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Das Sonderdezernat Q ermittelt weiter! Eine der erfolgreichsten Thrillerserien der Welt geht in die zweite Staffel
Carl Mørck ist raus! Nachdem er ein Jahr lang unschuldig im Gefängnis verbracht hatte, quittiert er den Dienst im Sonderdezernat Q. Als Nachfolgerin taucht die toughe, geheimnisvolle Französin Helena Henry aus Lyon im Keller der Kopenhagener Polizei auf und legt die Füße auf Carls Tisch. Rose hasst die neue Kollegin vom ersten Augenblick an, Assad ist einigermaßen verwirrt von dieser faszinierenden Frau. Dass Helena ein dunkles Geheimnis mit sich herumträgt, macht es nicht leichter, ihr als neuer Kollegin zu trauen. Doch eine grausame Mordserie lässt keinen Raum für solche Überlegungen. Das Team muss handeln, und zwar schnell, denn das Motiv des Mörders liegt weit zurück in der Vergangenheit. Und es ist stark. Doch ausgerechnet Carl liefert dem Team die erste heiße Spur – die Jahrzehnte zurück führt, in ein Sängerinternat, in dem Entsetzliches geschehen ist …
»Tote Seelen singen nicht«: Der elfte Fall für das Sonderdezernat Q in Kopenhagen ist ein atemberaubender Thriller über die toxische Macht von Demütigungen und den langen Atem der Rache.
Netflix-Neuverfilmung Department Q von Scott Frank
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Seitenzahl: 712
Veröffentlichungsjahr: 2025
DASSONDERDEZERNAT Q ERMITTELTWEITER!
Eine der erfolgreichsten Thrillerserien der Welt geht in die zweite Staffel
Carl Mørck ist raus! Nachdem er ein Jahr lang unschuldig im Gefängnis verbracht hat, quittiert er den Dienst im Sonderdezernat Q. Als Nachfolgerin taucht die toughe, geheimnisvolle Französin Helena Henry aus Lyon im Keller der Kopenhagener Polizei auf und legt die Füße auf Carls Tisch. Rose hasst die neue Kollegin vom ersten Augenblick an, Assad ist einigermaßen verwirrt von dieser faszinierenden Frau. Dass Helena ein dunkles Geheimnis mit sich herumträgt, macht es nicht leichter, ihr als neuer Kollegin zu trauen. Doch eine grausame Mordserie lässt keinen Raum für solche Überlegungen. Das Team muss handeln, und zwar schnell, denn das Motiv des Mörders liegt weit zurück in der Vergangenheit. Und es ist stark. Doch ausgerechnet Carl liefert dem Team die erste heiße Spur – die Jahrzehnte zurückreicht, in ein Sängerinternat, in dem Entsetzliches geschehen ist …
»Tote Seelen singen nicht«
Der elfte Fall für das Sonderdezernat Q in Kopenhagen ist ein atemberaubender Thriller über die toxische Macht von Demütigungen und den langen Atem der Rache. Die Presse über den neuen Fall für das Sonderdezernat Q:
»Jussi Adler-Olsen und seine beiden neuen Co-Autorinnen Line Holm und Stine Bolther übertreffen alle Erwartungen. Sie führen die Erfolgsserie in eine neue Ära. Die weiblichen Fußabdrücke werden kraftvoll gesetzt, der unverwechselbare Charakter der Serie bleibt.« Berlingske
»Auch der neueste Band überzeugt total. Als Leser:in fliegt man atemlos durch die Geschichte.« Jyllands-Posten
Große Netflix-Neuverfilmung der gesamten Q-Reihe durch Scott Frank. Internationaler Filmstart: 29. Mai 2025
JUSSIADLER-OLSEN, Jahrgang 1950, Autor seit 1997, hat eine der weltweit erfolgreichsten Thriller-Reihen geschrieben. Seine preisgekrönten und mehrfach verfilmten Thriller erscheinen in 45 Sprachen.
LINEHOLM, Jahrgang 1975, ist Investigativjournalistin und Buchautorin. Gemeinsam mit Stine Bolther veröffentlicht sie unter anderem die international erfolgreiche Thriller-Reihe um Kriminalhistorikerin Maria Just.
STINEBOLTHER, Jahrgang 1976, ist Journalistin, Autorin, Podcast- und TV-Moderatorin und arbeitet seit über fünfundzwanzig Jahren als Gerichts- und Kriminalreporterin.
FRIEDERIKEBUCHINGER, Jahrgang 1973, ist mehrfach ausgezeichnete Übersetzerin u. a. von Pernilla Ericson, Frida Nilsson und Jens Henrik Jensen.
Jussi Adler-OlsenLine HolmStine Bolther
Der elfte Fall für das Sonderdezernat Q in Kopenhagen
Thriller
Aus dem Dänischen von Friederike Buchinger
Die Originalausgabe erschien 2025
unter dem Titel DØDESJÆLESYNGERIKKE
bei Politikens Forlag, Kopenhagen.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Copyright © der Originalausgabe by Politikens Forlag
in agreement with Politiken Literary Agency 2025
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2025
Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur,
Zürich, unter Verwendung von Motiven von © Mark Owen / Trevillion Images und © Shutterstock
Covermotiv Vogel: Mark Owen / Trevillion Images
Hintergrund: photonova / Shutterstock
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-31952-6V001
www.penguin-verlag.de
Als Jakob wieder zu sich kam, kehrte auch die Kälte zurück. Er spürte den beißenden Schmerz in den Fingern, das Brennen in seinen aufgeschürften Füßen. Es waren höchstens ein paar Grad über null. Sein Atem stieg in weißen Wolken vor ihm auf, und selbst seine nackten Schultern schienen in der Dunkelheit zu dampfen. Dafür war sein Hodensack auf die Größe einer Walnuss zusammengeschrumpft und tat so weh, als hätte ihm jemand hart zwischen die Beine getreten. Er wünschte, er hätte sich nach vorn beugen können, wäre in der Lage gewesen, sich zu verbiegen wie dieser Schlangenmensch, den er damals im Zirkus Benneweis gesehen hatte. Dann hätte er warme Luft auf seine Geschlechtsteile pusten können, auf seine Finger und seine Zehen. Vor allem auf seine Zehen. Lise hatte ihm schon so oft gesagt, dass ein Junge mit seiner Stimme auf keinen Fall kalte Füße bekommen durfte.
Aber er hatte keine Chance.
Sie hatten ihn gegen diesen Baum gedrückt, seine Hände hinter dem Stamm gefesselt, und da stand er nun, nackt und allein, am Ufer eines schwarzen Sees. Die furchige Rinde der Eiche rieb an seiner Wange, drückte sich in seine Rippen und in die dünne Haut seines Brustkorbs. Alles in ihm sehnte sich danach, wieder bewusstlos zu sein. An einen Ort zu verschwinden, an dem es warm war und schön. Aber was musste man tun, um ohnmächtig zu werden? Er war doch erst zehn, er hatte so etwas noch nie gemacht.
Er drehte den Kopf. Sein hellblauer Schlafanzug und die gestreifte Unterhose lagen hinter ihm im Dreck, schmutzig und nass. Sie hatten ihm alles vom Leib gezerrt, hatten erst seine Sachen und danach ihn angepinkelt, dann waren sie abgehauen. Seine Beine und auch der Lendenbereich waren inzwischen getrocknet, aber der Urin brannte noch immer auf seiner Haut, als würden Ameisen und beißende Käfer auf ihm herumkrabbeln.
Wie lange stand er schon hier? Er hatte keine Ahnung. Dunkelheit und Erschöpfung hatten ihm jedes Zeitgefühl genommen. Das Grölen der Jungs war jedenfalls schon eine ganze Weile verstummt. Seitdem umgaben ihn nur noch die Geräusche der Nacht. Über ihm flüsterte der Wind in den kahlen Ästen, und die Büsche und Sträucher ächzten, als wäre der Wald ein großer lebender Organismus.
Dann: ein leises Rascheln ganz in seiner Nähe. Er sah nach unten. Eine Amsel saß neben seinen Füßen und blickte zu ihm hoch.
»Wo kommst du denn her?«, fragte Jakob.
Der Vogel flog flatternd auf, setzte sich auf seinen Arm und starrte ihn aus schwarzen Augen an.
»Du und ich, wir sollten eigentlich beide schlafen.« Jakob ließ seinen Kopf auf die Schulter sinken. Er war so unglaublich müde, sein Körper wollte schon längst nicht mehr.
Die Amsel legte den Kopf schief und zwitscherte als Antwort drei leise Töne. Ihre Krallen bohrten sich in Jakobs Arm, zwickten in seine nackte Haut, und auf einmal spürte Jakob, dass er und der Vogel eins geworden waren. Die Angst war fort, stattdessen fühlte er etwas Neues. Etwas Dunkles, Animalisches war durch den Vogel in ihn hereingekrochen. Der Hass hatte sich in ihm eingenistet und eine Heimat gefunden.
Jakob schloss die Augen und flüsterte der Amsel etwas zu: Es war ihm egal, ob Gott sie geschickt hatte oder der Teufel – wenn nur einer von beiden ihn endlich erlösen würde.
Er erwachte, als er hinter sich eine Stimme hörte.
»Ich will nach Hause.«
Jakob drehte den Kopf. Die Amsel war verschwunden.
Tommy saß unten am See auf dem Poller, an dem ein alter, grau gewordener Rettungsring hing. Genau wie Jakob war er erst kürzlich zehn geworden, aber er war einen halben Kopf kleiner und mager wie ein Insekt.
