Tränen des Drachen - Band 2 - Michael von Känel - E-Book
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Tränen des Drachen - Band 2 E-Book

Michael von Känel

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Beschreibung

Im zweiten Buch der Serie Tränen des Drachen wird für Lucy langsam aber sicher klar, dass es Zufälle im Leben nicht gibt. Jedes Erlebnis ist da, um daraus zu lernen und dadurch weiterzukommen. Besonders die negativen Erlebnisse sind diesbezüglich hilfreich – und von denen gibt es mehr als nur eines… Aber es scheint, als würde Lucys Art zu leben andere Menschen inspirieren und anziehen. Nicht nur der schwer einzuschätzende Volker taucht auf und bleibt. Auch eine verzweifelte, alleinerziehende Mutter sucht Hilfe bei Lucy. Und Lucy wird Patin eines Kindes, das man wohl als Kristall-Kind bezeichnen könnte. Manche Menschen passen nicht in die Gesellschaft. Schwererziehbare auch nicht. Der Sonnenhof scheint diesen Jugendlichen aber gut zu bekommen. Ob das der Weg der Stiftung Drachentränen ist? Aber vorerst hat Lucy mit einem Versprechen zu kämpfen, das sie einem Sterbendem gegeben hat: Sie soll einer Verstorbenen eine Nachricht überbringen. Auch dieses Buch überzeugt mit versteckten Informationen zwischen den Zeilen. Spirituelles Wissen wird dort eingestreut, wo es im Alltag am hilfreichsten ist. Hintergründige Kapitelüberschriften, weitreichende Zitate und Verweise auf weiterführende Literatur zu den einzelnen Themen machen die Romanserie Tränen des Drachen zu einem Lehrwerk der besonderen Art; es geht nicht in erster Linie um Unterhaltung und Spannung – es geht um Erkenntnis. Wenn sich die Welten der Lebenden und Verstorbenen zu durchmischen beginnen, dann schreitet die Menschheit wohl der Wahrheit entgegen…

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Inhaltsverzeichnis

1 Das Gute und das Böse

2 Das Herz des Heilers

3 Die Gabe des zweiten Gesichts

4 Silver Surfer – Der silberne Engel

5 Der Orden

6 Die Älteren

7 Leaving Spirits – Entschwindende Geistwesen

Tränen des Drachen II

Seventh Son of a seventh Son –

Der siebte Sohn des siebten Sohnes

Wer einem anderen auf dem Weg ans Licht folgt, der endet in ewiger Dunkelheit.

Copyright: Michael von Känel

Verlag: www.denkmalnach.ch

1 Das Gute und das Böse

«Und ich habe mich so gefreut!», sagst du vorwurfsvoll, wenn dir eine Hoffnung zerstört wurde. Du hast dich gefreut – ist das nichts?

Marie von Ebner-Eschenbach

Ich bin Lucy Schmidt. Ich schreibe Bücher, weil es mir aufgetragen wurde. Und ja, ich habe die Tränen des Drachen geweint und tue es immer wieder. Mein Weg hat begonnen, und er wird nie zu Ende sein. Denn es geht nicht darum, anzukommen. Es geht darum, vorwärtszugehen. Das Gute kennt kein Ende, genauso wenig, wie Liebe keine Begrenzung kennt.

In meinem ersten Buch habe ich davon erzählt, wie ich mein kurzes, altes Leben aufgegeben habe. Ich lebte ein Leben des angenehmen berauscht Seins. Ich hatte alles, und war dennoch unglücklich. Als ich aber in das Haus meines Grossvaters gezogen bin, das draussen in der Wildnis über einem verlassenen Steinbruch steht, da habe ich dieses alte Leben aufgegeben. Und damit auch meine Familie. Ich hatte hier, in meinem neuen Zuhause nichts mehr, wurde dabei aber glücklich. Erst dadurch habe ich gemerkt, dass das, was ich als Liebe empfunden hatte, gar keine Liebe war. Nein, meine Eltern liebten mich nicht meinetwegen. Sie liebten mich, solange ich ihrer Welt entsprach. Doch als ich auszog und meinen eigenen Willen zu leben begann, lernte ich, was ihre Liebe wert war.

Meinen Job habe ich aufgegeben. Seither verdiente ich nichts mehr. Aber ich brauche auch fast nichts mehr. Was ich brauche, bekomme ich aus meinem Obsthain und meinem Garten. Ich konnte mit Willhelm, dem Bauern des Nachbarhofs tauschen. Jetzt bekomme ich von seinem Sohn das, was ich nicht selbst zum Essen anbauen kann. Es ist erstaunlich, wie das berauscht Sein mich ein Leben leben liess, das von Konsum und Ausgaben geprägt war. Jetzt habe ich Zeit für mich – Zeit für meine Gedanken und das, was mich umgibt.

Ich bin arbeitslos, habe aber sehr viel zu tun. Und ich bin sehr reich! Aber ich verfüge über kein Geld. Mein Grossvater Samuel Fink hat mir Millionen hinterlassen. Aber er hat vor seinem Tod alles so geregelt, dass ich dieses Geld nicht ausgeben kann. Ein weiser Mann, mein Grossvater Sam.

Und ich?

Wo ich war, hatte ich Flügel und konnte trotzdem nicht fliegen. Wo ich war, hatte ich Tränen und konnte dennoch nicht weinen. In der Zwischenzeit habe ich Fliegen gelernt – und Weinen!

Ich habe nur ganz wenige Freunde. Da ist Linda, die Freundin meines Grossvaters. Sie ist eine alte Seele, da bin ich mir sicher. Sie lebt viel bei mir draussen in der Wildnis. Was sie treibt, wenn sie nicht bei mir wohnt, weiss ich nicht.

Und da ist eben dieser Tim Radeberg. Tim hat den Hof seines Vaters Willhelm übernommen, als dieser nach einem Schlaganfall kurz darauf verstarb. Tim gab seinem Vater das Versprechen, zu Hof und Tieren zu schauen, damit ES nicht verlorengehe. Doch damit Tim diesen Hof weiterführen konnte, mussten Linda und ich uns einiges einfallen lassen. In einer nervenaufreibenden Auktion konnten wir schliesslich den Hof ersteigern. Der Hof gehört jetzt der Stiftung Drachentränen. Der Name der Stiftung ist klar, er erklärt sich von selbst. Wie es zu der Stiftung kam, und wozu es sie gibt, erzähle ich später.

