähne für Strähne, die sie dabei um ihren Finger wickelte. »Du hattest immer echt tolles Haar, so was von dicht«, meinte sie. Jetzt erwies sich das als Segen, denn es verdeckte die säuberlichen Stiche, mit denen Cassie den Schnitt von einem Ohr zum anderen quer über den Scheitel geschlossen hatte.