»Hör auf rumzuheulen, Tommy! Ich kann auch nichts dafür, dass wir in die falsche Richtung gelaufen sind.« Berg, der Älteste in der Gruppe, trat aus dem Schatten der Bäume. »Vang! Du hast doch gesagt, dass wir zum Schullandheim nach Süden müssen. Aber wo zur Hölle ist denn Süden?«
Zögernd tauchte der stämmige Mads-Peter Vang hinter einem der Bäume auf. Der Elfjährige gehörte zur jüngsten Generation in einer langen Ahnenreihe wortkarger Fischer aus Westjütland. Vang zeigte zu einem Pfad, der ein Stück weiter in den Wald führte. »Ich hab doch gesagt, dass da vorn der richtige Weg ist.« Er sprach leise und vermied es sorgfältig, in Jakobs Richtung zu sehen. »Aber findet ihr wirklich, dass wir ihn die ganze Nacht hierlassen sollen? Er kann sterben, wenn Frost kommt.«
»Und wer hat behauptet, dass es Frost gibt? Etwa deine fetten Knie?« Konrad, ein schmaler Junge mit zurückgegelten Haaren und herablassendem Blick, schritt auf dem Badesteg auf und ab.
»Aber was machen wir, wenn er uns verpetzt?«, fragte Tommy. Das mit dem Pinkeln war seine Idee gewesen. Weil er die älteren Jungs unbedingt beeindrucken wollte. Jetzt war von seinen großen Tönen nicht mehr viel übrig.
»Das traut er sich nicht.« Bergs Augen flackerten im Dunkeln. Er war ein hübscher, verwöhnter Junge, und bis zu Jakobs Ankunft war seine Stimme unbestritten die schönste im ganzen Knabenchor gewesen. Inzwischen waren Berg und Konrad beide schon dreizehn, sie konnten jederzeit in den Stimmbruch kommen.
»Ich verrate euch nicht.« Jakob war selbst überrascht, dass er noch sprechen konnte, so ausgetrocknet, wie sein Mund war.
Konrad drehte sich um und schlich dann wie eine Hyäne auf ihn zu. »Igitt. Wonach stinkt es denn hier?« Er blieb hinter Jakob stehen, lehnte sich nach vorn und blähte die Nasenlöcher. »Bah, das riecht nach Pisse.«
Auch Berg kam näher, und ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel, als er sich über das traurige Knäuel aus Jakobs Sachen beugte. »Stimmt, hier stinkt’s wirklich. So ein Schwein können wir echt nicht mit zurück in den Schlafsaal nehmen, Vang.«
»Dann soll er sich eben kurz waschen. Ich kann ihm ja dann meinen Pulli leihen.« Vang zupfte an seinem Islandpullover.
»Super Idee!« Berg zeigte mit einem Fingerschnippen auf Vang und drehte sich schnell zu Konrad um. »Los, wir werfen ihn in den See! Komm, Konrad, pack mit an!«
Berg verschwand hinter der Eiche. Kurz darauf spürte Jakob, wie sich das Seil um seine Handgelenke löste. Konrad hielt ihn am Oberarm fest – als ob Jakob versuchen würde zu fliehen. Als ob er dazu in der Lage gewesen wäre. Seine Füße waren Eisblöcke, seine Beine fühlten sich an wie Gelee, sie trugen ihn kaum, als Konrad ihn hinunter zum See und auf den Badesteg schleifte.
»Hör zu, Wunderkind.« Berg stellte sich dicht neben Jakob. Er war mindestens einen Kopf größer, und seine Stimme klang leise und drohend. »Du springst jetzt in den See.«
Jakob traute sich nicht, ihn anzuschauen. »Aber ich … ich kann nicht schwimmen.« Panik machte sich in ihm breit, sein Unterleib zog sich zusammen. Dann spürte er, wie sein eigener Urin seine Schenkel wärmte.
»Ihh, ist das eklig.« Konrad verzog das Gesicht, als müsste er sich gleich übergeben. »Hast du kein Benehmen?« Er zerrte Jakob grob am Arm, näher an den Rand des Stegs.
»He … Seid ihr bescheuert?« Vang verfolgte das Geschehen mit aufgerissenen Augen. »So hatte ich das nicht gemeint. Der See ist bestimmt zwei Meter tief. Man kann den Boden ja nicht mal sehen.«
Jakob starrte nach unten auf das schwarze Wasser. Vang hatte recht. Der Grund des Sees war nicht zu erkennen, schon gar nicht im Dunkeln. Vielleicht war es auch überhaupt kein See, sondern ein Moor, und Moore waren tückisch, das wusste er. So ein schlammiger Sumpf konnte sogar erwachsene Männer in die Tiefe ziehen.
Dass Tommy angerannt kam, bemerkte Jakob erst, als etwas Hellblaues durch die Luft flatterte. Tommy hatte sein schmutziges Schlafanzugoberteil in den See geschleuderte. Jetzt trieb es ein paar Meter entfernt auf dem Wasser, ausgebreitet wie das Hemd einer Anziehpuppe.
»Na los, hol dir deinen Schlafanzug!« Berg sah ihn an wie ein lauerndes Raubtier. »Mach schon. Du willst doch mit zurück ins Schullandheim, oder?«
»Ich kann … nicht … schwimmen.« Jakob versuchte aufzustampfen, aber sein Fuß gehorchte ihm nicht mehr.
»Los jetzt.«
Berg versetzte Jakob einen Stoß, er taumelte. Konrad schnappte sich Jakobs Arme, Berg seine Beine, ein Schwung, und er war in der Luft.
Er landete mit dem Gesicht und der Brust zuerst im See. Die Kälte verschlug ihm den Atem. Panisch reckte er den Kopf über Wasser und schnappte nach Luft. Er schlug mit den Armen um sich, strampelte wie ein Hund und versuchte verzweifelt, Boden unter den Füßen zu finden. Ohne Erfolg. Seine Zehen streiften etwas Glitschiges, Schwammiges, aber da war nichts, was ihm Halt geboten hätte.
Jakob hörte jemanden rufen, doch die Worte drangen nicht zu ihm durch.
Die Kälte ging ihm durch Mark und Bein, immer mehr Wasser schwappte in seinen Mund und lief ihm die Kehle hinunter. Er musste hier raus, er musste sich orientieren, musste irgendwie ans Ufer zurück, aber er wusste nicht einmal, wo oben und unten war. Seine Sinne waren wie erstarrt in dieser Eiseskälte, und um ihn herum war alles schwarz. Das Wasser, die Nacht, der Wald.
Etwas Hartes traf ihn am Kopf. Ein Stein. Dann noch einer. Als ihn ein dritter Stein an der Schläfe traf, nahm er es kaum noch wahr.
Die Kälte war so übermächtig gewesen, doch auf einmal hörte er auf zu frieren. Plötzlich war da eine Wärme von innen, und er fragte sich, warum er sich diesem wohligen, verlockenden Gefühl nicht einfach ergeben sollte.
Ob seine Eltern wohl traurig wären?
Asger und Lise wären es bestimmt.
Solche Gedanken gingen ihm durch den Kopf, als seine letzten Kräfte ihn verließen und das Wasser sich über ihm schloss.
Er stand schwankend vor der Tür, gebückt wie ein kurzsichtiger Rentner, und fummelte am Schlüsselbund herum. An dem Metallring hingen sicher an die fünfzig Schlüssel. Für jedes Schloss einer, Schlüssel für die alten Archivschränke bis hin zu den Leihfahrrädern, die von der Kommunalverwaltung auf Anraten einer hippen Beratungsfirma angeschafft worden waren. Und ganz offensichtlich war Kevin entschlossen, alle fünfzig der Reihe nach durchzutesten.
»Lass gut sein, Kevin … Komm, wir gehen wieder zurück. Die anderen wundern sich bestimmt schon, wo wir bleiben.« Angespannt sah Gry ihrem zehn Jahre jüngeren Chef über die Schulter.
Die Feinmotorik war ihm schon vor vier, fünf Drinks abhandengekommen.
»Ach was, ich muss nur noch das Loch finden …« Er blickte mit glasigen Augen zu ihr hoch und kicherte. »Genau dasselbe habe ich gestern Nacht auch gesagt.«
Sie wollte gerade pflichtschuldig über seinen Joke lächeln, als sie hörte, wie irgendwo eine Tür zugeschlagen wurde. Wenn man seit fünfzehn Jahren tagtäglich so viel Zeit im Gesundheitsamt verbrachte wie sie, dann entging einem nicht das leiseste Seufzen des Gemäuers.
Sie startete noch einen Anlauf. »Kevin, das bringt doch nichts. Lass uns gehen.«
»Halt doch mal die Klappe, Gro. Ich hab’s ja gleich.« Der Abteilungsleiter kniete inzwischen vor der Tür, um das Schlüsselloch auf Augenhöhe zu bringen.
»Gry … Ich heiße Gry.« Sie bemühte sich, ihre Stimme ruhig zu halten, aber dieses Desinteresse brannte wie eine Ohrfeige. Ihre Wangen glühten vor Scham, und auch am Hals breiteten sich feuerrote Flecken aus.
Die Kollegen der Abteilung feierten seit fünfzehn Uhr mit Dosenbier und Wein aus dem Tetrapack, zum Abendessen hatten sie drei Tüten Chips herumgereicht. Um achtzehn Uhr hatte Gitta aus dem Personalbüro ihre Schuhe in die Ecke geworfen und ihr Handy mit einem Bluetooth-Lautsprecher verbunden, als Bo aus der Buchhaltung sich im Büro seine erste Zigarette angesteckt hatte. Niemand hatte Lust, ins Wochenende zu verschwinden, und so kam es, dass Kevin sie angesprochen hatte.
»Ich glaube, du bist der Schlüssel zu einer richtigen Party«, hatte er gesagt. Seine Bierfahne roch sauer, aber sein Lächeln war entwaffnend, und es hatte sie überrascht und auch ein bisschen verlegen gemacht, dass der junge Abteilungsleiter mit den markanten Wangenknochen sich ausgerechnet mit ihr unterhalten wollte.
