Totengrab - Keith Nixon - E-Book
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Totengrab E-Book

Keith Nixon

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Beschreibung

Ein toter Teenager, ein verschwundener Sohn und ein gebrochener Detective!

Margate, eine kleine Küstenstadt in England: Mit seltsamen Gefühlen im Bauch fährt Detective Sergeant Solomon Gray zu einem Tatort. Ein Teenager ist aus dem fünften Stock eines Apartmenthauses in den Tod gesprungen. Das Opfer ist genauso alt, wie Grays eigener Sohn Tom jetzt sein müsste - der aber vor zehn Jahren auf einem Jahrmarkt spurlos verschwunden ist. Seitdem sind für Gray Fälle, an denen Kinder beteiligt sind, immer auch persönlich. Denn sein Sohn könnte noch irgendwo da draußen sein ...

Und dann macht Solomon Gray eine Entdeckung, die ihn aus der Bahn zu werfen droht: Auf dem Handy des toten Teenagers ist Grays eigene Nummer gespeichert. Woher hat der Junge diese Nummer? Kannte er Grays Sohn? Die Ermittlungen führen den Detective in eine Welt aus Missbrauch, Lügen und Korruption. Und schon bald muss er sich seinen eigenen Dämonen stellen ...

"Totengrab" ist der erste Band der Krimi-Reihe um Detective Sergeant Solomon Gray. Der zweite Band "Rachegrab" erscheint im Sommer 2018.

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung!

LESER-STIMMEN

"Ein wirklich gelungener Krimi, der einen von der ersten bis letzten Seite fesselt." (Dartmaus, Lesejury)

" Keith Nixon hat mit 'Totengrab' einen (...) gelungenen Start einer neuen Thriller-Reihe um den traumatisierten Ermittler Solomon Gray hingelegt. Der Charakter des Hauptprotagonisten ist geprägt durch sein persönliches Schicksal, was der Autor sehr emotional und glaubhaft transportieren kann. ( Maddinliest, Lesejury)

"Der Autor Keith Nixon ist für mich eine Neuentdeckung. Er versteht es, die ganze Zeit den Spannungsbogen hoch zu halten." ( Deichgraefin, Lesejury)

"Die Figur des Sol Gray, den das Schicksal arg gebeutelt hat, fand ich trotz seiner vielen "Ecken und Kanten" sympathisch. Es hat mich beeindruckt, dass er daran nicht zerbrochen ist. Seine Schroffheit, seine Alleingänge und seine gelegentlichen Alkoholabstürze haben ihn als Person glaubhaft gemacht und menschlich erscheinen lassen." (Rebecca1120, Lesejury)



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EPUB

Seitenzahl: 316

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Ähnliche


Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Über den Autor

Titel

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Interview

Über dieses Buch

Margate, eine kleine Küstenstadt in England: Der Teenager Nick Buckingham springt aus dem fünften Stock eines Apartmenthauses. Mit einem seltsamen Gefühl im Bauch fährt Detective Sergeant Solomon Gray zum Tatort. Das Opfer ist genauso alt, wie sein Sohn Tom jetzt sein müsste – dervor zehn Jahren spurlos auf einem Jahrmarkt verschwand. Seitdem nimmt Grey jeden Fall, an dem Kinder beteiligt sind, persönlich. Denn sein Sohn könnte noch irgendwo da draußen sein -

Doch dann macht Solomon Gray eine Entdeckung, die ihn aus der Bahn zu werfen droht: Auf dem Handy des toten Teenagers ist Grays eigene Nummer gespeichert. Die Ermittlungen führen ihn in eine Welt aus Missbrauch, Lügen und Korruption. Und schon bald muss sich der Detective seinen eigenen Dämonen stellen -

»Totengrab« ist der erste Band der Krimi-Reihe um Detective Sergeant Solomon Gray – jetzt als eBook bei beTHRILLED.

Über den Autor

Keith Nixon ist ein britischer Autor, der vor allem Krimis und historische Romane schreibt. Eigentlich ist er gelernter Apotheker, inzwischen arbeitet er aber in leitender Funktion im Vertrieb einer High-Tech-Firma. Er lebt mit seiner Familie im Nordwesten Englands. Er hat bisher einige Bücher veröffentlicht, Romane ebenso wie Kurzgeschichten. Keith ist in zahlreichen sozialen Medien vertreten:

KEITH NIXON

TOTENGRAB

SOLOMON GRAY REIHE, BAND 1

Aus dem englischen von Kerstin Fricke

beTHRILLED

Deutsche Erstausgabe

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2017 by Keith Nixon, Rechtegeber Bastei Lübbe AG, Köln

Titel der britischen Originalausgabe: »Dig Two Graves«

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Wolfgang Neuhaus

Lektorat/Projektmanagement: Lori Herber

Covergestaltung: Manuela Städele-Monverde unter Verwendung von Motiven © shutterstock/Alexey Fedorenko

eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-4181-2

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Kapitel 1

Irgendwo auf dem Flur wurde eine Tür zugeknallt, und ein Betrunkener brüllte etwas Unverständliches, bevor ein Polizist ihn zum Schweigen brachte.

Detective Sergeant Solomon Gray saß in Verhörraum drei, ohne dem Lärm auch nur die geringste Beachtung zu schenken. Er hatte ganz andere Sorgen.

Grays Vorgesetzter, Detective Chief Inspector Jeffrey Carslake, schob seinen Stuhl polternd nach hinten und wuchtete sich hoch, was ihm in letzter Zeit zunehmend schwerer fiel, da sein Leibesumfang drastisch zugenommen hatte. Seine Miene wirkte sanft, aber Gray wusste, dass man Carslake nicht unterschätzen durfte. Sie kannten sich schon lange. Die letzten Scherben der ehemaligen Freundschaft hingen prekär wie Stalaktiten, eine unbehagliche Formalität herrschte nur noch zwischen den Männern.

Gray blickte hinauf zu dem altvertrauten Riss in der Decke, wo es letztes Jahr einen Rohrbruch gegeben hatte. Ein Wassertropfen hing dort von einem hässlichen braunen Fleck herunter. Gray beobachtete, wie der Tropfen herabfiel und auf dem Tisch zerplatzte.

Ein Feuerzeug schnippte. Die Flamme flackerte auf, und Carslakes Zigarette knisterte, als er daran zog. »Auch eine, Sol?«, fragte er Gray.

