Totgegrillt - Tim Frühling - E-Book

Totgegrillt E-Book

Tim Frühling

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Beschreibung

Born to grill: ein urkomischer Kriminalroman, nicht nur für Fleischesser ein Genuss. Die Grillfeier des Bauunternehmers Leo Vossen endet in einer Katastrophe: Zwei Gäste überleben den Abend nicht. Liegt es am sündhaft teuren Kōriyama-Rind, das hier zum ersten Mal in Deutschland gebraten wurde? Steckt der Nachbar dahinter, der Partys genauso hasst wie Grillgeruch? Oder hat Vossen schlicht die falschen Leute auf die Gästeliste gesetzt? Das ungleiche Ermittlerduo Carla Weiß und David Lahmann stößt auf jede Menge Motive und Verdächtige – und so manches wird noch heißer gegessen als gegrillt …

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Nach seiner Ausbildung bei einem schwäbischen Lokalradio arbeitet Tim Frühling jetzt seit über zwanzig Jahren beim Hessischen Rundfunk. Er moderiert bei der Radiowelle hr1 und präsentiert die Wettervorhersage im hr-Fernsehen und in der ARD. Geboren in Niedersachsen, aufgewachsen in Stuttgart, lebt er seit 1997 in Frankfurt und ist mittlerweile im Herzen Hesse.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2021 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer unter

Verwendung von shutterstock.com/Shahin Aliyev, shutterstock.com/StockSmartStart

Lektorat: Susann Säuberlich, Neubiberg

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-711-8

Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Agentur Brauer, München.

Vorwort

Dieses Buch ist ein Kriminalroman. Mit Leichen. Dafür ganz ohne Rezepte. Es geht zwar um Lebensmittel, vorrangig um die flammengestützte Garung genießbarer Teile des tierischen Körpers, diese sind aber entweder erfunden oder so überkandidelt, dass ich Ihnen eine Zubereitung nicht empfehlen würde. Jedenfalls nicht in den genannten Kombinationen.

Gelegentlich mache ich die Beobachtung, dass am Rost die preisliche Relation zwischen Grillequipment und Nahrungsmittel in einem auffälligen Missverhältnis steht. Die Recherche zu diesem Buch hat mich gelehrt, dass gutes Fleisch auch auf einem schlechten Grill gelingen kann. Andersrum nie. Deswegen: Gönnen Sie sich Qualität, am besten vom Fachmann. Es muss ja nicht gleich ein Kōriyama-Steak sein.

Kōriyama-Steak? Na, da geht’s ja schon los mit den erfundenen Delikatessen …

Personenverzeichnis

Gastgeber

Leo Vossen, Bauunternehmer

Anka Vossen, seine Ehefrau, Technische Zeichnerin

Gäste

Walter Blaschek, ebenfalls Bauunternehmer

Simone Blaschek, seine Ehefrau, Golferin

Klaus Matejka, Inhaber eines Baustoffgroßhandels

Irene Matejka, seine Ehefrau, Boutiquebesitzerin

Michael Röckerath, Leos Bankberater

Martina Röckerath, seine Ehefrau, Vorsitzende des Gewerbevereins

Manfred Vermeulen, Medienanwalt

Lydia Vermeulen, seine Ehefrau, stark am Glas

Bertram Tritschler, Vorsitzender im Kreisbauausschuss

Sabine Reynders, Steuerberaterin

Nachbar

Othmar von Bredow, ruhebedürftiger Richter

Leos Grillfreunde

Kurti, Sascha und Maurice

Fleischlieferant

Frank Esser, Metzger, eröffnet eine Filiale nach der anderen

Ermittler

Carla Weiß, Chefin der Kölner Mordkommission

David Lahmann, Carlas neuer Stellvertreter, frisch nach Köln gezogen

Lutz Tremper, wollte Davids Position

Verena Böhme, wollte Davids Posten nicht

PROLOG

»Komm, gib mir ruhig auch eins von den Stücken, die nicht so kross geworden sind. Das lässt sich mit den dritten Zähnen eh besser kauen.«

Lacher.

»Ja, mir auch. Das schmeckt bestimmt auch so ganz toll. Wäre ja schade um das kostbare Fleisch.«

Höflichkeit im falschen Moment.

Gut gemeinte Höflichkeit.

EINS

»Socializing« – so nannte Leo Vossen insgeheim die Abende, an denen er sich mit seinen Grillfreunden zum gemeinsamen Fleischbraten traf. Verordnete Geselligkeit sozusagen. Denn für den erfolgreichen Bauunternehmer waren diese Zusammenkünfte ein Blick in die Welt der kleinen Leute. Einfach mal hören, wie die Arbeiterseele so tickte, während die Wurst auf dem Rost brutzelte.

Am besten ging das bei Soßen-Sascha, der im vierzehntägigen Turnus heute dran war, seinen Garten im Schatten eines großen Kraftwerks zur Verfügung zu stellen. Vor einer rußgeschwärzten Backstein-Doppelhaushälfte hockten Leo, Kurti, Maurice und Soßen-Sascha auf durchgesessenen Stühlen mit dieser seltsamen Bespannung, die irgendwie an Plastik-Spaghetti erinnerte, im Laufe vieler Sommer komplett ausgeblichen, aber doch saubequem.

Soßen-Sascha wurde von den Grillfreunden so genannt, weil er den Standpunkt vertrat, dass eine gute Tunke wichtiger war als das Fleisch oder die Wurst darunter. Deswegen kam er regelmäßig mit irgendwelchen abgepackten Supermarktprodukten an, die bei wahren Brutzelkünstlern eigentlich verpönt waren. Aber mit Herkunft und Tierwohl musste man Sascha nicht kommen, solange die Stippe stimmte. Heute hatte er aus Sojasoße, Knoblauch, etwas Orangensaft, Ingwer und jeder Menge Zucker eine Teriyaki gezaubert, die er in einer unprätentiösen Plastikschale auf der Tischmitte der Allgemeinheit anbot.