Ich bin eine Spinnerin. Nein, nicht dass ich wirres Zeug rede und nicht klar bei Sinnen wäre. Aber ich bin anders. Das Leben allein draussen in der Natur, abgeschnitten von der Gesellschaft und dem Komfort des modernen Alltags, hat mich verändert. Sam hatte mir nach seinem Tod in seinem Haus einen Brief hinterlassen. Damit klar wird, was mit mir ist, muss man diesen Brief wohl kennen. Darum lege ich ihn hier diesem Buch, meinem zweiten Buch, auch bei:

Liebe Lucy

Was ist Leben? Was ist Tod? Wenn du diesen Brief liest, werde ich diese Fragen mit mehr Genauigkeit beantworten können. Aber keine Angst, ich werde dir das Geheimnis aufsparen und nichts verraten.

Lucy, es gibt einen Grund, dass NUR DU allein mein Haus bekommst! Dieses Haus ist nicht eine Erbschaft. Es ist deine persönliche Karte zum Schatz deines Lebens. Es ist ein Vermächtnis! Du wirst sehen…

Als erstes reiche deine Kündigung ein und ziehe dann hierher. Du brauchst dich wegen des Geldes nicht zu sorgen. Du findest hier alles, was du brauchst. Geld ist lediglich eine Erfindung.

Wenn du hier definitiv eingezogen bist, dann arbeite an deiner Achtsamkeit! Es ist von grosser Bedeutung, dass du Kleinigkeiten wahrnimmst. Vertraue deinen Gefühlen, lasse dich von deiner Intuition lenken – und stelle nichts in Frage! Irrsinn und Wahnsinn gibt es nicht, weil jeder Gedanke kostbar ist. Aber lasse deine Gedanken im Kopf reifen, bevor du sie durch Handeln in die Realität umsetzest – wenn überhaupt. Und vermeide es, sie vor andern auszusprechen. Andere Menschen haben Mühe mit fremden Gedanken, die ihnen nicht entsprechen.

Sobald du achtsamer geworden bist, wirst du in der Lage sein zu beobachten. Dein Beobachten wird für dich zu einer neuen Faszination werden, weil du ja vorher deine Wahrnehmung durch Achtsamkeit erhöht hast. Beobachte alles, egal ob es lebt oder «tot» ist.

Verzichte vorerst darauf, dein Smartphone täglich zu benutzen. Kommuniziere regelmässig, aber zu festen Zeiten mit deinen Nächsten. Sie werden sich schnell dran gewöhnen. Meide News, ja, Medien allgemein. Konsumiere keine flache Unterhaltung. Nutze deine Zeit zum Arbeiten und Nachdenken. Wenn du Ablenkung oder Inspiration brauchst, höre dir gezielt Lieder an, die dir schon immer gefallen haben. Oder betrachte Bilder! Oder lies Bücher aus meiner kleinen Bibliothek.

Nein Lucy, ich will dir nicht das Leben einer Nonne oder eines Spartaners auferlegen. Ich möchte dir nur helfen, den Glanz, der in deinen Augen schlummert, zum Leuchten zu bringen. Weisst du, Lucy, es gibt etwas, was uns alle miteinander verbindet: Das Sehnen nach dem Leuchten hinter dem Horizont; das ungestillte Verlangen, das Licht am Ende der Welt zu erblicken…

Ich liebe dich von ganzem Herzen!

Sam

PS: Weisst du eigentlich, was die «Maslows-Pyramide» ist? Und ja, wirf diesen Brief nicht weg. Verwahre in gut! Und weisst du, da ist mehr zwischen Himmel und Erde, als du dir gewahr bist…

Ich mag eine Spinnerin sein. Aber Sam war kein Spinner, auch wenn alle ihn als das bezeichnet haben. Denn niemand konnte es mit Sam aufnehmen, wenn es um klares Denken und logisches Argumentieren ging. Und was Sam sagte, das war wahr; das war so sehr wahr, wie es in unserer Wahrnehmung wahr sein kann. Aber Sam hat immer gesagt, dass jeder seinen eigenen Weg der Wahrheit gehen müsse. Das habe nicht er rausgefunden. Das habe er von jemandem gelernt, der viel mehr gewusst habe als er.

Ja, dieser Brief hat mich und mein Leben verändert. Mit ihm hat alles angefangen. Beobachten, Achtsamkeit und Wahrnehmung sind mächtige Werkzeuge des menschlichen Verstandes. Sie wirken sich in dramatischer Weise im Sein eines Menschen aus, wenn sie gehegt und gepflegt werden. Sie weisen den Weg zum sich selbst Sein. Sich selbst zu sein ist nicht so schwer. Man muss nur den Weg der Wahrheit gehen und dem vertrauen, was man wahrnimmt. Auch wenn der gesunde Menschenverstand und alle bisherigen Erfahrungen etwas anderes sagen…

Sam hat mir nicht nur aufgetragen, meine Erfahrungen in Büchern niederzuschreiben. Er hat mir auch eine ganze Truhe voller geheimnisvoller Hinweise hinterlassen. Jeder Hinweis ist mit einem fünfzackigen Stern und einer Ziffer gekennzeichnet – oder einem Symbol. Für jede dieser Ziffern ist in der Truhe, die in einem geheimen Raum hinter dem Vorratsschrank im Vorratsraum meines Hauses – Sams Haus – steht, ein Hinweis hinterlegt. Ich darf diese Hinweise nur öffnen, wenn ich auf einen Stern mit Ziffer treffe, das ist wichtig! Und ich darf niemandem davon berichten.

Warum ich hier dennoch davon schreibe? Weil ich den Weg gegangen bin, weil ich den Schatz gehoben habe. Die Truhe ist längst leer. Zeit gibt es nicht, sie ist nur eine Erfindung des Menschen, um Dinge ordnen zu können… Aber ja, ich habe gefunden, was das rote Kreuz am Ende des langen Weges markiert hat! Aber ich verrate nichts über die detaillierten Angaben des Schatzes. Denn auch wenn ich den Schatz gefunden habe, bleibt der grösste Teil davon noch unentdeckt. Es war nicht an mir, mich seines zu bemächtigen. Ich bin nur da, um zu schreiben…

***

Als meine Zeit draussen im Haus meines Grossvaters begonnen hatte, glaubte ich, es gäbe nur noch Gutes. Doch dann kamen Anwälte, Banker, Makler und andere, die mir mein Leben sauer machten.