»Ich will keine Kippe, ich will meinen Sohn zurück«, sagte Gray, der zu keinen anderen Empfindungen fähig war als zu Angst und Unsicherheit.

Die Flamme flackerte noch einmal. Dieses Mal war es der dritte Mann im Zimmer, Detective Constable Michael Fowler, dessen Pornostar-Schnurrbart vom Nikotin bereits braun verfärbt war. »Kommen Sie schon«, sagte er und zeigte beim Lächeln seine gelben Zähne, während er Gray eine brennende Zigarette reichte. »Hier, nehmen Sie.«

Gray griff zu. Ihm fehlte die Energie, sich zu widersetzen. Er nahm einen tiefen Zug. Der Rauch brannte in seiner Lunge, und ihm wurde für einen Moment so schwindlig, dass er sich wünschte, Fowlers Angebot abgelehnt zu haben.

»Haben Sie schon angerufen, Sol?«, wollte Carslake von ihm wissen.

Gray nickte. »Reverend Hill ist unterwegs zu Kate, um mit ihr zu reden.«

Kate, seine Frau. Wie würde sie das alles verkraften?

»Sehr gut«, meinte Carslake. »Läuft der Rekorder, Fowler?«

»Ja, ich habe die Aufnahme vor einer Minute gestartet«, antwortete der Constable.

Carslake zog noch einmal an seiner Zigarette, deren glühendes Ende in dem schwach erleuchteten Zimmer wie ein heller Funke wirkte, und blies seufzend eine Rauchwolke aus.

»Anwesend bei diesem Verhör sind Detective Sergeant Solomon Gray, Detective Constable Michael Fowler und Detective Chief Inspector Jeffrey Carslake. Es ist jetzt neunzehn Uhr fünfunddreißig am fünfzehnten Dezember zweitausendundsechs.«

Kurz nach halb sieben? Später war es noch nicht? Gray hatte geglaubt, es wäre schon viel mehr Zeit vergangen.

Carslake stützte die Unterarme auf den zerkratzten Tisch, an dem sie sich gegenübersaßen. Sie alle hatten bereits eine lange Schicht hinter sich und schoben Überstunden. Der stressige Tag und die berufliche Anspannung lasteten ebenso schwer auf ihnen wie Fowlers Körpergeruch.

Carslake, auf dessen Stirn Schweißperlen schimmerten, lockte seine Krawatte. Es war stickig in dem kleinen Zimmer, denn der Heizkörper an der Rückwand ließ sich nicht verstellen, da das Ventil defekt war.

»Erzählen Sie uns, was passiert ist, Solomon«, bat Carslake ihn in gutmütigem Tonfall.

»Ich war mit Tom auf der Kirmes«, antwortete Gray. »Er hat heute Geburtstag, wie Sie wissen.«

»Nur Sie beide?«, fragte Carslake.

Ein kurzes Nicken. »Eigentlich wollten wir alle zusammen hin, aber Hope, meine Tochter, fühlte sich nicht gut, und meine Frau ist mit ihr zu Hause geblieben. Wirklich schade. Hope ist zwei Jahre älter als Tom. Sie hätte bestimmt ihren Spaß gehabt.«

»Wie alt ist Tom?« Carslake kannte die Antwort, wollte sie aber auf Band haben.

»Sechs.« Gray senkte den Kopf und fügte leise hinzu: »Und jetzt ist er irgendwo da draußen … ganz allein.«

Es hielt ihn nicht mehr auf dem Stuhl. Getrieben von dem instinktiven Verlangen, erneut nach seinem Sohn zu suchen, stand er auf.

Carslake hielt ihn am Arm fest. »Setzen Sie sich wieder. Wir haben sämtliche Hebel in Bewegung gesetzt, das wissen Sie doch.«

Nach einem Augenblick des Zögerns nickte Gray und ließ sich auf den Stuhl sinken.

»Also weiter«, sagte Carslake. »Wie war es auf der Kirmes?«

Gray dachte ein paar Stunden zurück. Stimmengewirr, grelle Lichter, lärmende Musik, freudige Schreie. »Sie wissen doch, wie es da ist. Kennt man einen Rummelplatz, kennt man alle.« Gray zuckte mit den Achseln, drückte die Zigarette aus. »Ich bin spät nach Hause gekommen, da ich noch Überstunden machen musste.«

»Was leider ständig passiert.«

»Stimmt.« Gray versuchte sich an einem Lachen, das aber eher wie ein Husten klang. »Kate, meine Frau, war deswegen ziemlich sauer. Schließlich hatte ich Toms Geburtstagsfeier verpasst. Die Nachbarskinder waren längst weg, die Geschenke ausgepackt, der Kuchen gegessen. Kate wollte wissen, was so schwer daran sei, rechtzeitig nach Hause zu kommen.«

»Was haben Sie geantwortet?«

»Dass ich arbeiten muss, um unseren Lebensunterhalt zu verdienen. Ohne Job kein Geld. Man muss das Leben nehmen, wie es ist.«

»Was dann?«

»Ich habe mich nicht mal umgezogen, bin gleich mit Tom zum Jahrmarkt gefahren. Das schlechte Gewissen. Kate hat mir nicht mal gedankt. Für sie war es offenbar das Mindeste, was ich für den Jungen tun konnte. Aber Tom war hellauf begeistert.« Gray lächelte, doch seine Freude verflog sofort wieder. Sie erschien ihm unangebracht. »Wir haben ein paar Lose gekauft und sind Karussell gefahren. Riesenrad, Kettenkarussell, Autoskooter. Alles, was einem Jungen in Toms Alter Spaß macht« Er verstummte, senkte den Kopf.

»Ich kann Ihren Schmerz nachempfinden, Solomon«, sagte Carslake. »Aber erzählen Sie bitte weiter.«

»Tom hatte mir schon den ganzen Abend wegen der Geisterbahn in den Ohren gelegen. Aber da wir übereilt aufgebrochen waren, hatte ich nicht viel Geld dabei. Na ja, letzten Endes habe ich nachgegeben. Aber ich habe Tom gesagt, wir müssten gleich anschließend nach Hause. Ich war todmüde.«

»Sie waren also in der Geisterbahn«, hakte Carslake nach.

»Ich selbst nicht.« Gray schüttelte den Kopf. »Ich hatte nur noch Geld für den Jungen …«

Er konnte nicht weitersprechen, denn es schnürte ihm die Kehle zu. Die anderen beiden Männer warteten, bis er die Fassung wiedererlangt hatte.

