Tote trinken keinen Rosé - Emilia Bernhard - E-Book
SONDERANGEBOT

Tote trinken keinen Rosé E-Book

Emilia Bernhard

0,0
10,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: Atlantik
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

 Mit Savoir-vivre in den Tod  ­–  köstliche Unterhaltung im charmanten Paris     Der Banker Edgar Bowen ist in einer köstlichen Vichyssoise ertrunken. Als sie von seinem unglücklichen Tod in der Suppe erfährt, erinnert sich Rachel voller Nostalgie an ihre ersten Jahre in Paris, in denen Edgar ihr den Zauber dieser Stadt gezeigt hatte. Doch auf dem Begräbnis hört sie, dass neben dem Suppenteller eine Flasche Rosé gestanden hatte, und weiß sofort: Da stimmt etwas nicht. Denn Edgar war nicht nur ihr erster Liebhaber, sondern vor allem leidenschaftlicher Rosé-Verschmäher!     Gemeinsam mit ihrer besten Freundin Magda macht sie sich an die Aufklärung des Rätsels.  Mitten in den besten Jahren und beileibe nicht immer einer Meinung, überwinden die zwei Damen ihre Skrupel und entdecken ihre kriminalistischen Talente. Als ihre Verdächtigen jedoch nach und nach den Löffel abgeben, werden sie auf eine harte Probe gestellt.   

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 438

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Emilia Bernhard

Tote trinken keinen Rosé

Ein Paris-Krimi

Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini

Atlantik

Für Jennifer Piddington –

sie weiß vielleicht nicht, wer ich bin,

aber sie weiß, was ich mache.

1. Kapitel

»Edgar Bowen ist in seiner Suppe gestorben«, sagte Rachel Levis zu ihrem Mann und sah von ihrer Zeitung auf. Sie beendeten gerade ihr Frühstück, und auf dem Tisch standen Marmeladen und Becher rund um die – jetzt in der Mitte flach gedrückte und mit buttrigen Krümeln bestreute – Tüte herum, in der sich die morgendlichen Croissants befunden hatten.

»Ich habe ›in seiner Suppe‹ verstanden.« Stirnrunzelnd tippte Alan auf sein Tablet. Das Licht des Pariser Morgens malte einen Heiligenschein um seinen dunklen Kopf.

»Habe ich auch gesagt. Steht hier in der nécrologie.« Rachel raschelte demonstrativ mit Le Monde und las dann vor: »Monsieur Bowen starb gestern Abend, nachdem er, während er allein zu Tisch saß, mit dem Gesicht in seine Suppe gefallen war.«

»Ach je«, sagte Alan geistesabwesend. Er beschirmte sein Tablet mit einer Hand.

»›Ach je‹? Mehr hast du dazu nicht zu sagen?«

Er sah vom Bildschirm auf. »Ach! Je! Jemand, den wir nicht besonders gut kannten und mit dem wir überhaupt nur was zu tun hatten, weil auch er ein Expat war, starb eines lachhaften Todes! Welch Verlust für die Welt!« Alan machte ein betroffenes Gesicht, befeuchtete mit der Zunge die Spitze des Zeigefingers und las damit ein paar Krümel auf. »Darf ich mir jetzt weiter darüber Sorgen machen, dass der Dollar gestiegen ist?«

Rachel wandte sich wieder der Zeitung zu und hoffte, dass ihre Miene vornehme Verachtung zum Ausdruck brachte. Sie würde es ihrer besten Freundin Magda erzählen, wenn sie sich später trafen. Magda würde die Bedeutsamkeit der Nachricht zu würdigen wissen.

***

»Edgar Bowen ist in seiner Suppe gestorben«, sagte Rachel zu Magda, als sie später in Rachels Küche saßen. Die Sonne strahlte noch immer durch die Fenster, als herrschte draußen nicht gerade der kalte Januar.

»Ich habe ›in seiner Suppe‹ verstanden«, sagte Magda.

»Habe ich auch gesagt. Es stand heute Morgen in der Zeitung. Er bekam einen Herzschlag, fiel vornüber und ertrank.«

»Ach je.«

»Ganz genau.« Die zwei Frauen tauschten einen Blick. Rachel hatte gewusst, dass Magda es verstehen würde. Sie waren seit gut zwanzig Jahren befreundet, einst zwei Mädchen allein in Paris, die beide froh gewesen waren, einer gleichgesinnten Seele zu begegnen; mittlerweile Frauen mittleren Alters, die sich in der seltenen Lage befanden, das gesamte Erwachsenenleben der anderen miterlebt zu haben. Was unter anderem bedeutete, dass Magda wusste, dass Rachel früher einmal Edgar Bowens Freundin gewesen war – ja auch wusste, dass Rachel die zwei Jahre mit ihm als ihre erste »erwachsene« Beziehung betrachtete. Sie dachte kurz nach und sagte dann: »Er war ein guter Mann.«

»Ja«, sagte Rachel und ließ es wie einen Punkt klingen. »Das war er.«

»Als du mir damals das Geld leihen wolltest, da hat er es dir sofort gegeben, erinnerst du dich? Und er hat nie gefragt, wozu du es gebraucht hast.«

»Ich erinnere mich.« Rachel lächelte schmal. »War auch besser so, wenn man bedenkt …«

Magda schnaubte leise. »Wir waren furchtbar jung.« Sie klang bekümmert. »Wussten wir, dass wir so jung waren?«

»Nein.« Rachel schüttelte den Kopf. »Man selbst kommt sich immer alt vor, egal, wie jung man ist. Die Einsicht kommt immer erst im Nachhinein.«

Magda legte einen Augenblick lang ihre Hand auf Rachels Hand, die auf dem Tisch lag. Dann verblasste das Vergangene, und sie trank einen Schluck aus ihrem Becher. »Was hat Alan gesagt?«, fragte sie vorsichtig.

»›Ach je‹.«

»So schlimm?«

»Nein, das ist, was er gesagt hat. Er sagte: ›Ach je.‹ Er schien sich nicht mal an Edgar zu erinnern, geschweige denn zu wissen, wer er war.«

»Ah.« Magda überlegte. »Na ja, in gewisser Weise ist es ja gut so.« Rachel hatte ihr vor langem erklärt, dass Alan ein Mann war, der unter maßloser Eifersucht litt. Einmal war er bei der bloßen Erwähnung eines früheren festen Freundes regelrecht in Rage geraten, und Rachel hatte es nie gewagt, einen weiteren zur Sprache zu bringen. In Anbetracht dessen konnte man wahrscheinlich von Glück sagen, dass ihm Edgar Bowens Stellenwert entgangen war.

Doch selbst der Gedanke an Alans selige Ahnungslosigkeit konnte nicht von Edgars unseligen Todesumständen ablenken. »Was für eine Art zu sterben!« Magda schüttelte wehmütig den Kopf. »Da fragt man sich doch, was schlimmer ist: die Tatsache, dass, oder die Weise, wie er gestorben ist?«

»Für ihn oder für uns?«, fragte Rachel.

»Beides, würde ich sagen. Oder sowohl als auch.«

Rachel dachte kurz darüber nach. »Für uns die Tatsache, dass, keine Frage. Aber für ihn das Wie.«

Magda guckte verdutzt. »Wie kommst du darauf?«

»Na ja, er ist tot, und für uns ist das ein Verlust, aber er weiß nichts davon, weil er ja tot ist. Aber wann immer jemand von der Sache erfährt, wird er oder sie von nun an sagen: ›Ich habe ,in seiner Suppe‘ verstanden‹, oder: ›In seiner Suppe?‹« Sie schüttelte den Kopf. »Und das ist eine furchtbare Weise, den Leuten im Gedächtnis zu bleiben. Er wird in alle Ewigkeit ›Der Suppen-Mann‹ sein.« Aus ihrem Mund klang es so, als wäre es ein Buchtitel.

»Ach, ich weiß nicht«, widersprach Magda. »Er war gütig; er war aufmerksam. Ich habe ihn als liebenswürdig in Erinnerung. Ich glaube, er wird denen, die ihn kannten, als mehr als nur ›Der Suppen-Mann‹ im Gedächtnis bleiben.«

Rachel dachte an Edgars Zartgefühl im Umgang mit seinem Sohn David – an die Aufmerksamkeit und den Ernst, mit denen er den Monologen eines Vierjährigen zugehört und seine Fragen beantwortet hatte. Sie dachte an die Geduld, die er mit seiner Exfrau Mathilde gehabt, und wie er es fertiggebracht hatte, eine konfliktarme Beziehung mit ihr aufzubauen. Und das, obwohl sie, wie sich Rachel erinnerte, eine dieser Französinnen war, die auf geringerwertige Sterbliche bloß verächtlich herabsahen. Ja, er war gütig gewesen; er war aufmerksam gewesen. Vielleicht würde von ihm doch mehr als nur sein Suppentod in Erinnerung bleiben.