Sascha arbeitete im Neuwagenverkauf eines Autohauses, gemeinsam mit Kurti, den Leo wiederum noch aus Grundschulzeiten kannte. Maurice hatte die drei während der WM 2014 beim Public Viewing in einer Fußballkneipe kennengelernt, wo die Männer während eines ereignisarmen Vorrundenspiels über das Grillen ins Fachsimpeln geraten waren. Daraus hatte sich die Runde gebildet, die sich seitdem bei passendem Wetter regelmäßig traf und ihre Kenntnisse am Rost vertiefte.

Maurice, dessen Luxemburger Vater diesen Vornamen ausgewählt hatte, war Französischlehrer und der unumstrittene Schöngeist der Truppe. Er war Burger-Fan, die aus seiner Sicht aber nur mit speziellen selbst gebackenen Brioche-Brötchen funktionierten. Außerdem musste das Fleisch aus Biohaltung, Tomaten, Zwiebeln und Gurken aus Ökolandbau stammen und die Mayonnaise selbst aufgeschlagen sein.

Er zog eine längliche Edelstahldose aus seiner Kühltasche und erklärte, während er die Laschen des Deckels öffnete: »Ich lass mir das Fleisch jetzt immer direkt hier reinpacken. Ist euch mal aufgefallen, wie viele Tüten und beschichtetes Papier so ein Metzger verbraucht?«

Weil niemand antwortete, redete Maurice einfach weiter. »Und das landet später alles im Meer. Das geht ja auch anders.« Stolz hielt er Kurti die Dose mit einem Hackpatty unter die Nase. »Guck dir das mal an. Hundert Prozent Rind. Allein die Farbe. Das kommt von einem Bauern aus der Eifel. Einer der wenigen, der ausschließlich mit Mutterkuhhaltung und Weideschussprinzip arbeitet.«

Maurice machte eine kleine Pause, er schien an dieser Stelle mit Rückfragen zu rechnen. Tatsächlich tat Kurti ihm den Gefallen.

»Weideschussprinzip?«

»Ja, die sanfteste aller Arten, ein Tier zu töten. Der größte Stress für so ein Rind ist ja die Selektion und die Fahrt zum Schlachthof. Das fällt da alles weg. Ein gezielter Schuss auf ein Tier aus der Herde, das war’s. Kein Leiden, kein Transport. Und das kannst du sogar wissenschaftlich überprüfen. Wenn der Stress wegfällt, hat das Fleisch einen ganz anderen pH-Wert und ein anderes Wasserhaltevermögen.«

»Ich hätte nach dem vierten Bier auch ganz gern mal ein anderes Wasserhaltevermögen!«, rief Leo, dem der Vortrag von Maurice jetzt dann genügte. War schon okay, wenn ein anderer Grillfreund auch mal mit einem besonderen Fleisch kam, aber wenn hier einer der Experte für extravagantes Grillgut war, dann ja wohl er, da konnten so ein paar sanft erschossene Viecher auch nichts dran ändern. Deswegen war für Leo an dieser Stelle der passende Moment gekommen, die Grillfreunde in seinen neuesten Plan einzuweihen. »Aber wenn wir schon beim Thema sind: Hat von euch schon mal jemand was vom Kōriyama-Rind gehört?«

Kurti schüttelte den Kopf, Maurice zuckte mit den Schultern, und Sascha hörte auf, in die Glut zu pusten. Volle Aufmerksamkeit, so mochte Leo das.

»Kōriyama-Rind, das ist was ganz Feines. Die kommen aus dem Nordosten Japans und werden mit getrockneten Kirschblüten gefüttert. Ihr wisst ja: Je energiereicher das Futter, desto stärker die Fettablagerung in den Muskeln. So, und diese Kirschblüten ergeben die ideale Faserstruktur, nur eine ganz leichte Fettmarmorierung als Geschmacksträger, ansonsten aber zart und überaus saftig. Ich habe mal einen Flyer mitgebracht.« Leo legte einen Zettel auf den Tisch und signalisierte mit einem gönnerhaften Fingertippen, dass seine Freunde sich ihn anschauen mögen.

Kurti griff nach dem Papier und wurde blass. »Achthundertvierzig Euro das Kilo? Ist ja der absolute Wahnsinn. Das ist ja noch teurer als Kobe-Rind.«

»Das Geld ist ja erst mal egal. Viel interessanter ist, dass das Fleisch im Prinzip noch gar keine Zulassung hat, um hier bei uns in der EU verkauft werden zu dürfen. Aber es gibt natürlich Wege, trotzdem dranzukommen, wenn man es nur wirklich will. Und dreimal dürft ihr raten: Wer wird der Erste sein, der es in Deutschland grillt?« Leo zeigte mit beiden Daumen auf sich. »Euer Freund Vossen. Habe ich mit der Metzgerei alles schon vereinbart, das wird ’ne ganz exklusive Geschichte.«

Kurti drehte den Flyer um und legte die Stirn in Falten. »›Fleisch und Feinkost Esser‹? Du schwörst doch sonst auf den Metzger Schmitz.«

»Ja, der Schmitz.« Leo machte eine verächtliche Handbewegung. »Der kann Würste, Steaks und vielleicht Filet. Aber Kōriyama ist einfach eine Nummer zu groß für den.«

»Finde ich ehrlich gesagt nicht so gut«, monierte Maurice. »Der Esser breitet sich gerade wie eine Krake aus und macht die ganzen kleinen Metzgereien platt. Irgendwann hast du überall nur noch Ketten, die dann auch die Preise diktieren.«

»Och, Morri, jetzt komm nicht wieder mit der Leier. Das ist eben Kapitalismus, der Größere frisst den Kleineren, der Starke den Schwachen. Du hast ja deinen Rinderstreichler aus der Eifel, dafür interessiert sich der Esser eh nicht.« Leo zupfte Kurti den Flyer wieder aus der Hand. »Ganz abgesehen vom Lieferanten. Ich ziehe diese Grillpremiere ganz groß auf. Hab sogar die Fachpresse eingeladen. Und stellt euch vor: Tom Kraske von der ›Flame‹ hat schon zugesagt.«

»Wow, die ›Flame‹ ist dabei?«, rief Sascha vom Grill rüber. »Dann müssen wir uns ja richtig schick machen an dem Abend, wenn wir alle in die Zeitung kommen.«

Ganz genau jetzt wäre der ideale Moment für Leo Vossen gewesen, seine Freunde darüber in Kenntnis zu setzen, dass für sie eigentlich kein Platz auf der Gästeliste vorgesehen war. Aber weil er sich gerade so schön in der Bewunderung seiner Kumpels sonnte, verschob er dieses hässliche Detail auf einen späteren Zeitpunkt.