»Tom hat sich so gefreut, dass er auch allein in die Geisterbahn wollte.«

»Sie haben ihn allein reingehen lassen?«, fragte Fowler stirnrunzelnd. »Der Junge ist doch erst sechs.«

»Könnte ich es rückgängig machen, würde ich keine Sekunde zögern, das können Sie mir glauben!«, stieß Gray gereizt hervor.

»Sie müssen sich nicht rechtfertigen«, sagte Carslake beschwichtigend. »Was ist danach passiert?«

»Wir haben uns angestellt. Tom hat die ganze Zeit meine Hand gehalten. Ich konnte spüren, wie er vor Aufregung zitterte. Dann ist er in einen der Wagen gestiegen.« Gray lächelte wehmütig. »Er sah so klein aus, dass ich ihn am liebsten wieder rausgeholt hätte. Aber dann ging auch schon die Stange runter, und Tom fuhr freudestrahlend in die Dunkelheit.« Gray starrte ins Leere. »Er ist nicht wieder rausgekommen.«

»Wie meinen Sie das?«

»Als sein Wagen rauskam, war er leer.«

»Was haben Sie getan?«

»Zuerst stand ich wie versteinert da. Dann ließ ich alles fallen und lief hinein. Es war stockdunkel. Ich bin herumgeirrt und konnte niemanden entdecken, keinen Angestellten, nicht mal einen von diesen nachgemachten Geistern. Ich habe Tom überall gesucht, habe nach ihm gerufen, bekam aber keine Antwort. Es war, als hätte er sich in Luft aufgelöst.«

»Und dann?«

Ein Augenblick verstrich, ehe Gray sagte: »Dann habe ich geschrien.«

Kapitel 2

Zehn Jahre später

Der Tod war häufig sinnlos, aber unter diesen Umständen konnte man einen Sturz vom Balkon im fünften Stock auf die Straße als am äußersten Ende des Spektrums einordnen.

Detective Sergeant Solomon Gray war von Helligkeit umgeben. Grelles Licht erhellte den Tatort und wurde von dem Segeltuchzelt reflektiert, das man aufgestellt hatte, um die Leiche abzuschirmen und sämtliche Beweise zu sichern.

Der Selbstmörder war noch jung, ein Teenager an der Schwelle zum Erwachsenen. Als Gray den ersten Blick auf den Leichnam warf, durchfuhr ihn derselbe Schreck wie jedes Mal, wenn er die Meldung über einen jungen Menschen bekam, der in Schwierigkeiten steckte oder sogar tot war.

Konnte es Tom sein? Gray hockte sich hin, um den Jungen genauer in Augenschein zu nehmen. Nein, der hier war älter. Er spürte Erleichterung, gefolgt von Schuldgefühlen. Wieder einmal hatte er es geschafft, sich nicht der Realität stellen zu müssen.

Was in aller Welt trieb jemanden, der sein Leben noch vor sich hatte, zu einer solchen Tat?

Gray schüttelte den Kopf. Wie er diese Selbstmordfälle verabscheute!

Einem Augenzeugen zufolge hatte der Junge auf dem ganzen Weg nach unten geschrien. Eine natürliche Reaktion? Oder hatte er es sich während des Sturzes, als es längst zu spät war, anders überlegt?

Vielleicht hatte er gar nicht springen wollen …

Der Junge wirkte erstaunlich friedlich, wenn man bedachte, dass eine Seite seines Körpers zerschmettert war. Die Schwerkraft und der Beton hatten eine chaotische Leinwand erschaffen, ein abstraktes Bild im Stil eines Jackson Pollock. Wären die Blutspritzer und die leeren Augen nicht gewesen, hätte man beinahe auf den Gedanken kommen können, der Junge würde schlafen.

Grays Gedanken überschlugen sich. Fakten, Vermutungen und Empfindungen wirbelten durcheinander und bildeten ein verwirrendes Chaos. Die Vergangenheit vermischte sich mit der Gegenwart. Gray musste an den Tod seiner Frau denken. Sie hatte Selbstmord begangen.

»Geht es Ihnen nicht gut?«, erkundigte sich Dr. Ben Clough, der zuständige Pathologe, der Gray überragte und einen langen Schatten warf. Er starrte Gray durch seine Brillengläser an, ohne zu blinzeln. Clough war ein ordentlicher, beinahe penibler Mann mit straff gekämmtem, sandfarbenem Haar, gepflegten Fingernägeln und sorgfältig gebügelter Kleidung. Hinsichtlich seines Erscheinungsbildes war er das Gegenteil von Gray, doch beide Männer hatten Probleme, was zwischenmenschliche Beziehungen betraf.

Mit seinem schlanken, muskulösen Körper sah der Pathologe wie ein Sportler aus. Wenn er nicht gerade Überstunden machte, joggte er endlos durch die Straßen. Manche vermuteten, dass es eine Flucht vor seinem Job war, doch Gray wusste es besser: Clough suchte einfach nur die Einsamkeit – ein Wunsch, den Gray nachempfinden konnte.

»Ich habe gesehen, was ich sehen musste«, sagte er.

»Haben wir das nicht alle?« Clough klang viel älter, als er aussah. »Ich melde mich, wenn die Obduktion abgeschlossen ist.«

Sie tauschten zum Abschied ein paar Höflichkeitsfloskeln, bevor Gray erleichtert das Zelt verließ.

Draußen war es bedeckt und kühl. Arlington House, das granitgraue Hochhaus an der Küste von Margate, aus dem der Junge gesprungen war, passte perfekt zu der rauen Jahreszeit und der bedrückenden Atmosphäre. Das Haus sah wie ein monumentales Grab aus. Gray zählte sechs Stockwerke und richtete den Blick dann auf den fraglichen Balkon. So hoch schien er gar nicht zu sein. Als er sich die Stirn abwischte, war seine Hand leicht feucht.

Ein kalter Windstoß erfasste Gray und rief ihm in Erinnerung, dass längst Dezember war und der Winter nahte. Der Herbst war nur noch eine blasse Erinnerung. Das Weihnachtsfest stand vor der Tür. Gray verzog das Gesicht. Das bedeutete, dass ihm wieder einmal endlose Feiertage und der Jahrestag von Toms Verschwinden drohten.