»Jedenfalls«, sagte sie, »werde ich dir bald berichten können, wie es – zumindest momentan – um seinen öffentlichen Ruf bestellt ist, weil ich nämlich am Dienstag zur Trauerfeier gehe.«

Magda nahm sich eine Madeleine und nagte genussvoll an ihrer goldenen Duftigkeit. »Ich komm mit.« Sie war keine Frau, die sich etwas Spannendes entgehen ließ.

2. Kapitel

Die äußeren Pariser Arrondissements wimmeln von funérariums, den französischen Bestattungsinstituten. Es sind durchweg kleine, dezente Etablissements, außen ohne besondere Kennzeichen, innen vollgestopft mit beklemmend behaglichem Mobiliar. Edgar Bowens Bestattung fand in einem solchen im XIV. Arrondissement statt, in einem Raum, den die Werbebroschüre – da wäre Rachel jede Wette eingegangen – bestimmt als soigné, als gepflegt, beschrieb, der in Wirklichkeit aber schlicht seelenlos war. In Anbetracht seiner Funktion, sagte sie sich, war das wohl ganz passend. Dunkle Bodenvasen mit unverfänglichen Blumenarrangements säumten die maulwurfgrauen Wände; maulwurfgraue Polsterstühle standen in Reih und Glied auf maulwurfgrauem Teppichboden. Der Gesamteindruck war der eines besonders nüchternen Konferenzzentrums – was aber ebenfalls nicht ganz unpassend war.

Sie reckte den Hals, um von ihrem Platz neben Magda in einer der hinteren Reihen besser sehen zu können. Edgars Sohn David saß ganz vorn, seine Mutter an seiner Seite. Rachel hatte die beiden seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen, und sie stellte zu ihrer Überraschung fest, dass der Anblick Mathildes sofort eine Erinnerung wachrief: An einem sonnigen Morgen zu Beginn ihrer Beziehung mit Edgar, als sie gerade in abgeschnittener Jeans und ärmellosem Männerunterhemd in der Küche ein Croissant verdrückt hatte, war sie von einer ihr noch unbekannten Mathilde, kühl elegant in Leinen-Etuikleid und hochhackigen Sandalen, überrascht worden. Sie erinnerte sich noch genau daran, wie Mathilde sie angesehen hatte, während sie, an den Küchentresen gelehnt, die Fliesen mit Blätterteigflocken berieselte. Im séjour hatte Mathilde dann zu Edgar, auf Englisch und gerade so laut, dass auch Rachel es hören konnte, gesagt: »Deine neue Putzfrau ist sehr jung, nicht?« Als sie Mathilde jetzt – marineblaues Kostüm und topasfarbener Schal, dazu demonstrativ hoch getragene Nase – betrachtete, erkannte Rachel, dass, mochte David sich erstaunlicherweise von einem pausbäckigen Vierjährigen zu einem mageren jungen Mann gemausert haben, seine Mutter sich keinen Strich verändert hatte.

Die Bestattungsfeier war eine zivilisierte Angelegenheit, mit maßvollen Trauerreden vonseiten des Direktors der Bank, bei der Edgar gearbeitet hatte, und seines ältesten Kollegen. Alle standen auf, als sich der blanke Sarg zwischen die Vorhänge zurückzog, die den Bestattungsofen verbargen. Als David anschließend den Mittelgang entlang nach draußen ging, waren seine Augen und seine Nase sehr rot, aber er hatte nicht geweint. Edgar Bowen war kein Mann für exzessive Gefühlsäußerungen gewesen, und sowohl seine Bestattung als auch sein Sohn schienen fest entschlossen, diesem Umstand Rechnung zu tragen.

Nach dem offiziellen Teil gab es einen Empfang. Edgar hatte viele Leute gekannt – ja, hatte Magda später Rachel gegenüber gemeint, wenn man nur von der Pariser haute bourgeoisie sprach, hatte Edgar sogar alle gekannt. Der Raum war gestopft voll von Männern in teuren dezenten Anzügen und Frauen in gleichermaßen teuren dezenten Kleidern, wobei sich die Französinnen und Franzosen nur dadurch von den übrigen Nationalitäten unterscheiden ließen, dass ihre Sachen besser geschnitten waren. Da sie sich die Peinlichkeit ausmalte, sich aufs Neue vorstellen und dann krampfhaft Konversation machen zu müssen, brachte Rachel es nicht über sich, David ihr Beileid auszusprechen. Und Mathilde wollte sie ganz bestimmt nicht gegenübertreten. Also schlenderte sie stattdessen, gesenkten Kopfes und mit einem Glas Wein getarnt, von Grüppchen zu Grüppchen und versuchte, nicht aufzufallen. Da sie und Magda keinen der anderen Trauergäste kannten (Alan hatte recht gehabt, was ihre mangelnde Überschneidung mit Edgars Welt betraf), blieb ihr nicht viel anderes übrig. Nicht, dass sie zu lauschen beabsichtigt hätte; sie spürte nur eindringlich, wie fern ihr Edgar und sein Leben nach ihrer gemeinsamen Zeit waren, und fand, dass diskretes Zuhören der einfachste Weg wäre, beidem näher zu kommen.

Momentan allerdings brachte diskretes Zuhören sie lediglich Leuten näher, die auf Französisch oder Englisch »In seiner Suppe?« ausriefen. Sie vollendete ihren Rundgang, ohne über Edgar mehr erfahren zu haben, als dass die Trauergäste seine Art zu sterben ebenso lächerlich fanden wie ihr Ehemann. Um kurz zu verschnaufen, postierte sie sich neben einer Traube von tadellos gekleideten Frauen. Ihr Haar wies die kuriose, strähnig aschblonde Tönung auf, die Französinnen mittleren Alters so lieben, und jede trug zu einem schwarzen oder marineblauen Etuikleid einen sorgfältig drapierten Schal in gedeckter Farbe.

»Dans sa soupe?«, fragte die Frau im grauen Schal.

»Ja.« Ihre Gesprächspartnerin, die einen blassrosa Schal trug, sah ernst drein. Es folgte eine Pause, die gebührenden Respekt signalisierte; dann meldete sich die Frau im mattfarben gemusterten Schal zu Wort.

»Was war es für eine Suppe?«

»Eine Vichyssoise.« Die Frau im marineblauen Kleid beugte sich leicht vor. »Am selben Nachmittag zubereitet.«

Die anderen schnalzten mit der Zunge und schüttelten die Köpfe. Eine gute Suppe, die durch einen üblen Tod verdorben worden war.

Eine fragte: »Ist es wahr, dass er mit dem Gesicht hineingefallen ist?« Sie strich sich über ihren neutralfarbenen Schal, wie um ihn vor imaginären Spritzern zu schützen.

»Mais oui!« Die zweite Frau nickte. In jeder Gruppe, wie Rachel schon bei früheren Gelegenheiten bemerkt hatte, gab es immer eine Person, die besser Bescheid wusste als die übrigen und die ihre auf geheimnisvollem Wege gewonnenen zusätzlichen Informationen mit gesenkter Stimme und bedeutungsvollen Blicken weiterzugeben vermochte. Hier war dies eindeutig Madame Marineblau, die nun mitteilte: »Es heißt, er bekam einen Herzschlag und verlor die Besinnung. Sein maître d’hôtel hatte an dem Abend frei, und so war niemand da, der ihn hätte wiederbeleben können. Trotzdem, wäre die Suppe nicht gewesen, heißt es, könnte er jetzt noch am Leben sein. Ich habe gehört, er wurde mit dem Gesicht im Suppenteller aufgefunden.« Sie schüttelte den Kopf. »Seine Hand war nur ein, zwei Zentimeter von einer Flasche Rosé entfernt – hätte sie beinahe umgestoßen.«

Rachel schnappte unwillkürlich nach Luft, hielt sich rasch die Hand vor den Mund und schaute angestrengt weg in der Hoffnung, dass die Frauen nichts bemerkt hatten. Sie suchte das Zimmer nach Magda ab. Als sie ihre Freundin endlich entdeckte, wie sie in einer Ecke stand und sich mit einem dunkelhaarigen Mann in einem marineblauen Anzug unterhielt, schlängelte sie sich durch das Gedränge und packte sie am Ellbogen. »Wir müssen los.«

»Was?« Magda wandte sich vom Mann ab.

»Wir müssen los«, zischte Rachel. »Wir müssen sofort los.« Sie lächelte dem Mann schuldbewusst zu.