Zur selben Zeit ließ sich Anka Vossen erschöpft auf den Terrassenstuhl einer eleganten Außengastronomie in der Innenstadt fallen. Die benachbarte Sitzgelegenheit versank unter Einkaufstüten, während ihre Freundin Lydia auf der gegenüberliegenden Seite des Tischs Platz nahm. Die beiden hatten sich nach langer Zeit mal wieder zu einem ausführlichen Shoppingbummel getroffen und jeweils einen vierstelligen Betrag in den Boutiquen auf der Edel-Shoppingmeile der Stadt ausgegeben. Dazwischen hatten sie sich schon ein Gläschen Champagner und einen Lillet Wild Berry zur Erfrischung gegönnt, nun stand den beiden Frauen etwas bedüdelt der Sinn nach einem leichten Snack bei ihrem Lieblingsitaliener.

Gianni kam sofort mit der Tageskarte auf einer großen Schiefertafel angewuselt, diese fand allerdings keine Würdigung, weil die Damen wie üblich den Flusskrebs-Curry-Salat orderten, dazu zwei Chablis. Während sie auf die Bestellung warteten, zogen sie Teile ihrer Beute aus den Tüten, um sich noch mal gegenseitig in ihrer Auswahl zu bestärken.

»Fühl mal, wie weich das ist.« Anka reichte ihrer Freundin ein mit Flamingos bedrucktes Seidentuch von Jimmy Choo, das Lydia genussvoll an ihrer Wange rieb. Als sie fertig gekuschelt hatte, zog sie ein paar Pumps in Fuchsia aus einem Stoffbeutel von Miu Miu und sagte glücklich: »Wenn du bei Schuhen einmal deine Marke gefunden hast, musst du die quasi gar nicht mehr anprobieren.«

Anka nickte bestätigend, der kleine italienische Wirt brachte den Wein.

Lydia erhob das Glas. »Prost, meine Liebe, so schön, dass es endlich mal wieder geklappt hat mit uns beiden.« Sie nahm einen Schluck und zündete sich eine damenhafte Zigarette an. »Wie sieht das eigentlich mit dem Urlaub aus? Habt ihr mal Zeit, ein paar Tage in unser Haus auf Sylt zu kommen?«

Anka machte eine wegwerfende Handbewegung. »So wie ich Leo kenne, wird das erst mal nix. Der hat Arbeit ohne Ende und plant jetzt als Nächstes eine riesige Grillparty mit ein paar wichtigen Gästen, um noch mehr Aufträge an Land zu ziehen.« Sie machte eine kleine Pause, nahm einen großen Schluck und fuhr fort. »Ich kann dir sagen, ich bin ganz schön genervt von dieser Prahlerei. Der will dafür so ein ganz besonderes Fleisch besorgen und alle beeindrucken. Ich weiß ja, Klappern gehört zum Handwerk, aber ich würde lieber mal ein paar Tage meine Ruhe haben.«

»… und mit deinem Leo in einem schönen Wellnesshotel relaxen.«

»Gern auch ohne ihn. Dann könnte ich mal machen, was ich will. Im Alltag ist es halt doch immer er, der den Ton angibt. Ob in der Firma oder privat.«

Anka hatte vor vielen Jahren als Technische Zeichnerin bei der Vossen Bau angefangen. Schnell war Leo die attraktive junge Frau aufgefallen, er hatte sie umgarnt, ihr Komplimente und Geschenke gemacht, und irgendwann hatte sie entschieden, sich in ihren Chef verlieben zu wollen. Ein paar Monate später zog sie bei ihm ein, schon im Jahr darauf wurde geheiratet. Natürlich liebte ihr Mann sie, aber sie kam sich durch Leos gleichzeitige Liebe zu seiner Firma, seiner Reputation und seinem Geld oft vor wie auf Platz vier in der Rangfolge. Außerdem machte ihr der Altersunterschied von vierzehn Jahren immer mehr zu schaffen, zumal sie vor Leo eigentlich mehr auf jüngere Typen gestanden hatte.

Bevor Anka ihr begonnenes Lamento fortsetzen konnte, brachte Gianni den Salat, der durch viel Chicorée und Lollo rosso am Tellerrand größer aussah, als er tatsächlich war. Die Frauen aßen, plauderten ein wenig über Mode und das Wetter und bestellten noch zwei Gläser Wein, als ein anderer Kellner zum Abräumen kam.

»Weißt du«, nahm Anka den Faden von vorhin wieder auf, »ich komme mir manchmal vor wie in einem goldenen Käfig.« Sie zeigte auf die Tüten. »Guck mal, die ganzen schönen Sachen, die wir gekauft haben. Bemerkt Leo eh wieder nicht. Ich bin halt das Püppchen an seiner Seite, schlank, gut geschminkt und teuer gekleidet, aber meinst du, der hätte mich in letzter Zeit mal gefragt, wie es mir wirklich geht?«

Lydia schwieg betreten. Sie führte mit ihrem Mann, einem renommierten Medienanwalt, eine glückliche Ehe und schämte sich jetzt fast dafür. Anka hatte hier und da schon mal Andeutungen gemacht, aber gerade schien sie mehr loswerden zu wollen. Sie fragte: »Er hat aber doch keine andere, oder?«

»Das kann ich mir nicht vorstellen. Das wäre dem doch alles viel zu anstrengend. Nee, das ist es nicht, aber ich frage mich halt immer häufiger, was in der Zukunft noch kommen soll. Überleg mal: Wir haben keine Kinder, und die Firma irgendwann zu verkaufen ist für Leo völlig undenkbar. Ich sage dir, der schuftet bis zum letzten Tag und würde wahrscheinlich am liebsten auf dem Baggersitz tot umfallen. Bis dahin bin ich eine alte Frau und habe jahrelang seinen Geschäftspartnern höflich Canapés gereicht, ohne jemals wirklich gelebt zu haben.« Anka starrte vor sich auf den Tisch.