Der Pulk der Schaulustigen war während der paar Minuten, die Gray mit dem Arzt gesprochen hatte, noch größer geworden. Die Leute drängten sich an der Absperrung, um einen Blick auf die Tragödie zu werfen. Die Gaffer in Zeltnähe reckten den Hals wie Flamingos und stellten sich auf die Zehenspitzen, um ins Zeltinnere schauen zu können. Dann zuckte der Blitz einer Kamera.

Am liebsten hätte Gray den Fotografen an der Gurgel gepackt und ihm die Kamera dorthin gesteckt, wo die Sonne niemals hinkam. Was war nur mit diesen Leuten los? Warum erfreuten sie sich so sehr am Unglück anderer? Sie waren wie die Gaffer auf der Autobahn, die im Schneckentempo an einer Unfallstelle vorbeifuhren – morbide, rücksichtslose Zeitgenossen, die fälschlicherweise glaubten, ihnen könne so etwas nicht passieren, und dass sie ruhig und friedlich an Altersschwäche sterben würden.

Gray wusste es besser.

Er war erfahren genug, um zu erkennen, wann sich Ärger anbahnte. Schon bald würde das Geschubse erbitterter werden; die Leute würden miteinander rangeln, und es würde ein paar Verhaftungen und den damit einhergehenden Papierkram geben, auf den Gray gut verzichten konnte. Stunden kostbarer Polizeiarbeit würden vergeudet. Der Friedensrichter würde den Missetätern nach einer Nacht in einer Gefängniszelle höchstens eine Verwarnung aussprechen. Und das alles, damit diese Leute sich ein paar Augenblicke lang am Anblick des Blutes ergötzen konnten. Das Ganze glich einem Pulverfass, das nur auf den Funken wartete, der es zur Explosion brachte.

Und da ist dieser Funke auch schon, dachte Gray mürrisch.

Er kam in Gestalt von Ed Scully, einem rotgesichtigen Zeitungsreporter und Taugenichts. Scully war so schlüpfrig wie Motoröl – ein Chamäleon, das sein Erscheinungsbild nach Belieben verändern konnte, um mit der Menge zu verschmelzen. Heute trug er Jeans und eine bis oben geschlossene Jacke. Außerdem hatte er sich den Schädel rasiert.

Gray verzog das Gesicht. Wenn irgendwo etwas Schlimmes passierte, erfuhr Scully unweigerlich davon, wie ein Geier das Aas wittert, und tauchte am Tatort auf wie eine Hyäne, um sich an den Überresten zu ergötzen.

Gray kannte Scully schon seit Langem, denn der Journalist hatte sich in Grays privates Unglück verbissen und ging ihm bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf die Nerven. Scully ließ nie zu, dass Grays Wunden heilen konnten; stattdessen erinnerte ihn stets aufs Neue an die schmerzliche Vergangenheit, sorgte dafür, dass immer wieder über Toms Verschwinden berichtet wurde, und enthüllte ständig neue Details, von denen er im Grunde gar nichts wissen durfte.

Nun bahnte Scully sich einen Weg durch die Menge und hielt Ausschau nach Interviewpartnern – vorzugsweise solchen, die mit den schaurigsten Zitaten aufwarten und seinen Text auf diese Weise aufmotzen konnten.

Unermüdlich ließ Scully den Blick schweifen. Dann entdeckte er Gray. Sofort legte sich ein Grinsen auf sein Gesicht, und er zwinkerte Gray zu. Wer konnte einen besseren Kommentar abgeben als der gestresste Detective Sergeant?

Grays Magen krampfte sich zusammen, und er ballte kaum merklich die Faust, ließ sich sonst aber nichts anmerken. Er unterbrach den Blickkontakt, bevor Scully sich durch die wogende Menge der Gaffer zu ihm durchdrängeln konnte; schließlich war er nicht zu seinem Vergnügen hier. Er musste arbeiten. Außerdem war er sich keineswegs sicher, ob er Scully nicht mitten in die Visage schlagen würde, wenn der Kerl ihm zu nahe kam.

Gray drehte sich zu dem Constable um, der mit grimmigem Gesicht an der Absperrung stand, und nickte ihm zu. Der Mann hob das Band hoch und ließ den Detective Sergeant durch. Während Gray zum Eingang des Hochhauses ging, spürte er, wie Scullys Blicke sich in seinen Rücken bohrten.

Eine Minute später befand sich Gray in der relativen Ruhe des Arlington House und drückte mehrmals auf den Pfeil nach oben, damit der Fahrstuhl endlich kam. Schließlich hatte sein Daumen es geschafft, die Kabine dazu zu bewegen, langsam nach unten zu kommen, wenn er das ferne Gepolter richtig deutete. Er drückte die erhitzte, schweißnasse Stirn gegen die Metalltür und atmete tief durch.

Endlich kam der Fahrstuhl. Gray trat einen Schritt zurück. Die Türen öffneten sich so langsam, als würden sie irgendeine sensationelle Enthüllung offenbaren, doch die Kabine war leer.

Gray drückte auf die Nummer der Etage, in die er wollte, während die Türen sich wieder schlossen. Um sich von dem allgegenwärtigen Gestank nach Schweiß, Putzmittel und Zigaretten abzulenken, schaute Gray sich die Graffiti an.

Rasselnd und klirrend setzte der Aufzug sich wieder in Bewegung. Es hätte Gray nicht überrascht, wenn man den Lärm Tag und Nacht hören konnte.

Um die Wohnung des Opfers zu erreichen, musste er vom Fahrstuhl nur einmal um die Ecke gehen. Die Wohnungstür hing schief und leicht geöffnet in den Angeln. Das Holz war gesplittert. Ein schwarzer Stiefelabdruck ließ erkennen, dass jemand sich mit Gewalt Einlass verschafft hatte. Gray fragte sich, ob dies aus Sorge um den Bewohner geschehen war oder ob hier Diebe die Gunst der Stunde genutzt hatten, um eine der Wohnungen leer zu räumen.

Der Flur war verdächtig leer. Kein gutes Zeichen.

Am Eingang nahm Gray von einem Kriminaltechniker die blauen Überzieher entgegen und streifte sie über seine Schuhe. Anschließend zog er den Mantel aus und ersetzte ihn durch einen weißen Overall, dessen Kapuze er sich über das ergrauende Haar zog. Nachdem er sich die Gesichtsmaske aufgesetzt und ein Paar Latexhandschuhe übergestreift hatte, unter denen seine abgekauten Fingernägel verschwanden, betrat er die Wohnung.