»Excusez-moi.« Magda lächelte ihm ebenfalls zu, jedoch eher verlegen. »Meiner Freundin ist nicht ganz wohl, und wir müssen aufbrechen. Pardon.«

Der Mann hob leicht die Augenbrauen über seiner scharfen Nase. Trotzdem deutete er eine höfliche Verbeugung an, als Rachel Magda in Richtung Ausgang zerrte.

»Gott, was soll das? Was soll das?« Magda versuchte, ihren Arm zu befreien. »Autsch! Was ist denn so eilig?«

»Ich habe etwas gehört.«

»Was meinst du damit, du hast etwas gehört?«

»Warte.« Rachel reichte der Garderobenfrau ihre Marken. Sie sprach erst wieder, als sie draußen waren und sich ein paar Meter vom funérarium entfernt hatten. Dann blieb sie stehen und wandte sich Magda zu. »Tut mir leid. Aber ich wollte nichts sagen, bevor wir nicht in sicherer Entfernung wären.«

»Entfernung wovon? Was ist denn los?«

»Es ist nur … also, ich war am anderen Ende des Zimmers und hörte einem Gespräch zu, und da sagte eine Frau, dass Edgar zur Vichyssoise, in der er dann ertrunken ist, Rosé getrunken hatte.«

»Rosé zur Vichyssoise?« Aus Magdas Ton ging klar hervor, dass sie keine Ahnung hatte, was los war. »Na ja, das wäre zwar nicht meine Wahl, aber ich begreife nicht, was daran so besorgniserregend sein sollte.«

»Nein!« Rachel sprach mit zusammengebissenen Zähnen. »Du verstehst nicht. Edgar trank nie Rosé.«

»Ach komm schon. Nie?«

Rachel schüttelte energisch den Kopf.

»Er hätte ihn nicht mal angerührt, wenn es nichts Besseres im Haus gegeben hätte?«

»Er hatte immer etwas Besseres im Haus.« Rachels Stimme nahm einen erklärenden Tonfall an. »Er verabscheute Rosé. Er sagte, Rosé sei ein mutwillig verdorbener guter Weißwein.«

Magda schnaubte. »Nicht übel. Das ist eine Anspielung auf Mark Twain. Der sagte mal, Golf sei ein mutwillig verdorbener schöner Spaziergang.«

»Ja danke, das weiß ich auch. Aber das tut nichts zur Sache. Die Sache ist vielmehr, dass hier etwas nicht stimmt.«

»Wo?« Magda kam nicht mehr mit.

»Hier. Mit Edgars Tod.«

»Okay.« Magda hielt eine Hand in die Höhe. »Jetzt mal ganz ruhig. Was stimmt hier nicht?«

Rachel dachte eine geschlagene Minute lang nach. »Ich weiß nicht.« Sie dachte noch ein bisschen nach. »Ich weiß es nicht.« Dann festigte sich ihre Stimme. »Aber etwas stimmt nicht. Etwas fühlt sich komisch an.«

Magda seufzte. »Etwas fühlt sich komisch an. Das ist so, als sagte man, etwas ist faul. Das ist nicht besonders konkret.«

»Aber ich habe nichts Konkretes! Und ja, etwas ist faul!«

Magda sah sie nachdenklich an. Normalerweise war Rachel die Ruhigere von beiden, aber gerade war sie der Inbegriff von Unruhe und Verwirrung. »Ich sag dir was.« Magda zupfte ihren Mantel zurecht. »Warum versuchen wir nicht, die Sache bei einem Kaffee zu bereden? Schauen wir einfach, was passiert, wenn wir uns hinsetzen und unsere Gedanken ordnen.«

In Paris hat man nirgendwo mehr als zehn Meter bis zum nächsten Café zurückzulegen – einem guten, einem schlechten oder ganz schlicht einem geöffneten. Sie betraten das nächstgelegene, dankbar für die sie empfangende Wärme, und setzten sich an einen Tisch an einem der großen Fenster zur Straße. Im Sommer, wusste Rachel, wurden diese geöffnet, sodass die Gäste auf einer offenen Terrasse sitzen und in der warmen Luft plaudern und rauchen konnten, aber im Januar bot die Glasfront das Beste von beiden Jahreszeiten: einen ungehinderten Ausblick auf die Außenwelt gepaart mit der Wärme eines beheizten Innenraums.

Ein Kellner war so gnädig zu erscheinen und nach ihren Wünschen zu fragen, und Rachel bestellte die übliche heiße Schokolade und für Magda einen Kaffee. Während er sich wieder entfernte, seufzte sie vor Behagen, ließ den Blick über das blankpolierte Holz gleiten und presste die Füße gegen den elastischen Teppichboden. Welche Nation außer den Franzosen begriff, wie notwendig Komfort war, wenn man der Muße pflegte? Ja, welche Nation außer den Franzosen begriff die Notwendigkeit der Muße an sich?

»Also gut.« Auch Magda stieß einen kleinen Seufzer aus, während sie es sich bequem machte. »Jetzt erzähl mir, was deiner Meinung nach mit Edgar los ist. Und zwar mehr als nur ›etwas Komisches‹.«

Rachel biss sich in den Daumen. Was sie erlebt hatte, war wie ein Blitz aus heiterem Himmel gewesen: Die plötzliche Erkenntnis, dass das, was angeblich geschehen war, nicht nur nicht geschehen war, sondern gar nicht geschehen sein konnte. Es war schwierig, die Logik hinter einer solchen unmittelbaren Gewissheit zu entschlüsseln, aber Magda hatte recht: Wenn ihr Gefühl nicht bloß eine interessante Intuition bleiben sollte, musste sie es schaffen zu erklären, wie sie so sicher sein konnte.

»Also«, fing sie vorsichtig an, »erst einmal wäre da der Rosé. Edgar hatte nicht nur eine leichte Abneigung dagegen; es war eine regelrechte Feindschaft. Er duldete ihn nicht auf seinem Tisch.«

»Okay, das macht seine Anwesenheit in der Tat seltsam«, sagte Magda. »Aber man muss nicht unbedingt weitere Schlüsse daraus ziehen.«

»Dann hätten wir noch die Tatsache …« Rachel guckte ganz grimmig vor Konzentration. »Ich weiß, dass die Art seines Todes irgendwie amüsant ist, aber das ist sie nur deswegen, weil sie so verrückt ist. Das will mir einfach nicht aus dem Kopf, seit ich die Todesanzeige gelesen habe. Wie oft kommt es schon vor, dass Leute einen Herzschlag bekommen und in einer Suppe ertrinken? Die Tatsache, dass es so bizarr ist, zeigt, dass es aus dem Rahmen fällt, dass es nicht die Norm ist. Aber was, wenn es deshalb nicht die Norm ist, weil es eben nicht normal ist? Was, wenn etwas Anomales geschehen ist, das seinen Tod verursachte? Verstehst du, was ich meine?«

Magda nickte und runzelte dabei gleichzeitig die Stirn. »Ja, ich verstehe es. Aber noch einmal: Es ist nicht gerade offensichtlich. Hast du sonst noch etwas? Etwas Konkreteres?«

Rachel tastete langsam nach einer möglichen Gedankenkette. »Als ich ihn kannte, war Edgar in ausgezeichneter Form.«

Magda grinste.

»Nein, ich meine nicht das. Ich meine, er aß gut, aber er aß bewusst. Und er ging ins Fitnessstudio – und das zu einer Zeit, als es hier noch gar keine Fitnessstudios gab.«

Einen Augenblick lang gedachten die zwei Frauen jenes Paris von vor zwanzig Jahren, noch ganz ohne Fitnessstudios und unberührt von fettfreiem Essen.

»Sicher«, fuhr Rachel fort, »mit zunehmendem Alter war er etwas kräftiger geworden. Wer nicht?« Sie senkte den Blick auf ihre soeben eingetroffene heiße Schokolade. »Aber ich habe ihn seither immer wieder mal auf Partys gesehen, und er hat nie schwer oder schlapp ausgesehen. Und in der Todesanzeige stand auch nichts davon, dass er schon früher gesundheitliche Probleme gehabt hätte. Und ich weiß, ja, ich weiß, dass es ganz ohne Vorwarnung auftretende Herzinfarkte gibt«, sie holte tief Luft, »aber wie gesagt, sie sind selten. Und der Infarkt aus heiterem Himmel, die Suppe, der Rosé – die Details passen einfach nicht zusammen.«

Lange sagte Magda nichts. Rachel sah aus dem Fenster, betrachtete die Straße. Menschen eilten vorüber, das Kinn gegen die Kälte in Kragen oder Schal vergraben, aber eine Frau stöckelte in Minirock und drei Zoll hohen Christian Louboutins vorbei – Rachel sah die roten Sohlen kurz aufleuchten und schnaubte: Die Frau trug keine Strumpfhose. Wie hielt sie das nur aus? Die Pariser Winterwinde waren schneidend kalt, und selbst wenn die Luft stillstand, konnte es eisig sein. Dennoch waren überall in der Stadt solche Frauen zu sehen, die ihre vollkommenen Knie dem Frost aussetzten. Rachel spürte zufrieden, wie ihre dicke schwarze Strumpfhose ihre Schienbeine isolierend umhüllte, und beglückwünschte sich wieder einmal zu ihrer guten alten amerikanischen Vernünftigkeit.

