TRAUM ZEIT PORTAL - Silvia Drach - E-Book

TRAUM ZEIT PORTAL E-Book

Silvia Drach

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Beschreibung

Es gibt für Bernhard nichts Schöneres, als im selbstgebauten Baumhaus zu sitzen, gemeinsam mit seinem Freund Lukas im nahegelegenen Fluss zu baden oder zu angeln. Das ändert sich schlagartig, als Karla, rothaarig, frech und mit einem nervigen Bruder gesegnet, die Beschaulichkeit der beiden zerstört. Angeblich ist sie eine Nachfahrin der Zauberin Ardene, Hüterin der Gerechtigkeit. Tatsächlich gelingt es den Kindern, mithilfe einer unscheinbaren Kaffeemühle, in die Zeit des Frankenburger Würfelspiels zu reisen. Was als tolles Abenteuer beginnt, entpuppt sich allerdings bald als Horrortrip. Auf die Kinder wartet nicht nur der grausame Graf Herberstorff, sondern auch Riehel, Ardenes erbitterter Gegner im Kampf um die Gerechtigkeit.

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Für Leon … in Liebe

Silvia Drach

TRAUM ZEITPORTAL

Im Schatten des Würfelspiels

© 2018 Silvia Drach

Autor: Silvia Drach

Umschlaggestaltung: Grace

Lektorat, Korrektorat: Stefanie & Yasmin

Verlag und Druck: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-7469-5868-2

Hardcover:

978-3-7469-5869-9

e-Book:

978-3-7469-5870-5

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Zögernd öffnete ich die Augen und blinzelte. Schräge Sonnenstrahlen fluteten durch das undichte Dachgebälk und tauchten die Gegenstände in meinem Blickfeld in Licht und Schatten. Die Stille war erdrückend. Mühsam drehte ich den Kopf zur Seite und sog gierig die staubige, von der Sonne aufgeheizte Luft ein. Alles um mich herum war mir vertraut, der Tisch mit den drei Beinen, die zwei wackligen Sessel, die ich von unserem Dachboden abgezweigt hatte, unser Vorratseck! Offensichtlich hatte ich ein gemütliches, erholsames Nickerchen in unserem Baumhaus abgehalten. Ich überlegte …, irgendetwas stimmte nicht! Plötzlich erinnerte ich mich daran, dass ich geträumt hatte, aber was? Und warum war Lukas nicht da? War er ohne mich angeln gegangen? Seltsam war außerdem, dass ich kerzengerade auf dem Boden lag wie eine Mumie. Ich setzte mich auf. Die Hitze war unerträglich und ich spürte, wie der Schweiß meine Schläfen entlanglief und auf den Boden tropfte. Als ich mir mit dem Handrücken über das Gesicht wischen wollte, bemerkte ich ein schwarzes Band, das um meine Hand gewickelt war. Verblüfft starrte ich darauf. Woher kam dieses Band? Lukas lauerte bestimmt in der Nähe und lachte sich schief, weil ich eingeschlafen war. Unvermutet spürte ich ein Ziehen an meiner rechten Hand, die das Band hielt. Seltsam, was war hier los? Ein leises Rascheln ließ mich aufspringen. Pluto, die Ringelnatter! Ich hasste Schlangen, doch sie störte sich nicht im Geringsten an meiner Abneigung und schaute ab und zu bei unseren Vorräten vorbei. Voller Abscheu stampfte ich laut auf, um sie zu verscheuchen. Da bemerkte ich, dass es nicht Pluto war, die dabei war, sich davon zu schlängeln, sondern das schwarze Band, das ich krampfhaft umklammerte. Sprachlos starrte ich auf das schlängelnde Etwas und urplötzlich brach die Erinnerung an das, was geschehen war, wie eine gigantische Welle über mich herein.

Ich bin elf Jahre alt und kenne keine Angst. Aber das, was ich erlebt habe, ist so unglaublich, dass ich den Verdacht habe, es war nur ein Traum. Ein Albtraum allerdings! Dabei hat alles ziemlich harmlos angefangen.

„Karla ist eine Verrückte“, erklärte Lukas, mein bester Freund, von Zeit zu Zeit und er musste es wissen, schließlich wohnte er Gartenzaun an Gartenzaun mit Karla.

„Die Köhlers sind komische Leute“, sagte er jedes Mal, wenn wir am Haus der Köhler`schen Familie vorbeikamen. Frau Köhler schaut aus wie eine Hexe und Karla hat genauso rotes Haar wie ihre Mutter.“ Er blinzelte mich wissend an.

Ich musste damals lachen, denn ich wusste, dass Lukas eifersüchtig war. Er mochte es nicht, wenn Karla und ich ohne ihn etwas unternahmen. Dabei hätte er mit seinem Meer von Sommersprossen und seinem rotblonden Haarschopf ebenfalls gut in diese Familie gepasst. Aber mir ist das Lachen inzwischen gründlich vergangen.

Karla

Es war im späten Frühjahr, als Karla an unserer Haustür auftauchte. Ihre rote Haarpracht stand wie üblich nach allen vier Himmelsrichtungen ab, als sie heftig hervorpresste: „Bernhard König, du musst etwas für mich tun, du bist der Einzige, der mir helfen kann.“

„Komm erst mal rein, was ist denn passiert?“, fragte ich und dabei war mir unbehaglich zumute. Jedes Mal, wenn Karla mich mit Vor- und Nachnamen anredete, herrschte sozusagen Alarmstufe rot. Etwas war geschehen, so viel war klar. Schließlich war es nicht das erste Mal, dass über Karlas Leben die fürchterlichsten Dinge hereinbrachen und ich helfen musste. So wie voriges Jahr, als Fred, der Familienkater der Köhlers auf den höchsten Baum im nahe gelegenen Fichtenwald geklettert war. Noch Tage danach schaute ich aus, als hätte ich mit einem Kaktus drei Runden im Ring gekämpft. Ich war damals mit meinem Fahrrad unterwegs, um Lukas zu besuchen, als Karla plötzlich vor mir stand und wild mit den Armen fuchtelte. Prompt war ich vom Rad gefallen und vor ihren Füßen gelandet. Es hatte sich in unserer Schule herumgesprochen, dass ich ausgesprochen gerne auf den höchsten Bäumen herumkletterte. Doch damals musste ich erkennen, dass es ein winzig kleiner Unterschied ist, ob man zum Spaß auf einen Baum klettert, oder ob man eine widerspenstige, total verängstigte Katze mit hinunterschleppt. Aber von da an war ich in Karlas Augen ein Held.

Das, was Karla für mich so interessant und außergewöhnlich machte, war ihre Spontaneität und Lebensfreude. Sie war all das, was ich nicht war. Sie ging auf jeden Menschen zu und hatte keine Hemmungen zu tun, was sie eben tun wollte. Mit ihr hatte ich erfahren, wie es war, anstatt zur Schule zu gehen, bei minus fünf Grad in der Vöckla, einem schmalen Fluss, der sich durch unser Tal zieht, zu baden. Anschließend lagen wir beide eine Woche lang mit Schnupfen und einer ausgewachsenen Grippe im Bett. Trotzdem hatte sich das Abenteuer gelohnt. Mein Ansehen in der Schule stieg ins Unermessliche. Na ja, nicht gerade bei den Lehrern, dafür umso mehr bei meinen Mitschülern.

„Du glaubst nicht, was passiert ist!“ Karla starrte mich an. Ich kannte diesen Blick. Er sagte, du kannst raten, bis du schwarz wirst, du errätst es sowieso nicht.

„Nun sag endlich, was los ist“, brummte ich.

„Meine Mutter hat ein Geheimnis!“ Karla stemmte beide Fäuste gegen ihr Kinn und schaute mich herausfordernd an.

„Was für ein Geheimnis?“, fragte ich skeptisch, schließlich hat jeder Mensch Geheimnisse, klein oder groß, je nach dem. Ich konnte ein Lied davon singen. Und ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Frau Köhler ein großes Geheimnis umgab. Schließlich sah ich sie stets in diesen unförmigen Kleidern und mit dicken, flauschigen Hausschuhen. Konnten sich dahinter Geheimnisse verbergen? Unvorstellbar!

Unvermittelt platzte Karla heraus: „Mama hat eine Schwester!“

Nun war ich geschockt. Ich hatte ja schon gehört, dass manche Menschen Geschwister hatten, aber die Mutter von Karla eine Schwester? Nie und nimmer.

„Und wo ist das Geheimnis?“, fragte ich und legte vorsichtshalber meine Stirn in Denkerfalten, überzeugt davon, erst die halbe Geschichte zu kennen.