Drinnen herrschte rege Aktivität. Forensiker und Ermittler durchsuchten jedes Zimmer nach Beweisen. Der Großteil von ihnen stand im Wohnzimmer am anderen Ende des Flurs, an dem sich außerdem die Türen zu einem Bad, einer winzigen Küche und zwei Schlafzimmern befanden.

Gray blieb kurz an der Türschwelle stehen und schaute sich um. Die Luft war feucht. Im Winkel zwischen der Decke und den Wänden zeichneten sich braune Flecken ab, und in den Zimmerecken breitete sich grüner Schimmel aus. Die wenigen Möbelstücke waren abgenutzt und schäbig. Durch eine schmutzige, deckenhohe Glastür fiel trübes Licht; dahinter war ein erschreckend schmaler Balkon zu sehen.

Der einzige Ermittler vor Ort war ein unterernährter Detective Constable, der frisch befördert worden war, nachdem er bis vor Kurzem noch Streifendienst geschoben hatte. Er stand vor der Balkontür und unterhielt sich mit einem Kriminaltechniker. Gray unterbrach die beiden, wobei er den mürrischen Blick des Technikers ignorierte. »Wo steckt DI Hamson?«

Detective Inspector Yvonne Hamson war Grays leidgeprüfte Vorgesetzte, die sich mit seinen Macken herumschlagen musste, weil niemand anders dazu bereit war. Sie würde bei diesem Fall die Leitung übernehmen.

»In einem der Schlafzimmer, Sir.«

»Wie komme ich dahin?«

»Detective Sergeant Fowler sagte, ich soll Sie zuerst zu ihm bringen, wenn Sie endlich hier auftauchen«, erklärte der Constable. »Seine Worte, Sir, nicht meine.«

»Okay, holen Sie ihn her.«

»Ja, Sir.«

»Augenblick noch.« Gray legte dem Constable eine Hand auf den Arm. »Gehen Ihre Leute von Tür zu Tür, um die Hausbewohner zu vernehmen?«

»Noch nicht.«

»Dann sorgen Sie dafür, dass sie damit anfangen, verdammt noch mal! Finden Sie heraus, ob jemand was gesehen oder gehört hat.«

»Ja, Sir.« Die Augen des Constables sprachen Bände, denn eine solche Vernehmung war ein sinnloses Unterfangen. Es würde keine Zeugen, keine Aussagen, keine hilfreichen Tipps unter der Hand geben. Die gab es nie. Obwohl auch Gray das nur zu gut wusste, musste das Protokoll befolgt werden, selbst wenn es aussichtslos erschien.

Genervt von der Anwesenheit des Kriminaltechnikers drehte Gray sich halb zu ihm um und fuhr ihn an, ohne ihm einen Blick zu gönnen: »Haben Sie nichts zu tun?« Der Techniker ging kommentarlos davon. »Ich dachte schon, der hätte hier Wurzeln geschlagen.«

»Er ist eine Sie, Sir.«

»Wirklich?« Gray zuckte mit den Schultern und scherte sich nicht um den Fauxpas. »In diesen albernen Anzügen ist das schwer zu erkennen. Okay, holen Sie jetzt bitte DS Fowler her.«

»Ja, Sir.« Der Constable eilte los, kam kurz darauf mit Grays Kollegen zurück und wandte sich dann anderen Aufgaben zu.

DS Mike Fowler war in jeder Hinsicht – Größe, Gewicht, Aussehen – durchschnittlich, doch er besaß einen scharfen Verstand, ein lockeres Mundwerk und neigte dazu, auszusprechen, was ihm auf der Zunge lag. Er gehörte zu den Leuten, die sich gern über andere lustig machten, aber eingeschnappt waren, wenn man den Spieß umdrehte.

»Wie läuft’s, Mike?« Gray war der Ältere der beiden und schon länger bei der Truppe, was Fowler immer wieder wurmte.

»Wir haben gerade erst angefangen. Bisher ist es noch so unübersichtlich wie am Piccadilly Circus. Die Spurensicherung hat jede Menge Fingerabdrücke gefunden.«

»Wie viele?«

»Dutzende, wie es aussieht.«

»Vielleicht haben die hier eine Party gefeiert«, mutmaßte Gray, doch Fowler zuckte nur mit den Schultern. »Was gibt’s noch?«

»Die Wohnung hat mehrere Schlafzimmer, keins besonders aufgeräumt.«

»Aha. Habt ihr auch schon was Wichtiges gefunden?«

»Hängt davon ab, ob Sie einen Mistelzweig als wichtiges Beweismittel ansehen.«

»Einen Mistelzweig?«

»Mitten auf dem Boden.« Fowler deutete auf den mit einem psychedelischen Muster verzierten Teppich.

Gray wusste nicht, was er davon halten sollte. »Ist das alles?«

»Nein. Drei Dinge.« Fowler hielt einen Finger hoch und zählte die Punkte ab. »Erstens. Rückstände einer Substanz, die aussieht wie Kokain. Und zwar dort.« Er deutete auf einen Tisch mit Glasplatte aus einer längst vergangenen Ära, der mit Fingerabdruckpulver bedeckt war.

Finger Nummer zwei ging nach oben. »Zweitens gibt es einen Abschiedsbrief. Darauf stand ein Glas, damit das Blatt nicht wegflog, wenn die Balkontür geöffnet wurde.«

»Das nenne ich mal eine gute Vorbereitung. Wo ist der Brief?«

Fowler verschwand kurz, um das Beweisstück zu holen. Gray schaute durch das Balkonfenster auf das stumpfbraune Meer und den grauen Himmel. Den Balkon wollte er auf keinen Fall betreten, denn er hatte leichte Höhenangst.

Kurz darauf kam Fowler mit einem A4-Bogen, der in einer durchsichtigen Plastiktüte steckte, wieder zurück. Das Beweisstück war am Fundort fotografiert worden, bevor man es in den Beutel gesteckt und versiegelt hatte. Der gezackte Rand an der Oberseite des Blattes ließ darauf schließen, dass es von einem Block abgerissen worden war.

Gray benötigte ein paar Augenblicke, bis er die zittrige Handschrift entziffert hatte und erkannte, dass Fowler im Irrtum war: Es war kein Abschiedsbrief, eher eine Absichtserklärung. Das Verlangen, alles zu beenden, hingeschmiert in wenigen Worten und mit »Nick« unterschrieben.