Endlich atmete Magda tief ein. »Okay«, sagte sie. »Okay.« Sie atmete vollständig aus. »F. Scott Fitzgerald zum Beispiel starb an einem Herzschlag.«

»F. Scott Fitzgerald war ein Säufer.« Rachel wandte den Blick von draußen ab. »Edgar war kein Säufer. Darauf will ich ja grade hinaus: Ein Säufer wäre die Sorte Mensch, bei der man mit einem Herzschlag rechnen würde.«

»Nein, das meine ich nicht damit.«

»Und was meinst du dann damit?«, konterte Rachel. Sie war nicht in der Stimmung für literarische Diskussionen.

Magda füllte ihre Stimme mit Geduld. »Ich meine damit, dass alle glauben, Fitzgerald sei an seiner Sauferei gestorben, während er in Wirklichkeit an einem Herzschlag starb. In Anbetracht seiner Lebensgewohnheiten war Alkoholismus die logische Schlussfolgerung, aber es gab Untersuchungen und es wurde festgestellt, dass es ein Herzschlag gewesen war. Ein Myokardinfarkt.« Sie ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen. »Ich meine damit, dass die Ärzte nicht bei der offensichtlichen Schlussfolgerung stehenblieben.«

Rachel begriff weiterhin nicht, worauf Magda hinauswollte. »Und?«

»Und es ist erst zwei Tage her, dass Edgar gestorben ist. Für eine gründliche Untersuchung dürfte die Zeit nicht gereicht haben, was vermuten lässt, dass sich die Polizei tatsächlich mit der offensichtlichen Schlussfolgerung zufriedengegeben hat. Du gibst dich damit aber nicht zufrieden. Und deine Argumente mögen belanglos erscheinen, aber sie sind stichhaltig. Ich meine damit, dass die Sache, wenn man sie mit deinen Augen betrachtet, etwas mehr zu sein scheint als ein bloßer gewaltiger slapstickhafter Zufall. Ich meine damit …« Sie trommelte mit den Fingern auf dem Tisch. »Ich meine, etwas fühlt sich komisch an.«

Rachel entspannte sich. Wie sie aus langer und manchmal leidvoller Erfahrung wusste, war Magda nicht der Typ, der einem aus Höflichkeit nach dem Mund redete: Wenn sie sagte, dass Rachels Gedankengang plausibel erschien, dann war das auch so. »Und was machen wir jetzt?« Sie beugte sich über den Tisch, senkte die Stimme. »Sollten wir zur Polizei gehen?«

Magda schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Nein? Warum nicht? Genau für solche Fälle ist sie doch da.«

Magda seufzte. »Schon, aber stell dir das doch mal vor. Du gehst rein und sagst: ›Entschuldigen Sie, Mister Polizist …‹«

»Monsieur Polizist.«

»›Entschuldigen Sie, Monsieur Polizist. Mein früherer Freund soll nach einem überraschenden Herzinfarkt neben einer Flasche Rosé in seiner Suppe ertrunken sein, aber als ich vor zwanzig Jahren mit ihm zusammen war, da konnte er Rosé auf den Tod nicht ausstehen und erfreute sich bester Gesundheit. Seit damals habe ich zwar so gut wie keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt, und ich weiß natürlich, dass sich Geschmäcker mit der Zeit ändern können, und nein, ich habe keinerlei konkrete Anhaltspunkte, und der Leichnam ist bereits eingeäschert worden, sodass man ihn nicht mehr obduzieren kann, aber – was soll ich sagen: Etwas ist faul.‹«

Rachel schürzte die Lippen. »Gut, verstanden.«

Sie dachten beide nach. Schließlich sagte Magda: »Aber weißt du, was wir machen könnten?« Sie hielt kurz die Luft an und biss sich auf die Oberlippe. »Wir könnten selbst ermitteln. Oh mein Gott!« Ihre blassbraune Haut rötete sich, und ihre Locken vibrierten praktisch vor Begeisterung. »Das würde so einen Spaß machen! Das wäre wie Holmes und Watson oder Commissario Brunetti und Sergente Vianello, oder … oder diese beiden –«

»Nick und Nora Charles«, sagte Rachel.

»Nick und Nora, ja!«

»Nein.« Rachels Stimme klang nüchtern. Magda geriet immer besorgniserregend in Fahrt, wenn ihr Interesse erst einmal geweckt war, und nach zweiundzwanzigjähriger Freundschaft wusste Rachel, dass es in solchen Fällen am besten war, ihr den Zündschlüssel so schnell wie möglich wieder rauszuziehen.

»Nein?« Magda sah geknickt drein. »Warum nicht?«

»Weil Brunetti und Vianello echte Polizeibeamte sind, und Sherlock Holmes war Privatdetektiv, und Nick und Nora Charles hatten immerhin Verbindungen zur Polizei. Wir hingegen haben weder die Ausbildung noch die Rückendeckung.«

»Aber es würde Spaß machen!«

»Ja, bis eine von uns erschossen wird.« Rachel musterte die enttäuschte Miene der Freundin. »Im Ernst, ich habe mit der Sache überhaupt nichts zu tun. Wie du selbst gesagt hast, bin ich nur eine frühere Freundin des Toten. Ohne eine konkrete Beziehung zum Toten haben wir keine Möglichkeit reinzukommen und keine Möglichkeit zu ermitteln. Und wir wissen nicht einmal genau, was wir überhaupt ermitteln würden! Also nein.« Sie versuchte, sie zu trösten: »Außerdem hast du ja selbst gesagt, es gibt überhaupt nichts zu ermitteln. Vielleicht war er einfach ein Mann, der mit den Jahren eine Schwäche für Rosé entwickelt und einen Herzschlag bekommen hat. Zufall.«

»Ja, okay.« Magda seufzte. »Du hast recht. Mir gefiel nur die Vorstellung, dass wir gemeinsam ermitteln könnten. Durch die Stadt ziehen und nach Spuren suchen.«

»Also, ich sag dir was.« Rachel tätschelte Magdas Arm, als sei sie ein Kind, das sie zum Lächeln bringen wollte. »Den allerersten verdächtigen Todesfall, in den eine von uns beiden konkret nachprüfbar verwickelt ist – den schnappen wir uns. Versprochen.«

»Na, wenn’s versprochen ist …« Magdas Lippen zuckten, und Rachel fragte sich, wer hier eigentlich wen begönnerte. Sie schlüpften in ihre Mäntel und traten hinaus in die frostige Luft.

»Weißt du, ich hatte immer gedacht, F. Scott Fitzgerald sei an den Folgen seines Lebens als Alkoholiker gestorben«, sagte Rachel, als die Tür sich hinter ihnen schloss.

»Nein.« Magda schüttelte den Kopf. »Auch wenn das in dem Moment alle dachten. Am Abend vor seinem Tod hatte er, während er im Kino saß, eine Art ersten, leichten Anfall und sagte zu seiner Freundin: ›Die Leute glauben, ich sei betrunken, stimmt’s?‹«

»Seiner Freundin?«

Magda nickte. »Sheilah Graham. Sie schrieb darüber ein Buch.«

»Woher weißt du das eigentlich alles?«

Sie zuckte die Achseln. »Ich hab einen Podcast gehört.«

Sie stiegen hinunter zur Metro.

3. Kapitel

In Rachels Metrowaggon war es warm von den vielen zusammengepferchten Körpern. Auf der anderen Seite des Mittelgangs hockte, ganz vorne an der Sitzkante, eine junge blonde Frau, die an ihrem offenen Gesicht und ihrer strahlenden Sauberkeit auf Anhieb als Amerikanerin zu erkennen war. Die aufgerissenen Augen des Mädchens, die einschläfernde Luft und die gerade durchlebte Bestattungsfeier versetzten Rachel mit vereinten Kräften in die Zeit ihrer ersten Begegnung mit Paris zurück. Eine Zeit, in der sie mit ebenso großen Augen in der Metro gesessen hatte, ebenso ungläubig, dass sie – nicht etwa Audrey Hepburn, keine Romanheldin von Henry James, sondern die gewöhnliche, braunhaarige, reale Rachel Levis – wirklich und wahrhaftig in Paris war.