„Verstehst du denn nicht?“, stöhnte sie auf, „Mama hat immer behauptet, keine Geschwister zu haben, und jetzt das!“

In der Tat, wir hatten ein Problem. Ich erfasste erst so nach und nach die Dimension.

„Okay“, sagte ich schließlich, „und woher kommt diese plötzliche Erkenntnis?“

Karla schüttelte den Kopf und schaute, wie ich meinte, etwas verlegen zu mir her. „Das erklär’ ich dir später“, stieß sie hervor. Dann sprang sie auf. „Du musst für mich Mamas Computer ausspionieren, du kannst das doch oder?“ Scheinheilig schaute sie mich von der Seite an. Schließlich weiß jeder in unserer Schule, dass ich unschlagbar bin. Zumindest bei Computern.

„Na ja“, ich zögerte, „ich weiß nicht, ob Frau Köhler damit einverstanden ist. Die meisten Menschen mögen es gar nicht gern, wenn man ihren Computer anzapft.“

Karla warf mir wieder einen ihrer Blicke zu. „Sie darf es natürlich niemals erfahren!“

„Natürlich nicht!“, murmelte ich matt. Da rollten Probleme auf mich zu, so groß wie Granitsteine, ich spürte es am ganzen Körper. Andererseits war Karla eine Freundin, auf die ich immer zählen konnte, feige nein zu sagen kam also nicht in Frage. Und ehe ich mich versah, steckte ich mitten drin in einem Abenteuer, das nicht nur mir die Haare zu Berge stehen ließ. Mein Freund Lukas und Karlas kleiner Bruder Berti gehörten ebenfalls zu den Glücklichen. Dann waren da noch Anna und Linda …

Wir verabredeten uns für Sonntag, wenn Herr und Frau Köhler den Gottesdienst besuchen wollten. Karla beschloss, Kopfschmerzen zu bekommen, damit wir ungestört unser schändliches Vorhaben in die Tat umsetzen konnten und ich wollte mir ebenfalls eine originelle Ausrede einfallen lassen.

Am Sonntag wachte ich mit Magenschmerzen auf. Mama merkte beim Frühstück sofort, dass ich unpässlich war und schickte mich mit einer Tasse Kamillentee wieder ins Bett. Das erste Problem war gelöst. Kaum hörte ich die Haustür zuschlagen, sprang ich aus dem Bett und zog mich an. Ich spornte mein Fahrrad zur Höchstleistung an, denn immerhin brauchte ich zehn Minuten bis zu Karlas Elternhaus. Ich läutete und starrte auf Berti, der schwungvoll die Tür aufriss.

„Komm rein, Karla wartet schon, was habt ihr vor, wieso sagt mir nie einer was?“

„Wieso bist du daheim?“, beantwortete ich seine Frage mit einer pfeilschnellen Gegenfrage, in der Hoffnung, ihn von der Fährte, die er gewittert hatte, abzulenken.

Er grinste mich an. „Bauchweh“, sagte er und zeigte auf die entsprechende Stelle.

Originell, dachte ich. Er klebte mir auf den Fersen, als ich mich auf die Suche nach Karla machte. Jetzt hatten wir ein Problem. Berti war der kleine Bruder von Karla und er war neugierig, ätzend anhänglich und sechs Jahre alt. Außerdem konnte er kein Geheimnis für sich behalten. Das neuerliche Läuten an der Tür ließ uns beide zusammenzucken. Berti blieb zögernd stehen, drehte sich dann aber um und rannte zur Haustür zurück.

Die Stimme kannte ich. Sie gehörte meinem Freund Lukas, der nebenan wohnte. Gleich darauf standen beide erwartungsvoll vor mir, überzeugt davon, bestens gehütete Geheimnisse zu erfahren.

„Ich hab dich ins Haus schleichen sehen.“ Gekränkt schaute er mich an. Er hatte einen dicken Schal um seinen Hals gewickelt.

„Bist du krank?“, fragte ich ausweichend.

„Eine Erkältung“, sagte er und nieste. „Was machst du hier um diese Zeit?“

Nun hatten wir ein zweites Problem. Auf keinen Fall wollte ich meinen Freund anlügen, andererseits durfte Berti nicht wissen, was wir vorhatten.

„Äh … ja also“, stotterte ich.

Da schoss Karla ums Eck, blieb verdutzt stehen und schaute uns belustigt an. „Eine Versammlung“, rief sie aus, „wie spannend.“ Sie blickte kurz in die Runde und schien zu überlegen. „Na gut“, sagte sie schließlich, „was soll’s, wenn ihr versprecht, kein Wort zu verraten, könnt ihr dableiben.“

„Du spinnst wohl“, schrie Berti aufgebracht, „ich wohne hier und ich kann tun und lassen, was ich will!“ Kampflustig schaute er seiner Schwester ins Gesicht, die Fäuste in die Hüften gestemmt. „Soll ich vielleicht wegen dir äh … auswandern?“

„Keine schlechte Idee“, murmelte Karla und verdrehte genervt die Augen. Dann atmete sie tief durch und schaute uns der Reihe nach beschwörend an. „Mama hat eine Schwester!“, ließ sie die Bombe platzen. Es war mucksmäuschenstill, denn jedermann außer mir wartete auf die große Enthüllung. Da keiner ein Wort sagte, wiederholte sie zu Berti gewandt. „Mama hat eine Schwester, obwohl sie immer behauptet, ein Einzelkind zu sein.“

Noch immer sagte keiner ein Wort, zu groß war die Enttäuschung darüber, welches Geheimnis hier enthüllt wurde. Einzig Berti konnte sich aufraffen zu fragen: „Du Karla, äh …was ist denn ein Einzelkind?“

„Schau im Lexikon nach!“, fauchte Karla ihren Bruder an. Berti rührte sich aber nicht vom Fleck. Erstens wusste er garantiert nicht, wo oder was ein Lexikon war, zweitens wollte er sich bestimmt nicht entgehen lassen, was wir vorhatten. „Wir können nur herausfinden, was los ist, wenn wir an Mamas Computer gehen“, erklärte sie.

„Oh, oh“, meldete sich Berti mit erhobenem Zeigefinger, „höchste Verbotszone hat Mama gesagt!“

„Kommt endlich“, Karla wedelte ungeduldig mit der Hand und schaute auf die Uhr, „wir haben nicht mehr viel Zeit.“

Und so schlichen wir mit schlechtem Gewissen in Frau Köhlers Nähzimmer. Hinter aufgetürmten Sockenbergen, Bügelwäsche und Nähzeug lugte der Computer hervor. Behutsam räumten wir die Sachen beiseite, um sie nachher wieder in genau demselben Durcheinander aufschichten zu können. Berti wurde die Verantwortung für diese schwierige Aufgabe übertragen.

Ich näherte mich langsam dem Corpus Delicti, schließlich wollte ich mir erst einen Überblick verschaffen. Aber an Frau Köhlers Computer war nichts Ungewöhnliches, außer der Tatsache, dass er zur Ablage einzelner Socken, die offensichtlich auf die Ankunft ihres zweiten Ich warteten, benutzt wurde. Berti musste sich genau merken, welche Socken in welcher Reihenfolge er später wieder auf dem Computer zu deponieren hatte.

„Passwort“, flüsterte ich und schaute Karla fragend an.

„Scheiße“, erwiderte sie wenig damenhaft.

Da hatten wir das nächste Problem, denn ohne Passwort, das sah ich auf den ersten Blick, konnte ich den Computer nicht öffnen. Daraufhin wurden Passwörter wie Konfetti in Frau Köhlers Nähzimmer geworfen.

Ich hörte eine Weile zu, dann sagte ich zur großen Enttäuschung aller: „Wir haben drei Versuche, mehr nicht.“

Karla, die auffallend ruhig und nachdenklich dastand und an ihren Nägeln kaute, flüsterte mir ins Ohr: „Versuch’s mit Anna.“ Gehorsam tippte ich die Buchstaben in den Computer. Nichts!

„Noch zwei Versuche“, sagte ich, „dann ist es vorbei.“

„Beatrice“, sagte Karla und starrte mit den anderen gebannt auf den Computer, als ich gehorsam und mit einigen Schwierigkeiten diesen ungewöhnlichen Namen eintippte. Da erwachte der Bildschirm plötzlich zum Leben.

„Das wäre geschafft“, sagte ich und drehte mich zu Karla um, „und was jetzt?“

Sie zuckte mit den Schultern und warf mir einen ratlosen Blick zu.