Lydia war die Situation unangenehm. Mit Krisen konnte sie schlecht umgehen. Aber Anka wollte Kummer abladen, das war eindeutig. Und tatsächlich hatte Lydias beste Freundin in den letzten Monaten manchmal so bedrückt gewirkt, dass sie das Thema nicht überraschte.

Sie rückte näher an Anka heran und fragte leise: »Denkst du darüber nach, dich scheiden zu lassen?«

Anka schüttelte leicht den Kopf. Sie kreiste mit dem Zeigefinger nachdenklich auf dem Rand des Weinglases herum. Schließlich sagte sie mit gedämpfter Stimme: »Nein, das bringt nichts. Wir haben einen Ehevertrag. Also, nicht dass du jetzt denkst, es ginge mir nur ums Geld, aber bei einer Scheidung würde für mich kaum was übrig bleiben. Wenn, dann muss ich mir was anderes überlegen.«

»Du, dann rede doch mal ganz in Ruhe mit Leo. Schau mal, im Grunde ist das doch ein lieber Kerl. Der wird schon Verständnis haben, dass du dich in der Situation gerade nicht wohlfühlst. Oder ihr geht zu so einer Eheberatung. Du kennst doch die Charlotte, die vom Robert? Ja, du wirst lachen, die haben auch schon so was gemacht, das muss eine ganz tolle Psychologin gewesen sein …«

»Nee, Lydia, wirklich, so was ist doch der Anfang vom Ende. Das würde der Leo auch gar nicht mitmachen.« Anka strich ihr Sommerkleid glatt. »Ich glaube, meinem lieben Mann würde was ganz anderes helfen.« Sie machte eine geheimnisvolle Pause. Lydia glotzte sie neugierig an. »Und zwar, dass er mal scheitert. Aber so richtig. Mit irgendeinem wichtigen Projekt. Dann bin ich mal die Starke, die ihn auffängt, die ihm wieder Kraft gibt. So ein Rollentausch, ohne dass er es merkt, verstehst du?«

»Na klar, die Idee ist genial.« Lydia war froh, dass Anka zumindest schon eine theoretische Lösung für ihr Problem hatte. Denn außer Trennung oder Therapie wäre ihr nicht mehr viel eingefallen. »Und ich weiß auch schon, wie du das machst: Du zeichnest irgendwas Falsches in einen Bauplan ein, damit das Haus noch im Rohbau zusammenbricht!«

»Du bist ja süß, nee, so einfach ist das nicht. Das würde spätestens der Statiker bemerken. Aber irgendein kleiner, mieser Denkzettel wird mir schon einfallen, wenn ich mal ein bisschen drüber nachdenke …«

Diese Ruhe! Nichts genoss Othmar von Bredow mehr als die Momente, in denen er ohne Lärm- und Geruchsbelästigung auf seiner Veranda sitzen und die gesammelten Tageszeitungen der vergangenen Woche durcharbeiten konnte. Der ruhige Abend hatte sich schon abgezeichnet, als der Prolet von nebenan in seinen Maserati-SUV gestiegen und unter großem Getöse davongebraust war. Als dessen Frau kurz danach noch den Mini Countryman vom Hof gelenkt hatte, war von Bredow ein zufriedenes Lächeln über die Lippen gehuscht.

Er justierte den Sonnenschirm, klaubte die letzten fünf Ausgaben der Frankfurter Allgemeinen Zeitung aus dem ledernen Zeitungsständer neben dem Sofa und machte es sich mit einem trockenen Sherry im Freien bequem.

Bevor er anfing zu lesen, ließ er den Blick über seinen Garten schweifen. Ein wahres Idyll. Die dichte Kirschlorbeerhecke schirmte das gesamte Areal vor neugierigen Blicken ab, der Rasen war perfekt gestutzt und saftig grün, in einem schmalen Beet sorgten Malven und Eibisch für einen dezenten Farbklecks. In der zentralen Blickachse von der Terrassentür aus hatte von Bredow die marmorne Justitia-Statue platziert, die seine Kollegen ihm zum sechzigsten Geburtstag geschenkt hatten. Ein wenig Sorge bereitete ihm der Oleander, der in einem riesigen Terrakottatopf am Rand der Terrasse stand. Die Kübelpflanze blühte zwar wunschgemäß, aber der Wuchs behagte Othmar nicht. Nicht buschig genug, möglicherweise ein Fehler im frühsommerlichen Formschnitt.

Elisabeth hätte gewusst, wie man aus den langen Trieben wieder einen kompakten Strauch gemacht hätte, aber Elisabeth war nicht mehr da. Der Kampf gegen den Krebs verloren. Zwischen der Diagnose und ihrem Tod hatten nur zweieinhalb Monate gelegen. Zweieinhalb Monate, die Othmar von Bredows Lebensplanung zerstört hatten. Der ursprüngliche Plan hatte vorgesehen, den Dienst als Richter am Oberlandesgericht spätestens mit zweiundsechzig zu quittieren, um sich mit seiner Frau noch ein paar schöne Jahre zu machen. Das Haus zu verkaufen und in die Provence zu übersiedeln, vielleicht auch in die Toskana. Aber dann war dieses Monster in Elisabeths Bauchspeicheldrüse entdeckt worden, und der Traum war vorbei. Nach ihrem Tod hatte Othmar sich entschieden, so lange wie möglich im Dienst und in seinem Haus vor den Toren der Stadt zu bleiben.

