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Wie frühe Prägungen unsere Beziehungen bestimmen
Frühe Bindungserfahrungen und emotionale Verletzungen aus der Kindheit hinterlassen Spuren in unserem Nervensystem, die sich ein Leben lang auswirken können: wiederkehrende Konflikte, Gefühle tiefer Einsamkeit und Selbstentfremdung. Was vielen nicht bewusst ist: Gerade Beziehungsprobleme wie Bindungsängste oder der Hang zu toxischen Partnerschaften sind häufig Folgen dieser Traumata.
Die renommierte Traumatherapeutin Verena König erklärt anhand der Erkenntnisse der Psychotraumatologie und der Polyvagaltheorie, wie Traumata entstehen und wie wir sie erkennen können. Mit klaren Worten, zahlreichen Fallbeispielen aus der Praxis und Anleitungen zur Selbstbegegnung ist dieses Buch ein Begleiter in einem tiefen und entlastenden Erkenntnisprozess.
Selbstreflexion, (Selbst-) Mitgefühl und tiefes Verständnis führen zu einer elementaren Klarheit:
Die größte Heilkraft für frühe Wunden liegt in unseren Beziehungen. Mit diesen Erkenntnissen und Werkzeugen können wir uns auf den Weg in ein Leben frei von den Schatten der Vergangenheit begeben und erfüllende Beziehungen gestalten – sei es die Verbundenheit zu unserem Körper, unseren Mitmenschen, dem Planeten Erde oder auch zu unseren Symptomen und unserer Vergangenheit.
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Seitenzahl: 375
Veröffentlichungsjahr: 2024
Buch
Frühe Bindungserfahrungen und emotionale Verletzungen aus der Kindheit hinterlassen Spuren in unserem Nervensystem, die sich ein Leben lang auswirken können: wiederkehrende Konflikte, Gefühle tiefer Einsamkeit und Selbstentfremdung. Was vielen nicht bewusst ist: Gerade Beziehungsprobleme wie Bindungsängste oder der Hang zu toxischen Partnerschaften sind häufig Folgen dieser Traumata. Die renommierte Traumatherapeutin Verena König erklärt anhand der Erkenntnisse der Psychotraumatologie und der Polyvagaltheorie, wie Traumata entstehen und wie wir sie erkennen können. Mit klaren Worten, zahlreichen Fallbeispielen aus der Praxis und Anleitungen zur Selbstbegegnung ist dieses Buch ein Begleiter in einem tiefen und entlastenden Erkenntnisprozess. Selbstreflexion, (Selbst-)Mitgefühl und tiefes Verständnis führen zu einer elementaren Klarheit: Die größte Heilkraft für frühe Wunden liegt in unseren Beziehungen. Mit diesen Erkenntnissen und Werkzeugen können wir uns auf den Weg in ein Leben frei von den Schatten der Vergangenheit begeben und erfüllende Beziehungen gestalten – sei es die Verbundenheit zu unserem Körper, unseren Mitmenschen, dem Planeten Erde oder auch zu unseren Symptomen und unserer Vergangenheit.
Autorin
Verena König ist Traumatherapeutin, Seminarleiterin und Autorin des Bestsellers »Bin ich traumatisiert?«. In ihrem erfolgreichen Podcast »Kreative Transformation« spricht sie wöchentlich wissenschaftlich fundiert und nahbar über Trauma und seine Folgen, das Nervensystem und Heilung. Sie bildet in ihrer selbstentwickelten Methode Neurosystemische Integration® für traumasensibles Coaching aus und bietet fundierte Online-Kurse zur Selbstentwicklung an. Die Autorin lebt und arbeitet im Odenwald.
Außerdem von Verena König im Programm
»Verbinde dich mit dir selbst«, »Finde Sicherheit im Hier und Jetzt – 56 Impulse zur Selbstregulation« (Kartenset, 34770)
VERENAKÖNIG
Trauma
und
Beziehungen
Wie wir die immergleichen Bindungsmuster hinter uns lassen
Mit Illustrationen von Verena Mayer-Kolbinger
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Certified by Polyvagal Institute as accurately representing the principles described in Polyvagal Theory.
Originalausgabe September 2024
Copyright © 2024: Arkana Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Lektorat: Anne Nordmann
Illustrationen: Verena Mayer-Kolbinger
Umschlag: ki 36 Editorial Design, München
Umschlagmotiv: © creativemarket/Basia Stryjecka, © Adobe Stock/Mykola Mazuryk
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
SC ∙ CS
ISBN 978-3-641-30629-8V003
www.arkana-verlag.de
INHALT
Einleitung
1 – Das Leben ist Beziehung
Von der heilsamen Kraft, gesehen zu werden
Trauma und Verbundenheit neurobiologisch betrachtet
Das Bindungssystem: unser innerer Kompass
Das Ziel der Reise lautet: »Sichere Bindung«
2 – Frühe Wunden – wie unsere Erfahrungen unsere Beziehungen formen
Die Wunden, die andere uns zufügen, heilen am schwersten
Der gestörte innere Kompass – Das überaktivierte Bindungssystem
Die Überlebensstrategien des überaktivierten Bindungssystems
Gefangen im überaktivierten Bindungssystem – Toxische Beziehungen
Der gestörte innere Kompass – Das deaktivierte Bindungssystem
Die Überlebensstrategien des deaktivierten Bindungssystems
Der gestörte innere Kompass – Das rotierende Bindungssystem
Sexuelle Gewalt durch Bindungspersonen
Die Überlebensstrategien des rotierenden Bindungssystems
3 – Der lange Schatten der Vergangenheit – Trauma und Beziehung im Alltag
Wer ist mit wem zusammen? Das Anteilemodell in Beziehungen
Bewusstseinsebenen und der Beziehungsraum
Gesunde Grenzen – Gesunde Beziehung
Trauma und Sexualität
Trauma und Freundschaften
4 – Die heilsame Kraft der Verbundenheit
Die größte Heilkraft liegt in unseren Beziehungen
1. Leitprinzip auf dem Weg zu gelingenden Beziehungen: Wir brauchen korrigierende Erfahrungen
2. Leitprinzip auf dem Weg zu gelingenden Beziehungen: Nervensystemgerechte Kommunikation
3. Leitprinzip auf dem Weg zu gelingenden Beziehungen: Sichere Bindung kultivieren
Aufgeben ist keine Option
Epilog
Dank
Glossar
Weiterführende Literatur
Quellen
Register
EINLEITUNG
Trauma geschieht in Beziehungen und Trauma heilt in Beziehungen.