Ich seufzte und fing an, Frau Köhlers Dateien zu durchforsten, und tatsächlich tauchte der Name Beatrice noch einmal auf.

„Da“, stieß Karla hervor und wedelte mit der Hand vor meinem Gesicht herum. „Druck die Seiten über Beatrice aus!“, flüsterte sie und ich druckte. Fünf Seiten lagen gleich darauf vor mir. Ich übergab Karla den dünnen Stapel und schaltete den Computer wieder aus.

„Kein Wort zu irgendjemandem!“ Karla schaute uns der Reihe nach beschwörend an. „Für dich gilt das ganz besonders, Engelbert.“

„Ehrensache“, grinste Berti und hob mit feierlicher Miene zwei Finger seiner rechten Hand.

Die Familie Köhler war in der Tat eine ungewöhnliche Familie. Karlas und Bertis Vater, Berthold Köhler, war ein herzensguter Mensch. Nie habe ich ihn mit Karla oder Berti schimpfen gehört. Ruhig und bedächtig strich er über seinen kurz gestutzten Bart, wenn man ihn etwas fragte. Er hörte zu, überlegte einige Zeit, dann erst antwortete er. Karla konnte mit ihrem Vater wenig anfangen. Meistens stürmte sie bereits davon, bevor ihr Vater geantwortet hatte. „Nicht so wichtig“, rief sie dann und weg war sie. Herr Köhler malte wundervolle Bilder. Ich dachte zuerst, das sei sein Hobby, aber Karla sagte einmal, ihr Vater habe keinen anderen Beruf, er sei nur Maler. Und was für ein Maler! Seine Bilder waren genau so riesig wie er selber. Nie vorher habe ich einen so großen Mann gesehen. Er schaute aus wie Rübezahl. In der großen Vorhalle des Köhler`schen Hauses hingen seine Gemälde, die er noch nicht verkauft hatte. Wie riesengroße Farbkleckse bedeckten sie sämtliche Wände. Und nicht auf einem einzigen konnte man erkennen, was es darstellen sollte.

„Abstrakte Malerei nennt man das“, sagte Karla einmal. Sein Atelier im ersten Stock war für Karla und Berti tabu, dennoch hatten wir in einer stillen Stunde, als Herr und Frau Köhler nicht zu Hause waren, einen Blick ins Heiligtum geworfen. Staffeleien so groß wie bei uns zu Hause die Rückwand unserer Küche standen herum. Riesige Farbtöpfe stapelten sich in allen möglichen Ecken und Pinsel in sämtlichen Größen und Farben lagen herum, als hätte Herr Köhler sie in einer künstlerischen Pause einfach hinter sich geworfen. Flaschen mit übelriechenden Flüssigkeiten standen auf einem überdimensionalen Regal. Wir hatten jede einzelne geöffnet und daran geschnuppert. Ekelhaft. Darüber in der Dachschräge spannte sich ein Fenster von einer Ecke des Raumes zur anderen. Der Raum war so hell, dass man geblendet die Augen schließen musste, wenn die Sonne direkt hereinstrahlte.

„Papa braucht viel Licht, damit er malen kann“, erklärte Karla. „Willst du ein ganz besonderes Bild sehen?“

Ich nickte zögernd, schließlich kannte ich die Bilder, die unten in der großen Eingangshalle hingen.

„Komm mit“, sagte sie, „du wirst staunen.“ Karla rannte vor mir her die Treppe hinunter und platzte in das Zimmer von Berti, ohne anzuklopfen.

„Wo ist dein Bruder?“ Ich schaute mich um, konnte ihn aber nirgends entdecken.

Karla zuckte ungeduldig die Schultern. „Keine Ahnung“, sagte sie, „sei froh, dass du keine Geschwister hast. Berti ist die reinste Nervensäge.“

Ich musste grinsen, denn Berti sagte genau dasselbe von seiner Schwester. Karla ging zielstrebig auf ein großes rechteckiges Bild zu. „Stell dir vor, Papa hat es auf dem Dachboden gefunden.“ Ich stellte mich vor das Bild und betrachtete es. Sieht aus wie alle anderen, dachte ich, was ist so Besonderes daran? Doch plötzlich glaubte ich in dem Durcheinander von verschwommenen Farben und Pinselstrichen die Umrisse eines Gesichtes zu erkennen. Ich schaute genauer hin und bemerkte zwei Augen, die mich anstarrten. Erschrocken wich ich zurück.

„Was für ein Bild ist das?“, fragte ich Karla mit trockenem Mund.

„Papa sagt, nur wenige Auserwählte können erkennen, was es darstellt. Also, ich sehe nur ein großes Durcheinander, was siehst du?“

Ich zwang mich, noch einmal einen Blick auf das Bild zu werfen, und suchte blinzelnd die starrenden Augen. Nichts! Hatte ich mich getäuscht? Die Sonne kam hinter den Wolken hervor und tauchte das Zimmer urplötzlich in blendendes Licht. Die Konturen verschwammen und ich wandte mich hastig um.

„Ich sehe auch nichts“, murmelte ich und schluckte unwillkürlich. Dann schaute ich mich in Bertis Zimmer um. Hier herrschte ein derartiges Durcheinander, dass ich an mein eigenes Zimmer zu Hause denken musste und daran, wie oft meine Mutter meinen Mangel an Ordnung beklagte. Hier sah es aus, als hätte die Müllabfuhr die Deponie nicht gefunden und den ganzen Mist in Bertis Zimmer abgeladen. Was meine Mutter wohl zu diesem Chaos hier gesagt hätte?

Karlas Elternhaus war ein riesiges quadratisches Gebäude mit einem wunderbaren Innenhof, in dem Karlas Mutter herumtänzelte. Anders konnte man es nicht nennen. Ich habe Frau Köhler niemals wie einen normalen Menschen, wie meine Mutter zum Beispiel, gehen sehen. Stets sah es so aus, als wollte sie wie eine Balletttänzerin davon schweben. Und das mit ihren flauschigen Hausschuhen. Ich brauchte einige Zeit, um mich an diesen Anblick zu gewöhnen, ohne gleich meinen entsetzlichen Lachkrampf zu bekommen, der mich immer dann plagte, wenn es am peinlichsten für mich war. Auch ihre Kleidung fand ich außergewöhnlich. Sie trug immer gleich mehrere Schichten übereinander. Seidige, flatternde, unförmige Kleider und jede Menge Schals, die hinter ihr herschwebten. Karla hatte ihr rotes Haar von ihrer Mutter geerbt. Nie vorher habe ich solch eine Fülle von roten Haaren gesehen. Sie war eine kleine, zierliche Frau mit der Stimme einer Löwin. Wenn sie nach Karla oder Berti rief, hörte man sie noch im entferntesten Winkel des riesigen Hauses.

„Eine außergewöhnliche Dame“, sagte meine Mutter, als ich sie einmal danach fragte. Damit war für sie dieses Thema abgeschlossen. Meine Mutter mochte es nicht, wenn über andere Leute getratscht wurde.

Mama und ich lebten in einem kleinen Häuschen, das, von wildem Wein umrankt, zwei Kilometer von Karlas Elternhaus entfernt stand. Sie sorgte alleine für uns, da mein Vater vor meiner Geburt eines Abends aus dem Haus gegangen und nie wieder zurückgekommen war. Mama weinte manchmal, sie konnte nicht verstehen, warum er das getan hatte. Auch heute noch, nach so vielen Jahren, sprach sie manchmal von ihm, als wäre er nur kurz einkaufen gegangen und käme gleich zurück. Meine Mutter war überzeugt davon, dass etwas Furchtbares passiert war. Nie hätte er uns freiwillig alleingelassen, sagte sie manchmal. „Die Polizei war bei uns“, sagte Mama, aber keine Spur von meinem Vater. Die Leute tratschten viel damals und für meine Mutter war es eine schwierige Zeit. Ich wusste, dass die Ungewissheit für sie am schlimmsten war. Jedes Mal, wenn es an der Haustür läutete, bemerkte ich einen Hoffnungsschimmer in ihren Augen und jedes Mal war es eine Enttäuschung. Ich war wütend auf meinen Vater, denn ich war überzeugt, er machte sich irgendwo im Süden ein schönes Leben und ließ sich die Sonne auf den Bauch scheinen. Mama sagte manchmal, dass ich meinem Vater ähnlich schaute. Das machte mich noch wütender, denn er hatte mir braunes, widerspenstiges Haar vererbt, das sich kaum bändigen ließ, außerdem war ich zu klein und zu dünn für mein Alter, wie der Schularzt jedes Jahr aufs Neue feststellte. Andererseits hatte das aber auch Vorteile, denn ich war wendig und sportlich gut drauf, und das versöhnte mich wieder etwas mit meinem verschollenen Vater.