Wahrscheinlich Tränen, dachte Gray, als er auf den Schluss des Schreibens schaute, wo die Tinte verlaufen war, sodass er an ein Rorschachmuster erinnerte. Auch ihm selbst war nach Heulen zumute.

Im Labor würde sich herausstellen, ob er mit seiner Vermutung recht hatte, auch wenn es im Grunde keine Rolle spielte. Doch Gray fühlte sich dem einsamen Nick, der zu der folgenschweren Erkenntnis gelangt war, die Ungerechtigkeit der Welt nicht mehr ertragen zu können, irgendwie verbunden. Er war aber auch davon überzeugt, dass es kein Licht am Ende des Tunnels gab, auch kein Jenseits mit Engeln und Sphärenklängen.

Zum abertausendsten Mal stellte er sich die Frage, warum er selbst seinem Leben noch kein Ende gesetzt hatte. Sein Unterbewusstsein hatte augenblicklich die immer gleiche alte Antwort parat:

Zu viele offene Fragen.

Letzten Endes konnte Gray schlichtweg nicht verstehen, warum manche Leute einfach aufgaben, auch wenn es jeden Tag Menschen gab, die eine solche Entscheidung trafen. Auch Menschen, die er gekannt hatte. Und jetzt gehörte dieser Nick auch zu ihnen.

Aber was ist, wenn ich die Antworten auf meine offenen Fragen habe?

Gray wusste es nicht. Darüber würde er erst nachdenken, wenn es so weit war, nicht schon früher.

»Sie sollten sich mal die Schlafzimmer ansehen«, riss Fowler ihn aus seinen Gedanken, führte ihn durch den Flur und deutete auf eine Tür zu seiner Rechten.

Gray steckte den Kopf um die Ecke. Das Zimmer war nur schwach beleuchtet; jemand hatte die dünnen Vorhänge zugezogen. Auch hier roch es nach Schmutz und Verfall.

»Ist die Spurensicherung schon hier drin gewesen?«, fragte Gray. Als Fowler nickte, streckte er die Hand aus und schaltete die Deckenlampe ein. Es war eine dieser schwachen Energiesparlampen, die immer eine Ewigkeit brauchten, bis sie richtig hell wurden und halbwegs Licht spendeten.

Gray brauchte zehn Sekunden, um sich zweimal umzuschauen, auch wenn er nach dem ersten Mal bereits alles gesehen hatte. Das rechteckige Zimmer ließ sich bestenfalls als schlicht bezeichnen und war armselig möbliert. Die Wände waren magnolienfarben gestrichen und gänzlich schmucklos; es sah nicht so aus, als hätte jemals ein Bild an diesen Wänden gehangen. Ein Doppelbett beherrschte das Zimmer, und in der schmalen Lücke zwischen Matratze und Wand stand eine niedrige Kommode.

»Also ehrlich, so möchte ich nicht wohnen«, sagte Fowler.

Gray hielt lieber den Mund, da er fast genauso spartanisch lebte, wie dieses Zimmer sich präsentierte. Er wandte seine Aufmerksamkeit den Schubladen zu und zog erst die obere, dann die untere auf. Im Innern befanden sich Staub und Kondompackungen, sowohl geschlossene als auch geöffnete. Gray schaute Fowler fragend an, aber der hielt zur Abwechslung den Mund.

Gray ging zum Bett. Die Tagesdecke war zerknautscht und schmutzig. Vielleicht war der Besitzer des Bettes erst vor Kurzem aufgestanden. Gray nahm die Decke zwischen Daumen und Zeigefinger und hob sie an. Das Laken darunter war alt, abgenutzt und fleckig. Rasch ließ Gray die Decke wieder sinken.

»Ist das hier ein Puff?«, fragte er.

»Kann schon sein«, meine Fowler. »Schwer zu sagen.«

»War der Junge etwa hier, weil er seine Jungfräulichkeit verlieren wollte? Hat er den Mistelzweig als Gag oder so was mitgebracht?«

Fowler zuckte die Schultern. »Keine Ahnung.«

»In Anbetracht der vielen Fingerabdrücke ist das durchaus möglich. Aber wo sind dann die Frauen?«

»Warum müssen es Frauen sein?«, entgegnete Fowler.

Gray hatte keine Lust auf eine Diskussion über Sexismus und Gleichberechtigung, also schaute er statt einer Antwort auf die Uhr. »Sie sagten, Sie hätten drei Dinge festgestellt. Die Rückstände von Kokain und den Abschiedsbrief hatten wir schon. Ist der Mistelzweig Nummer drei?«, fragte er.

»Nein. Da müssen Sie schon mit DI Hamson reden.«

»Warum?«

»Weil sie es gesagt hat. Ich spiele hier nur die zweite Geige.« Fowler zeigte die Zähne bei dem Versuch, ein selbstironisches Lächeln aufzusetzen. »Ach, wo wir gerade vom Teufel sprechen …«

Detective Inspector Yvonne Hamson, groß, elegant und gut gebaut, suchte sich genau diesen Augenblick aus, um ins Zimmer zu kommen. Ihr Blick fiel auf Gray und schien zu besagen: »Na endlich!«

In diesem Moment klingelte Grays Handy. Die fröhliche Melodie wirkte in der heruntergekommenen Wohnung völlig fehl am Platze. Rasch zog Gray das Gerät aus der Tasche. Früher wäre es ihm peinlich gewesen, auf diese Art in den Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit zu geraten, inzwischen aber war er es gewohnt, dass man ihn anstarrte – meist mitleidig, manchmal großmütig, häufig verärgert.

»Detective Sergeant Gray«, meldete er sich.

»Sol, hier ist Jeff«, sagte Chief Inspector Carslake.

»Carslake«, murmelte Gray Hamson lautlos zu, der man ansehen konnte, dass sie allmählich wütend wurde. Beschwichtigend hob Gray einen Finger, um ihr zu verstehen zu geben, dass es nicht lange dauern würde.

Hamson musterte ihn genervt und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Wo sind Sie?«, fragte Carslake.

»Im Betonblock.« Gray benutzte den wenig schmeichelhaften Spitznamen, den dieses Gebäude erhalten hatte.