Gry war dreiundfünfzig, Langzeitsingle, und schlug sich mit beginnendem Bluthochdruck herum. Normalerweise würdigten jüngere Männer sie keines Blickes, aber da saß er nun und stellte lauter Fragen über ihren Verantwortungsbereich, für den sich noch nie eine Menschenseele interessiert hatte.
Es hatte nicht lange gedauert, bis er einen Fuß auf ihren Stuhl stellte, sodass die Spitze seines Schuhs gerade eben ihren Oberschenkel berührte. Was sollte das werden? Während der billige Wein allmählich zur Neige ging, war Gry immer mehr zu der Überzeugung gelangt, dass sie mit ihrer Vermutung richtiglag. Als Kevin sie dann tatsächlich fragte, ob sie ihn raus auf den Flur begleiten würde, verspürte sie eine prickelnde Erregung wie schon seit Jahren nicht mehr.
»Nimm die Schlüssel mit«, hatte er geflüstert, und sie war sich sicher gewesen, dass der Moment gekommen war. Dass jetzt auch sie diese Art von unverbindlichem Bürosex mit einem Kollegen erleben würde, den sie bislang nur aus Erzählungen kannte. Kevin würde einen geeigneten Raum suchen, die Tür abschließen, ihr die Kleider vom Leib reißen und sie, die erfahrenste und reifste Frau der Abteilung, anflehen, endlich mit ihm zu vögeln.
Jeder wusste, dass sie die Hüterin des Schlüsselbundes war, das Sesam-öffne-Dich sämtlicher Türen im Haus. Das gab ihr tatsächlich ein Gefühl, bedeutend zu sein. Die Mitarbeitertoilette war zu? Gry hatte den Schlüssel. Eine Tür war versehentlich ins Schloss gefallen? Frag einfach Gry. Ein gutaussehender junger Mann hatte Lust, auf dem Kopierer eine Nummer zu schieben? Worauf wartest du? Ruf Gry an!
Aber als sie zum Kopierraum kamen, hatte Kevin sie einfach weitergezogen. Und auch am Konferenzraum mit der bequemen Couch war er ohne zu zögern vorbeigegangen.
»Wohin gehen wir eigentlich?«, hatte sie gefragt, während er zielstrebig weitergestürmt war und sie sich anstrengen musste, um mit ihm Schritt zu halten.
»Na, zum Weinkeller. Wir brauchen Nachschub!«
Der sogenannte Weinkeller befand sich nicht etwa unter dem Gebäude, sondern in einem Büro am Ende des Gangs, das bis Herbst 2019 Gunvors Reich gewesen war. Die ältere Kollegin war zuständig für das kommunale Angebot für Demenzkranke und ihre Angehörigen, bis Kevin als neuer Abteilungsleiter eingestellt worden war. In einem Anflug von »Schließlich bin ich der Bestimmer« hatte er sie kurzerhand vor die Tür gesetzt. Einen Tag vor ihrem dreißigjährigen Dienstjubiläum.
In der darauffolgenden Zeit hatte sich niemand gefunden, der Gunvors Büro übernehmen wollte, es hätte sich für die Kollegen angefühlt wie Leichenfledderei. Und so war der verwaiste Raum immer öfter als Lager für die Weinvorräte der Verwaltung genutzt worden. Inzwischen stapelte sich dort kistenweise Rotwein für Empfänge, aber auch Sekt für Jubiläen und ein kleiner Restbestand der Weihnachtsgeschenke, die letztes Jahr an die Mitarbeiter verteilt worden waren. Alles in allem lagerten im »Weinkeller« mehrere hundert Flaschen, die nur selten nachgezählt wurden.
»Wir können uns hier doch nicht einfach bedienen, Kevin.« Als sie seine Reaktion sah, hatte Gry ihre Bemerkung sofort bereut. Zwischen seinen Augenbrauen hatte sich eine tiefe Falte gebildet.
»Gro. Wer ist hier noch mal der Chef? Außerdem leihen wir uns die Flaschen ja nur. Wir wollen doch ein bisschen Spaß zusammen haben …« Er hatte den Arm um sie gelegt und ihren Kopf an seine warme Brust gedrückt. In diesem Moment war sie wieder sicher gewesen, dass er mit »Spaß« Sex gemeint hatte, aber jetzt kniete er hier auf dem Boden, kämpfte mit dem Schlüsselbund – und konnte sich immer noch nicht an ihren Namen erinnern.
»Ich gehe jetzt zurück«, sagte sie mit brüchiger Stimme, aber Kevin beachtete sie gar nicht. Er hörte nur das Geräusch eines Schlüssels, der perfekt ins Schloss passte, und kicherte zufrieden.
»Ich bin fucking Indiana Jones«, lallte er, knipste das Licht im Zimmer an und nahm die Weinvorräte in Augenschein.
Gunvors alte Regale waren erwartungsgemäß gut gefüllt mit Weinflaschen und kleinen Pralinenschachteln, die mit dem Logo der Kommune bedruckt waren. Auf einem Aktenschrank in der Ecke hatte sich lauter Elektronikschrott angesammelt: ausgediente Drucker, alte Festnetztelefone, heimatlose Kabel, Stecker und verstaubte Tischventilatoren, die wirklich mal jemand zum Wertstoffhof bringen könnte.
»Und hier … der Heilige Gral.« Kevin angelte eine Magnumflasche Champagner vom Regal.
Selbst Gry, die in einem Arbeiterviertel in Rødby aufgewachsen war und absolut nichts von teuren Weinen verstand, sah auf den ersten Blick, dass diese Flasche sicherlich tausend Kronen kostete.
»Kevin, bitte! Stell den Champagner zurück. Davon ist nur ein einziger da. Ich will in so was nicht reingezogen werden.« Ihre Stimme kippte.
Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte sie etwas Unvernünftiges getan. Sie konnte alle Männer, mit denen sie je geschlafen hatte, an drei Fingern abzählen. Und nun stand sie hier, von ihrer eigenen schamlosen Lust auf Abwege geführt, und war im Begriff, zur Komplizin eines abgeschmackten Diebstahls zu werden.
»Du hast ja recht.« Kevin tauschte den Champagner gegen zwei Flaschen Rotwein. »Davon gibt es noch mehr als genug.« Er klemmte sich eine der beiden Flasche unter den Arm und wollte noch eine dritte nehmen. »Halt mal.« Mit viel zu viel Schwung warf er Gry den Schlüsselbund zu.
Das harte Metall prallte mit voller Wucht gegen ihr Brustbein. Sie taumelte erschrocken ein paar Schritte nach hinten und landete mit der Hand auf der alten Telefonanlage, die noch immer auf Gunvors Schreibtisch stand. Prompt sprang der Anrufbeantworter an.
»Es liegt – eine – neue – Notfallmeldung vor«, verkündete eine weibliche Automatenstimme.
»Was zur Hölle war das?«, fragte Kevin belustigt und betrachtete überrascht das Telefon. Ein rotes Lämpchen blinkte.
»Meldung empfangen am 10. November 2019 um 16 Uhr und 28 Minuten«, fuhr die Automatenstimme fort.
»Ach du Scheiße, das ist ja ewig her. 2019 … Damals warst du noch jung!« Kevin stieß Gry den Ellenbogen in die Seite, auch wieder viel zu grob, aber diesmal sah sie ihm direkt in die Augen.
»Jetzt halt mal den Rand!«, fuhr sie ihn an und betonte dabei jedes Wort.
Mit mulmigem Gefühl wanderte ihr Blick zur Telefonanlage zurück. Was, wenn das ein Notruf war, den tatsächlich nie jemand abgehört hatte? Der 31. Oktober 2019 war Gunvors letzter Arbeitstag gewesen, Halloween. Schon einen Tag später war Gry damit beauftragt worden, Gunvors liebevoll geschnitzte Kürbisse wegzuwerfen.
»Audimus …, dieses alberne Notrufprogramm.« Kevin war näher gekommen und starrte über Grys Schulter auf das blinkende Gerät. »Das Drecksprojekt zu stoppen, war eine meiner ersten Amtshandlungen hier. Der Schrott war ja viel zu teuer.«
»Schhhh!« Gry legte einen Finger an ihren Mund, als die Wiedergabe startete.
Die fast vier Jahre alte Nachricht gab bis auf undefinierbare Umgebungsgeräusche zunächst nicht viel preis, aber nach sechs Sekunden setzte unvermittelt eine heisere, zittrige Stimme ein. Offenbar eine ältere Frau, die angestrengt versuchte, eine Melodie zu summen. Es klang, als müsse sie jeden Ton einzeln aus ihrem Gedächtnis hervorkramen. Dann wurde im Hintergrund die Stimme eines alten Mannes laut. Seine Worte waren unmissverständlich.
»Hilfe!«, klang es jämmerlich, dann »Helfen Sie uns!«. Der Mann rief wieder und wieder, mit wachsender Verzweiflung, bis ihn eine dritte Stimme übertönte, ebenfalls ein Mann, aber hörbar jünger.
»Halt endlich das Maul!« Die Stimme klang merkwürdig, sie erinnerte an einen Teenager im Stimmbruch. »Du lässt mir keine andere Wahl.«
Das Summen der Frau hatte aufgehört.
»Hast du denn gar kein Gewissen? Das kannst du doch nicht wollen! Sieh sie dir an!«, sagte der Mann im Hintergrund. Er klang wie ein Vater, der versuchte, sein Kind zur Vernunft zu bringen.
»Gewissen? Ausgerechnet du redest von Gewissen?« Die hohe Männerstimme klang nervös, fast schon hysterisch. Es blieb ein paar Sekunden still, dann fuhr die Stimme fort: »Du hast dich damals vor der Verantwortung gedrückt. Aber noch mal wird dir das nicht gelingen. Und ich werde dafür sorgen, dass du daran zerbrichst.«
Es folgte ein Tumult, dann schrie die Frau auf. Ein unheimlicher vogelartiger Laut, der abrupt verstummte.