Woran erkenne ich ein Trauma? Und wann ist ein Trauma geheilt? Diese und ähnliche Fragen werden täglich in E-Mails, den sozialen Medien oder Interviews und natürlich in der Praxis an mich herangetragen. Im Laufe der Jahre haben sich meine Antworten auf diese Fragen verändert. Am Anfang meiner Laufbahn als Traumatherapeutin berief ich mich auf Diagnosekriterien und Evaluationstechniken. Wirklich richtig angefühlt hat sich das nie, denn diese Parameter geben etwas nicht wieder, das für traumatisierte Menschen so wesentlich ist: das Maß an Verbundenheit und empfundener Sicherheit in ihrem Leben. Deswegen lauten meine Antworten heute eher so:
Trauma erkennen wir daran, wie wir unsere Beziehungen führen und erleben. Das Maß an Heilung von Traumafolgen erkennen wir daran, wie sicher, wohl und lebendig wir uns in unseren Beziehungen fühlen.
Und damit meine ich nicht ausschließlich die Paarbeziehung, sondern jegliche Beziehungen, zu allem und jedem, dem wir uns verbunden fühlen können. Sei es die Beziehung zu unserem Körper, unseren Mitmenschen, dem Planeten Erde oder auch zu unseren Symptomen und unserer Vergangenheit.
Nirgendwo im Leben zeigt sich der Schmerz unserer Versehrtheit so deutlich wie in unseren Beziehungen. Und zwar ganz gleich, ob wir uns die Probleme in unserer eigenen Alltagswelt anschauen oder ob wir die größten Probleme der Menschheit betrachten. Wieso ist das so?
Ganz einfach auf den Punkt gebracht: Weil wir einander brauchen und uns das verletzlich macht. Unsere menschliche, soziale Natur lebt buchstäblich von zwischenmenschlicher, lebendiger Verbundenheit. Wo es an ihr mangelt, herrschen Disharmonie, Leid und wiederkehrende Konflikte.
Trauma zerreißt Verbundenheit
Stress- und Traumafolgen beeinträchtigen in hohem Maße, wie und ob wir Verbundenheit erleben.
Mit anderen Worten: Viele unserer Probleme haben mit ungelösten Traumata in individuellen Biografien und kollektiven Zusammenhängen zu tun.
Die Traumaforschung zeigt, dass sogenannte »Man made«-Traumata, also jene Traumatisierungen, die Menschen einander zufügen, eine andere Wirkung auf die Psyche und das gesamte Leben haben als etwa Traumata durch Naturkatastrophen oder Unfälle. Die Verarbeitung zwischenmenschlicher Traumata scheint komplexer. Insbesondere frühe Verletzungen auf der Bindungsebene beschäftigen uns unbewusst und subtil, aber kraftvoll, machtvoll und dauerhaft in all unseren Lebensbereichen.
Ein Mensch, der ein psychisches Trauma erlitten hat, ist tief verwundet und empfindet die Welt als einen gefährlichen Ort und Menschen als bedrohlich. Deswegen hemmen Traumafolgen ihn fortan in der Erfüllung seiner elementaren, zwischenmenschlichen Bedürfnisse nach Liebe, Geborgenheit, Verbundenheit und gemeinsamer Entwicklung, die dann oft nur erschwert oder gar nicht erfüllt werden können. Diese Tatsache bleibt noch immer häufig unerkannt. Infolgedessen mühen wir uns mit 5-Schritte-Plänen zur Beziehungsrettung, künstlich anmutenden Kommunikationstechniken zur Deeskalation oder komplexen Regelwerken zur Wahrung unterschiedlicher Interessen ab, ohne dass wir dabei glücklicher werden. Um all die vielfältigen Beziehungsthemen wirklich zu transformieren, geht es nicht vorrangig darum, sich mit den Symptomen auseinanderzusetzen, sondern viel mehr um die Wunden, die zu diesen Symptomen führen. Solange wir unsere Wunden nicht sehen, werden sie nicht heilen und wir werden unserem Schmerz nicht heilsam begegnen können. Hier sind wir mit einem scheinbaren Paradoxon konfrontiert: Trauma geschieht in Beziehungen, sodass wir uns infolgedessen verschließen und unsere Wunden verbergen, um uns zu schützen. Doch Trauma heilt auch in Beziehungen, sodass wir ohne menschliche Verbundenheit weiter in Einsamkeit und alten Schutzstrategien verharren.
Solange wir unseren Schmerz nicht als Ruf nach Verbundenheit erkennen, werden wir ihn nur weiter zu betäuben versuchen, statt uns seinen Wurzeln zuzuwenden. Und damit werden auch unsere Beziehungen Ausdruck dieser Wunden sein, die endlich gesehen und versorgt werden wollen.
Traumadynamiken zu verstehen hilft, die Heilkraft von Beziehungen zu entfalten
Das theoretische, sachliche Wissen über Trauma und seine Folgen ist hilfreich, wenn nicht sogar Bedingung, um Beziehungsdynamiken, die auf frühe Traumata zurückzuführen sind, erkennen und verändern zu können. Wenn wir lernen, die Auswirkungen von Trauma zu verstehen, lernen wir, unsere menschliche Natur zu verstehen. Wenn es uns gelingt, dieses Wissen zu verkörpern, es also aktiv zu leben, können wir über unsere alten Wunden hinauswachsen. Darin liegt das große Potenzial, die unbewussten, alten Kreisläufe, an die wir uns angepasst und die wir als gegeben angenommen haben, nicht mehr weiter und weiter am Leben zu erhalten. Es liegt in unseren Händen, stattdessen in unserem Inneren und der Welt eine Atmosphäre zu schaffen, in der menschliche Verletzlichkeit und Empfindsamkeit als Nährboden für echte Verbundenheit und sichere und würdevolle Begegnungen gestärkt werden können.