»Ach ja, diese Selbstmordgeschichte. Was halten Sie davon?«

»Ich bin mir noch nicht sicher, ob es Selbstmord war. Immerhin haben wir einen Abschiedsbrief gefunden.«

Carslake seufzte. Das tat er oft, als würde das Leben ihn immer wieder enttäuschen. »Aber noch steht es nicht fest?«

»Nein«, antwortete Gray. »Deshalb sind die Forensiker vor Ort.«

Es waren früher schon Selbstmorde vorgetäuscht worden; das würde immer wieder passieren.

»Ist der Pathologe schon da?«

»Ja, Clough untersucht gerade die Leiche.«

»Clough? Sehr gut«, sagte Carslake, doch Gray wusste, dass die Zufriedenheit geheuchelt war. Der Chief Inspector konnte den Arzt nicht leiden. Anscheinend war ihm der Mann zu düster, zu unnahbar. Außerdem trank Clough nicht, was Carslake suspekt fand. »Kommen Sie zurück, so schnell Sie können. Ich muss etwas mit Ihnen besprechen.«

Zwar kam es Gray gut zupass, dem unausweichlichen Krawall an der Absperrung zu entgehen, aber Hamson würde wissen wollen, warum Carslake ihn sprechen wollte. Das gehörte zu den Nachteilen ihrer Organisationsstruktur. Gray wusste, er würde wie immer vorsichtig agieren müssen.

»Ich bin hier fast fertig. Sagen wir … in einer halben Stunde? So lange werde ich für den Fußweg brauchen.«

»Perfekt. Bis dahin können wir mit der Exekution warten.«

»Exekution?«

»Ein kleiner Scherz.« Doch es war offenkundig, dass es keiner war. »Reden Sie zuerst mit Hamson. Wir treffen uns in meinem Büro.«

Wo sonst?

Gray beendete das Gespräch und steckte sein Handy wieder weg. Was wollte Carslake von ihm? Und warum schien Hamson noch angespannter zu sein als sonst?

Gray wandte sich ihr zu. »Guten Morgen, Yvonne.«

»Sprechen Sie mich mit Ma’am an!«, fauchte sie. »Wie viele Jahre bin ich jetzt schon Ihre Vorgesetzte?«

»Drei. Deshalb sollten Sie sich langsam daran gewöhnt haben.«

Yvonne Hamson verkniff sich eine Erwiderung. Diese Diskussion führten sie nicht zum ersten Mal. Gray hatte für Ränge nichts übrig, ganz im Gegensatz zu ihr. Aus diesem Grund zog er sie umso lieber damit auf. Meistens fasste Hamson es als Scherz auf, heute jedoch nicht.

Sie wandte sich Fowler zu, der ihr Wortgefecht stumm verfolgte. »Die Befragung der Nachbarn hat begonnen«, sagte sie. »Helfen Sie den Männern.«

»Auf die Sprünge, meinen Sie vermutlich«, entgegnete Fowler mürrisch, tat aber, was sie verlangte.

Sobald er gegangen war, stellte Hamson die Frage, von der Gray gewusst hatte, dass sie kommen würde. »Was wollte Carslake?«

Es ärgerte Hamson, dass der Chief Inspector weitaus mehr Zeit mit Gray verbrachte als mit ihr. Auch wenn sie einen höheren Rang hatte, war sie jünger als die beiden Männer, die sich zudem schon seit langer Zeit kannten. Anfangs waren sie sogar enge Freunde gewesen, doch im Laufe der Zeit hatten sie sich entfremdet, erst recht nach Toms Verschwinden.

»Ich soll zurück aufs Revier«, antwortete Gray. »Zuerst aber soll ich mit Ihnen sprechen.«

»Das will ich doch hoffen. Sie haben einiges zu erklären.«

»Inwiefern?«

Hamson zog eine Plastiktüte hervor, in der ein Handy steckte. Es war ein altes, zerkratztes und oft benutztes Gerät. »Erkennen Sie es?«

Das Handy war offenbar Fowlers Beweis Nummer drei.

Ach, verdammt.

»Ein Nokia«, sagte Gray.

»Sehr witzig. Sonst noch was?«

»Müsste ich es denn erkennen?« Er konnte nur hoffen, dass dem nicht so war; allerdings schwante ihm nichts Gutes.

»Es wurde in der Ritze eines Sessels im Wohnzimmer gefunden. Es sind gerade mal zwei Nummern darauf gespeichert. Eine davon hat sich als Sackgasse herausgestellt. Sie gehört vermutlich zu einem Einweghandy, das längst entsorgt wurde.«

»Die Spannung ist ja kaum noch auszuhalten, Yvonne. Wem gehört die andere Nummer?«

Hamson drückte eine Taste auf dem Mobiltelefon des Jungen. Fast augenblicklich klingelte Grays Handy.

»Ihnen.«

Kapitel 3

Hamson zeigte Gray das Handy. Sie hatte recht. Auf dem Display stand tatsächlich seine Nummer, grün erhellt und mit »Hilfe« beschriftet.

»Das kapiere ich nicht«, log er.

»Dann wären wir schon zwei. Sie wissen also nichts darüber?«

»Ich habe den Jungen heute zum ersten Mal gesehen.« Zumindest das entsprach der Wahrheit.

»Tja, er scheint Sie aber zu kennen.«

»Schien.«

Hamson starrte ihn an. Gray konnte nur hoffen, dass seine Miene ausdruckslos wirkte, auch wenn sein Inneres in Aufruhr war. Er wollte nur noch hier raus und nachdenken. Momentan stürmte zu viel auf ihn ein.

»Hätten Sie was dagegen, wenn wir das später besprechen? Carslake wartet auf mich«, sagte er anstelle einer Erklärung.

»Sie werden einige Fragen beantworten müssen.«

»Davon gehe ich aus.«

»Nun ja, da der Chief Inspector Sie zu sich gerufen hat, muss ich Sie wohl gehen lassen, was?«

»Hat ganz den Anschein.«

Hamson deutete mit dem Daumen zur Tür. »Na los, verschwinden Sie.«

»Mit Vergnügen, Yvonne.«

Auf dem Weg nach draußen zog Gray den Overall und die Überzieher aus und drückte sie Brian Blake in die Hand, dem Leiter der Spurensicherung, der zunehmend übergewichtiger und glatzköpfiger wurde und einen gewaltigen Überlegenheitskomplex hatte.