Gry starrte die Telefonanlage an. Ein rotes Doppelblinken signalisierte das Ende der Nachricht.
Gry drehte sich um und sah Kevin an. »Du hast das Notrufprojekt damals gestoppt, sagst du? Wurden die Nutzer darüber informiert?«
Kevins selbstgefällige Miene verwandelte sich in Unsicherheit. »Das war sicher nicht mein Job. Als Führungskraft kann ich mich ja wohl darauf verlassen, dass sich einer von euch darum kümmert, verdammt noch mal. Ich bin hier fürs Denken zuständig, nicht für irgendwelche Handlangerjobs.« Genervt schüttelte er den Kopf, dann fuchtelte er ihr unvermittelt mit dem Zeigefinger direkt vor der Nase herum. »Jetzt hör mir mal gut zu … Das hier, das behältst du für dich, hast du mich verstanden?«
»Aber …« Gry schob seine Hand beiseite. »Das klang doch, als wäre der Frau etwas zugestoßen. Wir müssen die Polizei informieren, dass …«
»Die Polizei?« Speicheltropfen aus Kevins Mund landeten in ihrem Gesicht. »Sag mal, bist du bescheuert? Du löschst jetzt diese Nachricht, okay? Andernfalls erwarte ich noch heute deine Kündigung. Und dann werde ich höchstpersönlich dafür sorgen, dass du nie wieder ein Bein in irgendeine Kommunalbehörde setzen wirst, nicht mal als Putzfrau.« Gry sah ihn sprachlos an. Seine Augen waren schmal geworden, sein Blick stechend.
»Soll ich dir verraten, warum diese beschissene Kommune so unglaublich ineffektiv ist?«, fragte Kevin spitz, schnappte sich seine Weinflaschen und ging zur Tür. »Das liegt an diesen ganzen verknöcherten Bürokraten und an so vertrockneten, alten Jungfern wie dir, Gro. Und jetzt lösch die Scheiße!«
Carl Mørck war schon müde von zu Hause losgefahren. Aber jetzt im Rødovre Shoppingcenter vor dem Schaufenster der Buchhandlung zu stehen und sein neues Werk zwischen Buntstiften und den Memoiren einer vierundzwanzigjährigen Influencerin liegen zu sehen, trug nicht im Geringsten zur Besserung seiner Laune bei.
»Das wird ein Fest«, hatte der Verlagschef voller Begeisterung und mit blinkenden Dollarzeichen in den Augen verkündet, als das Buch aus der Druckerei gekommen war. Für Carl dagegen gehörte der Erscheinungstermin zu den Dingen, die er einfach nur irgendwie überstehen musste.
Erbarmen war anderthalb Jahre zuvor erschienen und großartig bei den Kritikern angekommen, aber um ehrlich zu sein, war die Medienhysterie sehr viel beeindruckender gewesen als die Verkaufszahlen. Seitdem war Carl so oft nach dem »schweren Zweiten« gefragt worden, dass er zwischenzeitlich nicht mehr gewusst hatte, ob es so klug war, einen weiteren Roman zu schreiben. Jetzt war es zu spät für einen Rückzieher. Das Buch über die Internatsmorde in den Achtzigerjahren stand in den Läden und hatte – aus Gründen, die Carl immer noch nicht so ganz klar waren – den Titel Schändung verpasst bekommen.
»Ca-arl, wir warten auf dich!« Die Pressefrau des Verlags, Anni Larsen, winkte ihn zu sich in den Laden.
Das Shoppingcenter in Rødovre war der letzte Stopp auf der heutigen Buchhandelstour zum Erscheinen seines neuen Buches. Zum Glück war Carl so vorausschauend gewesen, den anschließenden Empfang mit all den Reden dankend abzulehnen. Sobald das hier geschafft war, wollte er nur noch nach Hause.
Er schälte sich aus seiner Lederjacke und folgte dem Klang von Anni Larsens nie versiegendem Redefluss. Sie war ja wirklich nett, aber sie hatte ein anstrengenderes Mundwerk als Rose und ihre Schwestern Vicky, Yrsa und Lisa-Marie zusammen. Und sie neigte dazu, eine absurde Veranstaltung nach der anderen in Carls Terminkalender zu pressen.
»Augen zu, und denk an die Verkäufe«, hatte sie gesagt, als sie ihn kurz zuvor nach Nordseeland geschickt hatte, wo er sich bei einem Backwettbewerb als Juror nützlich machen sollte.
Und so hatte er sich schließlich auf einem Stadtfest wiedergefunden, auf dem er die klebrig-süßen Kuchenkreationen der Schulkinder verkosten musste, die sich seit Beginn der Sommerferien vermutlich kein einziges Mal die Hände gewaschen hatten. Zum Dank für seinen Einsatz hatte er einen Strafzettel kassiert und stundenlang unter Sodbrennen gelitten, während Anni das ganze Spektakel als Bombenerfolg verkauft hatte und ihn direkt als Juror für ein Hausmannskost-Wettkochen auf Samsø vorschlagen wollte. Leider hatte er an dem Tag keine Zeit – an welchem auch immer.
»Es geht darum, dass die Leute dich sehen wollen«, sagte Anni immer, wenn er vorschlug, statt seiner Person doch einfach das Buch oder ein paar aus dem Zusammenhang gerissene Zitate zu einer Veranstaltung zu schicken. Aus Carls Sicht versuchte sie, ihm eine geschönte Wahrheit anzudrehen. Gerade sah es zum Beispiel nicht danach aus, als würde sich an diesem sogenannten Festtag auch nur ein einziger Krimi-Fan im Rødovre Shoppingcenter blicken lassen. Er stellte sich also besser gleich darauf ein, die nächste halbe Stunde sinnlos herumzustehen und dabei gequält zu lächeln.
Anni überzog die freundliche Buchhändlerin gerade mit einem engagierten Vortrag über das grandiose Konzept des Covers, also tat Carl einfach so, als wäre er sehr damit beschäftigt, sich ein mannshohes Plakat mit der Ankündigung eines erfolgreichen Kochbuchautors anzusehen, der in der kommenden Woche Bücher signieren und Hirsefrikadellen verteilen würde. Für Carls Besuch hatte niemand ein Plakat aufgehängt, aber das war vielleicht auch besser so. Je schneller er diesen ganzen Zirkus hinter sich hatte, desto schneller war er auch wieder zu Hause und konnte die Beine hochlegen.
Zum Erscheinen seines ersten Buches hatte er nicht nur einer Feier zugestimmt, sondern auch unzählige Interviews gegeben, eins inhaltsloser als das nächste. Irgendwann waren ihm die immer gleichen Fragen schon zu den Ohren rausgekommen: »Wie sieht Ihr Arbeitstag aus?«, »Ist das alles wirklich so passiert?« und der Klassiker: »Wie viel verdienen Sie mit dem Verkauf Ihrer Bücher so?«
Journalisten waren elende Schnüffler.
Dass er endlich wieder in Freiheit war und seine Lieben um sich hatte – das war das Einzige, was für ihn zählte. Vielleicht hatte er es ausgerechnet dieser verfluchten Zeit im Gefängnis zu verdanken, dass er mittlerweile gelernt hatte, auch die kleinen Dinge im Leben zu schätzen. Er hatte sich davor nicht im Ansatz vorstellen können, wie einsam man sein konnte, wie ängstlich und verzweifelt, und in all den schlaflosen Nächten war ihm die Bedeutungslosigkeit von Geld und Prestige schmerzhaft bewusst geworden.
»Bist du so weit, Carl?«, zwitscherte Anni und riss ihn zurück in die Gegenwart des summenden Shoppingcenters. Widerwillig folgte er ihr.
An Tagen wie diesem sehnte er sich in die Zeit zurück, als er noch Teil des Teams im Sonderdezernat Q war. Gordon hatte inzwischen zwar eine schöne neue Stelle in Nordjütland angenommen und Kopenhagen den Rücken gekehrt, aber mit Rose und Assad, die gerade erst zurück in den Keller des Polizeipräsidiums gezogen waren, stand Carl immer noch regelmäßig in Kontakt. Der offizielle Grund für den Umzug des Dezernats war »Platzmangel« im exquisiten Neubau der Polizei auf der Halbinsel Teglholmen im Südhafen. Inoffiziell wusste jeder, dass das Sonderdezernat ein sehr spezielles Konstrukt war, das einfach nicht in die glattgebügelten Strukturen der modernen Polizei passte, in denen es auf Effizienz, Excel-Tabellen, PowerPoint-Präsentationen und Prozessoptimierungen ankam. Die Kripokollegen hatten das Sonderdezernat Q schon immer beargwöhnt, aber seit die Mannschaft nur noch aus Rose und Assad bestand, war die Kritik noch lauter geworden. Auf Teglholmen konnte einfach niemand nachvollziehen, warum ein Zweierteam trotz sinkender Aufklärungsquote mit zusätzlichem Geld und besonderen Freiheiten ausgestattet wurde.
Carl strich sich die Haare glatt. Nein, je länger er darüber nachdachte, umso mehr kam er zu dem Schluss, dass er dieses ganze Hickhack eigentlich doch nicht vermisste.
»Und nun begrüßen Sie mit mir Carl Mørck!«, rief Anni, als würde er gleich die größte Bühne des Bella Centers betreten und sich nicht an den kippeligen Bistrotisch stellen, den man zu seinen Ehren vor dem Schaufenster aufgebaut und mit einem dekorativen Samtüberwurf versehen hatte.
Mit steifen Schritten ging Carl auf die beiden einzigen Leserinnen zu, die ihn mit ihren frisch erworbenen Büchern erwarteten. Als Mona ihn heute Morgen mit einem Kuss verabschiedet hatte, hatte sie ihm zum Schluss noch mit auf den Weg gegeben, dass er immer daran denken solle zu lächeln.