Als er die Gegend zum ersten Mal gesehen hatte, war von Bredow vollkommen entsetzt gewesen: ein zusammengelegtes Konglomerat aus grauen Dörfern, ärmliche Klinkerbuden, die scheinbar ohne jeden Plan erbaut und erweitert worden waren, eine chronisch überlastete Hauptstraße und ein riesiges Industriegebiet, in dem eine Brikettfabrik, ein Kohlekraftwerk und der Chemiepark um die Wette stanken. Elisabeth, die aus dem grünen Siegerland stammte, hatte aber genau hier ein Wäldchen entdeckt, in dem einige Grundstücke zur Bebauung freigegeben worden waren. Sie hatte ihren Othmar auf den grünen Hügel geführt und ihn schließlich davon überzeugt, dort oben ihr Traumhaus zu bauen. Weiß sollte es sein, um sich vom regionaltypischen Backstein abzuheben, und mit einem aristokratischen Säuleneingang ausgestattet. Noch heute musste von Bredow grinsen, wenn er an die damalige Diskussion zurückdachte, ob die Kapitelle denn nun im ionischen, dorischen oder korinthischen Stil gestaltet sein sollten. Er hatte sich am Ende für die schlichteren dorischen Säulen entschieden und war auch dreißig Jahre später noch sehr zufrieden damit.

Gänzlich unzufrieden waren der ruhebedürftige Richter und seine Gattin gewesen, als vor fünf Jahren schweres Gerät durch die Siedlung gerollt war und sich angeschickt hatte, auf dem benachbarten Grundstück einen hellgrauen Kubus mit Dreifachgarage zu errichten. Nach vierundzwanzig Monaten Baulärm stand eines Tages ein feister Mann in kurzen Hosen zwischen den dorischen Säulen und stellte sich mit einer Flasche Champagner als Leo Vossen und neuer Nachbar vor. Die von Bredows nahmen das Getränk entgegen, erkundigten sich, ob die Bauarbeiten nun final abgeschlossen seien, und wünschten schmallippig einen guten Einzug. Und damit ging der Spaß erst richtig los. Denn Familie Vossen hatte zwar keine Kinder, aber offenbar einen großen und lauten Bekanntenkreis, der sich in immer kürzeren Abständen palavernd und grillend auf der Terrasse traf, in letzter Zeit sogar im Winter.

Zu Beginn hatte Leo Vossen seine Nachbarn noch zwei-, dreimal zu einer seiner Partys herübergebeten, aber nachdem von Bredow und seine Frau jegliche Einladung ausgeschlagen hatten, beschränkte er seinen Kontakt auf ein freundliches Nicken im Vorbeigehen.

Othmar von Bredow schätzte Leo Vossen als neureichen Prahlhans ein, dem es an Bildung und Manieren mangelte. Zwar hielt sich der Bauunternehmer peinlich genau an die gesetzlichen Vorschriften, arbeitete sogar mit einem Ventilator, der den Grillrauch vom Nachbarhaus wegblies, und scheuchte seine Gäste um zweiundzwanzig Uhr ins Wohnzimmer, aber was von Bredow bis dahin an Gesprächsfetzen mitbekommen hatte, genügte ihm schon für sein Urteil, dass er mit diesen Leuten wohl kaum gemeinsame Themen hätte. Da ging es um Ferienwohnungen auf Mallorca, eine Yacht am Rhein und natürlich um den unvermeidlichen Fußball. Und das alles in der typischen rheinischen Lautstärke, der selbst die bestgewachsene Kirschlorbeerhecke nicht standhielt.

Umso schöner waren die seltenen Momente, in denen der Schreihals und seine dumme Frau gleichzeitig unterwegs waren. Dann war hier oben im Wald alles ein bisschen wie früher.

Othmar nahm noch einen Schluck Sherry, dabei fiel sein Blick wieder auf den Oleander. Vielleicht sollte er ihn doch noch dieses Jahr zurechtstutzen, um seiner Elisabeth einen Gefallen zu tun. Allerdings musste er dafür die Gartenhandschuhe suchen. Schließlich waren alle Teile dieser Pflanze hochgradig giftig.

»Du, ich habe eine Spitzenidee!«

Anka verdrehte die Augen. Wenn Leo einen Satz so begann, kam meistens irgendeine durchgeknallte Spinnerei dabei heraus oder zumindest etwas extrem Teures. Auf jeden Fall etwas, das ihn in den Mittelpunkt stellen würde und neidgeeignet war.

Leo machte einen Knoten in den Stoffgürtel seines Bademantels, ließ sich auf einen weißen Freischwinger plumpsen und griff nach einem Croissant.

Noch mehr als seine Spitzenideen hasste Anka es, dass ihr Mann bevorzugt ungeduscht in knöchellangem Frottee am Frühstückstisch erschien, die französischen Hörnchen in seinen Milchkaffee stippte und dabei auf den frisch gewischten Glastisch kleckerte. Die Kombination aus beidem war morgens um halb acht besonders schwer zu ertragen.

»Ist mir heute Nacht gekommen, der Blaschek hat das erzählt.«

Der Blaschek war direkt das nächste rote Tuch für Anka. Seit Leo den Bauunternehmer aus dem Nachbarlandkreis bei einem Innungstreffen kennengelernt hatte, war zwischen den beiden ein absurder Protz-Wettbewerb ausgebrochen, bei dem jeder den anderen überbieten wollte. Wenn sich der Blaschek einen Porsche von 1965 kaufte, musste es bei Leo ein Jaguar sein, am besten noch drei Jahre älter; wenn sich Leo einen Fünfundneunzig-Zoll-Fernseher zulegte, brauchte der Blaschek einen mit hundertzwei und Dolby-Surround bis ins Gästeklo.