Es gab zwei unfehlbare Wege, eine in Paris ansässige Amerikanerin zu werden, dachte sie bei sich. Der erste bestand darin, als junge Erwachsene anzureisen, sich in die Stadt zu verlieben und dann einfach zu bleiben. Es gab hier englischsprachige Schulen, die händeringend nach Lehrkräften suchten, Familien, die Au-pair-Mädchen einstellten, und verschiedene andere Möglichkeiten, sich viele Jahre lang einen (wenn auch bescheidenen) Lebensunterhalt zu verdienen. So war sie hierhergekommen. Frisch graduiert, hatte sie einen zweimonatigen Ultra-intensiv-Französisch-Kurs besucht. Sie wollte Schriftstellerin werden – Paris ist voll von Amerikanerinnen in den Zwanzigern, die Schriftstellerinnen werden wollen – und, trunken von Hemingway und Colette, strebte sie nach pariserischen Erfahrungen, über die sie schreiben könnte. Sie tat all die Dinge, die Ahnungslose in der Lichterstadt so tun: Sie schmökerte gemütlich bei Shakespeare & Co. und fand, dass eine Szene mit einem jungen Mädchen, das gemütlich bei Shakespeare & Co. schmökerte, sich wunderbar als Romananfang machen würde; sie fuhr in einem bateau-mouche auf der Seine und fand, dass es schrecklich romantisch war, in einem bateau-mouche auf der Seine zu fahren; und sie hatte eine Affäre mit einem angenehmen Pariser Jüngling, der zwar nicht mal entfernt wie Jean-Paul Belmondo in Außer Atem aussah, aber französisch genug war, um sich mit ihm mondän zu fühlen.

Jetzt, um zwanzig Jahre klüger, wusste sie, dass solches Festhalten am Klischee in aller Regel zu Enttäuschung führt. In ihrem Fall jedoch war es anders gekommen. Irgendwie war ihr, während sie die Kulissen und Schauplätze so vieler Fiktionen bewunderte, das reale Paris unmerklich ins Blut übergegangen. Während sie von Buchhandlung zu Kathedrale zu Museum fuhr, verfiel sie dem Zauber der blinkenden Lämpchen, die in den Waggons der Metro die Stationen abzählten. Während sie sich beim Versuch, romantische Regen-Spaziergänge durch die rues zu absolvieren, heillos verfranzte, hatte sie begonnen, die monochrome Palette eines pitschnassen Paris zu genießen. Der graue Himmel über grauen Trottoirs, die graue Straßen säumten, das alles erschien ihr irgendwann nicht mehr wie ein tristes Einerlei, sondern wie eine lehrreiche Lektion über die möglichen Nuancen einer einzigen Farbe. All jene, die sich für Paris entscheiden, lieben die Stadt als solche mehr als jeden ihrer einzelnen Aspekte, und das traf irgendwann auch auf sie zu. Ehe der Sommer zu Ende ging, schwärmte sie für Paris als das, was es war, und stellte fest, dass sie den Gedanken, es wieder zu verlassen, unerträglich fand.

Sie erinnerte sich an das winzige Zimmer, das sie sich gemietet hatte, im obersten Stock eines fahrstuhllosen Gebäudes im VI. Arrondissement: eisig im Winter und bullenheiß im Sommer, aber mit Aussicht auf die Spitze des Eiffelturms. Ein Sortiment von schlecht bezahlten Jobs hielt sie gerade so über Wasser, und spätabends saß sie an dem Tischchen, das gerade noch in ihr Stübchen hineinpasste, und schrieb die Gedichte, die sie gerade als die Hauptsache in ihrem Leben zu empfinden begann. Sie war glücklich. Also blieb sie.

Ihr Sitznachbar setzte sich um, und seine Bewegung riss sie aus ihrer Träumerei. Der Zug wurde langsamer. Die junge Frau hatte offenbar ihre Haltestelle erkannt, denn sie lächelte und stand auf. Beim Anblick der Bauchtasche, die sie umgeschnallt hatte, dachte Rachel an die zweite Möglichkeit, ein amerikanischer expatriate in Paris zu werden: von dem finanzstarken Arbeitgeber – Bank, Anwaltsfirma, Behörde – dorthin geschickt zu werden und seinen Job so gut zu machen, dass man nie wieder abberufen wurde. Auf die Weise war Edgar hier gelandet. Er war als Repräsentant einer expandierenden Bank nach Paris gekommen und während diese immer weiter expandierte, stieg er immer weiter die Karriereleiter hinauf, bis er schließlich der Chef der französischen Abteilung für internationale Finanzen war. Er kaufte sich ein großzügiges appartement im I. Arrondissement, heiratete eine Französin, bekam einen Sohn, und ließ sich ein paar Jahre später auf gesittete Weise scheiden. Er hatte das nötige Geld, um seine alten Interessen mit neuen Anschaffungen zu unterfüttern, und die soziale Kompetenz, um neue Bekanntschaften zu pflegen, bis daraus alte Freunde wurden. Er war zufrieden. Also blieb er.

Als diesen kultivierten, gesetzten Financier lernte Rachel ihn kennen. Sie war Kellnerin und er Gast auf einer Cocktailparty, eine jener wenigen Situationen, in denen der knurrende Magen und der gemästete Bauch der Diaspora einander begegnen. Der Junge-der-nicht-Belmondo-war war mittlerweile längst passé, aber bei Edgar Bowen hätte er sowieso nicht mithalten können. Fünfzehn Jahre älter als sie bewegte sich Edgar in Welten, die Rachel bislang nur über den Rand eines Serviertellers hinweg erahnt hatte. Ohne sie je gönnerhaft zu behandeln, bot er ihr Gelegenheiten, sich zu verfeinern und zu formen. Er ging mit ihr in Galerien statt Museen, in überraschende Restaurants, die er, wie ein richtiger Pariser, zufällig entdeckt hatte. Gemeinsam verbrachten sie Stunden in Antiquariaten, versenkten sich in ihre jeweiligen Funde und besprachen sie anschließend bei einem trockenen Weißwein im nächsten Bistro. Sie tappte barfuß durch seine Wohnung und schwelgte in ihren Vorzügen gegenüber ihrem winzigen Zimmerchen. Jetzt, im dampfigen Metrowaggon, konnte sie noch immer das ernste, respektvolle Gesicht sehen, mit dem er ihr zugehört hatte, als sie ihm zum ersten Mal ein paar ihrer Gedichte vorlas, und sich daran erinnern, wie er die Veröffentlichung ihres ersten Lyrikbändchens gefeiert hatte. Ohne ihn hätte sie nie den Mut aufgebracht, das Dichten zu ihrem Beruf zu machen. Mit ihm gelang es ihr, Paris so gut kennenzulernen, um es wie selbstverständlich mit der alltagstauglichen Liebe der Einheimischen zu lieben. Und wenn sie auch, als ihre Beziehung zwei Jahre später endete, weit davon entfernt gewesen war, une parisienne zu sein, wurde sie doch allmählich erwachsen.

Während sie das Mädchen beobachtete, wie es vor dem Fenster den Bahnsteig entlangging, wusste Rachel, dass sie nie wieder so offen, nie wieder so unwissend sein würde. Diese inzwischen längst verlorene Ahnungslosigkeit war das, was sie und Edgar am Ende auseinandergebracht hatte: Sie hatte gerade am Anfang gestanden, als er bereits im Begriff gewesen war, sich zur Ruhe zu setzen. Und das trennte sie mehr, als jede Folge von Kränkungen oder wütenden Auseinandersetzungen es jemals vermocht hätte. Nach zwei Jahren hatte er die Sache mit Anstand und so viel Zartgefühl, wie unter den Umständen möglich, beendet. Danach, sobald sie kein Liebespaar mehr waren, hatten ihrer beider Leben keinen Anlass mehr gehabt, einander zu berühren. Ihr Schmerz über die Trennung zog sich von einer offenen Wunde nach und nach zu einem Nadelstich zusammen; ihre Zeit mit ihm schien irgendwann in die Ferne gerückt. Wieder ein paar Jahre später lernte sie Alan kennen, und da Alan ebenfalls ein Expat war und für eine große internationale Bank arbeitete, begegneten sie Edgar gelegentlich auf Partys und zu Anlässen wie dem Bal Rouge, der alljährlich im Februar stattfindenden Wohltätigkeitsgala der Pariser Finanzgemeinde. Sie lächelten sich zu, tauschten Wangenküsschen und machten Konversation, aber die einzige Möglichkeit, die unbestimmte Befangenheit ehemals Verliebter zu vermeiden, war vorzugeben, sie seien bloße Bekannte.