Und zwar gibt es in der Natur viel Schönes und Gutes. Und kaum etwas in der Natur ist schlecht. Aber die Natur ist eben auch hart. Die Selektion kennt kein kurzfristiges Erbarmen. Sie kennt nur den Weg des Gedeihens. Und jedes Gedeihen baut auf das Vergehen des Vorangehenden auf. Was zurückbleibt, ist das Seiende und sind die Älteren, die das Erlebte bewahren. Als Mensch ist es nicht immer einfach zu verstehen, dass es gut sein soll, loszulassen.

Ich habe es bereits des Öftern erfahren müssen. Meine Bienenvölker, die Völker, die ich ungewollt von meinem Grossvater Sam übernommen hatte, wuchsen mir ans Herz. Aber viele von ihnen habe ich verloren. Nach dem Winter, dann, wenn es die Temperaturen zuliessen, dass die Bienen wieder fliegen konnten, waren die Bienenbeuten oft leer. Keine Bienen mehr, die ausflogen, um in der Natur Gutes zu bewirken.

Nicht weit vom Haus stand eine alte Esche. Sie stand schon da, als ich als kleines Kind bei Sam meine Ferien zubrachte. Sie stand schon da, als Sam sein Haus gebaut hatte. Sie war auch schon da, als im Steinbruch täglich mehrerer Tonnen Granit abgebaut wurden. Und sie stand auch schon da, als noch kein Weg an diesen Ort führte. Diese alte Esche, die so viel hätte erzählen können, starb im Laufe eines einzigen Sommers ab. Eschenwelke. Mir blieb nur, sie mit Tims Hilfe zu fällen. Zu gefährlich wären die dürren Äste gewesen, die anfingen unerwartet herunterzukrachen.

Alles in der Natur ist gut. Aber wir Menschen tun uns schwer damit, die Natur wahrzunehmen. Und wenn wir es endlich geschafft haben, dann müssen wir lernen, wieder loszulassen. Die Natur geht vorwärts. Sie dreht wie ein Rad. Etwas Neues kommt, etwas Altes vergeht. Dann, wenn wir Menschen endlich wieder gelernt haben werden, dass auch wir Teil dieses Rades sind, dann werden wir Ganzheit erfahren. Aber das geht noch lange! Denn es gibt das Böse!

Was genau das Böse ist, wird jeder selbst erfahren. Niemand kann es genau definieren. Es lauert in uns. Es ist Teil von uns. Und wir alle laufen Gefahr, zu seinem Handlanger zu werden. Denn wir haben bei unserer Geburt das Recht erhalten, frei entscheiden zu dürfen. Für welchen Weg entscheiden wir uns, wenn wir an eine Kreuzung kommen? Und wer damit begonnen hat, achtsamer durchs Leben zu gehen, der entdeckt Kräfte und Möglichkeiten in sich, die das Böse auf den Plan rufen. Darum wähle weise, wenn es so weit sein wird – denn nur der bussfertige Mensch kann bestehen! Das Gute oder das Böse – welchen Weg wird er nehmen…? Was unsichtbar zwischen Himmel und Erde besteht, beobachtet uns mit Interesse. Was in den finstersten Winkeln unserer selbst liegt, wartet uns mit List und Argwohn auf. Denn wenn wir den letzten Schlüssel werfen würden, dann würde das den Tod für diese dunklen Mächte bedeuten. Wir aber, die wir Wirt dieser dunklen Mächte sind, sollen nicht den Weg ins Licht gehen, denn diese Selbstaufopferung würde den Untergang des Bösen bedeuten. Und so kämpfen sie in uns. Tag für Tag! Der Krieg des Lichts gegen die Dunkelheit findet auf dem Schlachtfeld unseres Daseins statt. Der Engel auf der linken Schulter, der Teufel auf der rechten.

Darum wähle weise, wenn es so weit sein wird!

***

Aber verlassen wir vorerst diese weitreichenden Dimensionen unergründlicher Erkenntnis und wenden uns der Zeit zu, die von Aufbruchsstimmung und Sinn für Gemeinschaft geprägt war. Denn ich war zu dieser Zeit am Lernen. Zwar lerne ich auch heute noch, aber damals ging es viel schneller. Die wunderbaren Erlebnisse, das Entdecken der in mir schlummernden Gaben eröffneten sich mir manchmal Nacht auf Nacht. Am Tag wurde ich durch das Tagwerk weitergetragen – in der Nacht, während meiner immer länger andauernden, ausgeprägten Meditationen, folgte dann die Erkenntnis. Alles hat seinen Preis. Und alles hat seine Gründe.

Ich weiss nicht recht, wo ich anfangen soll. Vielleicht ist es am einfachsten, wenn ich dort weiterfahre, wo das letzte Buch aufgehört hat?

Tim fiel mir in die Arme, nachdem er den vom Auktionsführer unterschriebenen Kaufvertrag für seinen Hof gelesen hatte. Als Käuferinnen waren Linda und ich vermerkt. Beide hatten wir quasi unser letztes Hemd als Sicherheit hergegeben, damit wir die Auktionssumme zusammenkratzen konnten. Tim wusste das. Er hielt mich fest. Er drückte mich an sich. Sein Hemd roch nach Stall und Heu, als ich ihm meinen Kopf auf seine Schulter legte und seine Umarmung zuliess. Dann begann er zu schluchzen. Ganz still und unauffällig. Ich fühlte nur, wie seine Brust geschüttelt wurde. Immer und immer wieder. Ich fühlte, dass in ihm etwas ablief. Es war nicht der Kaufvertrag, der so etwas auslösen konnte. Es musste mit mir zu tun haben, denn ich fühlte auch in mir etwas aufwallen. Etwas in mir wurde wiedererweckt, wurde lebendig. Etwas Uraltes. Ich sah verschwommen Bilder vor meinem geistigen Auge auftauchen und wieder verschwinden. Es ging so schnell, dass mein Verstand nicht folgen konnte. Nach jedem Bild blieb nur eine weitere Emotion zurück in meiner Brust. Und dann wallte etwas auf. Ich sah das Bild eines weinenden Jungen. Ich fühlte seinen Schmerz und ich nahm eine Kälte in mir war, die nicht die meine war. Aber der Junge schien wegen mir zu weinen…