»Und zwar die Geschichte von ’nem Scheich. Der hatte in Dubai oder irgendwo da unten auch ’ne Party am Laufen, und alle haben sich schon gewundert, wo der Gastgeber steckt. Und da ist der mit ’nem Fallschirm eingeschwebt! Stell dir mal vor. Auf einer Insel in seinem Pool isser gelandet. Von dreitausend Metern Höhe direkt auf diese Insel. Stark, oder?«

»Darf ich dich daran erinnern, dass wir gar keinen Pool haben, weil du nicht gern schwimmst?«

»Ja, nee, darum geht es ja auch gar nicht. Ich könnte neben dem Grill landen. Der Esser hat das Kōriyama gerade fertig, à point, und genau in dem Augenblick schwebe ich ein und verteil das an die Gäste. So was hat die Welt noch nicht gesehen.«

»Aber du bist doch noch nie Fallschirm gesprungen. Mach mir da mal nicht den Möllemann.«

»Ach was, das ist doch alles völlig ungefährlich. Ich habe letztens was gesehen über ’nen Neunzigjährigen, der das gemacht hat. Ich überlege eh, ob da ein Tandemsprung nicht besser wäre. Gleich beim ersten Mal direkt auf dem Punkt zu landen ist wahrscheinlich gar nicht so einfach.«

»Für die anderen vielleicht, den Blaschek zum Beispiel, aber du bist doch Leo Vossen!« Mit Sarkasmus war dieses Frühstück für Anka noch am besten zu ertragen.

»Hömma, nicht deinen Mann verarschen, ja?« Leo bestrich sich ein weiteres Croissant mit Nutella. Um seiner Frau keine Angriffsfläche für weitere Sticheleien zu bieten, hielt er es für angebracht, das Thema vom geplanten Fallschirmsprung wegzulenken. »Wir müssen eh mal entscheiden, wen wir einladen. Die Party ist ja schon in gut zwei Wochen. Ich habe dieses Mal kein frühzeitiges Save-the-Date rausgegeben, aber wer sich so ein Event entgehen lässt, ist selbst schuld. Gib mir doch mal bitte den Stift da.«

Anka angelte einen Kugelschreiber vom Sideboard, Leo strich die Tüte von der Bäckerei glatt, auf der er offensichtlich die Gästeliste notieren wollte.

»Ich habe bei Esser drei Kilo Fleisch bestellt. Ich würde mal schätzen, wenn jeder ein halbes Pfund isst, wären das zehn Gäste und wir zwei Hübschen. Passt, oder?«

Anka machte ein »Wenn du das sagst, wird es schon passen«-Schulterzucken und goss sich Kaffee nach.

»Also, Blaschek ist klar, zusammen mit seiner Frau. Dann würde ich sagen, Klaus und Irene Matejka, oder?«

Die Matejkas hatten einen Großhandel für Baustoffe und räumten Leos Firma seit Jahren gute Konditionen ein. Der Vorschlag wurde von Anka mit einem Nicken abgesegnet.

»Gut, sind vier. Ich wäre noch für den Röckerath, denk mal an den Zinssatz, den er uns für den letzten Kredit gegeben hat. Wie heißt die Frau von dem noch mal?«

»Martina. Die ist beim Gewerbeverein, da schlägst du zwei Fliegen mit einer Klappe.« Anka hatte sich in ihr Schicksal gefügt, dass Leo vor dem Duschen auf einer Brötchentüte seine Party planen wollte, und sich für Kooperation entschieden.

»Sehr gut, also Michael und Martina Röckerath. Dann hätte ich gern noch den Tritschler dabei, der sitzt im Bauausschuss vom Kreistag, ist aber ledig, für den wäre eine hübsche Tischdame gut.« Leo schien kurz nachzudenken und seinen Bekanntenkreis nach gut aussehenden Frauen durchzuscannen. »Ach, weißte was, da nehmen wir die Reynders. Ein guter Draht zur Steuerberaterin kann nie schaden.«

»Der Tritschler ist doch uralt. Meinste nicht, dass der ’ne Partybremse sein könnte? Außerdem kann ich den nicht leiden, der ist so steif und konservativ.« Den Personalvorschlag Frau Reynders kommentierte Anka nicht.

»Ach, überhaupt nicht, der Tritschler hat einen guten Herrenwitz. Außerdem ist er der Königsmacher in der Kreispartei. Der zieht die Fäden im Hintergrund. Das kann alles noch sehr wichtig für mich sein. Ich fände das schon gut, wenn der dabei wäre. Dafür darfst du die letzten beiden Plätze auf der Gästeliste vergeben, hm?«

Anka nahm eine große Erdbeere aus einem Schälchen und zupfte den Strunk ab. Sie überlegte nur kurz und wünschte sich, dass ihre beste Freundin Lydia mit ihrem Mann zu Leos Fest eingeladen wurden. Er notierte die beiden Namen und stand auf, um nach seinem ungesunden Frühstück ins Bad zu gehen. Auf der breiten Stufe, die das großzügige Wohnzimmer vom sonnendurchfluteten Essbereich trennte, blieb er kurz stehen und drehte sich um.

»Ganz vergessen, ich bin morgen übrigens noch mal bei Kurti. Wir wollen da ein paar Relishs ausprobieren. Und ich muss den Jungs noch beichten, dass sie vom Kōriyama leider erst mal nichts abkriegen. Ich schätze, das kann später werden.«

»Du warst doch gestern erst mit deinen Grillfreunden zusammen, so oft trefft ihr euch doch sonst nicht?« Anka stand auf, um den Frühstückstisch abzuräumen.

»Jaja, aber das ist ja ein wichtiges Training für die große Party. Da muss echt alles stimmen, nicht nur das Fleisch, sondern auch die Chutneys, Dips, Gemüse, Side Dishes und so. Das werde ich zwar von Esser machen lassen, aber die Anregungen sind wichtig. Weißte, der Sascha hat da echt Ahnung …«

»Mhm, der Sascha«, sagte Anka tonlos, während sie Tassen und Teller in die Spülmaschine räumte, die dabei etwas zu laut klirrten.