Und jetzt war er tot. Jetzt, dachte Rachel, als sie an ihrer Haltestelle ausstieg, würden sie nie die nötige Entspanntheit miteinander erreichen können, um wieder ein richtiges Gespräch zu führen. Jetzt hatte sie eine ihrer wenigen noch bestehenden Verbindungen zu der Zeit verloren, als sie noch weniger selbstsicher, aber dafür bei weitem sicherer gewesen war, wer sie eigentlich war. Mit diesem Verlust wurden die vergangenen Rachels ein bisschen weniger wirklich, die jetzige Rachel ein bisschen mehr zu ihrem einzigen Ich, und die vollständige Rachel wurde insgesamt ein wenig unbekannter. Und da ging ihr plötzlich auf, welche Tragweite Edgar Bowens Verschwinden für sie wirklich besaß. Sie hielt einen Augenblick auf dem Bahnsteig inne und gedachte des Toten.

4. Kapitel

Wenn man glaubt, etwas sei wahr, überlegte Rachel am folgenden Morgen, besteht das Problem darin, dass man nicht weiß, ob es wahr ist. Man weiß, dass man es glaubt, aber das Wissen darum, dass man es glaubt, es aber nicht weiß, untergräbt sogar noch den eigenen Glauben.

Dieser komplexe Sachverhalt irritierte sie während des gesamten Frühstücks. Sie wusste, dass Edgars Tod kein Unfall war, aber wenn sie keine Beweise dafür hatte, dann war ihr Wissen – betrachtete sie die Situation rational – nichts anderes als ein unbegründeter Glaube. Was sie in die frustrierende Lage brachte, sich einer Sache sicher zu sein, sie aber gleichzeitig anzuzweifeln. Am Ende entschied sie, dass der einzige Weg, ihren Seelenfrieden wiederherzustellen, darin bestand, die Glaubwürdigkeit ihrer Zweifel zu überprüfen. Zugegeben, sie war diejenige, die darauf bestanden hatte, den hypothetischen Mord nicht zu untersuchen. Aber daraus folgte noch nicht, dass es verboten war, ihre eigenen Überzeugungen auf den Prüfstand zu stellen. Und immerhin: Sollte sich herausstellen, dass diese Überzeugungen falsch waren, wäre damit endgültig bewiesen, dass der Wunsch, Ermittlungen anzustellen, ebenfalls falsch war. So lautete ihre Rationalisierung, und an die hielt sie sich.

Da Edgar angeblich an einem Herzschlag gestorben war, musste sie logischerweise mit seinem Hausarzt beginnen.

»Wie findet man den Namen von jemandes Hausarzt heraus?«, fragte sie Alan, um einen beiläufigen Ton bemüht.

Er sah von seinem Tablet nicht auf. »Man fragt einfach den Betreffenden.«

»Aber was, wenn der Betreffende tot ist?«

»Warum willst du denn den Arzt eines Toten kontaktieren?«

»Das ist rein hypothetisch. Wie würde man, rein hypothetisch, vorgehen, wenn die fragliche Person tot wäre?«

Jetzt hob er die Augen und musterte sie, bevor er antwortete. »In diesem rein hypothetischen Fall würde man vermutlich einen ihrer Freunde oder Verwandten fragen.«

Oh. »Gäbe es sonst noch eine Möglichkeit?«

Er dachte noch einmal nach. »Ich wüsste keine – außer jeden Arzt anzurufen, bei dem er oder sie in Behandlung gewesen sein könnte, und zu fragen. Und selbst das würde nicht funktionieren, weil es Ärzten verboten ist, die Namen ihrer Patienten herauszugeben.« Er fixierte sie. »Warum?«

»Nur so.« Wieder betont beiläufig.

Seine Augen sahen sie weiter forschend an. »Sicher?«

»Ja. Einfach nur so ein Gedanke.«

An ihrem Daumennagel kauend ging sie hinter ihrer Zeitung in Deckung. Sie musste darauf achten, künftig kein Wort zu ihrer Ermittlung mehr fallenzulassen; auf Alans Fragen konnte sie dankend verzichten. Aber keine Möglichkeit, den Hausarzt zu finden, bedeutete keine Möglichkeit, etwas zum Thema Herz herauszufinden. Wie war es mit einem Fitnessstudio? Sie konnte ja herausfinden, wo er trainiert hatte, und sich dort nach ihm erkundigen. Bloß, dass Fitnessstudios wahrscheinlich die Namen ihrer Kunden ebenso wenig herausrückten wie Ärzte – Gott, Gesundheitsfreaks waren ja dermaßen von sich eingenommen! Also, kein Arzt, kein Fitnessstudio.

Wie wäre es dann mit dem Wein? Schließlich war er ja das, was ihren Argwohn überhaupt erst geweckt hatte. Und sie hätte wetten können, dass cavistes keinerlei nervigen Sittenkodex besaßen. Natürlich war der Versuch, in Frankreich einen ganz bestimmten Weinhändler zu finden, dem vergleichbar, eine Nadel in einem Nadelhaufen zu finden. Aber, flüsterte ihre innere Detektivin, ist das Internet nicht genau für solche Fälle da?

Sie wartete, bis Alan gegangen war, dann weckte sie ihren Computer auf und tippte »Weinhandlung I. Arrondissement« in ihren Browser. Sie konnte zwar nicht wissen, ob Edgar noch immer im selben Arrondissement gewohnt oder noch immer im selben Weingeschäft eingekauft hatte – ja nicht einmal, ob sie den Namen des Geschäfts wiedererkannt hätte, wenn sie ihn jetzt vor sich sähe –, aber da sie keinen anderen Ansatzpunkt hatte, konnte sie ebenso gut dort anfangen.

Wie nicht anders zu erwarten, hatte das Internet unzählige Weinhandlungen im I. Arrondissement zu bieten. Sie scrollte nach unten und versuchte festzustellen, ob ihr ein Name vertraut vorkam. Nicht Nicolas, nicht La Garde Robe, nicht Cellier Sainte Ivresse – es war irgendwas wie cellier, aber nicht Cellier; irgendein Wort, das ebenfalls mit »c« anfing und ebenfalls mit Wein zu tun hatte. Plötzlich strömten sämtliche ihr bekannten französischen Wörter, die mit »c« anfingen auf sie ein: citron, citoyen, cahier, cave … Cave! Das war’s. Cave irgendwas. Sie tippte versuchsweise »Weinhandlung I. Arrondissement Cave« in die Suchmaske.

Und da war es: Cave Bernard Magrez. Sie erkannte den Namen so schnell, als hätten sie und Edgar erst vergangene Woche dort vorbeigeschaut. Die Adresse stimmte zwar nicht ganz – tatsächlich war das Geschäft im II. Arrondissement –, aber ziemlich gut getroffen, beglückwünschte sie sich selbst.

Sie nahm ihr portable und tippte die Nummer ein. Erst als sich eine Stimme meldete: »Cave Bernard Magrez«, ging ihr auf, dass sie so darauf fixiert gewesen war, den Laden ausfindig zu machen, und so aufgeregt, ihn gefunden zu haben, dass sie gar nicht daran gedacht hatte, einen Plan zu entwerfen. Sie hatte keine Ahnung, wie sie vorgehen sollte, und jetzt war es zu spät, um sich noch etwas auszudenken.

»Bonjour.« Sie spielte auf Zeit und hoffte auf ihr Improvisationstalent. »Spreche ich mit der Cave Bernard Magrez?«

»Oui, madame.«

»Der Cave Bernard Magrez, bei der Edgar Bowen einkauft?« Als könnte es mehr als einen Laden namens Cave Bernard Magrez geben.