Als Tim die Umarmung löste, sahen wir uns an. Wir sahen uns tief in die Augen. Und beide wussten, dass wir Heilung erfahren durften. Ich wusste nicht wie und warum. Ich wusste nur, dass ich etwas wieder gutgemacht hatte, was ich vor langer Zeit, in einer anderen Zeit jemandem angetan hatte - was ich Tim angetan hatte. Ich erkannte es in seinen Augen, die mich tief und grüngrau ansahen, als würden sie meine Seele selbst erblicken. Ich sah Vergebung im Glanz dieser Augen. Und ich fühlte Erleichterung in meinem ganzen Körper. Und Tim? Er war daran, das Grauschwarz in seinem Antlitz abzulegen. Er war daran, wieder ganz zu werden. Dann kam Clotilde, die rotbraune Kuh, und drückte uns zur Seite. Es war Zeit zu melken.

***

Linda und ich hatten, das kann ich hier offen zugeben, ein grosses Interesse daran, die Stiftung so schnell wie möglich zu gründen. Zur Erinnerung: Sam hatte Ende Dreissig sein Patent auf selbstentwickelte Stromerzeuger veräussert und dabei wohl viel Geld verdient. Und wahrscheinlich hatte er dieses Geld geschickt angelegt, denn als ich mit meinen Eltern und meinem Bruder Charly beim Notar Sams Testament vorgelesen bekam, ging es um hohe Erbschaftsbeträge. Ich habe das Haus geerbt. Und ja, ich habe mit Linda in einem Vorratstopf im Vorratsschrank eine beträchtliche Menge neuer Banknotenbündel gefunden. Von denen erzählte ich aber meiner Familie nicht. Meine Eltern und mein Bruder bekamen ihren Erbschaftsanteil in Form jährlicher Ratenzahlungen. Jeder von ihnen hätte sein Arbeitspensum dank dieses jährlichen Zustupfs beträchtlich reduzieren können. Während mein Bruder sich freute, liefen meine Eltern purpurrot an vor Zorn. Denn sie hatten mehr erwartet. Und die Gier in ihren Augen verriet, dass sie alles auf einmal wollten, auch den Löwenanteil, den Sam auf ein Sperrkonto einbezahlt hatte. Genau den hätten sie eigentlich gewollt.

Wie hoch dieser Anteil war, erfuhr ich, als ich den Jahresabschluss dieses Kontos per Post erhielt. Ende Jahr, als ich vom gescheiterten Weihnachtsfest bei meinen Eltern zurück in mein Haus kehrte. Und dieser Betrag konnte nur aus dem Sperrkonto ausgelöst werden, wenn eine Stiftung gegründet wurde – mit mir im Stiftungsrat.

Linda und ich hatten uns informiert. Um die Stiftung zu gründen, brauchte es einen Stiftungsrat mit mindestens drei Mitgliedern. Die hatten wir schnell beisammen, denn ich war ja gegeben, und ich wählte Linda und Tim, die erfreut zusagten. Als Nächstes brauchte es einen Stiftungszweck. Das bereitete uns schon mehr Kopfzerbrechen. Aber Sam wäre ja nicht Sam gewesen, wenn er da nicht vorgesorgt hätte! Und es war auch dieses Mal wieder ein kleines Bisschen geheimnisvoll, darum erzähle ich es. Auch wenn ja bereits klar ist, wie der Hase läuft:

Damit ich die Sicherheiten für den geschuldeten Betrag für den Kauf von Willhelms Hof zusammenbrachte, musste ich auf einen Schuldbrief zurückgreifen, den ich in der Truhe mit Sams Hinweisen darin gefunden hatte. Dieser Schuldbrief bezog sich auf das Stiftungskapital auf dem Sperrkonto. Sam hatte diesen Schuldbrief wohl als irgendeine Absicherung für mich geschrieben und vom Notar beglaubigen und eintragen lassen. Auf diesem Blatt war unten rechts von Hand ein fünfzackiger Stern mit einem X daneben hingezeichnet worden. Während den anderen, die dieses Dokument in ihren Händen hielten, nichts aufzufallen schien, wusste ich schon zu Beginn, dass da was dahinterstecken musste. Die beiden Zeichen waren neben dem Passus angebracht, der festlegte, dass dieses Dokument seine Gültigkeit verlieren würde, sobald die Stiftung gegründet worden sei.

Als es nun also darum ging, den Stiftungszweck zu definieren und die Statuten der Stiftung zu schreiben, entnahm ich dem Bild in meinem Schlafzimmer den Messingschlüssel und stieg hinab in den Vorratsraum, um in der Truhe nachzusehen, ob sich etwas mit einem Stern und einem X daneben finden liesse. Und in der Tat fand sich in der Truhe ganz rechts eingeordnet ein grösserer Umschlag mit ebendieser Bezeichnung darauf. Und was ich aus dem Umschlag entnahm, war eine perfekt ausgearbeitete Vorlage für die Stiftungsstatuten. Und zuoberst war ein handschriftlicher Brief angeheftet, der sich an mich richtete:

Liebe Lucy

Ich weiss nicht, wie lange es dauert, bis du diesen Brief zu Gesicht bekommst. Aber offensichtlich hat es geklappt! Warum ich einen Schuldbrief ausgestellt hatte? Nun, ich hatte da eine gewisse Vorahnung. Was für die einen unvorhersehbar scheint, erscheint denen logisch, die zu denken gewohnt sind und die logische Abfolgen einschätzen können…

Warum der Hinweis für den Schuldbrief am Steg im Weiher angebracht war? Das hast du bestimmt selbst rausgefunden. Aber lass mich hier anmerken, dass ich damals, als ich nach dir getaucht war, sehr beunruhigt war. Es dauerte nämlich lange, bis ich dich in der Finsternis des schwarzbraunen Moorwassers endlich gefunden hatte. Ich musste fünf oder sechs Mal nach dir tauchen. Und als ich dich dann endlich auf dem Steg oben hatte, dachte ich schon, ich hätte zu lange gebraucht, um dich heraufzuholen. Ich tat, was ich konnte – dabei bebte ich vor Angst um dich! Und wie es so ist: Dann, wenn man seinen Emotionen am nächsten ist, nimmt man am meisten wahr. Ich konnte in ein früheres Leben von dir blicken. Ich erkannte, dass das nicht das erste Mal war, dass du zu ertrinken drohtest. Und es wurde mir dann mit einem Schlag klar, dass es für dich bestimmt war, so oft wieder zu ertrinken, bis du deine Angst in dir aus eigener Kraft überwunden haben würdest.