Dies ist kein Beziehungsratgeber
Dieses Buch enthält keine Tipps und Tricks, mit denen wir endlich die erfüllte Liebesbeziehung finden oder immer gelassen und ausgeglichen jede Welle des Lebens surfen. Es will vielmehr einen Aspekt deines Wesens ansprechen, der jenseits deiner Verletzungen, Prägungen und Muster existiert und der hilft, ein Leben in Verbundenheit und grundlegender Balance zu führen.
Es will dich inspirieren zu erkennen, dass all die Muster und Symptome, die dein Leben vielleicht bestimmen, logische Folgen deiner Vergangenheit und hochintelligente Anpassungsleistungen an widrige Umstände darstellen. Hinter diesen Überlebensstrategien liegt deine natürliche, in deinem Nervensystem und deinem Körper tief verwurzelte Fähigkeit zur sicheren Bindung, gesunden Beziehung und tiefen Verbundenheit mit dem Leben. Wenn es uns gelingt, diese Fähigkeit wiederzuentdecken, können wir beginnen, Beziehungen als heilsame, sichere Orte zu kultivieren. So können die schmerzliche Einsamkeit und die Entfremdung von uns selbst und unserer verletzlichen Natur langsam enden.
Möge dieses Buch dir wie ein Kompass sein, der dir auf deinem Weg die Richtung zu deiner unversehrten Natur und gelingenden Beziehungen weist.
Zum Umgang mit den Inhalten
Die Begegnung mit der eigenen Verletzlichkeit und Verletztheit kann sehr intensiv sein. Es kann weh tun, wieder mit dem Schmerz in Kontakt zu kommen, den man in die hintersten Winkel des eigenen Inneren gepackt hat. Doch dieser »Bewusstwerdungsschmerz« hat, wohl dosiert, etwas sehr Heilsames. Es kann sich erlösend, wohltuend und tröstlich anfühlen, wenn endlich der Moment gekommen ist, in dem die alte, ungesehene Versehrtheit einen Platz, eine Zeugenschaft und einen Raum bekommt.
Dieses Buch versucht, dich ganz behutsam und doch bestimmt an die Hand zu nehmen, um eine solche Begegnung zu ermöglichen.
In Teil 1 legen wir mit grundlegenden Informationen zu Traumadynamiken, unserer bindungsorientierten Biologie, unserem Nervensystem und frühen Prägungen die Basis. Durch das Wissen um die Grundlagen der Bindungsforschung und der Polyvagaltheorie bekommen wir ein neues Verständnis für zwischenmenschliche Dynamiken. In Teil 2 und 3 tauchen wir tief in die Ursachen für unsere tiefen Verwundungen ein, damit du Worte bekommst für das, was oft schwer in Worte zu fassen ist. Wir sehen uns die Folgen dieser Verletzungen für unser Nervensystem und unsere Beziehungen an und betrachten, welche hochintelligenten Überlebensstrategien wir von klein auf entwickeln, um mit ihnen klarzukommen. Teil 4 möchte dich inspirieren, zuversichtlich und mutig das gesammelte Wissen in eine heilsame Praxis zu übersetzen, die dir Kraft gibt, mit deiner Verletzlichkeit und Verletztheit Frieden zu schließen und Schritt für Schritt einen heilsamen Lebenswandel und zwischenmenschliche Verbundenheit zu kreieren.
Möglicherweise bringen die Informationen in diesem Buch in dir einen Prozess in Bewegung. Solche Prozesse wirken integrativ, da das, was bisher nicht vollständig verarbeitet wurde, im Licht deines Bewusstseins einen Platz bekommt. Gleichzeitig kosten derartige innere Bewegungen Energie, da sie einem Umbau an der Basis deiner inneren Architektur gleichen können. Sowohl emotional als auch gedanklich und auch neurobiologisch beginnen Dinge, sich neu zu sortieren. All das führt zu heilsamer Veränderung.
Daher möchte ich dich einladen, dieses Buch, so wie jede Auseinandersetzung mit dem Thema Trauma und Traumafolgen, bewusst, achtsam und behutsam handzuhaben. Je interessanter dir der Lesestoff erscheint, desto kleiner sollten die Portionen sein. Um dir diese Vorgehensweise zu erleichtern, findest du immer wieder Reflexionsfragen, die dich einladen, innezuhalten und mit dir selbst Kontakt aufzunehmen. Vielleicht möchtest du ein Notizbuch zur Hand nehmen und eine Art Lesetagebuch führen, in dem du vermerkst, was für dich besonders wichtig ist oder dich besonders bewegt. Schenke dir Zeit, um die Aspekte, die dich berühren, zu reflektieren und zu integrieren. Damit beginnst du bereits, die Beziehung zu deinem Inneren mit Achtsamkeit und Bewusstheit zu bereichern und einen sicheren Rahmen für das zu erschaffen, was du erlebst. Wenn du möchtest, betrachte die Lektüre dieses Buches als eine Reise. Raste regelmäßig, genieße die Landschaften, die dir guttun, und bewege dich achtsam durch die Wegabschnitte, die dich herausfordern.
Du findest in meinem Text sowohl die weibliche als auch männliche Form. Jeder Mensch, gleich welcher Geschlechteridentität, möge sich in diese Formulierungen eingeschlossen fühlen.
Ich hoffe, dass es dir ein Gefühl von menschlicher Wärme und Zugewandtheit vermittelt, wenn ich dich duze, und dass ich dir damit nicht zu nahetrete.
Und nun wünsche ich dir eine inspirierende Lesereise mit heilsamen Erkenntnissen und bereichernder Selbstreflexion.
ESSENZ: DERSCHLÜSSELZURTRAUMAINTEGRATIONLIEGTINUNSERENBEZIEHUNGEN
Trauma ist ein großer Überbegriff und hat viele Gesichter. Traumafolgen sind sehr vielfältig. Eines haben jedoch alle Traumafolgen gemein: Die Wirkung von Trauma zeigt sich in unseren Beziehungen. In der Beziehung zu uns selbst und zu unserem Körper, in den Beziehungen zu anderen Menschen, zur Welt und zum Leben. Deswegen liegt der Schlüssel zur Traumaintegration ebenso in Beziehungen.
Wir sind zutiefst soziale Wesen und in der gesunden Bezogenheit aufeinander liegt eine große Heilkraft, die es zu entdecken gilt.
1
Das Leben ist Beziehung
Wir brauchen einander.