Das Haus der Köhler`schen Familie hatte sicherlich einige hundert Jahre auf dem Buckel. Ich war immer wieder fasziniert, wenn ich es betrachtete. Meiner Meinung nach hatte es Ähnlichkeit mit dem Schloss Schönbrunn in Wien, im Kleinformat. Imposant und geheimnisvoll.

Umgeben von Fichtenwäldern lag das Anwesen in der Nähe der Vöckla, und die wiederum schlängelte sich gemütlich dahinfließend durch unser Tal. Obwohl im oberen Stockwerk einige Zimmer abgeschlossen waren, blieb für uns eine stattliche Zahl von Zimmern übrig, die wir für alle möglichen verrückten Spiele gebrauchen konnten. Räuber und Gendarm spielten wir am liebsten. Üblicherweise kann es nur im Freien gespielt werden, da man viel Platz braucht, um sich zu verstecken. Eine Gruppe sind die Gendarmen, die andere Gruppe die Räuber, die sich in alle Winde verstreuen und von den Gendarmen mühsam eingefangen werden müssen. Aber in Karlas Elternhaus gab es derart viele Zimmer, dass wir oft drinnen Versteck spielten. Natürlich benötigten wir dazu eine Menge Mitspieler, das war aber kein Problem. Wenn Karla nach der Schule in den Pausenhof schrie: „Wer kommt heute zu mir?“, konnte sie sicher sein, dass mindestens fünfzehn bis zwanzig Freunde eintrudelten.

Zwei Wochen nach unserem Ausflug in Frau Köhlers Computer fing die Sache an, interessant zu werden. Lukas und ich besuchten die erste Klasse der Hauptschule in Neukirchen an der Vöckla. Wir hätten mit dem Schulbus fahren können, aber mit unseren Fahrrädern waren wir unabhängig. Und so konnten wir nach der Schule noch allerlei wichtige Sachen erledigen. Zu unserem Baumhaus fahren zum Beispiel und mit unseren selbst gebastelten Angeln ein paar Fische aus der Vöckla holen. Das war natürlich streng verboten! Abgesehen davon ließen sich die Fische von uns Anfängern sowieso nicht fangen. Aber ab und zu sahen wir einen um unsere Angel herumschwimmen, als wollte er sagen, Freunde für euch gibt es heute keinen Fisch zu essen. Ich hätte auch nicht gewusst, wie man so ein wundervoll glänzendes, schuppiges, schlüpfriges Fischlein vom Haken der Angel in unseren Baumhauskochtopf befördern sollte. Trotzdem war Angeln toll, denn dabei besprachen wir allerlei wichtige Dinge.

An diesem Tag verstauten Lukas und ich eben unsere Rucksäcke auf unseren Fahrrädern, als Karla auf uns zustürzte.

„Ich hab euch schon gesucht“, keuchte sie, „wir müssen uns treffen.“ Dabei zeigte sie siegessicher mit dem Daumen nach oben. „Ich habe eine sensationelle Entdeckung gemacht!“

„Hat deine Mutter noch eine Schwester?“, fragte Lukas und blinzelte mir heimlich zu. Ich musste grinsen.

„Idiot!“, stellte Karla fest und kniff Lukas unsanft in den Arm.

„Bist du verrückt?“, schrie er. „Man wird ja wohl noch fragen dürfen.“

Wir verabredeten uns schließlich um fünf Uhr nachmittags bei ihr. Lukas hatte Einwände und wollte lieber zu unserem üblichen Treffpunkt an der Vöckla gehen. Dort hatten Lukas und ich uns im dichten Ufergebüsch ein Baumhaus zusammengezimmert. Ein Baumhaus auf der ebenen Erde. Doch so versteckt, dass niemand, der daran vorbeiging, auf den Gedanken gekommen wäre, hier könnte eine kleine Wohnstatt verborgen sein. Liebevoll hatten wir unser Heim eingerichtet. Bei uns zu Hause lagen eine Menge Sachen herum, die meiner Meinung nach keiner mehr gebrauchen konnte. Unser Holzschuppen stellte sich als wahre Fundgrube heraus. Da gab es alte Teppiche, wackelige Sessel, einen Tisch mit drei Beinen und vieles mehr. In mühseliger Handarbeit hatten wir dem Dreibein in den letzten Ferien ein viertes Bein gebastelt. Seitdem stand er da und hatte schon einiges gehört und gesehen, was nicht für jedermanns Ohren und Augen bestimmt war. Aber er war verschwiegen, belastbar und stammte noch von meinem Vater. Er hatte ihn aus rohen Holzbrettern zusammengezimmert, damit meine Mutter ihre Blumentöpfe darauf abstellen konnte. Doch das war lange her. Vor zwei Jahren schleppte meine Mutter den Tisch in den Holzschuppen und verstaute ihn im hintersten Eck. Ich wusste, sie war traurig, und jedes Mal, wenn sie den Tisch ansah, wurde sie an meinen Vater erinnert und sie hatte Tränen in den Augen.

Bis jetzt hatte sich meine Mutter über die Abwesenheit des Tisches, diverser Möbel und allerhand sonstigem Krimskrams nicht beschwert. Über solche Kleinigkeiten sah sie großzügig hinweg.

Lukas mochte Karlas Elternhaus nicht besonders. Dieses riesige verwinkelte Haus war ihm unheimlich. Aber Karla wollte davon nichts wissen.

„Ihr müsst zu mir kommen“, flüsterte sie. „Ich habe etwas entdeckt! Auf dem Dachboden!“

„Einverstanden“, sagte ich und schaute Lukas fragend an. Er seufzte ergeben und nickte.

„Na dann bis später“, rief Karla uns zu und hetzte gleich darauf zum Schulbus.

„Und was machen wir, wenn sie noch mehr Verwandtschaft ausgegraben hat? Ich mag meine eigenen Verwandten nicht besonders und dann erst die Verwandtschaft anderer Leute.“ Lukas schüttelte sich.

„Du hast recht“, stimmte ich ihm zu. „Sollte Karla eine zweite Tante aus dem Ärmel schütteln, dann … dann haben wir heute am Abend Fußballtraining.“

„Einverstanden“, grinste Lukas und zwinkerte mir zu, „so machen wir’s.“

Pünktlich zur verabredeten Zeit standen wir vor der Köhler`schen Haustür. Berti riss mit derartigem Schwung die Tür auf, dass sie ihm aus der Hand rutschte und krachend gegen die Wand donnerte.

„Sollte jemand ein Nickerchen gemacht haben, ist er spätestens jetzt wach“, sagte Lukas und klopfte Berti auf die Schulter. „Gut gemacht, alter Junge.“ Berti fasste den Kommentar als Lob auf und errötete freudig.

„Leider“, sagte er wichtigtuerisch, „sind Mama und Papa gar nicht da, aber Karla kramt auf dem Dachboden herum.“

„Na dann los“, fauchte ich ihn an, „deshalb sind wir ja gekommen.“

Beleidigt drehte Berti sich um und marschierte die breite Treppe hinauf. Als wir im zweiten Stock angelangt waren, schnauften Lukas und ich wie zwei Asthmatiker. Berti schien das nichts auszumachen, denn er redete ununterbrochen. Als wir endlich die enge, steile Stiege zum Dachboden erreichten, bedeutete er uns, leise zu sein. Seine Schritte wurden immer langsamer, bis er überhaupt stehen blieb.

„Was ist los?“, fragte ich ungeduldig, „warum gehst du nicht weiter?“

„Äh …“, unsicher schaute er uns an. „Mama sagt, da oben haust ein Gespenst und wir dürfen da nicht hinaufgehen!“ Lukas räusperte sich. Er mochte nicht nur keine Verwandten, er mochte auch keine Gruselgeschichten und logischerweise auch keine Gespenster.

„Unsinn, Gespenster gibt es nicht“, sagte ich laut. Ich schob Berti zur Seite und ging voran. Lukas und Berti schlichen hinter mir die verwinkelte Stiege hinauf. Plötzlich hörten wir ein Rumoren, als ob jemand etwas wegrücken wollte. Da wurde es auch mir etwas mulmig zumute, bis mir einfiel, dass ja Karla da oben herumkramte.

„Karla“, rief ich entschlossen.