Offensichtlich hast du es geschafft – herzliche Gratulation! Sich seinen tiefsten Ängsten zu stellen, fordert einen mehr als alles andere. Hättest du dieses Thema nicht auflösen können, so wärest du auch nicht bereit gewesen, die schwere Aufgabe mit der Stiftung anzugehen.

Liebe Lucy, es tut mir leid! Es tut mir so leid, dass ich dich mit dieser Aufgabe belasten muss! Aber ich schenke dir klaren Wein ein: Hinter dem Geld für die Stiftung steht eine Geschichte, die mit den dunklen Mächten der Menschheit einhergeht! Ich hatte damals meine Pläne für die Stromerzeuger nicht aus freien Stücken verkauft; ich wurde gezwungen! Und ich bin danach abgetaucht, um meine Liebsten nicht zu gefährden.

Eigentlich hätte ich andere Pläne gehabt. Es ging mir nie um Geld und Ansehen. Ich wollte nur das Gute für die Menschen. Und so wie der Mensch gute Luft und sauberes Wasser benötigt, um bestehen zu können, so benötigt die Menschheit nachhaltige Energie, um den Schritt in die nächste Entwicklungsstufe machen zu können. Und die Vorsehung meinte es gut mit mir. Mit Unterstützung derer, die du in der Zwischenzeit wohl auch schon kennengelernt hast, gelang mir das Unmögliche: Ein Perpetuum Mobile, das elektrischen Strom erzeugt! Und als ich nach einem Hersteller für meine Erfindung suchte, lernte ich sie kennen, die unsichtbaren Wölfe im Schafspelz.

Hüte dich vor Geld Lucy! Es zieht nicht nur Gesindel, Schmeissfliegen und Kriminelle an! Grosse Mengen an Geld locken diejenigen herbei, denen es um absolute Kontrolle und Weltmacht geht. Selbstsucht ist ihre Doktrin, Unterdrückung ihr Sinnen und Zerstörung ihr Tun. Mit ihnen kannst und darfst du dich nicht anlegen. Im offenen Kampf gegen sie verlierst du immer wieder, Leben für Leben, Reinkarnation für Reinkarnation. Du kannst nur eines tun gegen sie: Du musst sie mit ihren eigenen Mitteln schlagen. Du musst ihr System untergraben und zu Fall bringen! Wie du das anstellst? Indem du an das Gute glaubst und reine Wahrheit lebst. Denn Tausende werden fallen, aber der Aufrechten wird kein Haar gekrümmt werden!

Die Stiftung wird dein Schwert der Wahrheit sein. Indem du Beispiele schaffst, wie die Menschheit in Frieden mit sich und in Einklang mit der Natur lebt, wirst du eine Grundlage schaffen, die die Welt verändern helfen wird. Aber die Stiftung darf nicht untergraben werden! Darum darf das Stiftungskapital auch nicht frei zugänglich sein. All das Geld, das sie mir damals bezahlt haben, und das ich beträchtlich mehrte, indem ich es geschickt und manipulativ so anlegte, dass die Schwächen des dunklen Systems ausgenutzt werden konnten, soll dem Guten dienen. Darum darf dieses Geld nur als Kapital, als Sicherheitsgrundlage genutzt werden. Kein Bargeld darf in Umlauf kommen. Alles soll auf dem Prinzip des fairen Tauschgeschäfts basieren. Niemand soll die Möglichkeit sehen oder bekommen, sich am Stiftungskapital zu bereichern. Das Kapital schafft nur die Grundlage. Das Gute aber müssen Menschen durch redliches Tun und scharfsinniges Denken erarbeiten.

Die Stiftung darf Grund und Boden mit dem Geld erwerben. Sie darf zinslose Kleindarlehen gewähren, die nur so gross sind, dass sie den nächsten Schritt ermöglichen. Kein Darlehen darf erhöht werden. Aber jedes Darlehen darf verlängert oder erneuert werden. Nachhaltigkeit kann man nicht kaufen, Nachhaltigkeit kann nur aus sich selbst herauswachsen.

Die Stiftung investiert nur nach den Grundsätzen der goldenen Regel. Sie will das Gute mehren, Nachhaltigkeit fördern und die Zerstörung von Klima und Ressourcen bremsen. Menschen sollen dank der Stiftung die Möglichkeit erhalten, ihre Einzigartigkeit zu entdecken und damit der Stiftung zuträglich zu sein. Die weisse Bruderschaft wird die Hand schützend über jedes Projekt halten, das in diesem Rahmen in Angriff genommen werden wird. Die Älteren werden dankend das dazu beisteuern, was die Erde und das grosse Ganze heilen wird.

Aber wisse, Lucy: Am Schluss wird die Stiftung, so gut sie auch aufgestellt sein wird, in sich zusammenfallen und vergehen. Denn nichts bleibt für die Ewigkeit. Jede Organisation wird untergraben. Jede Glaubensrichtung verkommt. Denn der Weg der göttlichen Vorsehung ist unbegrenzt und unergründlich. Keine menschliche Organisation wird je im Stande sein, das Unbegrenzte zu reproduzieren. Sonst hätten wir das Paradies schon lange gefunden…

Darum lebe! Lebe im Hier und Jetzt! Nutze deinen Geist, dein Herz und deine Hände, um kreativ zu sein. Dazu wurdest du geschaffen. Genau zu diesem Zweck trägst du den göttlichen Funken in dir. Du wirst andere Menschen treffen, die dich unterstützen werden. Du wirst glücklich sein. Bis du selbst den Weg ans Licht am Ende des Horizontes finden wirst. Und du wirst diesen Weg so beschreiten, dass andere ihn als Grundlage nutzen können, als Ausgangspunkt, um ihren eigenen Weg der Wahrheit zu beschreiten.