Dass die Belegschaft von »Fleisch und Feinkost Esser« von ihrem Chef noch vor Ladenöffnung zu einem Sektfrühstück eingeladen wurde, kam nicht alle Tage vor. Aber es gab gleich zwei Gründe zum Feiern, und da ließ Frank Esser schon mal einen springen. Zumal er mit seinen Schinkenplatten ja sozusagen an der Quelle saß, die Kaltmamsellen durften also gleich verputzen, was sie mit Cocktailtomaten und Gewürzgürkchen kurz zuvor selbst hergerichtet hatten. Davor aber schaute der Metzgermeister zufrieden in die Runde seiner Angestellten, die sich im Verkaufsraum teils hinter der Theke, teils an den Bistrotischen verteilt hatten, und erhob schließlich sein Glas.

»Liebe Mitarbeiter, Sie wundern sich vielleicht, weswegen heute schon vor acht der Sekt hier fließt, aber es ist mir einfach mal ein Bedürfnis, Danke zu sagen. Viele von Ihnen halten unserem Unternehmen schon seit Jahren die Treue, haben für jeden Kunden im Verkauf ein Lächeln übrig, bearbeiten das Fleisch und die Wurst routiniert, liefern, fahren aus und stehen manchmal auch zu den unmöglichsten Zeiten zur Verfügung, wenn ein Kunde das so wünscht. Sie sind es, die dieses Geschäft zu dem gemacht haben, was es heute ist.« Er machte eine ausladende Handbewegung über seinen marmorgetäfelten Laden mit den bräunlich geätzten Spiegeln in Goldfassungen und den vielen Halogenleuchten, der zwar immer noch etwas Edles ausstrahlte, aber zuletzt vor zwei bis drei Jahrzehnten modern gewesen war.

»Tja, und manchmal ist das Glück mit den Tüchtigen. Ich erkläre gleich, was ich damit meine, aber erst mal prost, Herrschaften, ihr sollt ja nicht verdursten, während ich hier vorn labere.« Esser grinste jovial und hob sein Glas in die Luft. Ohne daran zu nippen, setzte er die Begründung für den Umtrunk fort. »Sie sind ja alle vom Fach und kennen sich mit gutem Fleisch aus. Sie wissen vielleicht, dass es in Japan nur drei Schlachtereien gibt, die eine EU-Zertifizierung haben. Seit 2015 ist es daher möglich, Wagyū, oder präziser gesagt, Kobe-Rinder nach Deutschland einzuführen. Durch meine persönlichen Beziehungen in unsere Partnerstadt Kyoto ist es uns ja damals gelungen, sehr früh schon Reseller für dieses besondere Fleisch in Deutschland zu werden. Aber wie das so ist: Alle paar Jahre kommt etwas Neues auf den Markt, worauf unsere Kunden scharf sind – und das ist jetzt das Kōriyama-Rind. Sagt Ihnen vielleicht in diesem Moment noch nichts, ist aber der neueste Schrei. Handgefüttert mit getrockneten Kirschblüten und noch teurer als Kobe. So, und nun kommt das Problem: Kōriyama ist eine geschützte geografische Ursprungsbezeichnung, deswegen dürfen die Rinder nur in der Region geschlachtet werden, in der sie leben, aber da gibt es keinen Schlachthof mit EU-Zertifikat. Blöd, ne? Aber hier kommt euer Chef ins Spiel, das alte Schlitzohr!«

Esser grinste und nahm jetzt doch einen Schluck Sekt.

»Denn es gibt eine Gesetzeslücke. In Nicht-EU-Länder darf das Fleisch nämlich geliefert werden, und welches Land ist seit Kurzem nicht mehr EU? Richtig, Großbritannien. Die Nahrungsmittelverordnung wiederum sieht aber vor, dass ein freier Warenaustausch zwischen denen und uns weiterhin stattfindet, wir lassen das Kōriyama also in Japan schlachten, dann nach England liefern – und von dort aus ganz legal zu uns. Und damit sind wir die Einzigen auf dem europäischen Festland, die dieses Fleisch anbieten!«

An dieser Stelle ging ein kleines Raunen durch die Belegschaft, das Esser kurz genoss, bevor er seine Rede fortsetzte.

»Aber ich sage mal: Verkaufen ist das eine, Vermarkten das andere. Und da ist uns ein ganz großer Fisch ins Netz gegangen. Leo Vossen, der Bauunternehmer, ist Ihnen ja wahrscheinlich ein Begriff. Den habe ich beim Frühlingsfest der Handwerkskammer kennengelernt. Der Typ ist ein absoluter Grillfanatiker und hat jede Menge Connections zu lauter wichtigen Leuten. Deswegen habe ich ihm vorgeschlagen, dass wir gemeinsam die Deutschlandpremiere für das Kōriyama-Rind gestalten. Ich liefere das Fleisch, er grillt, die ›Flame‹ berichtet exklusiv. Ja, richtig gehört, die wichtigste Grillzeitung des Landes hat schon bestätigt, dass sie kommt. Prost noch mal auf Erfolg Nummer eins …«

Esser machte eine kurze Pause, direkt im Anschluss wollte er offenbar auch noch Erfolg Nummer zwei verkünden. Und da ließ er sich nach einem weiteren Schlückchen nicht lange bitten.

»Ja, Freunde, und die nächste gute Nachricht kommt aus dem kleinen Städtchen Lohmar. Der hübsche Ort hat im Zentrum nur noch eine inhabergeführte Metzgerei. Und zwar den Laden von Familie Gehlert. Aber ist das nicht traurig? Die Eltern sind mittlerweile alt, und keine der beiden Töchter will das Geschäft übernehmen …«

Aus der Belegschaft kamen bedauernde »Ooooh«-Rufe, weil alle schon ahnten, worauf Esser hinauswollte.