„Kommt endlich rauf!“, rief sie. Als Berti die Stimme seiner Schwester hörte, kehrte sein Mut zurück und er drängte sich mit spitzen Ellbogen an mir vorbei. An einer weit geöffneten Holztür blieb er abrupt stehen.

„Wir sind da“, erklärte er überflüssigerweise, da Karla bereits zu sehen war. Sie kniete neben einer riesigen Truhe, der Deckel war geöffnet. Ich sah Karla nur verschwommen. Riesige Spinnennetze hingen von der Holzdecke herab und schaukelten wie von unsichtbaren Fäden gehalten hin und her. Lukas zuckte zurück. Er mochte keine Verwandten, keine Gruselgeschichten, keine Gespenster und … keine Spinnen.

„Ekelhaft“, stöhnte er.

Da entdeckte ich neben der Tür einen ausgefransten uralten Besen. „Besser als nichts“, sagte ich und machte mich an die Arbeit. Langsam kamen wir in Karlas Nähe. Sie war über und über mit Spinnweben eingedeckt, aber das störte sie nicht. Karla war eben Karla.

„Kommt endlich her und sehr euch das an!“ Sie winkte ungeduldig.

Ich stellte den Besen weg, der eine Menge Staub aufgewirbelt hatte und musste erst einmal niesen. Dann begutachtete ich die Truhe und deren geheimnisvollen Inhalt. Neben einer ganzen Reihe von Büchern lagen verschiedene Sachen darin verstreut, die es wohl auf jedem Dachboden gab. Nichts Ungewöhnliches oder gar Sensationelles, wie Karla uns versprochen hatte. Ein Buch mit rotem Einband lag aufgeschlagen neben Karla. Ich hob es auf und betrachtete den Umschlag. So ein Buch hatte ich noch nie gesehen. Jemand hatte mit roter Tinte „Traumtagebuch“ in die linke obere Ecke gekritzelt. Dann waren da verschlungene Linien, die sich veränderten, je nachdem, wie man das Buch drehte und wendete. „Eigenartig“, murmelte ich, „was bedeutet das?“

„Zeig’ mal her“, sagte Berti und riss mir das Buch aus der Hand. Er drehte und wendete das Buch ebenfalls, stellte es auf den Kopf und wieder zurück. Mit einem entsetzten Schrei ließ er es plötzlich fallen.

„Was schreist du hier so herum?“, fuhr Karla ihren Bruder an und schaute ihm ins käsige Gesicht.

„Jemand hat mich angeschaut“, keuchte er mit weit aufgerissenen Augen. „Da war ein Gesicht auf dem Buch und hat mich angeschaut.“

„So ein Schwachsinn“, meinte Karla, „das kommt davon, wenn man den ganzen Tag vor der Glotze hockt.“ Sie nahm das Buch in die Hand und betrachtete es genau. „Ich sehe kein Gesicht, nur Linien, die sich überschneiden. Los, geh runter, wenn du Angst hast.“ Achtlos warf sie das Buch auf den Boden.

Berti rührte sich nicht. Noch immer war er blass. „Nein, ich mag bei euch bleiben“, presste er hervor.

Lukas hob das Buch auf und ließ sich in einen alten Couchsessel fallen. Das konnte dauern. Ich stöberte noch eine Weile in der Truhe herum und brachte alte Hüte, ausrangierte Kleidung und ein großes Gurkenglas mit Schraubverschluss zum Vorschein. Ich war ständig auf der Suche nach Dosen mit Deckeln oder Gläsern mit Schraubverschlüssen, um unsere Vorräte im Baumhaus vor Pluto zu schützen. Das Gurkenglas war zur Hälfte mit einer hellen Flüssigkeit gefüllt und ich schraubte es auf und roch daran. Der Geruch erinnerte mich irgendwie an längst vergangene Zeiten.

„Kann ich das Glas mitnehmen? Das könnten wir im Baumhaus gut gebrauchen.“ Fragend zog ich die Augenbrauen hoch.

„Klar“, sagte Karla und nickte, „kein Problem.“ „Kommt mal her“, Lukas hatte sich abrupt aufgesetzt. „Was gibt es?“, fragten Karla und ich gleichzeitig und gruppierten uns um den Couchsessel.

„Also, das ist seltsam“, sagte Lukas, „alles in diesem Buch ist mit der Hand und mit roter Tinte geschrieben, seht euch das an.“ Er blätterte im Buch und zeigte uns verschiedene Seiten.

„Verschiedene Handschriften, aber immer rote Tinte“, er starrte Karla fragend an, „was bedeutet das?“

„Keine Ahnung, was steht denn drin?“, antwortete Karla ausweichend.

„Komische Sachen von Leuten, die verreisen oder so.“ Er hielt Karla das Buch hin. „Kann ich es mitnehmen und zu Hause lesen?“

„Klar“, sagte Karla. Nachdenklich kaute sie an ihren Nägeln.

Lukas war eine Leseratte. Wie oft hatte ich versucht, ihm klarzumachen, Lesen sei Zeitverschwendung. Aber in dieser Sache ließ er sich von mir nichts dreinreden. Obwohl er sich ansonsten von mir zu allerlei abenteuerlichen Unternehmungen überreden ließ. Aber seine Bücher waren seine Freunde. Nichts machte ihn glücklicher, als zum Geburtstag oder zu Weihnachten ein Buch geschenkt zu bekommen.

Bei mir war das ganz anders. Wenn ich von meiner Mutter ein Buch geschenkt bekam, wusste ich, ich hatte wieder etwas angestellt, und mein Geschenk war die Strafe. Und das Schlimmste dabei war, ich musste das Buch auch noch lesen. Das heißt, ich kam um eine Fragestunde mit meiner Mutter nicht herum. Wenn sie glaubte, ich hätte genug Zeit gehabt, mir das Buch vorzunehmen, stellte sie mir Fragen über den Inhalt. Wenn ich mich über ihr mangelndes Vertrauen beschwerte, gebrauchte sie immer diesen blöden Spruch: „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“

So war es auch letztes Jahr zu Weihnachten. Unter dem Weihnachtsbaum lag unter anderem ein Buch. Meine wohlverdienten Winterferien waren ruiniert. Dabei hatte ich gar nichts angestellt. Aber Frau Holbein, meine Geschichtslehrerin hatte meine Mutter angerufen. Die Unterschrift auf dem letzten Test hatte ihr nicht gefallen. (Dabei hatte ich lange geübt.) Geschichte war mein bestes Fach, aber diesen letzten Test vor den Winterferien hatte ich verhaut. Meine Mutter sagte nicht viel, sie schimpfte auch nicht. Aber ich ahnte, was das bedeutete, und ich irrte mich leider nicht. Wieder war ich dazu verdonnert, mir ein Stück österreichische Geschichte einzuverleiben. Das Leben der Habsburger. Es blieb mir nichts anderes übrig, als jeden Abend darin zu lesen. Als dann plötzlich ein zweites Buch auf meinem Nachttisch lag, war ich wirklich sauer. Es war ein Buch über diesen „Grafen Herberstorff“, der im siebzehnten Jahrhundert in unserer Gegend gelebt hatte und den die Menschen damals hassten und noch mehr fürchteten. Mühsam las ich auch dieses Buch und wartete darauf, dass meine Mutter mich darüber ausfragen würde. Aber seltsamerweise sprach sie nie darüber und so steckte ich es nach einiger Zeit in die hinterste Ecke meines Zimmers.

Und so gewöhnte sie mir so nebenbei allerlei Streiche ab. Abgesehen von diesem letzten Ausrutscher war ich in der Schule in Geschichte der King. Ich kannte mich, dank meiner Mutter, in österreichischer Geschichte bestens aus. Ich konnte meine Lehrerin Frau Holbein immer wieder in Erstaunen versetzen, wenn ich über längst vergangene Jahrhunderte Bescheid wusste. Meine Mutter liebte Geschichten über vergangene Zeiten über alles und kam gar nicht auf den Gedanken, dass ich diese Liebe nicht mit ihr teilte. Aber nun hatte ich bereits acht oder neun Bücher und ich war der Meinung, dass das allmählich reichte.

Lukas räusperte sich. „Karla“, möchtest du uns jetzt nicht endlich die sensationelle Entdeckung zeigen, von der du im Schulhof gesprochen hast?“

„Die Truhe“, zischte Karla, „ist ja wohl geheimnisvoll genug.“

Lukas sprang plötzlich auf. „Mensch, Bernhard“, rief er und schlug sich an die Stirn, „in einer Stunde haben wir Fußballtraining.“

Prompt ließ ich das Leinensäckchen fallen, in dem ein paar orangerote Bohnen schimmerten und das ich gerade aus der Truhe gefischt hatte. „Alles klar“, rief ich erleichtert, „das hätte ich jetzt fast vergessen, wir müssen los“.