»Deine Fans sind verrückt nach dir«, hatte sie ihm augenzwinkernd erklärt, »und denk dran: die wirst du nicht mehr los. Auch nicht, wenn du böse guckst.«
Mona hatte leicht reden, aber er hielt sich besser an ihren Rat. Und lächelte.
»Danke, dass Sie gekommen sind«, begrüßte er sein recht übersichtliches Publikum. »Großartig, dass Sie sich meinetwegen in diese trostlose Ecke verirrt haben. Das freut mich wirklich. Ich hoffe, Sie haben sich den Weg gemerkt, nicht dass Sie sich noch mal verlaufen.«
Er hörte, wie Anni erschrocken nach Luft schnappte und dann hastig ein Buch vom Stapel nahm. »Carl, vielleicht kannst du deinen Leserinnen kurz erzählen, was sie in deinem neuen Buch Schändung erwartet?«
Carl seufzte. Bedauerlicherweise hatte er unterschrieben, dass er für derartige Torturen, oder »Events«, wie Anni es gern nannte, zur Verfügung stand.
»Tja, also … Im Jahr 1987 wurde ein Geschwisterpaar tot in einem Ferienhaus aufgefunden. Ein über Jahre ungelöster Fall, bis sich das Sonderdezernat Q der Sache annahm. Der ein oder andere mag unsere Ermittlungsmethoden vielleicht etwas ungewöhnlich finden, aber darüber darf sich jeder gern eine eigene Meinung bilden.« Er sah die beiden Frauen an. Sie trugen beide die gleiche Kurzhaarfrisur mit langen Fransen vor den Ohren.
»Dürfen wir ein Selfie machen?«, fragte die eine und zückte direkt ihr Handy.
Widerwillig quetschte Carl ein »Ja, natürlich« heraus.
»Können Sie vielleicht noch ein bisschen in die Knie gehen?« Die beiden Damen drückten sich an ihn, während er sich in eine Art Waldscheißerstellung krümmte und fieberhaft überlegte, wie das mit dem unergründlichen Autorenlächeln noch gleich ging, damit man nicht aussah wie ein drittklassiger Schuhverkäufer.
»Perfekt, das poste ich gleich auf Instagram!«, verkündete die Dame mit dem Smartphone, und mit diesen Worten verschwanden die beiden. Sich selbst überlassen, blieb Carl in der inzwischen verwaisten Passage des Shoppingcenters zurück.
Anni war in den Laden gegangen, um noch ein wenig mit der Inhaberin zu plaudern, und Carl beschäftigte sich solange damit, die Bücher zu zählen, auf denen sein Name stand. Zwölf Stück lagen noch auf dem Bistrotisch. Und sosehr er es eigentlich liebte, seine Ruhe zu haben, so unangenehm war es ihm jetzt, hier herumzustehen und Löcher in die Luft zu starren, ohne dass irgendjemand Notiz von ihm nahm.
Er spielte gerade mit dem Gedanken, sich unbemerkt zur Toilette zu schleichen und sich dort zu verstecken, bis die obligatorische halbe Stunde geschafft war, als Anni aus dem Laden kam. Ihr verzücktes Gesicht konnte nur eins bedeuten: neue Unannehmlichkeiten.
»Ich habe einen freien Journalisten am Telefon«, juchzte sie. Nach Annis Überzeugung war jedes Medien-Interesse gut für den Verkauf, und folgerichtig waren alle Journalisten ein Geschenk des Himmels. »Pelle Hyttested oder so.« Sie streckte Carl ihr Handy entgegen.
Carl runzelte die Stirn. Hyttested, dieser gewissenlose wandelnde Albtraum, hatte jahrelang für das Klatschmagazin Gossip gearbeitet, und genauso lange war er für Carl nichts anderes als ein lästiger Pickel an einem bestimmten Körperteil gewesen. Während Carls Zeit in Untersuchungshaft hatten Mona und die Kollegen des Sonderdezernats Q Pelle Hyttested mit falschen Informationen gefüttert, die dieser Drecksack in seiner Sensationsgeilheit ungeprüft an seine Leser weitergeleitet hatte. Dinge kritisch zu hinterfragen, gehörte nicht zu seinen herausstechenden Fähigkeiten. Als die Anklage gegen Carl schließlich fallengelassen wurde, war Hyttested wegen der Verbreitung von Fake News fristlos gefeuert worden, seither schlug er sich als Freelancer durch. Es war also davon auszugehen, dass seine Meinung über Carl eher frostig ausfiel.
Und tatsächlich strömten Carl auch nicht gerade Glückwünsche durch die Leitung entgegen, nachdem er sein »Mørck« gebrummt hatte.
»Na, noch ein Buch, Mørck? Über echte Verbrechen!? Sie haben tatsächlich das Sonderdezernat Q verlassen, um Ihre fragwürdigen alten Fälle zu Geld zu machen? Sie schüren Angst in der Bevölkerung und geben sogar die Ermittlungsmethoden der Gruppe preis? Ist das vielleicht der Grund, warum das Sonderdezernat Q seit geraumer Zeit diese skandalös niedrige Aufklärungsquote hat?« Hyttested fackelte nicht lange.
Carl kratzte sich im Nacken. Was sollte man zu einem solchen Bullshit auch sagen? Als er fast drei Jahre zuvor festgenommen und inhaftiert worden war, hatten Gordon, Rose und Assad auch ohne seine Hilfe in drei Mordfällen ermittelt, die mit dem Druckluftnagler-Fall in Zusammenhang standen. Und all diese Morde konnten als aufgeklärt betrachtet werden. Aus Carls Sicht war das eine beeindruckende Leistung, er war wirklich stolz auf sein früheres Team.
»Mir ist zu Ohren gekommen, dass die Kopenhagener Polizei darüber nachdenkt, das Sonderdezernat Q aufzulösen.« Per Hyttested kartete nach.
»Und wer zum Teufel verbreitet diesen Blödsinn?«
»Aber Mørck: Sie wissen doch, wie das ist. Wer gibt schon seine Quellen preis?« Elender Wichtigtuer.
»Quellen? Meinen Sie die Stimmen in Ihrem Kopf?« Am liebsten hätte Carl das Telefon einfach an die Wand gepfeffert, aber ein strenger Blick von Anni hielt ihn davon ab. »Hören Sie, ich bin jetzt schon ziemlich lange nicht mehr bei der Polizei. Und meine Bücher schreibe ich nicht, weil es mir Spaß macht, sondern weil ich es als meine Pflicht empfinde.«
Am anderen Ende der Leitung wurde es still.
»Es ist ein wichtiges Stück dänischer Geschichte, das einfach festgehalten werden muss. Wie kommen Sie darauf, dass ich damit den Menschen Angst mache, das Gegenteil ist der Fall: Die Botschaft ist, dass die dänische Polizei in Gestalt des Sonderdezernats Q ihre Bürgerinnen und Bürger beschützt. Was sonst?«, fragte Carl.
Immer noch Stille. War es wirklich so einfach, Hyttested mundtot zu machen?
»Und wenn Sie’s noch genauer brauchen: Die wichtigste Botschaft, die das Sonderdezernat Q mit seiner exzellenten Arbeit sendet, ist, dass sich Verbrechen langfristig nicht lohnt. Ja, natürlich kann man eine Tat monate- oder vielleicht sogar jahrelang vertuschen. Aber irgendwann taucht ein Dokument auf, oder jemand verplappert sich, jemand will sein Gewissen erleichtern, vielleicht bekommt eine DNA-Spur neue Bedeutung. Und irgendwann, früher oder später, werden selbst die raffiniertesten Täter überführt. Ja, die Botschaft des Sonderdezernats Q lautet, dass auch der Schwächste am Ende der Starke sein kann. Und dass das Gute immer siegt.«
Carl atmete tief durch und drückte Anni das Telefon in die Hand. Ihm war schwummerig geworden, so geschwollen, wie er gerade daherreden musste. Erschöpft sah er sich nach einem Pub, einer Weinbar oder wenigstens einem Hotdogstand um. Es musste für einen frischgebackenen Philosophen in diesem seelenlosen Bunker doch irgendwo die Möglichkeit geben, ein Bierchen zu trinken und eine zu rauchen?
Oder konnte er sich vielleicht an die Wand lehnen und wenigstens im Stehen ein wenig vor sich hindösen? Sein Posten an der Peripherie der Buchhandlung wurde im Moment ja wirklich nicht von Menschenmassen gestürmt. Aber das diffuse Gefühl, dass ihn jemand anstarrte, brachte ihn dazu, die Augen gleich wieder zu öffnen.
Vor der Buchhandlung stand eine Frau in grünem Kleid, darüber ein Wollmantel, und während sie an einem Drehständer mit Lesebrillen herumfummelte, sah sie immer wieder verstohlen zu ihm herüber. Vielleicht doch ein Fan, der auf eine persönliche Widmung hoffte? Carl setzte vorsichtshalber sein verführerisches Autorenlächeln auf, woraufhin die Frau auf dem Absatz kehrtmachte und im Geschäft nebenan verschwand. Ihre große Sonnenbrille, das Tuch um den Kopf und der hochgeschlagene Mantelkragen wirkten fast wie eine Verkleidung, aber wer zur Hölle verkleidete sich für eine Shoppingtour in diesem trostlosen Einkaufszentrum?
Als die halbe Stunde endlich um war, hatte Carl mit Annis Unterstützung immerhin drei weitere Bücher verkauft. Zur Belohnung drückte sie ihn an ihre parfümierte Brust.
»Ich fand es so schön, was du vorhin über das Sonderdezernat Q gesagt hast, also, dass am Ende das Gute gewinnt«, sagte sie. »Das hat mich wirklich gerührt, Carl.«
Er versuchte, sich daran zu erinnern, was er vorhin Geniales gesagt hatte, aber dann sah er über Annis Schulter hinweg, dass die Frau im grünen Kleid wieder bei den Lesebrillen stand, den Mantel hatte sie ausgezogen und über ihren Arm gelegt. Als Anni sich schließlich von Carl verabschiedet hatte, fasste die Frau sich ein Herz und kam näher.