»Also habe ich mich nicht lumpen lassen, habe den Gehlerts eine schöne Ablöse angeboten und somit Filiale Nummer vierzehn für ›Fleisch und Feinkost Esser‹ klargemacht!«

Applaus brandete auf, den der Chef mit einer beruhigenden Geste zu unterbinden versuchte. Als wieder Ruhe eingekehrt war, sagte er: »Dafür brauche ich aber auch Ihre Mithilfe, liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie alle wissen, wie schwer es ist, gutes Personal für den Fleischerfachbetrieb zu bekommen. Wenn Sie also jemand kennen, der Lust hat, Teil unserer Familie zu werden, dann geben Sie mir bitte Bescheid. Expansion durch Kooperation, sage ich ja immer. So.« Er nahm den letzten Schluck aus seinem Glas. »Genug gefeiert, jetzt geht’s wieder an die Arbeit!«

Die meisten Mitarbeiter nahmen sich noch eine Stulle von den Tabletts, stellten ihre Sektgläser ab und begaben sich an ihre Arbeitsplätze. Nur Alwin Peschel, der Controller des Unternehmens, blieb noch im Laden stehen und schien ein Anliegen zu haben.

Esser sammelte erst mal die Gläser in seinem Verkaufsraum zusammen, stellte sie auf der Theke ab und begab sich dann zu seinem Angestellten am Bistrotisch. Er klopfte dem Finanzfachmann kumpelhaft auf die Schulter.

»Was gucken Sie denn so gequält? Irgendwas nicht in Ordnung bei Ihnen?«

»Na ja …« Peschel starrte nachdenklich vor sich auf den Tisch. »Ich weiß nicht, ob das mit der Lieferkette beim Kōriyama-Rind alles so legal ist. Bevor wir da irgendwelchen Ärger bekommen, würde ich das rechtlich lieber klären lassen.«

»Was soll denn da illegal sein? Höchstens eine rechtliche Grauzone, aber ich habe das mit den Importeuren schon alles genau abgesprochen.«

»Ich weiß nicht, ob wir da nicht zu voreilig handeln. Auch wenn ich ursprünglich Wirtschaftswissenschaftler bin und kein Jurist, kenne ich mich mit den Vorschriften der Branche mittlerweile ganz gut aus. Und das Lebensmittelrecht schreibt vor der Zulassung eigentlich Laboranalysen vor, sowohl national als auch auf EU-Ebene. Außerdem gibt es die Kennzeichnungspflicht und eine etwaige Rezepturkontrolle. Wenn wir das alles umgehen, können wir uns strafbar machen. Im schlimmsten Fall enthält das Fleisch irgendwelche Stoffe, die Unverträglichkeiten hervorrufen, Asiaten vertragen ja zum Beispiel manche Milchprodukte nicht, und das könnte andersrum genauso sein …«

»Ach, Peschel, alte Buchhalterseele. Was soll denn an einem Stück Rind nicht zu vertragen sein? Das ist reinstes, edles Fleisch, im Prinzip sogar Bio-Qualität. Da machen Sie sich mal keine Sorgen, die Verantwortung übernehme ich. Wie heißt es so schön? Wo der Pessimist aufhört, fängt der Optimist erst an. Ich mache das schon, kümmern Sie sich lieber um die Verträge für die guten Gehlerts aus Lohmar.«

Ungefähr zur selben Uhrzeit fand auch im Polizeipräsidium ein kleiner Umtrunk statt. Anlass war die Vorstellung des neuen Kollegen David Lahmann, der in diesem Augenblick der Begrüßungsrede seiner Chefin Carla Weiß lauschte und dabei ein wenig schulbubenartig aussah.

Carla war eine kräftige Frau mit tiefer Stimme und strohigen schwarzen Haaren, die mehr und mehr mit grauen Strähnen durchsetzt waren. Sie galt unter ihren Mitarbeitern als ehrlich, fair und als eine Vorgesetzte, auf deren Wort man sich verlassen konnte. Gefühle zu zeigen oder Warmherzigkeit auszustrahlen gehörte allerdings nicht zu ihren Stärken. Deswegen wunderte sich niemand, dass Carla mehr über den organisatorischen Ablauf von Davids Wechsel aus Münster nach Köln sprach als über seine Person.

Nachdem sich die Erste Polizeihauptkommissarin sehr zufrieden darüber gezeigt hatte, dass solche Transfers innerhalb des Bundeslandes heute viel unkomplizierter abliefen als früher, wandte sie sich direkt an den neuen Kollegen. »Vielleicht möchten Sie selbst ein paar Worte dazu sagen, was Sie zu uns verschlagen hat?«

Carla Weiß setzte sich, David stand auf und räusperte sich.

»Ja, vielen Dank, das werde ich gern tun. Also, wie Frau Weiß schon erwähnt hat, mein Name ist David Lahmann, ich bin dreiunddreißig Jahre alt und habe um die Versetzung gebeten, weil meine Frau in Köln einen Job angenommen hat. Sie ist schon seit dem vergangenen Jahr als stellvertretende Direktorin einer Realschule hier. Meine Frau ist mit unseren beiden Töchtern erst mal ohne mich hierhergezogen, wir hatten seitdem eine Wochenend-Ehe, na ja, und jetzt hat es endlich geklappt, dass ich nachkommen konnte.«

David bemerkte, dass bisher keiner der Kollegen zu der Karaffe auf der Mitte des Tischs gegriffen hatte, und sah sich genötigt, kurz zu erklären, was er zu seinem Einstand mitgebracht hatte.

»Äh, das ist übrigens Mango-Lassi mit Kokosmilch, ich dachte, für Sekt ist es noch ein bisschen früh.« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Und da drüben stehen Samosas mit Kichererbsenfüllung.«

Erleichtert registrierte David, dass eine junge Kollegin zum Lassi griff, mit dem dazugehörigen Stab kurz durch die Karaffe rührte und sich ein Glas des sämigen Getränks eingoss. Auch Carla Weiß angelte nach einem Trinkgefäß, daher ging Lahmann davon aus, dass er zunächst noch etwas weiterreden sollte.

»Ja, was gibt es sonst noch zu sagen? Ich bin passionierter Radfahrer, das ist ja typisch für uns Münsteraner, ich spiele in meiner Freizeit Gitarre und treffe mich manchmal mit Freunden zum Geocaching.« Er zuckte kurz mit den Schultern. »Tja, so weit. Haben Sie noch Fragen?«