Wir standen bereits an der wurmstichigen Holztür, als Karla uns aufforderte, dazubleiben. „Da ist noch etwas“, murmelte sie zögernd.

„Was ist denn noch?“, rief Lukas ungeduldig. Er hatte eindeutig genug vom Dachboden der Köhlers.

Karla schaute irgendwie verzweifelt aus, ratlos.

„Nun sag schon!“, munterte ich sie auf.

Karla räusperte sich. „Also … nun ja, … ich … äh … glaube, in der Familie meiner Mutter gibt es übersinnliche Kräfte. Ich weiß nicht genau, wie es funktioniert, aber anscheinend kann meine Mutter zaubern oder so …!“ Jetzt war es heraus. Karla schaute uns unsicher an.

„So ein Unsinn“, rief Lukas entrüstet aus, „wie kommst du nur auf so eine haarsträubende Geschichte?“

„Wir waren doch am Computer meiner Mutter“, sagte Karla. „Ich habe mir die Seiten genau angeschaut und bin mir nun sicher, dass Mama eine Schwester hat.“ Sie warf Berti einen eigenartigen Blick zu. „Es steht zwar nichts Genaues, aber … aber Mama hat übersinnliche Kräfte. Die Seiten, die wir ausgedruckt haben, also … auf der letzten Seite stand eine Nummer. Zuerst wusste ich nicht, was die Zahlen zu bedeuten haben. Aber dann kam ich darauf, dass es eine Telefonnummer sein könnte. Ich habe die Zahlen in mein Handy getippt … und es hat tatsächlich geläutet.“ „Und weiter?“, fragte ich ungeduldig, „was passierte dann?“

„Es meldete sich eine Frau. Sie meldete sich mit dem Namen Beatrice … Beatrice Mangold!“

„Aber das ist doch der Name … derselbe Name, mit dem Bernhard den Computer gestartet hat“, sagte Lukas und schüttelte verwundert den Kopf. „Kennst du diese Frau?“ Karla schüttelte den Kopf und starrte ihren Bruder an. Aber Berti sagte nichts und das kam mir sehr ungewöhnlich vor, verkündete er doch sonst immer ungefragt seine Meinung. Er war noch immer blass und starrte ängstlich auf das Buch in Lukas’ Hand.

„Woher hast du gewusst, dass Beatrice das Passwort ist?“, fragte ich.

„Das ist ja das Komische an der Sache, äh … ich habe von diesem Namen geträumt, ein paar Tage bevor wir Mamas Computer durchsucht haben.“

Nun meldete sich Berti zu Wort. Anscheinend hatte er den Schreck überwunden. „Ich träume auch jede Nacht“, verkündete er stolz, „da ist doch nichts dabei, das kann doch jeder.“ Niemand hörte auf Bertis Einwand, jeder war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.

„Und was hat die Frau gesagt?“, fragte ich schließlich. „Ich glaube, ich habe ziemlich gestottert, dann sagte ich, dass ich mich wahrscheinlich verwählt hätte. Aber sie fragte mich noch ganz freundlich, ob ich vielleicht mit ihrer Tochter Anna sprechen möchte …“

„Anna, aber das ist doch der Name …“, platzte ich heraus. Karla winkte ungeduldig mit der Hand. „Ich hab geträumt.“

„Ja, aber …“, Lukas runzelte die Stirn. „Zwei Namen und beide gibt es wirklich … und noch dazu in einer Familie … sehr seltsam.“

„Genau“, murmelte Karla, „das dachte ich auch. Die Frau hat nach Anna gerufen, aber sie war nicht da. Dann hat sie sehr freundlich nach meiner Handynummer gefragt, damit ihre Tochter zurückrufen kann. Sie dachte wohl, ich sei eine neue Freundin.“

„Hat diese Anna dich schon zurückgerufen?“, fragte ich.

Karla nickte langsam. „Gestern am Abend hat Anna angerufen“, murmelte sie, „ja, gestern hat plötzlich das Handy geläutet.“

Anna

Anna legte ihr Handy so behutsam auf ihr Bett, als könnte es zerbrechen. Ihr schwirrte der Kopf von dem, was sie soeben erfahren hatte. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Und doch! Hatte sie nicht auch schon des Öfteren gedacht, dass ihre Mutter ein Geheimnis hatte? Diese Ausflüge einmal im Monat. Jedes Mal fuhr ihre Mutter alleine weg. Niemand wusste, wohin. Anna glaubte nicht einmal, dass ihr Vater wusste, wo Mama hinfuhr. Sie überlegte. Nein, das konnte nicht stimmen. Vater wusste es bestimmt, tat aber ihr gegenüber ahnungslos.

Da hatte sie also eine Cousine, die Karla hieß, und einen Cousin mit Namen Engelbert, genannt Berti. Karla war elf, so alt wie sie selber, Berti war sechs Jahre alt.

Diese Träume, von denen Karla gesprochen hatte, diese Träume beschäftigten auch Anna seit einiger Zeit. Beängstigende Träume, in denen Gestalten aus grauer Vorzeit auftauchten, mit ihr sprechen wollten, hinter ihr herliefen, bis Anna mit einem Schrei aufwachte. Sie hatte ihrer Mutter davon erzählt und die reagierte ganz eigenartig. Zuerst schaute sie Anna entsetzt an, dann fing sie mit zittriger Stimme an, ihr zu erklären, dass diese Träume in ihrer Familie nichts Außergewöhnliches wären. Sie sagte, dass sie als junges Mädchen ebenfalls oft von Gestalten geträumt hätte. Manchmal hätte sie Frauen in rauschenden Ballkleidern gesehen, die an ihr vorbeigetanzt seien.

Und Anna hätte nun auch die Fähigkeit, im Traum mit Menschen zu sprechen, die vor langer Zeit gelebt hatten. Ihre Mutter meinte, sie solle keine Angst haben. In ein paar Jahren würden diese Träume weniger werden und dann für immer verschwinden. Sie hatte sich damit zufriedengegeben und tatsächlich träumte sie in letzter Zeit sehr selten. Aber dieser Anruf von Karla ließ ihre Träume wieder auferstehen. Es war kein Zufall, dass ihnen beiden im Traum Gestalten aus vergangenen Zeiten begegneten. Bestimmt nicht. Mama hatte ihr etwas verschwiegen!

Wenn sie träumte, hatte sie immer das Gefühl, es fehlte etwas, um völlig in die Traumwelt dieser Gestalten eintauchen zu können. Sie stellte sich vor, gemeinsam mit den Traumwesen einen Kreis zu bilden, aber das Gefühl, der Kreis sei nicht vollständig, war sehr stark.

Dann wieder dachte sie, sie bilde sich das alles nur ein. Seit Karlas Anruf aber war sie sicher, dass sie Fähigkeiten hatte, Fähigkeiten, die nicht jeder Mensch hatte.

Diese Sache musste aufgeklärt werden, auf jeden Fall, soviel stand fest. Anna hatte gemeinsam mit ihrer neuen Cousine beschlossen, sich in den kommenden Sommerferien, die ja nicht mehr weit entfernt waren, zu treffen. Anna zerbrach sich jetzt schon den Kopf darüber, wie sie Karla sehen konnte, ohne ihre Mutter misstrauisch zu machen. Sie, Anna, sollte bis dahin so viel wie möglich herausfinden und Karla wollte dasselbe tun.

Aber wie sollte sie das anstellen? Ihre Mutter besaß keinen Computer und fragen konnte sie nicht. Auf keinen Fall!

Anna dachte angestrengt nach. Eine Stunde später saß sie immer noch reglos auf ihrem Bett, als jemand an ihre Tür klopfte. Es war ihre Mutter, die wissen wollte, warum sie noch immer zu Hause saß. Mit einem Satz sprang Anna aus dem Bett, dabei vermied sie aber, ihre Mutter anzusehen.

„Was ist los mit dir?“ Frau Mangold schaute ihre Tochter prüfend an.

„Nichts“, murmelte Anna und schlüpfte in ihre Schuhe.