Du findest beiliegend zu diesem Brief einen Entwurf für die Statuten der Stiftung. Nutze sie und lasse dich bei der Ergänzung von deiner Intuition und deinem Herz leiten. Der Stiftungsrat wird dich unterstützen. Haltet den Stiftungsrat klein – nur so kann die Stiftung längere Zeit bestehen.

Lucy, ich liebe dich – und ich bin immer bei dir!

Dein Sam

PS: Höre dir doch mal ein bisschen Musik aus meiner Musiksammlung an. Zum Beispiel Rage…

Ich blieb lange Zeit sitzen, nachdem ich diesen Brief gelesen hatte. Einerseits war ich glücklich, dass sich die Stiftung nun so einfach gründen liess. Denn Sam hatte sicherlich alle rechtlichen Vorgaben berücksichtigt, um seinen Entwurf aufzusetzen. Und er gab auch eine klare Richtung für den Stiftungszweck vor. Eine Richtung, das fühlte ich klar und deutlich in mir, die sich mit dem deckte, was ich wahrnahm, als ich Tim damals am Auktionsabend die Kaufurkunde entgegenstreckte.

Aber die unsichtbaren Wölfe im Schaftspelz ängstigten mich. Ich weiss, dass Angst nur ein Konstrukt unserer selbst ist. Aber wenn sogar Sam kapituliert hatte, dann musste es gross sein. Und sie hatten die Pläne der Erfindung. Und sie wussten, dass Sam etwas vorhatte – das fühlte ich!

Und woher kam eigentlich die Elektrizität für mein Haus!?

***

Zurück zu schöneren Dingen! Volker tauchte auf. Von einem Tag auf den andern. Aus dem Nichts. Tim stand ihm vorerst kritisch gegenüber. Denn seit ich Tim von den unsichtbaren Wölfen im Schafspelz erzählt hatte, sah er die Verschwörung überall. Es war, als wäre in Tim etwas erwacht, das nie wieder Ruhe finden würde. Mein Vorschlag, auch Jahre später, Volker in den Stiftungsrat aufzunehmen, scheiterte immer an Tims Vetorecht. Woher dieses Misstrauen?

Volker war es egal. Er brauchte kein Mandat im Stiftungsrat, um sich einzubringen. Und mit der Zeit wurde er Tims bester Freund – aber in den Stiftungsrat wollte Tim ihn nie beordern. Ja, da schien etwas Altes zwischen diesen beiden zu stehen…

Aber werden wir endlich konkret:

Es ging noch im gleichen Herbst nach der Auktion zügig los. Linda kümmerte sich um die Stiftung. Zuerst war sie unsere Sekretärin. Aber sie hängte sich so sehr in die Stiftung rein, dass wir sie bereits nach drei Wochen zur Geschäftsführerin machten. Ich war Vorsitzende, Tim wurde Kassier. Lustig, denn der Einzige, der bisher von der Stiftung etwas bezogen hatte, war er selbst. Wir hatten in den Statuten geregelt, dass es für jedes Finanzgeschäft eine dreifache Kollektivunterschrift brauche. Als erstes kaufte die Stiftung Linda und mir Willhelms Hof ab und verpachtete ihn auf unbestimmte Zeit an Tim. Stillschweigende Verlängerung, Jahr für Jahr. Kündigungsfrist auch ein Jahr.

Dann beantragte Tim ein zinsloses Darlehen von zehntausend Euro. Er musste einen Investitionsplan und einen Rückzahlungsplan vorlegen. Er selbst hat diese Forderung in die Stiftungsstatuten eingebracht. Und noch ehe er über das Geld verfügen konnte, war Volker da.

«Gebt mir einen Platz, damit ich meine Jurte aufbauen kann, und ich werde mich dort einbringen, wo es euch am besten dient!», war seine einzige Forderung.

Volker war ein Naturbursche, durch und durch. Er war gross und schlank, sehr drahtig gebaut. Sein Gesicht war braungebrannt und gegerbt, als wäre er Matrose in der Südsee gewesen. Volker wusste enorm viel über Pflanzen, Tiere und darüber, wie man mit Ideen und Gedankenkraft praktische Herausforderungen meistern konnte. Nachdem er seine Jurte auf der Lichtung aufgebaut hatte, nicht weit von der alten Eiche und dem Findling, ging er Tim zur Hand. Das war der Moment, der Tim etwas auftauen liess. Denn Volker hatte eine unheimliche Gabe, was das Finden einfacher Lösungsansätze für Problemstellungen anbelangte. Noch bevor Tim mit dem Umbau des Bauernhauses anfangen konnte, schlug Volker etwas anderes vor: Er baute mit Tim zusammen das Herzstück der Stiftung Drachentränen. Es war dies ein gedeckter Pavillon, gleich neben dem grossen Findling. Das einfache Gebäude hatte einen achteckigen Grundriss. Zwei Wände waren vom Findling her gegeben. Seine Wände hatten dazu den perfekten Winkel und inspirierten Volker für seinen Plan. Zwei weitere Wände wurden mit Rundholzplanken aufgebaut, um der Konstruktion die nötige Statik zu verleihen und um den Nordwind abzuhalten. Die anderen vier Wände waren offen und liessen einen Blick gegen Westen offen – so dass man einen wunderbaren Blick auf den Sonnenuntergang hatte. Die Konstruktion und das Dach wurde aus einfachen Rundholzbalken gefertigt. Tim kam zu mir, um Sams Motorsäge auszuleihen. Zusammen mit Tim fällten sie abgestorbenes Stangenholz, das in der Fichtenschonung zu wenig Licht erhalten hatte. Das Dach wurde aus Holzschindeln gedeckt. Den Wänden entlang wurden Bänke aus halbierten Baumstämmen hingestellt, so dass man sich bequem setzen und anlehnen konnte. In die Mitte kam eine Feuerstelle, so dass wir für unsere langen Stiftungssitzungen Licht und Wärme hatten. Im Winter konnten wir die offenen Seiten mit Tüchern schliessen, so dass die Wärme des Feuers besser blieb. Der Rauch konnte durch eine Luke im Dach abziehen.