Sie hörte das Klacken einer Computertastatur, dann wiederholte die Stimme: »Oui, madame. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Ich rufe an, um …« Warum rief sie an? Sie zögerte wieder, dann fuhr sie fort: »Ich rufe an, um Sie darüber zu informieren, dass Monsieur Bowen leider verstorben ist.«

Am Ende der Leitung schnappte es nach Luft. »Oh, nein! Wie bedauerlich.« Der caviste klang aufrichtig betroffen. »Monsieur Bowen war ein feiner Mann – ein geschätzter Kunde. Wir werden ihn vermissen. Unser aufrichtiges Beileid.«

»Danke.« Eine nüchterne Pause. Die Zahnräder in ihrem Kopf schnurrten. »Es kam ganz plötzlich. Er starb an einem Herzinfarkt.«

»Schrecklich. Schrecklich.«

»Ja.« Sie holte tief Luft; jetzt hatte sie einen ungefähren Plan. »Ich bin Monsieur Bowens Sekretärin.« Hatte Edgar überhaupt eine? Was, wenn er gar keine Sekretärin hatte? Doch es kamen keine Widerworte, also stotterte sie weiter. »Bedauerlicherweise hat die Plötzlichkeit seines Ablebens uns völlig überrumpelt. Es kam so unerwartet, und jetzt müssen wir natürlich seine Schulden begleichen. Aber seine Buchhaltungsunterlagen sind unklar.« Sie leckte sich die Lippen, kam zum Eigentlichen. »Könnten Sie mir wohl seine letzte Bestellung ins Gedächtnis rufen, sodass wir sie bezahlen und die Abwicklung des Nachlasses in die Wege leiten können?«

Das Ganze klang in Rachels Ohren hochgradig unglaubwürdig, und sie wusste selbst nicht, was sie mit »die Abwicklung des Nachlasses in die Wege leiten« meinte. Der caviste aber sagte lediglich: »Selbstverständlich, selbstverständlich.« Wieder hörte Rachel Computertasten klacken. »Vor zwei Wochen gab Monsieur Bowen seine übliche monatliche Bestellung auf.«

Verdammt: Übliche monatliche Bestellungen bedurften keiner weiteren Erklärungen. »Seine übliche monatliche Bestellung.« Sie bemühte sich um einen neutralen Stimmton. Konnte sie so tun, als habe sie vergessen, was die übliche Bestellung beinhaltete? Konnte sie behaupten, sie müsste es ganz genau wissen, und so den caviste dazu bewegen, sie ihr vorzulesen?

Aber wieder einmal war das Glück auf ihrer Seite: Dem caviste erging es wie vielen, die schon auf die leiseste Verwirrung mit Hilfsbereitschaft reagieren. »Ja, die übliche Bestellung. Eine Kiste gemischte Weiße und Rote; dann drei Weiße, Coche-Dury, und drei Merlot, Château Trotanoy, zum Einkellern; dann zwei Mas de Cadenet Rosé und ein Fonseca Port, ebenfalls zum Einkellern.«

»Rosé?«, quiekte Rachel.

»Oui, Madame, zwei Flaschen, wie immer. Und unsere Gesamtrechnung für dieses Quartal belief sich auf –«

Aber von ihrer eigenen Ungläubigkeit verstört, legte Rachel auf. Sie lehnte sich zurück und versuchte, das Gehörte zu verarbeiten. Zwei Flaschen Rosé! Offenbar hatte Magda recht. Edgar hatte sich verändert. Aber sie erinnerte sich an die Entschiedenheit seiner Abneigung, an seine Behauptung, Rosé schmecke wie gezuckerter Essig. Und es gab davon nur zwei Flaschen, gegenüber den je neun von Rotem und Weißem. Auch das war seltsam. Vielleicht hatte er den Rosé nur als Geschenk oder für einen Gast gekauft. Aber der Mann hatte gesagt, sie wären Teil seiner üblichen Bestellung. Konnte er einen regelmäßigen Gast gehabt haben? Einen regelmäßigen Gast, der untätig dabeisaß, als er mit dem Gesicht in seine Suppe fiel? Einen regelmäßigen Gast, der plötzlich beschlossen hatte, ihm dabei zu helfen, mit dem Gesicht in seine Suppe zu fallen?

Sie setzte sich um und versuchte, das, was sie erfahren hatte, mit dem, was sie über Edgar wusste, in Einklang zu bringen. Sie war mittendrin, als sie sich von ihrem College-Philosophiekurs her widerwillig an Ockhams Rasiermesser erinnerte: Die einfachste Erklärung ist aller Wahrscheinlichkeit nach die richtige. Die einfachste Erklärung lautete in diesem Fall, dass Edgar ein Mann gewesen war, der seine Weinvorräte monatlich nach seinem Geschmack wieder auffüllte. Wenn sie das nicht akzeptieren konnte, lautete die einfachste Erklärung, die zu ihrer Vorstellung von Edgar passte, dass er ein Mann gewesen war, der seine Weinvorräte monatlich nach seinem eigenen Geschmack und dem einer weiteren Person, die er regelmäßig zu Besuch hatte und die gern Rosé trank, wieder auffüllte. Keine von beiden Theorien deutete auf einen Mord hin. Und wenn die Bestellung nur für Edgar gewesen war, na ja, dann war das eine ganz schöne Menge Wein für eine einzige Person. So gesehen sprach die Beweislage für einen unfallbedingten, bedauerlich komischen Tod: Unmäßigkeit hatte einen Herzschlag verursacht – einen Myokardinfarkt – und der wiederum einen Tod durch Ertrinken. Vielleicht war es die Komik der Sache gewesen beziehungsweise ihr Wunsch, Edgar die damit einhergehende Peinlichkeit zu ersparen, die sie an einen Mord glauben ließ.

Aber die seltsamen Umstände, die Merkwürdigkeit, dass ein gesunder Mann plötzlich einen Herzschlag erlitt, selbst die schlichte Anwesenheit des Rosés – die hielten Ockhams Rasiermesser auch nicht stand. Wenn er den Rosé für einen Gast besorgt hatte, warum hatte dieser Gast dann keinerlei Indiz für seine oder ihre Anwesenheit hinterlassen, und warum war er beziehungsweise sie einfach verschwunden? Warum hatte er oder sie sich nicht wenigstens anschließend gemeldet? Und was die Möglichkeit betraf, der Wein könnte für Edgar selbst gewesen sein – also, der Geschmack änderte sich zweifellos mit dem Heranwachsen, aber doch wohl kaum in dem Alter zwischen vierzig und sechzig.

Es gelang Rachel nicht, die Fakten und ihre Gefühle miteinander in Einklang zu bringen, und es überraschte sie nicht, nun festzustellen, dass sich Kopfschmerzen anbahnten. Sie nahm zwei Aspirin und tat dann das, was sie immer tat, wenn sie ihre Gedanken neu ordnen musste: Sie ging spazieren.

Sie und Alan wohnten im dritten Stock eines gedrungenen Gebäudes im VI. Arrondissement. Die Lage hatte sich Rachel gewünscht: Nachdem sie während ihrer ersten Pariser Jahre im Sechsten gewohnt hatte, wollte sie nirgendwo anders wohnen. Sie liebte die Energie, die mit den Studierenden der Sorbonne in ihr Viertel herüberschwappte; sie liebte die ruhigen Gassen, die sich unbemerkt von der Seine heraufschlängelten, bis sie sich plötzlich in das Gewimmel des Boulevard Saint-Germain und des Boulevard Saint-Michel ergossen. Am allermeisten liebte sie den Jardin du Luxembourg, den Park, der die südöstliche Ecke des Arrondissements einnahm. Für ungezähmte Natur hatte Rachel wenig übrig, Parks aber mochte sie, und ihrer Meinung nach war der Jardin du Luxembourg – weniger von sich eingenommen als der bekanntere Jardin des Tuileries, weniger riesig als der Jardin des Plantes, und im Besitz eines Zuckerwatte-Stands – einer der allerschönsten.

Jetzt wanderte sie ziellos die breiten Wege des Jardins entlang und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Am Nachmittag dieses kalten Wintertages war der Park so gut wie menschenleer. Ein paar ältere Männer in Mänteln und Handschuhen spielten boules, wie sie es wohl zu jeder Jahreszeit taten; ein gelegentliches Gespann von jungen Müttern marschierte, Wölkchen gefrorenen Atems plaudernd, forschen Schritts vorbei und schob Buggys vor sich her, in denen durch Schichten von Kleidung zur Kugelform gebrachte Babys lagen; auf einer der Parkbänke zwischen den Baumskeletten saß ein Pärchen und küsste sich mit einer konzentrierten Hingabe, die der Witterung hohnlachte – aber zwanzig Jahre in Paris hatten Rachel gelehrt, dass bei jeder Temperatur, bei jedem Wetter und an jedem beliebigen Ort immer mindestens ein Pärchen anzutreffen war, das sich in aller Öffentlichkeit aufwändig abküsste. Vielleicht wurden sie vom Pariser Fremdenverkehrsamt eigens dazu abgestellt.

Sie schlenderte die Parkwege entlang, das Kinn im Schal vergraben, lauschte dem Knirschen des Kieses unter ihren Schuhen und spürte, wie die Verwirrung, die das Telefongespräch in ihr hinterlassen hatte, allmählich verebbte. Die Leute starben aus den verrücktesten Gründen, das war ihr nicht neu. Im alten Griechenland war mal jemand daran gestorben, dass ihm eine Schildkröte auf den Kopf gefallen war; Mama Cass war an einem Schinkensandwich erstickt. Es war ein Irrtum zu glauben, die Kuriositäten des Lebens hätten eine tiefere Bedeutung. Das ganze Leben bestand doch größtenteils aus Kuriositäten und, ja, Zufällen. Wenn man sie schließlich nicht vor all den Jahren im letzten Moment als Ersatzbedienung für eine Neujahrsfeier angefordert hätte, wären sie und Magda nie Freundinnen geworden.