„Ach ja übrigens“, sagte Frau Mangold, „hast du dieses Mädchen zurückgerufen?“

„Ja“, sagte Anna. Sie war froh, dass sie gerade dabei war, ihre Schuhe zuzubinden, sonst hätte ihre Mutter sicherlich ihr brennend heißes Gesicht bemerkt. „Ich glaube, sie hat sich verwählt. Jedenfalls kenne ich sie nicht.“

„Ach so“, sagte Frau Mangold. „Du musst dich übrigens beeilen, Linda wartet sicherlich schon.“

„Bin schon weg“, murmelte Anna und rannte an ihrer Mutter vorbei zur Tür hinaus.

Ihr Elternhaus stand inmitten eines blühenden Gartens. Oft blieben Leute stehen und schauten bewundernd über den Holzzaun. Hermann Mangold liebte die Natur. Er betrieb eine kleine Gärtnerei, auf die er zu Recht stolz war. Er besaß einen grünen Daumen, und was er verkaufte, wuchs garantiert. Am Häuschen selber wucherte Efeu von der Haustür bis zum ersten Stock. An einer Längsseite schmiegten sich Rosen in allen möglichen Farben an die Hauswand und waren zur Rosenblüte wundervoll anzuschauen. Auf der anderen Hausseite wuchs ein Marillenbaum. Annas Vater hatte die einzelnen Triebe liebevoll festgebunden und jedes Jahr ernteten sie eine riesige Menge an Marillen. Frau Mangold hatte weniger Freude mit dieser Fülle an Früchten. Sie stand tagelang in der Küche und kochte Marmelade und andere Köstlichkeiten.

Ein kleiner Teil des Gartens hatte keinen üblichen Rasen, sondern war über und über mit Narzissen bedeckt. Das war an und für sich nichts Besonderes, denn das ganze Tal quoll im Frühling beinahe über vor dieser Blütenpracht. Aber Frau Mangold bestand auf ihren eigenen Narzissen. Jedes Mal, wenn Herr Mangold leise andeutete, einen richtigen Rasen anlegen zu wollen, schüttelte Frau Mangold entschieden den Kopf. Da war nichts zu machen.

Frau Mangold war die Freundlichkeit in Person, außer, jemand trat versehentlich auf ihre Narzissen. Dann bekam sie rote Flecken im Gesicht und ihre Stimme schallte bis zum See hinunter. Anna wohnte mit ihren Eltern etwas abseits von Bad Aussee auf einer sanften Anhöhe und der Blick auf die umliegenden Berge war atemberaubend. Jedes Jahr im Juni erlebte das kleine Tal einen regelrechten Ansturm. Die Wiesen leuchteten im Frühling mit der Sonne um die Wette. Tausende und abertausende zartgelbe und weiße Narzissen blühten jedes Jahr und diese herrlichen Blüten spielten für kurze Zeit eine Hauptrolle. Sie wurden von Kindern und Erwachsenen gepflückt und zu kunstvollen Gebilden gebunden. Groß und Klein half mit und das ganze Tal war in Festtagsstimmung. Und dieser besondere Tag rückte immer näher.

Anna fuhr so schnell sie konnte mit ihrem Fahrrad am See entlang zu ihrer Freundin Linda. Sie musste unbedingt jemandem erzählen, was passiert war. Die wartete bereits ungeduldig am Gartentor.

„Wo bleibst du denn?“, rief sie Anna entgegen. „Wir sollten doch längst in der Turnhalle sein.“ Dann erst bemerkte sie, dass Anna blass und verstört war.

„Was ist passiert?“, fragte sie, „du bist ja ganz durcheinander.“

„Später erzähle ich es dir“, sprudelte Anna hervor, „wir müssen jetzt los.“

In der Turnhalle herrschte geschäftiges Treiben. Die halbe Bevölkerung von Bad Aussee bastelte an den kunstvollen Figuren aus Gitterdraht und Pappmaschee. Jeder versuchte seine Figur so kreativ wie möglich zu gestalten. Beim alljährlichen Bootscorso hatten die Figuren dann ihren großen Auftritt.

Dabei verfrachtete man die Figuren auf Boote, die sich ebenfalls mit Narzissen schmückten. Die Menschen kamen von nah und fern um, vom Ufer aus, die verschiedenen Figuren, die langsam an ihnen vorbeizogen, zu bewundern. Je aufwändiger und origineller, desto mehr Applaus gab es. Das Ausseer Narzissenfest hatte seit vielen Jahren Tradition. Die Blüten wurden erst in der Nacht vor dem großen Fest in die Gitterstäbe gesteckt, damit sie nicht verwelkten. Aber bis dahin war noch jede Menge Zeit.

Anna und Linda hatten, gemeinsam mit ihrer Klasse, beschlossen, Mickey Mouse nachzubauen. So groß wie ein Mann sollte er werden, den Kopf nach beiden Seiten drehen und freundlich nicken sollte er können. Ganz schön anspruchsvoll, aber Herr Thomas, ihr Mathematiklehrer, hatte versprochen zu helfen. Vor allem bei der Technik hatte er seine Hilfe zugesagt.

Die beiden Mädchen waren bis zum Abend vollauf beschäftigt. Jedes Mal, wenn Linda ihre Freundin fragend anschaute, flüsterte sie: „Wenn wir fertig sind erzähl ich dir, was passiert ist.“ Am späten Nachmittag konnte man bereits die Konturen von Mickey Mouse erkennen. Im Inneren der Figur hatte Herr Thomas eine Unmenge an Kabeln installiert.

Stefan Berger, der in ihrer Klasse eine Reihe hinter Anna und Linda saß, bemerkte trocken: „Findet ihr nicht auch, dass Mickey Mouse aussieht wie ‚Herman the Monster‘?“

„Solange er dir nicht ähnlich schaut, ist alles in Ordnung“, erwiderte Linda patzig.

Herr Thomas blinzelte über seine randlose Brille „Hat jemand eine Frage?“ Er blickte kurz in grinsende Gesichter, schließlich war die halbe Klasse versammelt.

„Nein, nein, alles klar“, rief Anna und zwinkerte ihrer Freundin zu.

In zwei Wochen fand das Narzissenfest statt und sie hatten noch eine Menge zu tun. Aber keines der Mädchen dachte an das Fest. Die beiden hockten endlich in Lindas Zimmer. Nach Annas Bericht hätte man eine Stecknadel zu Boden fallen hören können.

„Ich kapier’ es noch immer nicht“, Linda schüttelte den Kopf. „Warum glaubst du, dass diese Karla deine Cousine ist? Vielleicht hat sie sich alles nur ausgedacht und jetzt lacht sie sich halb tot, weil du ihr geglaubt hast.“

Anna nickte. „Zuerst dachte ich auch, dass sie sich diese haarsträubende Geschichte ausgedacht hat, um jemanden auf den Arm zu nehmen und dass sie einen Namen aus dem Telefonbuch herausgesucht hat, und das war zufällig meiner … aber dann …!“

„Was dann?“, fragte Linda und setzte sich aufrecht hin.

„Ja also …äh“, Anna hielt kurz inne und überlegte, was Karla alles gesagt hatte. „Sie hat mir erzählt, dass ihre Mutter einmal im Monat, samstags, wegfährt und erst am Abend wiederkommt.“

„Aber“, Linda starrte Anna verwirrt an, „deine Mutter macht das doch auch, einmal im Monat wegfahren, meine ich. Und auch immer samstags, oder? Du wolltest doch schon so oft wissen, wo sie hinfährt.“

„Stimmt, aber sie sagt jedes Mal: Das ist mein kleines Geheimnis. Dabei macht sie manchmal ein Gesicht, als wollte sie gleich anfangen zu weinen.“

Linda dachte angestrengt nach. „Und wie kommt diese Karla darauf, dass deine Mutter und ihre Mutter Schwestern sind?“

Anna überlegte wieder, bevor sie antwortete. „Karla hat im Computer ihrer Mutter unsere Namen und unsere Telefonnummer gefunden. Zufällig, hat sie jedenfalls gesagt, mit der gesamten Familiengeschichte.“

Sie erzählte ihrer Freundin nichts von Karlas Träumen und dass Karla erst dadurch auf die Idee gekommen war, im Computer ihrer Mutter nachzusehen. Sie sagte auch nichts von ihren eigenen Träumen, die sie so oft ängstigten. Sie war nicht sicher, was ihre Freundin dazu sagen würde. Sie musste selber erst einmal mit dieser neuen Situation zurechtkommen. Später konnte sie Linda immer noch davon erzählen. Und doch waren es vor allem die seltsamen Träume, von denen Karla gesprochen hatte, die diese Geschichte glaubhaft werden ließen.