Bis der erste Schnee kam, hielten wir manchmal fast jeden Abend eine Sitzung in diesem Pavillon ab. Danach wurde es wirklich kalt, und wir weihten dann auch schon den Gemeinschaftsraum im Bauernhaus ein. Dieser war in der unteren Etage des Bauernhauses gebaut worden, gleich neben der offenen Küche. Die alte Heubühne bot viel Platz für diesen Raum. Über dem Gemeinschaftsraum waren vier Zimmer mit Dusche und WC geplant. Zusammen mit Tims Zimmer, dem alten Wohnzimmer, das in zwei neue Zimmer aufgeteilt wurde und dem Anbau, wo ein Massenlager für zehn Personen geplant war, würde das Bauernhaus dann Platz für eine stattliche Anzahl Besucher bieten.

Tim und Volker erwiesen sich als handwerklich und planerisch sehr geschickt. Tim hatte mit dem zinslosen Darlehen ein paar Handmaschinen gekauft, etwas Baumaterial, das die beiden mit dem Pferd vom Dorf durch den Wald bis zum Hof führten. Und geplant war noch eine mobile Säge, so dass die im Wald geschlagenen Stämme gleich vor Ort zu Brettern und Kanthölzern gesägt werden könnten.

Volker lebte in seiner Jurte, auch im tiefsten Winter. In der Mitte der Jurte, direkt unter der runden Plexiglaskuppel, die das Licht in die Jurte einfallen liess, hatte Volker einen alten, kleinen Küchenofen montiert. Darauf konnte er kochen und natürlich damit heizen. Tim hatte ihm von Willhelms Brennholz gegeben. Volker stapelte dies unter dem Podest, auf dem die Jurte stand. In der Jurte selbst hielt Volker sehr gut Ordnung. Auch hatte er alles wunderschön eingerichtet, mit ein paar seltenen Sammelstücken, die er von seinen Reisen in aller Welt mitgebracht hatte. Aber Volker brauchte fast nichts. Nebst einem Bett, dem Tisch mit drei Stühlen und dem alten Schaukelstuhl fand sich nur noch eine Kleidertruhe und ein Küchengestell im Raum. Etwas weiter ab im Wald hatte Volker noch eine Latrine gebaut. Aber die benutzte er nur im Notfall. Ansonsten hatte er mit Tim vereinbart, dass er Dusche und WC im Bauernhaus benutzen dürfe.

Linda lebte bei mir, zumindest bis Ende November. Dann verliess sie uns wieder, denn der Papierkram für die Stiftung war fürs Erste erledigt. Ich merkte Linda an, dass sie einen Plan hatte. Aber ich bohrte nicht nach. Einerseits, weil ich nicht indiskret sein wollte, andrerseits aus Angst davor, dass sie mich verlassen und nicht mehr zurückkommen könnte.

Als Linda dann weg war und der Schnee kam, hatte ich wieder mehr Zeit für mich. Zwar war ich regelmässig auf dem Sonnenhof. So tauften wir Willhelms Hof, weil die Abendsonne immer so schön über das ganze Anwesen schien und alles in ein fahles, etwas schwermütiges Licht tauchte, bevor sie hinter den Baumwipfeln unterging. Auf dem Hof kochte ich und machte den Käse, dann, wenn die beiden Jungs wegen ihren Bauprojekten keine Zeit dazu fanden. Es tat uns allen gut, gemeinsam am Tisch etwas zu essen und miteinander zu plaudern, denn einen grossen Teil unserer Zeit waren wir doch allein. Volker in seiner Jurte, meist im alten Schaukelstuhl, mit einer Decke über den Knien. Tim im alten Wohnzimmer auf Willhelms alten Ruhebett, und ich in meinem Haus, meist auch auf dem Sofa.

Wir redeten wenig miteinander über unsere Zeiten des Alleinseins. Keiner hatte das Bedürfnis dazu. Aber trotzdem verband uns das – und jeder hatte vor dem andern grossen Respekt, weil jeder spürte, dass wir in unsere Zeit der Stille das Gleiche taten, aber eben jeder in eine eigene Richtung. Und wir wussten auch, dass der Austausch über unsere inneren Welten irgendwann mal kommen würde…

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Kurz vor Weihnachten kündigte sich Linda an und fragte, ob sie Weihnachten bei mir feiern dürfe. Ihr Brief strahlte Herzlichkeit aus und ich freute mich auf sie! Auch von meiner Mutter hatte ich eine Weihnachtskarte erhalten. Auch diese war freundlich formuliert. Aber sie strahlte nichts aus. Dafür enthielt sie die kritische Frage, wann ich mit meinem Einsiedlerleben endlich durch sein würde. Offensichtlich hatte sie meine Entscheidung noch immer nicht akzeptiert. Weihnachtsfest würde es in unserer Familie keines geben, da sie und mein Vater verreisen würden. Ich nahm mir vor, wenigstens Charly anzufragen, ob er Lust hätte, mich zu besuchen.

Als Linda ankam, hatte sie ein fröhliches Lachen auf dem Gesicht. Ich merkte ihr an, dass sie mehr als nur ein paar Mitbringsel für das Weihnachtsfest dabeihatte. Und es ehrte mich sehr, dass sie mich als erste in ihre Pläne einweihte.

Linda hatte vor, definitiv hierhin zu ziehen. Aber nicht zu mir in mein Haus. Sie hatte die Zeit genutzt, um Skizzen für ein Tiny House zu zeichnen und dieses bis ins Detail durchzuplanen. Sie wollte dieses unten im Steinbruch hinstellen, hinter dem Erdwall, der damals zum Weiher hin aufgeschüttet wurde, als man das Erdreich vom Felsen abgetragen hatte, damit man die Granitblöcke lossprengen und für die Verarbeitung abtransportieren konnte.