Diese Erinnerung weckte in ihr den Wunsch, Magdas Stimme zu hören. Sie steckte die Hand in die Manteltasche, kramte ergebnislos und begriff, dass sie ihr Mobiltelefon zu Hause gelassen hatte. Sie drehte auf der Stelle um und machte sich auf den Heimweg.

***

Die Riegel im Schloss ihrer Wohnungstür erzeugten das gewohnte Geräusch, als sie den Schlüssel herumdrehte. Noch immer in nostalgischer Stimmung erinnerte sie sich, wie sehr es ihr, als sie und Alan hier eingezogen waren, gefallen hatte, dass die Türriegel sich in Fußboden und Decke versenkten statt waagerecht in die Wand. Mittlerweile hatte sie erfahren, dass diese Konstruktion in Pariser Wohnungen weit verbreitet war, aber sie hörte nicht auf, sie mit ihrer sehr französischen Kombination von Findigkeit und gesundem Menschenverstand zu entzücken. Einen ebenso großen Genuss verschaffte ihr das seltsam saugende Geräusch, das die Stangenriegel erzeugten, wenn sie sich einzogen, und ihr scharfes Einrasten, wenn sie die Tür zudrückte. Dieses zweite Geräusch konnte sie diesmal allerdings nicht angemessen würdigen, denn gerade als sie durch die Tür trat, hörte sie das Festnetztelefon klingeln.

Sie ging an den Apparat und nahm ab. Magda konnte es nicht sein; Magda rief sie immer nur auf dem Handy an. »Allô?«

»Guten Tag«, sagte eine junge Frauenstimme. »Ist Madame Levis zu sprechen?«

»Am Apparat.« Rachel versuchte, sich den Schal vom Hals zu wickeln, aber er verhedderte sich mit der Telefonschnur.

»Madame Levis, ich rufe vom cabinet Martin Frères an.« Einem cabinet? Was wollte eine Anwaltskanzlei von ihr?

Wie zur Beantwortung ihrer unausgesprochenen Frage sagte die Frau: »Wir verwalten den Nachlass Monsieur Edgar Bowens.«

»Ach?« Ihre Verwirrung wurde nicht weniger.

»Monsieur Bowen hat Sie in seinem Testament bedacht, und wir rufen an, um zu fragen, ob es Ihnen möglich wäre, an der Testamentseröffnung teilzunehmen, die kommenden Montag in seiner Wohnung stattfindet.«

Kuriositäten und Zufälle, dachte Rachel, Kuriositäten und Zufälle. Ins Telefon sagte sie: »Aber selbstverständlich.«

5. Kapitel

Edgar war seit ihrer gemeinsamen Zeit in eine größere Wohnung umgezogen, stellte Rachel fest, aber die résidence hatte er nicht gewechselt. Warum auch? Das Erste war das eleganteste und luxuriöseste Arrondissement von Paris, und der Quai des Orfèvres eine seiner hübschesten Offenbarungen. Rachel befand sich nicht mehr als zwanzig Meter von der Reiterstatue Heinrichs IV. auf dem Pont Neuf und den Strömen von Fahrzeugen und Touristen, die ihn unablässig überquerten, entfernt, aber in dieser engen Straße am Ufer der Seine war es so still wie auf dem Land, und selbst die Busse, die hier gelegentlich durchkamen, schienen ihre Motoren rücksichtsvoll zu dämpfen. Das fünfstöckige Gebäude, das sich vor ihr in die Höhe reckte, stand seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gelassen da, und sie vermutete, dass Edgar von seinen vorderen Fenstern aus einen Blick auf den Fluss gehabt hatte. An seiner Stelle wäre sie auch nicht von hier weggezogen.

Das I. Arrondissement beherbergte, wie sie wusste, viele solche Orte. Sie dachte an Galignani, die Buchhandlung am Ende der Rue de Rivoli, die seit über einem Jahrhundert, von keinem Touristenfuß entweiht, stillvergnügt englischsprachige Bücher verkaufte; an den Innenhof des Louvre bei Nacht, menschenleer, aber mit der Glaspyramide, die wie eine von innen beleuchtete überdimensionale CD-Hülle den Platz überstrahlte. Wenn man schon nicht im Sechsten wohnen konnte, sagte sie sich, war das Erste eine gute zweite Wahl. Über ihren unbeabsichtigten Witz grinsend tippte sie den alten Türcode in das Tastenfeld. Zu ihrer Überraschung funktionierte er. Sie horchte auf das Klappern ihrer Schuhe auf dem Marmorfußboden, während sie durch die Eingangshalle zum Aufzug ging.

Auf der Fahrt hinauf in den zweiten Stock wurde sie wieder nervös. Die Situation war ihr in jeglicher Hinsicht ungewohnt. Sie hatte nicht einmal gewusst, was sie anziehen sollte. Erst nach Beratung mit Magda hatte sie sich für ein schlichtes schwarzes Kleid und schlichte schwarze Schuhe entschie- den.

»Es ist ein feierlicher Anlass«, hatte Magda zu bedenken gegeben. »Er hat immerhin etwas mit einem Todesfall zu tun. Mit Schwarz kannst du nichts falsch machen.«

Rachel hatte gehofft, dass das Outfit ihr zumindest ein bisschen Selbstvertrauen schenken würde, aber momentan fühlte sie sich darin lediglich wie eine nervöse Frau in einem schwarzen Kleid. Sie zog den Mantel enger um sich und klingelte an Edgars Tür.

Die Tür schwang auf und gab den Blick frei auf einen imposant dastehenden Butler.

»Fulke?« Rachel staunte.

Der Butler nicht. »Madame Levis.« Er trat beiseite, um sie hereinzulassen. »Stets ein Vergnügen, Sie zu sehen, Madame.« Er sprach so, als sei sie ein häufiger Gast.

Fulke war schon Edgars Butler gewesen – na ja, damals noch eher etwas wie ein »Haushalts-Manager« –, als Edgar und Rachel gerade anfingen, sich zu treffen. Obwohl es sie verblüffte, ihn noch immer vor Ort vorzufinden, musste sie nach kurzem Nachdenken zugeben, dass sie nicht eigentlich überrascht war. Fulke hatte schon zwanzig Jahre zuvor unüberwindlich gewirkt, und die Zeit hatte weder an seiner Größe noch an seiner eindrucksvollen Masse etwas geändert. Er vermittelte einen Eindruck von Ewigkeit, wie ein menschgewordener Familienschatz, und so schien es irgendwie richtig, dass er, nachdem er Edgar während seines ganzen Lebens in Frankreich gedient hatte, ihn nun auch daraus hinausgeleiten sollte.

»Ein trauriger Anlass, Fulke«, sagte sie. Sie sah den Schatten einer Gefühlsregung über sein Gesicht huschen, aber er war zu sehr der treue Bedienstete, um irgendetwas preiszugeben. Stattdessen neigte er lediglich den Kopf, während er ihr den Mantel abnahm. Nachdem er ihn aufgehängt hatte, deutete er in die Tiefen des appartements. »Madame.« Er führte sie den Korridor entlang zum entsprechenden Zimmer.

Rachel und Alan waren alles andere als arm, aber die Wohnung, durch die sie jetzt ging, machte klar, dass Edgar wirklich reich gewesen war. Sie kam an einem langgestreckten Esszimmer mit einem Nussbaumtisch vorbei, an dem zwei scheinbar endlose Reihen von Stühlen standen. Durch die Doppeltür auf der anderen Seite des Korridors blickte sie kurz in einen sorgfältig in Graubraun und Gold gehaltenen salon, blasse Ölbilder und kraftvolle Radierungen an den Wänden, die Fenstertüren zu einer Veranda im Vorübergehen gerade noch zu erkennen. Und das war keine selbstverständliche, geerbte Fülle. Nirgends waren die fadenscheinigen Stoffe, die Atmosphäre von abgewetzter Plüschigkeit zu bemerken, die Rachel in den (sehr wenigen) Häusern von französischen vieilles fortunes, die sie im Rahmen von Alans Arbeit besuchten, erlebt hatte. Edgar hatte zu viel Geschmack und Selbstachtung, um dem Bild eines nouveau riche zu entsprechen, doch er hatte andererseits auch nicht die Zeit gehabt, das selbstverständliche Gefühl von Behagen und Anspruch zu erwerben, das mit altem Reichtum einherging; er hatte sich nicht auf das Bewusstsein stützen können, dass die Fadenscheinigkeit seiner Sesselbezüge von dreihundertjähriger Benutzung herrührte. Dennoch, dachte sie, als Fulke eine Tür zu ihrer Rechten öffnete, wie wunderschön das alles war! Wie wohlgeordnet