In einer Welt, in der Kriege, soziale Ungerechtigkeit, drohende Katastrophen und Konkurrenzkämpfe die Schlagzeilen beherrschen, klingt dieser Satz wie eine weltfremde Ermahnung.
Doch wenn wir als Individuen und Gemeinschaft die Chance auf eine Zukunft in Frieden und Gesundheit nicht verpassen wollen, müssen wir uns dieser simplen Wahrheit zuwenden.
Sie ist keine emotionale Floskel, sondern eine treffende Beschreibung unserer menschlichen Natur.
VON DER HEILSAMEN KRAFT, GESEHEN ZU WERDEN
Menschen beginnen in dem Moment zu heilen, in dem sie sich gesehen fühlen.
»Er sieht mich einfach nicht.«
Als Bella diesen Satz ausspricht, füllen sich ihre Augen mit Tränen und die wütende Entrüstung, mit der sie zuvor über ihren Partner geklagt hat, wird von ihnen verschluckt. Bella sackt in sich zusammen, ihre Schultern fallen nach vorne, sie verbirgt das Gesicht in den Händen. Keine Spur ist mehr von der aufgebrachten, energisch gestikulierenden Frau zu sehen.
Stattdessen wird etwas erkennbar, was hinter all der Wut, Genervtheit und Verzweiflung steht: ein tiefer, fast unaushaltbarer Schmerz – der Schmerz, nicht gesehen zu werden.
Es gibt kaum etwas Heilsameres als das Gefühl, verstanden und gesehen zu werden. Es ermöglicht uns, echte Verbundenheit und Zugehörigkeit zu erleben. Wenn wir uns gesehen fühlen, fühlen wir uns sicher. Wenn uns jemand wirklich wahrnimmt, fühlen wir uns in seiner Gegenwart geborgen und können Mut schöpfen und Zuversicht fassen, um über eine Wunde oder uns selbst hinauszuwachsen. In dem Augenblick, in dem wir spüren, dass ein Gegenüber uns im eigenen Inneren willkommen heißt, können uralte, selbst über Generationen fortdauernde Verwundungen beginnen zu heilen. Die Würde eines Menschen oder eines ganzen Volkes wird wiederhergestellt, wenn Schmerz, Leid und Unrecht offiziell und aufrichtig anerkannt werden. Das Gefühl eines Opfers, allein und verloren zu sein, kann enden, wenn ein mitfühlender Mensch, der Ähnliches kennt, den Schmerz des Unaussprechlichen mit einem warmen Blick bezeugt.
Zu den heilsamsten Sätzen, die wir einander sagen können, gehören vermutlich diese: Ich sehe dich. Ich glaube dir. Du bist nicht allein.
Verdrängung als Überlebensstrategie
Sich nicht verstanden und gesehen zu fühlen, führt hingegen dazu, dass wir uns einsam, nicht zugehörig oder sogar wertlos fühlen. Solche Empfindungen können zum Schicksal werden und ein ganzes Leben bestimmen. Dann steuern sie unterbewusst unsere Gedanken, Gefühle und Handlungen. Und das nicht etwa, weil sie uns immerzu quälend bewusst sind, sondern viel eher, weil sie unterdrückt und verdrängt werden. Sie sind so schwer zu ertragen, dass unser Inneres versucht, uns vor dem Schmerz, der in ihnen gebunden ist, zu schützen. Diese unbewusste Schutzstrategie hat auf Dauer einen hohen Preis. Denn was wir aus dem Bewusstsein drängen, verliert mitnichten an Bedeutung, sondern wirkt im Inneren wie im Außen fort, was vielerlei Konsequenzen hat:
Was wir verdrängen, können wir nicht verarbeiten. Was nicht verarbeitet ist, behindert die persönliche Entwicklung und schmälert die Chance, aus den gemachten Erfahrungen zu lernen, an ihnen zu wachsen und sie nicht an andere weiterzugeben.Wir vermeiden nicht nur das, was wir ausblenden, sondern sämtliche Aspekte des Lebens, die damit verknüpft sind. So meidet etwa eine frühtraumatisierte Person, sich sportlich zu betätigen, weil der Anstieg der Herzfrequenz in ihrer inneren, unterbewussten Wahrnehmung (Interozeption) die Erinnerung an lange zurückliegende angstvolle Zustände des Kontrollverlustes wachruft. Dieses Meideverhalten geschieht nicht bewusst. Daher verstehen viele Menschen sich selbst nicht. Sie fühlen sich unzulänglich, denn es wäre doch gesund und vernünftig, Sport zu treiben, aber »irgendetwas« ist stärker als Vernunft und Wille und hält sie immer wieder davon ab.Was nicht verarbeitet und integriert ist, wird projiziert. Die Psychodynamik der Projektion zeichnet sich dadurch aus, dass wir Gefühle, Gedanken und Bedürfnisse, die wir bei uns selbst ablehnen, auf eine andere Person oder ein Objekt übertragen, um uns im eigenen Inneren davon zu distanzieren. Dieser Abwehrmechanismus führt häufig zu der Tendenz, impulsiv, unreflektiert und ungerecht zu urteilen. So neigt jemand, der mit seinen Bedürfnissen in der Kindheit alleingelassen wurde, möglicherweise dazu, einen hilfsbedürftigen Menschen als weinerlich und übersensibel abzuwerten. Vermutlich gründen viele Ressentiments in eigenen, unintegrierten Verletzungen, die wir nach außen übertragen, um den Druck im Inneren zu mindern.Unverarbeitete Traumata werden häufig weitergegeben. Die Begriffe »intergenerationelles« und »transgenerationelles Trauma« umschreiben genau diese Tatsache. Was ausgeblendet statt verarbeitet wird, findet oft mehr oder weniger offensichtlich in innerfamiliären oder kollektiven Kontexten seinen Ausdruck. Ein klassisches Beispiel ist ein traumatisierter Elternteil, dessen Trauma das Erziehungsverhalten und die emotionale Verfügbarkeit beeinflusst, was wiederum Auswirkungen auf die Kinder hat. Oder aber die Atmosphäre der Angst, in der Generationen von Kindern mit dunkler Hautfarbe in einer von Rassismus infiltrierten Gesellschaft Tag für Tag leben.Schmerzliche Gefühle abzuschneiden, bedeutet auch, sich von der eigenen, fühlenden Natur abzuschneiden. Es ist nicht möglich, einzelne Gefühle selektiv zu isolieren. Wenn wir Gefühle dauerhaft unterdrücken, hat das zur Folge, dass unsere emotionale Schwingungsfähigkeit