Ich hielt meine Frage bezüglich der Baubewilligung für berechtigt, darum stellte ich sie, wenn auch mit einem schlechten Gewissen. Denn ich wollte Lindas Plänen keineswegs im Wege stehen. Sie hatte auf diesen Einwand gewartet und erklärte mir, dass das Haus eine reine Holzkonstruktion sei, die aus zwei Teilen bestehen würde. Dem Wohnraum, der in etwa die Masse eines Zwanzigfuss-Containers hätte, und dem darauf montierten, abhebbaren Dach. Beide Teile könnten mit einem Kran angehoben und verladen werden. Wenn es also Schwierigkeiten mit den Behörden geben würde, dann könne sie ihr Kleinsthaus einfach wieder wegtransportieren. Aber sie wolle dieses Häuschen ja eben hinter dem Erdwall hinstellen, weil man es so kaum sehen würde. Und wenn man es unter die Föhre stellen würde, so wäre es auch aus der Luft kaum sichtbar.

Ich sah ein, dass sie an fast alles gedacht hatte. Trotzdem fragte ich noch nach, wie denn der Lastkraftwagen mit dem Kran bis zum Steinbruch fahren würde. Denn der Karrweg durch den Wald schien mir kaum fest genug, für ein so grosses Fahrzeug. Linda lachte und meinte, sie wolle ja bleiben, und nicht gleich wieder wegziehen. Aber ja, sie wisse, dass die Strasse zum Steinbruch seit dem Rückbau nicht mehr für Lkws geeignet sei. Aber notfalls würde man das Tiny House auch per Helikopter transportieren können. Daher ja die zwei Teile.

Ich merkte Linda an, dass sie sich ihrer Sache sicher war. Und als ich noch fragte, woher denn ihr Wasser käme, und wohin das Abwasser fliessen würde, meinte sie, dass sie gerne an meine Anlagen anschliessen würde. Da sagte ich nichts mehr, denn ich wusste selbst nicht, wohin mein Abwasser floss, und woher mein Wasser kam.

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Als Linda und ich am nächsten Tag Tim und Volker von dem Plan erzählten, waren diese hell begeistert. Sofort willigten sie ein, die Umsetzungspläne für das Tiny House zu zeichnen. Denn ihre Umbauarbeiten kamen mit dem Schnee ins Stocken. Zwar fällten sie bei gutem Wetter noch Fichten im Wald, um diese dann für weitere Bauprojekte aufsägen zu können. Aber damit waren sie beinahe durch. Sie hatten die Stämme mit Fanny, dem Pferd, aus dem Wald bis zum Waldrand gezogen und dort oben an einem kleinen Erdwall aufgestapelt. So konnten sie sie dann den Hang hinunter auf die mobile Säge rollen lassen, was ihnen den Kran ersparte. Natürlich ergab sich sofort die Frage, ob sie das Holz für Lindas Haus auch gleich schlagen und sägen sollen. Linda willigte gerne ein, auch wenn sie bezüglich der zu Fällenden Bäume Bedenken hatte. Wie ich auch, mochte sie es nicht, wenn man Bäume fällte, die noch viele Jahre zu leben gehabt hätten. Aber Tim erklärte, dass er den Wald mit dem zuständigen Förster sehr gut angeschaut habe. Es schien, als dass der Wald um den Sonnenhof herum überaltert war und darum Gefahr lief, sich von selbst zu erneuern. Es würde daher Sinn machen, gezielt alte Bäume zu fällen, so dass Licht in den Wald einfallen konnte. So würde sich der Wald dann von selbst erneuern.

Ich freute mich sehr, dass Tim sich so um Nachhaltigkeit bemühte. Und ich musste auch sagen, dass der Holzschlag der beiden Männer wirklich vorbildlich aussah, zumindest für mich als Laie. Denn abgesehen von der Motorsäge leisteten sie viel Handarbeit. Da sie die Stämme mit dem Pferd rückten, machten sie im Wald kaum Schaden. Und die Äste und alles Holz, was nicht für das Sägen geeignet war, schichteten sie so auf, dass sie Brennholz daraus machen konnten. Ich war mir sicher, dass man bereits nach kurzer Zeit kaum mehr etwas von den Holzfällerarbeiten im Wald sehen würden. Nur, dass junge Bäume nachwachsen und die entstandenen Lücken füllen würden. Und natürlich würden auch die Asthaufen zurückbleiben und für viele Kleintiere und Insekten Lebensraum bieten.

Aber ich erzähle hier nur von organisatorischen Angelegenheiten. Zuerst die Stiftung, dann die Bauarbeiten, aber nichts von dem, was mich beschäftigte! Aber vielleicht ist auch der Zeitpunkt dazu noch nicht der Richtige?

Um es schon mal vorwegzunehmen: Ich hatte Sams Tipp im Brief beherzigt, und mir die Disc aus seiner Musiksammlung von Rage angehört. Es hatte nur eine CD dieser Band. Definitiv nicht mein Geschmack! Aber da Sam mich darauf hingewiesen hatte, blieb ich stark und hörte das ganze Album durch.

Dass Sam solche Musik in seiner Sammlung hatte, erstaunte mich sehr. Aber als ich ihn zu seinen Lebzeiten mal gefragt hatte, warum er so spezielle Musik höre, erklärte er mir, dass die geistige Welt manchmal seltsame Kanäle suche, um sich mitzuteilen. Und Musik, die den Gesellschaftsnormen zuwiderlaufe, habe sich schon immer dazu geeignet, Gedankengut zu verbreiten, das von der kollektiven Gedankennorm geächtet wird. Manche Musiker seien Exzentriker, was ihr Denken und Empfinden anbelange – Künstler eben. Künstler haben einen anderen Zugang zur Realität. Dieser Zugang kann heilsam sein und inspirieren.

Ein einziges Lied hörte ich mir ein zweites Mal an, weil der Solopart mich von der Melodie her irgendwie faszinierte. Und beim zweiten Mal Hören kam ich nicht um den Songtext herum. Ich entnahm der CD-Hülle das Booklet und las den Text nach. Was ich nicht verstand, schlug ich auf dem Onlinewörterbuch meines Smartphones nach. Dann hörte ich mir das Lied noch ein drittes Mal an. Danach blieb ich sehr - sehr lange auf dem Sofa sitzen. Der Refrain hatte sich in meinen Geist eingebrannt und wollte diesen nicht mehr freigeben: «I’m talking to the dead…».

2 Das Herz des Heilers

"Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst du? Man muß nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich.

Strassenwischer in Michael Endes Momo

Ich erzählte niemandem von meiner Entdeckung.

---ENDE DER LESEPROBE---