»Sie haben sich nicht bei mir angemeldet«, beschwerte sich Blake. Es war vorgeschrieben, dass er eine Liste aller Personen führte, die sich am Tatort aufhielten. Blake war hier der Ansprechpartner, worauf er sich eine Menge einbildete.

»Ich bin sowieso schon wieder weg«, erwiderte Gray nur, um ihm noch eins auszuwischen. Blakes Miene ließ ihn erkennen, dass er sein Ziel erreicht hatte.

»Dann überlassen Sie mal wieder alles uns. Wie üblich.«

Gray salutierte spöttisch vor Blake, genoss dessen finstere Miene und verließ die Wohnung. Sobald er seinen Mantel wieder anhatte, ging er zum Fahrstuhl und drückte die Ruftaste. Nachdem sich die Türen der Kabine hinter ihm geschlossen hatten, biss Gray sich während der kurzen Fahrt nach unten auf die Fingerknöchel und schrie lautlos. Doch als er unten ausstieg, hatte er seine Fassung halbwegs wiedererlangt.

Er durchquerte den Eingangsbereich und trat auf den Bürgersteig, auf dem es noch immer von Schaulustigen wimmelte. Der Wind schlug ihm kalt ins Gesicht.

Der Constable an der Absperrung hob das Band hoch und nickte ihm zu. Gray ging an den Gaffern vorbei und entdeckte Scully, der gerade ein bereitwilliges Opfer interviewte und ihm seinen Digitalrekorder – ein Gerät, das man früher »Diktafon« genannt hatte – unter die Knollennase hielt.

Der Reporter schien Grays Blick gespürt zu haben, denn er drehte sich um. Die beiden Männer starrten einander an. Dann wedelte Scully mit einer Hand an seinem Ohr herum, wobei er den Daumen und den kleinen Finger ausstreckte, um ein Telefon zu imitieren. Gray beachtete ihn gar nicht.

Auf dem Weg hierher hatte ihn ein Streifenwagen mitgenommen. Zwar konnte er einen der Constables bitten, ihn zurück zum Revier zu fahren, aber er brauchte etwas Zeit für sich allein.

Doch der Spaziergang am Ufer, während ein steifer Wind über den Fluss hinwegstrich, sorgte nicht wie erhofft dafür, dass Gray klaren Kopf bekam. Der Verkehrslärm und das Kreischen der Möwen dröhnten ihm in den Ohren. Schon an guten Tagen konnte man Gray nur als schwermütig bezeichnen, aber jetzt, kurz vor Weihnachten, wo überall Lichterketten hingen und fröhliche Musik zu hören war, ging es ihm noch schlechter.

Am liebsten hätte er mit Detective Inspector Marcus Pennance telefoniert. Gray wusste, dass man dem toten Jungen seine Handynummer gegeben hatte, aber er konnte es einfach nicht fassen, dass Pennance so dumm gewesen war, sie auf einem Handy zu speichern, wo sie gefunden werden konnte. Und wo sie dann auch gefunden worden war. Bei seiner Erfahrung hätte Pennance es besser wissen müssen.

Gray hatte zwei Telefonnummern von Pennance – eine deaktivierte eines Wegwerfhandys, die auch auf Nicks Handy gespeichert gewesen war, und seine Büronummer. Doch wegen Pennance’ Status und der Art ihrer Beziehung würde Gray warten müssen, bis Pennance sich erbarmte und ihn anrief.

Stattdessen musterte Gray die braven Bürger von Margate und konzentrierte sich auf Details, um nicht an den toten Jungen denken zu müssen.

Da war ein junger Bursche, der nur Augen für das Display seines Handys hatte.

Dann zwei Männer mit ähnlich aussehenden Bärten, die einen Hund ausführten.

Ein alter Mann, der in Shorts und Flipflops Fahrrad fuhr und zwischen den Männern hindurchradelte. Gray bemerkte, dass der Alte einen Zehenring trug.

Der Geruch einer E-Zigarette stieg ihm in die Nase. Erdbeer-Pfefferminz?

Gray kam an der Turner-Kunstgalerie vorbei, die nicht weit vom Revier entfernt lag. Das Gebäude sah aus, als hätte man es auf der Rückseite einer Zigarettenschachtel entworfen – was vermutlich daran lag, dass es so und nicht anders gewesen war. Das dahingekritzelte Design wurde sogar in einem Schaukasten im Museumsinnern ausgestellt. Als ob jemand so etwas stehlen würde. Gray hatte es bei seinem einzigen Besuch gesehen, den er immerhin nicht aus eigener Tasche hatte bezahlen müssen, da er das Museum am Tag der offenen Tür besucht hatte.

Dennoch hätte er es jetzt vorgezogen, das Betongebäude zu betreten und sich die unerklärbar teuren Kunstwerke anzuschauen, als mit Carslake reden zu müssen. Aber Befehl war Befehl.

Gray betrat das flache, zweistöckige Polizeirevier durch die Vordertür, nickte dem apathischen Sergeant Morgan zu, einem Mann mit riesigem Bauch und winzigem Schnurrbart, und schlug die Richtung zu Carslakes Büro ein.

Kapitel 4

»Sie können direkt hineingehen«, sagte Sylvia in einem Tonfall, in dem Überlegenheit und Hohn zugleich mitschwangen. Als wäre sie diejenige, die Gray Befehle erteilen durfte.

Sylvia war Carslakes persönliche Assistentin. Ihre Frisur und ihre Kleidung stammten aus den Fünfzigerjahren, genauso wie ihr dürftiger Humor. Wenn Carslake zugegen war, konnte man auch Sylvia hier antreffen, egal zu welcher Stunde oder an welchem Tag.

Außerdem konnte sie Gray nicht leiden; sie war sogar der Ansicht, er schade Carslakes Karriereaussichten. Alles, was Sylvia für sich und ihren Chef ersehnte, war ein bequemer Job in der Hauptverwaltung.

Gray ignorierte ihren finsteren Blick und marschierte an ihrem Schreibtisch vorbei.

Er machte sich nicht die Mühe, an Carslakes geschlossene Tür zu klopfen. Der Chief Inspector saß an seinem Schreibtisch und schrieb etwas, wie das Kratzen eines Stifts auf Papier verriet. Carslake war Traditionalist.

»Setzen Sie sich«, sagte er. Er neigte dazu, langsam und betont zu sprechen, als müsse er einem Kind oder einem Zurückgebliebenen etwas erklären, aber Gray nahm das Verhalten seines Vorgesetzten nicht persönlich.