leidet. Es fällt uns dann schwerer, uns mit anderen zu freuen, uns in den Schmerz eines anderen einzufühlen oder uns den eigenen Emotionen zuzuwenden und uns selbst Trost zu spenden. Diese Strategie geht augenscheinlich zulasten der Lebenselixiere Nähe und Verbundenheit. Es scheint eine Gleichung zu gelten: In dem Maße, in dem Gefühle verdrängt werden, schwinden Toleranz und Empathie. Je mehr ein einzelner Mensch oder ein Kollektiv verdrängt, desto mehr herrschen emotionale Kälte und Empathiemangel.Je höher der innere Druck wird, desto stärker müssen die Kompensationsstrategien sein. Mit Verdrängung allein ist es nicht getan. Was nicht verarbeitet ist, ist triggerbar. Das bedeutet, dass Aspekte dessen, was wir aus dem Bewusstsein verbannen, durch Reize aus dem Außen oder Inneren aktiviert werden können. So kann etwa durch einen Streit (Trigger), eine tiefe Angst vor dem Verlassenwerden ausgelöst werden. Diese (vermutlich alte) Angst muss nun irgendwie ausgehalten werden, oder noch besser, so schnell wie möglich weg. Wenn wir nicht gelernt haben, mit intensiven Gefühlen umzugehen, haben wir stattdessen gelernt, sie zu kompensieren. Kompensation ist eine kreative Anpassungsleistung, die vielfältige Strategien hervorbringt, die wiederum häufig viel Kraft kosten. Es ist sehr anstrengend, beispielsweise die Angst vor dem Verlassenwerden Tag für Tag zu kompensieren, indem wir eigene Bedürfnisse zurückstellen und uns für andere aufopfern. (Später werden wir verschiedene Kompensationsstrategien genauer beleuchten.)Kompensation als Überlebensstrategie führt über kurz oder lang zur Dekompensation
Viele meiner Klientinnen und Klienten kamen zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt in ihrem Leben erschöpft und in großer Not zu mir in die Praxis: als die Kraft nicht mehr ausreichte, um sowohl Verdrängungsmechanismen als auch Kompensationsstrategien aufrechtzuerhalten, und alles über sie hereinbrach. Während die Herausforderungen im Außen weiter stiegen, hatten sie keine Chance, mit ihnen zu wachsen, da die »altbewährte« Strategie des Verdrängens verhindert hatte, dass sie adäquate Werkzeuge finden und innere Stabilität bilden konnten. Manchmal genügt dann ein scheinbar kleines Ereignis und die Belastungsgrenze ist erreicht. Dann brechen die inneren Dämme. Der Druck wird einfach zu groß. All das, was durch Kompensation und Verdrängung in Schach gehalten wurde, strömt nun ins Bewusstsein. Die Kompensation gelingt nicht mehr, die alte Strategie versagt.
Der Moment der Dekompensation stellt häufig eine große Krise dar. Nicht selten werden Menschen in einer Dekompensation retraumatisiert, weil all die alten Empfindungen ungefiltert das Hier und Jetzt überfluten. In diesem Kontext fällt häufig der Begriff »late onset pTSD«, der besagt, dass eine komplexe Posttraumatische Belastungsstörung auch viele Jahre nach den auslösenden Ereignissen auftreten kann. Es ist also keine dauerhafte oder verlässliche Lösung, mit Kompensationsstrategien das eigene Innere zu kontrollieren. Kompensationsstrategien sind sehr hilfreich, um für eine begrenzte Zeit trotz großer Belastung eine gewisse Stabilität zu erreichen. Diese Stabilität hat aber ihre Grenzen. Wahre Stabilität und wirkliche Resilienz erreichen wir dadurch, dass wir unsere verdrängten Gefühle und Empfindungen integrieren und uns mehr und mehr auf uns selbst und andere verlassen können, statt uns selbst immer wieder zu verlassen.
Aus diesem Blickwinkel betrachtet, kann eine Dekompensation auch einen Wendepunkt darstellen, der viel Gutes mit sich bringt. Denn das Ende der Kompensation ist oftmals der Beginn der Integration und damit nicht selten der Anfang eines neuen Lebensabschnitts voller heilsamer Momente.
BASISWISSEN: INTEGRATIONALSSCHLÜSSEL
In der traumatherapeutischen und traumasensiblen Arbeit ist Integration ein Schlüsselfaktor. Traumafolgen ergeben sich durch die fehlende Verarbeitung, also Integration des Geschehenen. Da infolgedessen Verdrängung, Dissoziation und Kompensation eine große Rolle spielen, geht es niemals darum, Verhaltensmuster, Eigenschaften oder Symptome »loszuwerden«, weil dies die Verarbeitung weiter erschweren oder sogar verhindern würde. Sondern es geht stets darum, sie zu integrieren. Es ist höchst nachvollziehbar, wenn man Unangenehmes, Unliebsames oder gar Quälendes loswerden möchte. Doch was wir erlebt haben und was das Erlebte mit uns gemacht hat, gehört zu uns. Es loshaben zu wollen, bedeutet gewissermaßen, einen lebendigen Teil unserer Selbst zunichtemachen zu wollen. In dieser so nachvollziehbaren Sehnsucht liegt etwas unmittelbar Destruktives, das sich häufig in dem Gefühl, sich selbst immer fremder zu werden, zeigt. Der Kampf gegen das, was wir loswerden wollen, ist immer ein Kampf gegen uns selbst und den können wir nur verlieren.
Wenn wir hingegen die Strategie wechseln und zunächst einmal grundlegend davon ausgehen, dass das, was zu uns gehört, nicht gegen uns ist, sondern für uns, ändert sich die Lage. Wenn wir anerkennen, dass unsere Überlebensstrategien und Kompensationsmechanismen gesund und nicht falsch sind, kann der Kampf enden. Der Prozess der Integration kann beginnen. Wir fangen an, uns aus der Starre der Überlebensstrategien zu befreien und uns weiterzuentwickeln. Indem wir beginnen, neugierig zu werden auf das, was jenseits unserer Strategien, Verhaltensmuster und Symptome liegt, kann sich nach und nach unser unversehrtes Wesen zeigen, das hinter alledem mal mehr, mal weniger verborgen war.