»Carl Mørck?«, fragte sie. »Kann ich Sie kurz unter vier Augen sprechen?«
Assad konnte hören, wie Rose sich auf der anderen Seite des Flurs mit den Umzugskisten abmühte.
Ihr lautes Keuchen im Wechsel mit wüsten Beschimpfungen klang wie eine Mischung aus Geburt und Kneipenschlägerei, aber als Assad angeboten hatte, ihr zu helfen, hatte Rose ihm mit verschränkten Armen unmissverständlich klargemacht, dass er gefälligst die Flossen von ihren sorgfältig vorsortierten Kisten zu lassen habe. Eher zufällig war er Zeuge ihrer Flucherei geworden, ihre schlechte Laune hatte ihn völlig unverschuldet getroffen. Am besten, er blieb auf dieser Seite des Flures eine Weile auf Distanz.
Er rieb sich das stoppelige Kinn und sah sich um. In seiner alten Besenkammer hatte es nicht so lange gedauert, bis alles wieder an Ort und Stelle war. Sein altes Sofa stand an der Wand, exakt so, wie er es zurückgelassen hatte. Der Computer auf seinem Schreibtisch lief, Internet, Drucker und ein separater Bildschirm waren auch schon eingerichtet. Im DAB-Radio auf dem Regal gegenüber lief ein libanesischer Sender, der hauptsächlich romantische Balladen im Programm hatte. Ein paar Fotos von seiner Frau Marwa und den Mädchen in Festtagskleidung gaben dem Gesamteindruck den letzten Schliff. Die Bilder waren auf einem der Geburtstage seiner inzwischen längst erwachsenen Töchter entstanden, war es Nella? Der Koran stand jetzt auch wieder auf seinem Platz im Regal, neben dem Handbuch Kriminaltechnik und Spurenkunde, das Assad mittlerweile auswendig kannte. Den zusammengerollten Gebetsteppich hatte er in der Ecke untergebracht, ein Flachbildfernseher hing an der Wand, und heute auf dem Weg zur Arbeit hatte er tatsächlich einen kleinen Fliesentisch aus dem Sperrmüll gezogen, der perfekt geeignet war, um darauf die Kochplatte, die Teedosen, das Arsenal von Kaffeekochern und das Zwei-Kilo-Paket braunen Würfelzucker abzustellen.
Sechzehn Jahre war es jetzt her, dass Carl Mørck ihm einen Stapel ungelöster Kriminalfälle in den Arm gedrückt und ihm die ehemalige Besenkammer als Büro zugewiesen hatte. An kaum einem anderen Ort fühlte Assad sich so geborgen wie hier. Er hatte den größten Teil seines Berufslebens hier im Keller des Polizeipräsidiums verbringen dürfen. Es fühlte sich an wie nach Hause kommen. Aber …
Er schaute zur Wand. Schon immer hatte ihn die Sehnsucht begleitet, dass alles wieder sein sollte wie früher – wahrscheinlich ging es den meisten Flüchtlingen so. Aber auch nach all den Jahren war dieses Gefühl nur schwer auszuhalten. Dasselbe galt für seine Sehnsucht nach Carl. Der Verlag hatte zum Erscheinen seines Romandebüts ein meterhohes PR-Plakat drucken lassen, auf dem Carl und das Buchcover abgebildet waren, garniert mit ein paar hymnischen Pressezitaten. Mona hatte sich strikt geweigert, dieses düstere Motiv in ihrer Wohnung im Stadtteil Østerbro aufzuhängen, und darum hing dieses Meisterwerk nun hier und erinnerte Assad jeden Tag an den besten Chef, Kollegen und Freund, den er je gehabt hatte.
Seit fast drei Jahren arbeiteten sie nun nicht mehr zusammen, und Assad vermisste einfach alles. Selbst Carls allmorgendliche schlechte Laune. Aber Carl Mørck hatte den Polizeidienst so sattgehabt: all die Gewalt, gebrochene Rippen, Elektroschocks, so viel Hass und Hetze, so viele lebensgefährliche Situationen, in die er schon geraten war. Und dann dieses Jahr, unschuldig im Gefängnis. Da waren die Enttäuschungen über den Verrat durch die eigenen Vorgesetzten noch das geringste Übel gewesen. Irgendwann hatte er beschlossen, das Leben als Reisender in die Abgründe der entsetzlichsten Kriminalfälle des Landes gegen ein Dasein als Vollzeit-Schriftsteller, Vater und Ehemann einzutauschen. Seither arbeitete er von zu Hause.
Aber Assad fühlte sich ohne ihn wie amputiert. Als Carl ihnen mitgeteilt hatte, dass er kündigen werde, hatte Assad spontan beschlossen, dasselbe zu tun. Aber wovon hätte seine Familie dann leben sollen? Marwa verdiente als Teilzeitkraft in einer Kinderkrippe gerade genug für die Miete, und mit über fünfzig hatte Assad wirklich keine große Lust, den Taxischein wieder auszugraben, den er zehn Jahre zuvor gemacht hatte.
Zumal er ja auch ein verdammt guter Ermittler war. Natürlich hätte er sich eine andere Arbeit suchen können, aber hätte er auch einen Job gefunden, der ihn so erfüllte? All die grausamen Erlebnisse in seiner Vergangenheit konnten nur zum Ziel gehabt haben, ihn genau hierherzubringen: in dieses einzigartige Sonderdezernat, dessen Aufgabe darin bestand, für Gerechtigkeit zu kämpfen, den Opfern Genugtuung zu verschaffen und dem Bösen die Stirn zu bieten – und sei es bei Verbrechen, die Jahrzehnte zuvor begangen worden waren. Hinzu kam, dass er sich irgendwie verpflichtet fühlte, der dänischen Gesellschaft und der Polizei seine Dankbarkeit zu beweisen. Sie hatten ihm einen Grund zu leben gegeben, als alles andere sinnlos geworden war.
Also war er geblieben. Genau wie Rose und Gordon.
»So eine verdammte … Wer hat mein …? Hier? Nein … Ich raste gleich aus …«
Eine neue Welle von Kraftausdrücken schwappte gedämpft aus Roses Büro in sein Kabuff, und Assad gab sich selbst einen Klaps auf die Wange. Einen festen Klaps. Übermannt von Wehmut hier herumzusitzen, machte es auch nicht besser.
Er schaltete den Fernseher an. Im Nahen Osten herrschte wieder Krieg, und auch wenn Assads Herz es kaum ertragen konnte mit anzusehen, wie Kinder aus den zerbombten Häusern getragen wurden, hatte er verdammt noch mal die Pflicht, sich auf dem Laufenden zu halten. Unterdessen richteten die TV 2 News den Fokus auf eine Meldung aus Dänemark: das spektakuläre Comeback eines Parlamentariers namens Tommy Eckert. Der Name sagte Assad erst mal nichts, aber er entnahm dem Bericht, dass Eckert noch zehn, fünfzehn Jahre zuvor als eines der größten politischen Talente des Landes gehandelt worden war. Ein Mann mit den besten Aussichten, eines Tages das Erbe des Staatsministers anzutreten – bis zu jener Nacht, als er in einem Affentempo über die Helsingør-Autobahn gerast war und dabei schlingernd eine Zivilstreife der Autobahnpolizei überholt hatte. Wie sich herausstellte, war er mit einer Geschwindigkeit von 153 Stundenkilometern und 1,3 Promille im Blut unterwegs gewesen. Wenige Tage später hatte Tommy Eckert in einem tränenreichen Statement mitgeteilt, dass er sich aus der Politik zurückziehen werde, um sich auf seine Gesundheit zu konzentrieren.
Jetzt, gut zehn Jahre später, war er zurück, als eine »neue und bessere Version seiner selbst«, wie er auf der Haupttreppe vor dem Parlamentsgebäude verkündete. Einer seiner Parteikollegen fiel wegen Burnouts länger aus, und als Vertretung hatte man nun Eckert aus der Versenkung geholt – das war alles. Trotzdem ärgerte Assad sich maßlos über diese Art der öffentlichen Rehabilitation. Wieso durfte ein Arschloch wie dieser Eckert, der sich sturzbesoffen ans Steuer gesetzt und andere Menschen gefährdet hatte, plötzlich wieder vor Christiansborg stehen und so tun, als wäre er ein Rockstar?
Assad hätte es ja vielleicht noch verstanden, wenn so etwas im Iran, in Syrien oder im Libanon passiert wäre, wo so gut wie jeder Politiker korrupt oder ein Nichtsnutz mit einflussreicher Verwandtschaft war. Aber in Dänemark? Und überhaupt: Warum galten für Politiker eigentlich andere Regeln als für Normalsterbliche?
Carl, der so viel für die Sicherheit der dänischen Gesellschaft erreicht hatte, war drei Jahre zuvor allein aufgrund eines absurden Verdachts öffentlich diskreditiert, angeklagt und verurteilt worden und hatte ein Jahr unschuldig im Knast verbracht. Ausgerechnet dieser dubiose Druckluftnagler-Fall hatte Carl Mørck nicht nur psychisch aus der Bahn geworfen, sondern am Ende auch die Karriere gekostet. Aber dieser Idiot, und ja, ahbal war genau das richtige Wort für jemanden, der betrunken Auto fuhr, durfte einfach ins höchste Gremium des Landes zurückkehren.
Assad schaltete den Fernseher aus. Er sollte lieber Rose helfen, statt sich hier weiter in seinen Frust hineinzusteigern.