„Wir wollen uns in den Sommerferien treffen“, sagte Anna stattdessen. „Bis dahin versucht jede von uns, so viel wie möglich auf eigene Faust herauszufinden.“

„Was können wir tun?“, fragte Linda.

„Morgen ist Samstag“, überlegte Anna. „Der erste Samstag im Juni. Sobald meine Mutter weggefahren ist, untersuchen wir unseren Dachboden. Karla sagt, sie hätte interessante Sachen da oben gefunden.“

Die Mädchen hatten bald darauf einen Plan. Linda wollte bei ihrer Freundin übernachten, und gleich am nächsten Morgen hatten sie vor, den Dachboden der Familie Mangold einer gründlichen Prüfung zu unterziehen. Beide waren nun überzeugt, etwas zu finden, das auf normalen Dachböden nicht zu finden war. Sie waren beide so aufgeregt, dass sie lange Zeit nicht einschlafen konnten.

Am Samstagmorgen saßen die Mädchen Herrn Mangold beim Frühstück gegenüber. Frau Mangold war wie üblich am frühen Morgen weggefahren.

„Sollen wir etwas unternehmen?“, fragte er die Mädchen. „Eine Radtour vielleicht?“

„Keine Zeit“, murmelte Anna. „Linda und ich haben noch viel zu tun. Du weißt schon, in zwei Wochen ist das Narzissenfest.“

Herr Mangold schaute seine Tochter enttäuscht an. „Schade“, sagte er leicht gekränkt, „dann fahre ich eben alleine, oder braucht ihr mich vielleicht?“

„Nein“, riefen Anna und Linda gleichzeitig. „Überhaupt nicht“, fügte Anna verlegen hinzu. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, denn ihrem Vater etwas zu verschweigen fiel ihr schwer. Außerdem hatte sie das Gefühl, dass er sie oft besorgt musterte.

„Na, dann bis später“, sagte er und stand auf. Er hatte bereits seine Rennkleidung an und ging zur Spüle, um die Wasserflasche zu füllen.

Die beiden schauten ihm ungeduldig nach, als er gemächlich über den Hof zum Schuppen ging und sein Rad hervorholte. Er drehte sich noch einmal um und die Mädchen winkten ihm zu. Hätte Anna die Gedanken ihres Vaters lesen können, sie wäre entsetzt gewesen.

Herr Mangold liebte Anna über alles, aber seit dem schockierenden Ereignis vor drei Jahren machte er sich dauernd Sorgen um sie. Er war sehr stolz auf seine Tochter, denn Rad fahren, so richtig mit dem Rennrad, war ihre große Leidenschaft. Das neue Rad, das sie zum elften Geburtstag bekommen hatte, war mit der neuesten Technik ausgestattet. Wann immer es ihm und Anna möglich war, machten sie Touren. Auch Linda war manchmal dabei. Dann mussten sie natürlich etwas langsamer fahren, denn Annas Freundin hatte nur ein Fahrrad mit drei Gängen.

So gesehen, hatte er nichts dagegen, einmal alleine durch die Gegend zu radeln. Er brauchte auf niemanden Rücksicht zu nehmen, konnte das Tempo bestimmen und … nachdenken.

Als er seine Frau Beatrice kennenlernte, lebten ihre Eltern nicht mehr. Beide waren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, zumindest hatte er das, lange Zeit, gedacht. Und dass Beatrice eine Schwester hatte, wusste er nur durch Zufall. Da war dieser Samstag vor drei Jahren, als er mit seinem Freund und Geschäftspartner in der Salzburger Altstadt zu tun hatte. Sie hatten es sehr eilig. Im Vorbeigehen schaute er kurz in das Fenster eines Cafés und sah seine Frau dort drinnen sitzen, aber sie war nicht alleine. Ihr gegenüber saß eine Frau, die genauso ausschaute wie Beatrice. Dasselbe rote Haar, die gleichen Augen, dasselbe Gesicht. Da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Seine Frau hatte eine Zwillingsschwester. Nur mühsam war es ihm gelungen weiterzugehen. Aber an diesem Abend hatte er sie zur Rede gestellt und die Wahrheit erfahren.

In der Familie seiner Frau gab es seit vielen Generationen übersinnliche Kräfte. Es war ihnen möglich, im Traum in andere Zeiten zu reisen. Mit den Menschen, die in dieser Zeit lebten, Kontakt aufzunehmen und mit ihnen zu sprechen. Wenn die Geister gewillt waren zu sprechen. Denn es gab auch welche, die versuchten, durch die Verbindung, die der Traum mit der Wirklichkeit hergestellt hatte, in die Jetztzeit zu reisen. Entsetzt hatte er zugehört und ungläubig den Kopf geschüttelt. Und dann hatte Beatrice weinend erzählt, dass ihre Mutter nicht bei einem Unfall gestorben war, sondern durch einen Traum in der Vergangenheit gefangen gehalten wurde.

„Du erzählst mir doch ein Märchen oder?“, hatte er gefragt und seine Frau ungläubig angeschaut.

„Es ist kein Märchen“, schluchzte sie. „Erinnerst du dich an die alte Kaffeemühle, die ich auf dem Dachboden versteckt habe. Damals hast du mich gefragt, warum ich die Mühle weggesperrt habe. Das ist Martha und mit ihr ist eine Traumreise möglich. Aber diese Traumreisen können sehr gefährlich sein. Einmal durften meine Schwester und ich mit auf eine Reise.“ Frau Mangold schaute ihren Mann traurig an. „In letzter Sekunde ist es meiner Mutter und Tante Helen gelungen, mit uns hierher zurückzureisen. Deshalb haben meine Schwester und ich beschlossen, niemals wieder dieses Risiko einzugehen.“ Sie seufzte und stand auf. „Es passierte vor zwölf Jahren“, erzählte seine Frau weiter, „eines Tages waren meine Mutter und ihre Schwester, Tante Helen, wieder verschwunden.“

„Was soll das bedeuten, was meinst du mit verschwunden?“ Kopfschüttelnd hatte er seine Frau angesehen.

„Eine Traumreise zu unternehmen bedeutet, aus der Gegenwart in die Vergangenheit zu reisen. Das ist so, als würde man sich in Luft auflösen.“

„In Luft auflösen …?“ Lange Zeit war es still. Herr Mangold konnte nicht glauben, was er da zu hören bekam. Aber ein Blick in das blasse Gesicht seiner Frau sagte ihm, dass jedes Wort stimmte.

„Mindestens zwei Mitglieder unserer Familie müssen zusammenkommen, dann kann der Zauber wirksam werden. Und deshalb haben meine Schwester und ich schweren Herzens beschlossen, uns nur heimlich zu treffen. Wir wollten nicht riskieren, dass Anna und die Tochter meiner Schwester, sie heißt Karla, sich kennenlernen konnten. Auf keinen Fall dürfen sie jemals von der Mühle erfahren.“

„Wirf die Mühle weg“, sagte er hastig, „dann ist der Spuk bestimmt vorbei.“ Aber sie erklärte ihm weinend, dass dann die einzige Verbindung mit der Vergangenheit und die Hoffnung, ihre Mutter jemals wiederzusehen, für immer zerstört wären.

„Anna … hat sie auch diese Fähigkeiten?“, stieß er heftig hervor.

Frau Mangold nickte zögernd mit blassem Gesicht. „Ich fürchte schon, sie hat mir von ihren Träumen erzählt, und es sind dieselben Träume, die ich auch hatte als Kind. Ich habe ihr erklärt, das sei nichts Besonderes und sie soll die Träume ignorieren. Du wirst sehen, in ein paar Jahren denkt sie nicht mehr daran.“

Seine Frau ging zum Wohnzimmerschrank und zog die unterste Lade heraus. Mit einem Foto in der Hand wandte sie sich ihrem Mann zu. „Das sind die Kinder meiner Schwester Isabella“, flüsterte sie unter einer weiteren Tränenflut, „Karla und Engelbert, genannt Berti!“

In dieser Nacht war Herr Mangold heimlich auf den Dachboden geschlichen. Er konnte nicht glauben, was seine Frau ihm erzählt hatte. Doch als er die unscheinbare Mühle in den Händen hielt, war plötzlich alle Kraft von ihm gewichen. Seine Beine gaben nach und sein Körper fühlte sich an, als gehörte er jemand anderem. Entsetzt hatte er die Mühle wieder dahin zurückgestellt, woher er sie geholt hatte und hastig die Tür verschlossen.

Herr Mangold seufzte tief auf und trat wild in die Pedale, doch die beängstigenden Gedanken konnte er nicht verscheuchen.