Integration bedeutet, dem, was ausgeschlossen war, einen Platz im Licht des Bewusstseins zu geben. Gefühle, Erinnerungen und Körperempfindungen wollen heimkehren. Im heilsamen Licht des Bewusstseins ist auch Platz für die Wirklichkeit unseres eigenen Erlebens. Es war, wie es war. Und das gehört zu uns, unserem Leben und unserer Vergangenheit. Integration ist, wie hier vermutlich deutlich wird, keine Entscheidung oder ein einmaliges Ereignis, sondern ein Prozess.
Die größte Heilkraft liegt in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen
Ob wir einander sehen und unterstützen oder uns weiter mit Projektionen und Kompensationsstrategien im Kreise drehen, ist in meinen Augen das Entscheidende für individuelles Lebensglück und eine weitgehend friedliche Welt. Wo Wohlwollen und Respekt die Basis für menschliche Begegnungen sind, geschieht Heilsames, Versöhnliches und auch Neues. Wenn es uns gelänge zu verstehen und anzuerkennen, dass wir alle, ohne Ausnahme, von Natur aus aufeinander angewiesen sind, käme das einem »Zurücksetzen auf unsere Werkseinstellung« gleich und wir hätten die Chance auf einen echten Neubeginn. Pur, unschuldig und jenseits der antrainierten Kampf- oder Fluchtreaktionen und antrainierten Kompensationsstrategien. Selbst wenn das poetisch, idealistisch oder naiv klingt, gibt es Grund, zuversichtlich zu sein. Wir werden im Weiteren erkunden, welche Argumente oder gar Beweise uns sowohl die Neurobiologie als auch die Bindungstheorie dafür liefern.
Einladung zur Reflexion
Wie geht es dir mit dem Gedanken, dass wir einander brauchen? Ist er eher angenehm, eher unangenehm, oder fühlt er sich ambivalent an?
Was löst er in deinem Körper für (fast unmerkliche) Reaktionen aus?
Was geschieht mit deinem Atem und deiner Körperhaltung?
Was löst er für Gedanken, Assoziationen oder Erinnerungen aus? Welches »Aber …« kommt in dir auf?
Notiere dir deine Antworten, um zu beobachten, ob sich im Laufe der Zeit etwas daran ändert, wenn du mehr über unsere bindungsorientierte Natur erfährst.
ESSENZ: ESGIBTNOCHGANZANDEREWEGEALSDASVERDRÄNGEN, UMNICHTVONALTENGEFÜHLENÜBERWÄLTIGTZUWERDEN.
»Entweder ich werde von diesem Gefühl weggespült oder ich verdränge es.«
Viele von Traumafolgen betroffene Menschen glauben, dass es nur dieses »Entweder-oder« gäbe. Doch da ist so viel mehr, was einem heilsamen Umgang mit überflutenden Gefühlen wirklich dient:
Werde dir bewusst, dass du das, was dich so beutelt, bereits überstanden hast! Was in deinem Inneren noch wirkt, ist der unverarbeitete Nachhall der Vergangenheit.Du bist größer als das, was dir passiert ist!Indem du lernst, dein Nervensystem zu verstehen und es zu regulieren, wird die Wucht der alten Gefühle abflauen.Indem du bewusst gute Erfahrungen im Hier und Jetzt sammelst, bringst du heilsame Informationen in dein versehrtes Inneres.Indem du dir deiner Ressourcen bewusst wirst und sie pflegst, stärkst du deine Resilienz und lernst, dir Halt zu geben.Indem du wohltuende Beziehungen pflegst, gestaltest du ein Leben jenseits der Schatten der Vergangenheit.Indem du dir Hilfe und Unterstützung holst, durchbrichst du die alte Überzeugung, dass du allein bist und es niemals besser werden wird.Einladung zur Reflexion:
Was hilft dir, um überflutende Gefühle zu regulieren? Was sind wichtige Ressourcen für dich auf dem Heilungsweg?
Anpassung als Überlebensstrategie – Es wird »normal«, was schadet.
Viele Menschen – und zu einem großen Teil wohl auch die Menschheit als Ganzes – sind so sehr in ihren Kompensationsstrategien verstrickt, mit denen sie versuchen, ihren alten und abgekapselten Schmerz auszublenden, dass Einsamkeit, andauernde Konflikte und mangelnde Verbundenheit zu einem Normalzustand für sie geworden sind. So gilt es eher als Ausnahme und hohe Errungenschaft, wenn in einer Region dauerhaft Frieden herrscht, als dass es als Ausnahme betrachtet würde, dass es Kriege gibt. Eine hohe Scheidungsrate ist heute »normal«. Es wird auch als normal gehandelt, dass wir an unserer Work-Life-Balance arbeiten und unseren Medienkonsum besser in den Griff kriegen sollen, statt dass wir uns fragen, wieso wir diese Probleme überhaupt haben. Es ist »normal«, dass wir Symptome behandeln, statt uns ihren Ursachen zuzuwenden.
Ich glaube, dass das Phänomen, toxische Bedingungen zu normalisieren, ein Ergebnis unserer Fähigkeit zur Anpassung ist. Diese Fähigkeit dient evolutionär dem Überleben unter widrigen Umständen. Sie ermöglicht es uns, auch in lebensfeindlichen Umfeldern zu bestehen und uns im Rahmen der Möglichkeiten weiterzuentwickeln. Wenn wir destruktive Umstände weiter am Leben erhalten und sie als »normal« akzeptieren, tappen wir jedoch in die Falle der eigenen Anpassungsleistung und berauben uns wahrer Entwicklungschancen. Dann beschränkt sich unsere Entwicklung lediglich darauf, uns meisterlich in diesen Umständen einzurichten und zu überleben, statt zu leben. Indem wir uns fragen, wie wir unter diesen Umständen klarkommen, machen wir uns zu ihren Komplizen. Diese Komplizenschaft macht uns blind für Auswege und Alternativen.