Nach Carls Abschied hatte Rose de facto die Leitung des Sonderdezernats Q übernommen. Die Führungsposition stand zwar nicht auf ihrer Visitenkarte, aber jeder wusste, dass sie im Keller alle Fäden in der Hand hielt. Der Auftrag des Sonderdezernats Q war es damals wie auch heute, alte, ungelöste Kriminalfälle in Dänemark zu prüfen und neu aufzurollen. Auch an der formalen Organisation hatte sich nichts geändert: Sie waren eine eigenständige Abteilung innerhalb der Kriminalpolizei Kopenhagen, deren Chef seit 2023 Terje Ploug hieß.
Terje hatte bei den dramatischen Ereignissen drei Jahre zuvor eine Kugel in den Rücken kassiert, aber er hatte sich vollständig erholt und nach Marcus Jacobsens Abgang zur allgemeinen Zufriedenheit den Chefsessel übernommen. Terje war nicht mehr ganz jung, und er konnte fluchen wie ein Kameltreiber, aber unter der rauen Oberfläche steckte ein stoischer Mann, der klug genug war, sich nicht unnötig in Assads, Roses und Gordons Tätigkeitsbereich einzumischen. Wozu es auch gar keinen Grund gegeben hätte. Rose war vielleicht ein wenig speziell, aber falsch zusammengeheftete Unterlagen, das Einhalten von Deadlines und den Umgang mit Leuten, die Heringssalat auf dem Hemd hatten, meisterte sie im Unterschied zu Carl geradezu vorbildlich. Und bis auf Weiteres hatte sie ihnen die Polizeiführung damit zuverlässig vom Hals gehalten.
»Rose, bist du sicher, dass du keine Hilfe willst?«, rief Assad quer über den Flur, bekam aber keine Antwort.
Rose hatte versucht, ihn davon zu überzeugen, in Carls ehemaliges Büro umzuziehen, den besten und größten Raum im Keller. Aber Assad wollte nicht. Seit ihnen mitgeteilt worden war, dass das Sonderdezernat Q ins Polizeipräsidium zurückkehren würde, hatte er sich wie ein kleines Kind auf das Wiedersehen mit seinem Ein-Mann-Kabuff unter den Heizungsrohren gefreut.
»Das ist fantastisch, Rose«, hatte Assad gesagt und sie begeistert umarmt. Zurück in das schöne Hauptquartier im Zentrum von Kopenhagen. In seinen Augen war dieser Umzug das Beste, was ihnen passieren konnte, denn die Stimmung im Team war katastrophal. Im Juni hatte auch noch Gordon gekündigt. Er hatte eine Friseurin namens Jennifer kennengelernt, die in Hjørring lebte, und als bei der Polizei Nordjütland eine Kommissarstelle ausgeschrieben wurde, hatte er sich beworben und den Zuschlag bekommen.
Das war ein beeindruckender Karrieresprung für den jungen Ermittler, und Assad hatte bei der Aussicht, auch noch Gordon als Kollegen zu verlieren, ein paar Tränen vergossen. Rose hatte sich mit allen ihr zur Verfügung stehenden Argumenten vergeblich bemüht, ihren jüngsten Kollegen zum Bleiben zu überreden. Und auch Assad versuchte, wann immer er in Nordjütland anrief, um ein bisschen mit Gordon zu plaudern, ihn »nach Hause« zu locken. Bisher ebenfalls ohne Erfolg.
Der aktuelle Status lautete also, dass das Team des Sonderdezernats Q von vier auf zwei Personen geschrumpft war.
Dabei hatte Terje ihnen immer wieder potenzielle Nachfolger auf Probe ins Sonderdezernat geschickt. Seit Carls Abschied hatten sie schon zwei Kollegen und zwei Kolleginnen ertragen müssen, aber am Ende hatten die hoffnungsvollen Anwärter jedes Mal schreiend das Weite gesucht. Eine der Kandidatinnen hatte unaufgefordert angefangen, »ein bisschen Ordnung in Roses Ablagesystem zu bringen«. Sie hatte sich nie wieder bei ihnen blicken lassen, nachdem Rose darauf aufmerksam geworden war. Ein anderer Bewerber hatte sich beim Vertrauensmann der Gewerkschaft über Assads Kaffee und Roses »Ton« beschwert. Die dritte Kollegin war bei einer dramatischen Festnahme 2022 von einem Streifschuss getroffen worden und war, soweit Assad wusste, seitdem krankgemeldet. Der vierte Kandidat, ein Angebertyp Mitte dreißig, hatte kein Hehl daraus gemacht, dass er den Posten im Sonderdezernat Q nur wollte, um schnell und möglichst mühelos in Carl Mørcks Fußstapfen zu treten. Als sie das erste Mal gemeinsam hinter dem Auto eines flüchtigen Verdächtigen herrasten, war er allerdings dreimal falsch abgebogen, woraufhin Assad dem armen Mann seinen gesamten Vorrat an arabischen Schimpfwörtern und Flüchen an den Kopf geworfen und ihn gezwungen hatte, rechts ranzufahren. Später war herausgekommen, dass der Kollege nicht nur einen katastrophalen Orientierungssinn hatte, sondern vor allem ein erhebliches Alkoholproblem.
Zuletzt hatte Terje angedeutet, dass das Sonderdezernat Q Carls potenzielle Nachfolger möglicherweise nicht mit offenen Armen empfangen hatte. »Ihr wollt einen neuen Carl. Aber den gibt es nicht!«, hatte er seufzend gesagt und dann noch »Zum Glück« hinterhergeschoben.
Aber das stimmte nicht. Assad wollte keinen neuen Carl, Assad wollte den alten Carl. Den echten Carl. Nur dann hatte alles seine Richtigkeit, und er hoffte, dass Carl das auch so sehen würde, jetzt, wo sie wieder im Keller waren.
Rose dagegen hatte absolut gar nichts Erfreuliches an den Umzugsplänen finden können.
»Fantastisch? Was soll daran fantastisch sein, Assad? Die versuchen nur, das Sonderdezernat Q kaltzustellen. Sobald jemand unsere Namen erwähnt, bilden sich doch schon Eiskristalle an den Wänden.«
»Kaltstellen? So ein Unsinn, Rose. Im Keller ist es doch immer so warm.«
»Die wollen uns aufs Abstellgleis schieben, Assad! Wir sollen in der Bedeutungslosigkeit verschwinden. Carl hat sich aus dem Staub gemacht, Gordon ist abgehauen, und wir hatten seit Jahren keinen Fall mehr, der in der Öffentlichkeit Aufsehen erregt hat. Die wollen das Sonderdezernat Q dichtmachen!« Unter der dicken Make-up-Schicht hatten Roses Wangen vor Wut geglüht. »Die wollen uns mürbemachen, damit wir irgendwann die Schnauze voll haben und selbst kündigen. Genau wie Carl und Gordon.«
Assad war sich immer noch nicht sicher, was er von dieser Analyse halten sollte, aber er beschloss, einen neuen Versuch zu wagen und Rose seine Hilfe anzubieten, bevor er Feierabend machte. Er überquerte den Flur und fand sie in ihrem Büro, wo sie mit einem der Kartons zwischen den Beinen auf dem Fußboden saß.
Schweiß tropfte ihr von der Stirn, und sie hatte den Blick auf einen undefinierbaren Punkt an der Wand hinter Assad gerichtet.
»Rose!« So elegant es sein kompakter Körperbau eben zuließ, sprang Assad mit einem Satz über eine Umzugskiste. »Bist du gestürzt?«
»Was?« Rose sah ihn an, als hätte er sie bei etwas Wichtigem gestört.
»Bist du mit der Kiste gestolpert?« Assad wollte ihr aufhelfen, aber sie starrte seine behaarte Hand nur irritiert an.
»Nein, ich war nur in Gedanken«, sagte sie. »Das hier ist der Fall mit den zwangssterilisierten Frauen. Es müssten eigentlich drei Kisten mit Aktenordnern sein, aber ich finde nur zwei. Das ist eine Katastrophe! Wenn Carl den Fall in einem Buch verarbeiten will, braucht er das Material. Vollständig. Ich muss diese gottverdammte letzte Kiste finden, und zwar sofort.« Schnaubend schlug Rose seine ausgestreckte Hand weg. »Und nein, Assad, du sollst mir immer noch nicht helfen. Hier unten gibt es nur ein einziges logisches Archivsystem, und zwar meines.« Sie tippte sich an die Stirn.
»Aber es spricht doch nichts dagegen, dass ich wenigstens ein paar Kisten schleppe?« Assad wagte kaum, sein Angebot auszusprechen, so schlecht gelaunt, wie Rose war. Carl und er hatten irgendwann erkannt, dass jeder, der sein Leben und seine Gehörgänge liebte, gut daran tat, Rose in ihrem Reich uneingeschränkt herrschen zu lassen.
Assad fiel es schwer, Rose nicht helfen zu können. Über die Jahre hatte sie sich so gut um ihn gekümmert, da musste es doch erlaubt sein, sich ein wenig zu revanchieren, vor allem wenn sie wie jetzt offenbar völlig von der Rolle war. Assad kannte Rose sonst nur mit schwarz geschminkten Augen und eingehüllt in eine kräftige Wolke aus Jasmin und Vanille, die ihn immer an die Basare seiner Kindheit erinnerte, neuerdings jedoch sah sie ziemlich mitgenommen aus. Man konnte wirklich nicht behaupten, dass Rose jemals besonders stabil gewesen wäre, aber seit ihrem psychischen Zusammenbruch sieben Jahre zuvor hatten die guten Phasen zum Glück überwogen, und so sollte es bitte auch bleiben. Er konnte das Sonderdezernat Q ja schlecht allein am Laufen halten.