Ich verstehe es als eine Voraussetzung für gelingende Beziehungen und Lebensglück, dass wir uns der toxischen Anpassungen bewusst werden, ihre Ursachen hinterfragen und uns nach und nach aus ihnen befreien. Diese Befreiung ist ein großer, heilsamer und komplexer Prozess.
Prägungen, die durch Wiederholung unter Stress entstehen, sind hochfunktionale Konditionierungen
Zunächst geht es darum, zu begreifen, dass Prägungen aus Kindheit und Jugend gemeinsam mit unserer Sozialisierung in bestimmten Normen einer Konditionierung gleichkommen. Das bedeutet, dass durch wiederholte Erfahrungen automatische Reaktionen, Erwartungen und Handlungsmuster entstehen. Für vernachlässigte Kinder etwa fühlt es sich »normal« an, schlecht behandelt zu werden, auch wenn sie schwer darunter leiden. Das heißt, in ihnen wirkt eine selbstverständliche Erwartung, so behandelt zu werden. Wenn wir uns unserem alten Schmerz zuwenden, liegt darin also auch das Potenzial, aus konditionierter Ohnmacht, Hilflosigkeit und Erwartung zu erwachen und in das Empfinden von Selbstwirksamkeit hineinzuwachsen. Wir bekommen die Chance, eine neue, selbstgewählte und selbstbestimmte Wirklichkeit zu kreieren.
Wie kann das gelingen, wenn unsere frühen Prägungen und Schutzmechanismen so solide und automatisiert funktionieren? Wieso genügt es offenbar nicht, sie zu erkennen, um sich aus ihnen zu befreien? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, ist es wichtig, ein paar grundlegende Funktionsweisen unserer menschlichen Biologie zu verstehen. Dafür nehmen wir uns zu Beginn dieses Buches nun einmal in Ruhe Zeit.
BASISWISSEN: UNSERAUTONOMESNERVENSYSTEM (ANS)
Unser Nervensystem besteht aus verschiedenen Teilen, die unterschiedliche Funktionen erfüllen. Im Hinblick auf Trauma und seine Folgen sowie auf Beziehungsdynamiken ist das autonome Nervensystem von besonderer Bedeutung. Es ist für die Steuerung der unbewussten Körperfunktionen wie Herzschlag, Verdauung und Atmung sowie für unsere Überlebensreaktionen verantwortlich. Eine weitere Differenzierung unterteilt das ANS in das sympathische und das parasympathische Nervensystem, wobei Letzteres mit dem Vagusnerv einen wesentlichen Aspekt unserer sozialen Natur umfasst.
Das sympathische Nervensystem ist für die Mobilisierung von Energie zuständig und unterstützt damit Aktivität und Reaktionen wie »Flucht oder Kampf«.
Das parasympathische Nervensystem ist für die Aktivierung von Erholung, Regeneration, »Ruhe und Verdauung« aber auch für den Totstellreflex unter Lebensbedrohung verantwortlich.
Eine zentrale Rolle in zwischenmenschlichen Interaktionen sowie in Beziehungsdynamiken und für unsere Fähigkeit zur Co- und Selbstregulation fällt dem Parasympathikus mit dem Vagusnerv zu. Die Polyvagaltheorie unterscheidet zwischen dem dorsalen Teil des Vagusnervs und dem ventralen Teil:
Der dorsale Vagusnerv ist der ältere Teil des parasympathischen Nervensystems. Wenn der Körper extreme Bedrohungen wahrnimmt, die er weder durch Flucht noch durch Kampf bewältigen kann, ruft der dorsale Vagus Erstarrung und Dissoziation hervor. Er ist auch für den sogenannten »Totstellreflex« verantwortlich, eine Art körperliche Unterwerfung bei extremer Gefahr.
Wenn wir uns in Sicherheit befinden, ist der dorsale Vagus verantwortlich für tiefe Regeneration, Entspannung und den Genuss von Ruhe und Passivität.
Der ventrale Vagusnerv ist verbunden mit sozialen Interaktionen und der Fähigkeit, sich sicher und entspannt zu fühlen. Die Aktivierung des ventralen Vagusnervs fördert soziale Bindung, Kommunikation und beruhigende Prozesse. Er ermöglicht es, in stressigen Situationen ruhig und handlungsfähig zu bleiben. Unter Hochstress unterstützt der ventrale Vagus unsere Fähigkeit, uns an bedrohliche Menschen und Systeme sozial anzupassen und uns ihnen gewissermaßen zu unterwerfen, so dass wir unsere Überlebenschancen steigern.
Je nachdem, wie aktiv Sympathikus, Parasympathikus, ventraler oder dorsaler Vagus sind, befinden wir uns in unterschiedlichen Zuständen. Sie reichen von entspannt verbunden bis hochgestresst oder abgeschnitten. Auch Mischzustände sind möglich und alltäglich. Je besser wir diese Zustände verstehen und erkennen können, desto größer ist der Einfluss, den wir auf sie nehmen können. Entsprechend selbstwirksamer und ausgewogener erleben wir uns selbst und unsere Beziehungen.
Stress und Trauma sind zwei verschiedene Dinge
Unser Nervensystem hat die lebenswichtige Aufgabe, uns zu schützen. Dafür analysiert es unsere gegenwärtige Situation pausenlos, und registriert dabei auch subtilste Informationen aus dem Umfeld und dem Körperinneren. Diese meisterliche Fähigkeit, die oft metaphorisch als 6. Sinn bezeichnet wird, nennt man Neurozeption. Um unser Überleben zu sichern, folgt unser Nervensystem hierzu einem Bewertungssystem, das drei klare Kategorien unterscheidet: Sicherheit, Gefahr oder Lebensgefahr. Je nachdem, welches Urteil – vollkommen automatisch, also an unserem Bewusstsein vorbei – gefällt wird, werden Prozesse im Körper aktiviert, die dem jeweiligen Umstand entsprechend und meist angemessen sind.
Demgemäß ist der Mensch rein biologisch sehr gut dafür ausgestattet, um mit akutem Stress umzugehen. Es gibt jedoch einen großen Unterschied zwischen verträglichem oder auch tolerablem Stress und traumatischem Stress. Dieser Unterschied besteht vor allem darin, ob wir der Situation aus eigener Kraft oder mit der Hilfe anderer entkommen und in die Sicherheit zurückfinden können oder ob wir der als lebensbedrohlich empfundenen Situation aus eigener Kraft nicht entrinnen können und uns niemand aus ihr heraushelfen kann. Traumatische Erfahrungen zwingen uns in Empfindungen von Lebensbedrohung, absoluter Überwältigung, Hilflosigkeit und Ohnmacht.