»Nix da, du behältst deine Pfoten schön bei dir«, blaffte sie ihn an. Vermutlich hatte es ein wenig schroffer geklungen als beabsichtig, denn sie tätschelte ihm nachsichtig lächelnd den Arm. »Mein süßer Assad … Im Jahr 2023 tragen wir Frauen unsere Kisten selbst. Auch Frauen, die auf die Wechseljahre zugehen. Aber eine Tasse Tee darfst du mir bringen.«
Er nickte, ein bisschen beruhigt. Eine Rose, die schnell konterte, war eine normale Rose, deshalb machte er sich auf den Weg in seine Besenkammer, um die beste Teemischung für sie auszusuchen. Und die Wechseljahre? Marwa war über fünfzig, deshalb waren ihm die typischen Symptome vertraut: Herzrasen, Schlafprobleme, trockene Augen und Stimmungsschwankungen, die ihn dazu veranlasst hatten, zu Hause vorsorglich alle Messer und Wurfgeschosse zu verstecken. Aber dass Rose – die so völlig anders war als Marwa – ein Opfer der gleichen hormonellen Leiden werden könnte, auf die Idee wäre er im Leben nicht gekommen.
Wie alt mochte Rose überhaupt sein? Dreiundvierzig? Vierundvierzig? Noch nicht alt, nicht mehr ganz jung. Eine herrliche reife Frau.
»Ach, Assad!«, rief sie ihm hinterher. »Kannst du mir vielleicht diesen besonderen Tee machen … mit extra viel Gewürzen?«
Assad richtete sich auf. Plötzlich lief es ihm eiskalt den Rücken runter. Hatte Rose ihn gerade um Chai gebeten? Mit extra viel Ingwer und Kardamom?
Jetzt war er wirklich besorgt.
»Sind Sie sicher, dass uns niemand hören kann?«
Die Frau in dem grünen Kleid sah sich zwischen den stinkenden Müllcontainern um, die sich im Hinterhof des Einkaufszentrums aneinanderdrängten. Nicht gerade ein idyllischer Ort, aber die Frau hatte darauf beharrt, »strikt vertraulich« mit Carl reden zu wollen, und etwas Besseres als die Abfallsammelstelle des Rødovre Shoppingcenter war ihm nicht eingefallen.
»Ich halte das Risiko, hier belauscht zu werden, für ziemlich gering.« Carl sah die Frau forschend an, die ihre Sonnenbrille und das Kopftuch inzwischen abgenommen hatte. Sie stellte sich als Gry vor, mit dem Nachnamen wollte sie jedoch nicht rausrücken.
»Ich war mir wirklich unsicher, ob ich das Ganze nicht einfach vergessen sollte.« Sie zwirbelte nervös eine Haarsträhne zwischen den Fingern. »Aber es verfolgt mich wie ein Albtraum, ich kann kaum noch schlafen oder arbeiten.«
Carl unterdrückte ein Seufzen. Er ahnte, in welche Richtung das ging – eine True-Crime-begeisterte Hausfrau, die sich eine völlig absurde Theorie zu einem ungelösten Mordfall zurechtgesponnen hatte. Er kannte diese Sorte Amateurdetektive. Seiner Ansicht nach rangierten sie in Sachen Glaubwürdigkeit nur knapp über Hellsehern, und ihre Motivation setzte sich typischerweise zu gleichen Teilen aus Portwein und einem übermäßigen Konsum sozialer Medien zusammen.
»Dann lassen Sie mal hören«, sagte er. Und meinte das Gegenteil.
Es hatte sich gezeigt, dass es deutlich schwieriger war als gedacht, das Polizistendasein an den Nagel zu hängen. Vermutlich erging es Automechanikern und Hautärztinnen so ähnlich. Sobald man seinen Beruf erwähnte, kamen die Leute angerannt und fragten, ob man nicht schnell einen Blick auf ihren Motor oder ein Muttermal werfen könne. Ja, okay, er war immer noch als eine Art Berater auf Honorarbasis für das Sonderdezernat Q tätig, aber er hatte wirklich keinen Nerv mehr, sich endlos den Kopf über einen Fall zu zerbrechen, und jetzt, wo Buch Nummer zwei im Handel war, freute er sich vor allem auf lange Tage im Schlafanzug auf der Couch. Die Herbstferien standen vor der Tür, aber sprach eigentlich etwas dagegen, einfach direkt die Weihnachtsferien einzuläuten? Eigentlich nur sein Verlag, der um ein Exposé für Buch Nummer drei gebeten hatte. Der Titel, Erlösung, lag auf der Hand, deshalb hatte er ihn auch gleich per Textnachricht an seine Lektorin geschickt, aber ihren Anruf danach hatte er ignoriert. Und Gry-ohne-Nachnamen würde sicher gleich versuchen, seinen Ermittlerehrgeiz neu zu entfachen, aber danke, nein. Das Einzige, was bei ihm heute noch brennen würde, war die Zigarette, von der er träumte.
»Ich habe Ihre Geschichte in den Medien verfolgt. Und auch Ihr neues Buch gelesen. Sie scheinen jemand zu sein, der … Wie drücke ich das jetzt am besten aus? … Der eigene Wege geht.« Grys Blick flackerte. »Aber wenn das hier rauskommt, bin ich meinen Job los.«
»Und was genau meinen Sie mit ›das hier‹?« Carl hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass selbst nette Menschen zu den abscheulichsten Dingen fähig waren, aber um ehrlich zu sein, entsprach Gry wirklich nicht dem Prototyp einer Verbrecherin.
»Ich arbeite im Gesundheitsamt. Letzten Monat hatten wir eine kleine Feier in der Abteilung. Wir hatten alle schon einen sitzen …«
»Na und? Wenn Sie mich fragen, sollte das Recht auf einen gelegentlichen Rausch im öffentlichen Dienst fester Bestandteil des Arbeitsvertrags sein.«
»Mein direkter Vorgesetzter kam dann auf die Idee, den ›Weinkeller‹ zu plündern. Also, das ist ein Büro, das hauptsächlich als Vorratslager genutzt wird. Wir … also, mein Vorgesetzter hat drei Flaschen Rotwein mitgehen lassen, die eigentlich der Stadt gehören.«
Ihre Unterlippe fing an zu zittern, und Carl musste sich gewaltig zusammenreißen, um die Augen nicht bis in den Hinterkopf zu verdrehen. In seinen drei Jahrzehnten bei der Polizei hatte er viele falsche Geständnisse gehört. Tagtäglich tauchten die fragwürdigsten Gestalten bei der Polizei auf und gestanden alles, vom Mord an König Erik V. bis hin zur Enthauptung der Kleinen Meerjungfrau, aber das hier war wirklich der Gipfel der Sinnlosigkeit.
Oder ging es der Frau hier eher um ein wenig männliche Aufmerksamkeit? Seit in den Medien über Carls schriftstellerisches Wirken berichtet wurde, ging ein steter Strom zweideutiger Nachrichten in seinem E-Mail-Postfach ein, was natürlich schmeichelhaft war, allerdings war noch kein Angebot dabei gewesen, das es auch nur im Entferntesten mit Monas Klugheit und Schönheit hätte aufnehmen können.
»Hören Sie, Gry. Seit Anbeginn der Menschheit wird am Arbeitsplatz geklaut. Das ist einer der Grundpfeiler unserer protestantischen Arbeitsethik, und …«
»Was …? Nein. Nein, darum geht es mir gar nicht. Ich habe in diesem Raum versehentlich den alten Anrufbeantworter eingeschaltet.« Gry wühlte in den Tiefen ihrer riesigen Umhängetasche und fand auf wundersame Weise tatsächlich ihr Handy. »Mein Chef sagte, ich solle die Nachricht löschen, sonst würde er mich feuern. Also habe ich sie gelöscht. Aber erst nachdem ich sie mit meinem Telefon aufgenommen hatte.« Sie beugte sich vor und senkte die Stimme. »Ich glaube, es handelt sich bei der Nachricht auf dem Anrufbeantworter um den Hinweis auf ein echtes Verbrechen, von dem womöglich bis zu diesem Zeitpunkt nie jemand gehört hat.«
Mit zitternden Händen rief sie die Aufnahme auf, die er sich anhören sollte. Eine weibliche Computerstimme kündigte an, dass eine neue Notfallmeldung vorlag.
»Ist es laut genug?«, fragte Gry.
Carl nickte, aber er hielt sich das Telefon trotzdem dichter ans Ohr. Eine gebrechliche – so klang es – Frau summte eine Melodie, die ihm nicht viel sagte, aber als plötzlich ein Mann um Hilfe rief, stellten sich bei Carl sämtliche Nackenhaare auf. Und sie sträubten sich noch mehr, als eine zweite Männerstimme zischte, der andere solle das Maul halten. Kurz bevor die Aufnahme abriss, stieß die Frau einen markerschütternden Schrei aus, der jetzt zwischen den Containern widerhallte.
Mit hochgezogenen Augenbrauen spulte Carl die Aufnahme ein Stück zurück, um sich die letzten Sätze noch einmal anzuhören. »Du hast dich damals vor der Verantwortung gedrückt. Aber noch mal wird dir das nicht gelingen. Und ich werde dafür sorgen, dass du daran zerbrichst«, sagte die Männerstimme, die dem Mikrofon am nächsten war.
»Was ist das?« Carl musterte Gry.
»Über diese Frage habe ich sehr lange nachgedacht. Aber dann habe ich etwas gefunden.« Wieder kramte sie in ihrer Tasche, diesmal um eine Plastikmappe hervorzuzaubern. »2018 gab es in der Stadt mehrere sogenannte Vorkommnisse, bei denen Demenzpatienten unbemerkt ihr Zuhause oder eine Pflegeeinrichtung verlassen hatten. In einem Fall endete der Ausflug tödlich, was zu Recht einen medialen Aufschrei nach sich zog und dazu führte, dass im darauffolgenden Jahr verschiedene Sicherheitsmaßnahmen eingeführt wurden.« Sie reichte Carl eine Broschüre mit der Aufschrift »Audimus« und der Abbildung eines Gegenstandes, der aussah wie ein kleiner weißer Stein. »Das hier ist ein Anstecker, der für Demenzerkrankte entwickelt wurde. Das Gerät war mit GPS