Der Begriff »Trauma« umfasst ein weites Spektrum, das eine unerschöpfliche Fülle an Ereignissen einschließt. Ein traumatisierendes Erlebnis kann Sekunden andauern oder sich über Jahre erstrecken oder auch aus einer im Laufe der Zeit überwältigenden Anhäufung scheinbar kleinerer Stressoren, sogenannter »Mikrotraumata«, entstehen. Eine gängige Definition von Trauma, die dieses Spektrum gut abbildet, lautet: Ein traumatisches Geschehen zeichnet sich dadurch aus, dass es die Bewältigungs- und Verarbeitungsfähigkeit des Betroffenen übersteigt.
Traumatische Erfahrungen sind also so bedrohlich und von solcher Intensität, dass unser Inneres auf sie weder im Moment des Geschehens noch in der Zeit danach eine adäquate Antwort hat. Es geht in einer solchen Situation dann nicht mehr darum, sie zu bewältigen oder zu meistern, sondern einzig und allein darum, sie zu überleben.
Ob wir nun in einer Stresssituation oder in einer traumatischen Situation landen – die Antworten unseres Körpers sind in beiden Fällen zunächst einmal sehr ähnlich. Es sind schnelle und reflexartig ablaufende komplexe Prozesse, die für akute Herausforderungen von nicht allzu langer Dauer gedacht sind. Sie sollen uns helfen, die Anforderungen der jeweiligen Situation zu meistern, indem unser Nervensystem blitzschnell ein ausreichendes Maß an Energie mobilisiert. Dafür werden Stresshormone und Botenstoffe in den Blutkreislauf ausgeschüttet und der gesamte Organismus arbeitet vollkommen effizient an der Bewältigung des Geschehens. Bei sehr hohem Stress, den unser Nervensystem nicht nur als herausfordernd, sondern als bedrohlich einstuft, werden vom Sympathikus die bekannten Stressreaktionen Flucht und Kampf aktiviert. Bei als lebensbedrohlich empfundenem Stress und wenn Flucht und Kampf nicht zum Erfolg führen können, wird durch den dorsalen Vagusast eine Immobilisierung des gesamten Organismus, der sogenannte »Totstellreflex« eingeleitet, um die Chancen zu erhöhen, die hochgefährliche Situation zu überleben. Wenn die Lage unklar ist, kann es geschehen, dass der Sympathikus Flucht- oder Kampfreaktionen einleiten möchte, der dorsale Vagus jedoch die Reaktion überlagert und eine Immobilisierung bewirkt, was die sogenannte »Freeze-Reaktion« oder auch die Erstarrungsreaktion zur Konsequenz hat – es geht weder vorwärts noch rückwärts.
An allem Anfang steht die Bindungssuche
Eine wesentliche Information habe ich dir bisher vorenthalten, um ihre große Bedeutung in ein besonders helles Licht zu rücken: die Bindungssuche. Noch bevor unser Körper entscheidet, ob wir uns durch Flucht, Kampf oder Totstellen zu retten versuchen, wird unser Bindungssystem aktiviert und wir prüfen instinktiv, ob jemand uns helfen, retten oder bewahren kann. Diese Information solltest du dir merken, denn sie wird dein Verständnis für die Auswirkungen traumatischer Erfahrungen auf unser Beziehungsverhalten maßgeblich erweitern.
Ist die stressvolle Situation mithilfe unserer primären, autonomen Reaktionen (Bindungssuche, Flucht, Kampf oder Totstellen) überstanden, werden die Botenstoffe und Hormone wieder abgebaut und das Körpersystem kehrt wieder zu einem Gefühl von Sicherheit zurück, so dass körperliche Regeneration und emotionale Verarbeitung beginnen können.
In der folgenden Abbildung möchte ich dir zeigen, welche Anteile unseres Nervensystems für diesen Ablauf einer gelingenden Stressreaktion aktiviert werden und wie sie zusammenwirken. Zur Veranschaulichung greife ich auf das dir vielleicht schon bekannte Bild des Stresstoleranzfensters von Daniel Siegel zurück. Dieses einfache Modell verdeutlicht, dass es ein Zustandsspektrum gibt, in dem wir uns in Balance fühlen, während wir etwa angeregt wach oder auch tief entspannt sind. Der Grad an Erregung in unserem Nervensystem ist ausgewogen. Oberhalb und unterhalb des Fensters fühlen wir uns entweder in einem hoch gestressten Zustand und erleben eine nervliche Übererregung oder in einem Zustand der Schwere und Antriebslosigkeit, der durch eine nervliche Untererregung gekennzeichnet ist. Der Grad der Erregung, den wir empfinden, wird maßgeblich von den zwei schon erwähnten Teilen unseres autonomen Nervensystems, dem Sympathikus und dem Parasympathikus gesteuert, was du in der Abbildung erkennen kannst.
Wenn unser ANS Gefahr wahrnimmt und wir einen Verlust an Sicherheit erleben, wird die Bindungssuche aktiviert. Wird diese erwidert und der Stress dadurch gemildert, endet die Energiemobilisierung. Steigt der Stress jedoch weiter an, wird eine Stresskaskade ausgelöst und noch mehr Energie mobilisiert. Wir geraten aus dem Stresstoleranzfenster hinaus. Es werden nun die Überlebensreaktionen Flucht und Kampf ausgelöst. Führen diese zur Lösung oder Rettung, wird hier die Stressreaktion gestoppt und das Erregungslevel nimmt ab. Wir finden zurück ins Stresstoleranzfenster. Wenn dies jedoch nicht gelingt und wir die Situation als lebensbedrohlich empfinden, wird der Totstellreflex und die totale Immobilisierung eingeläutet. Wenn wir die Situation überstanden haben, kann auch hier eine Rückkehr ins Stresstoleranzfenster stattfinden. Der Weg aus der Immobilisierung zurück in die Balance dauert länger als der Weg aus der Mobilisierung zurück ins Stresstoleranzfenster, da der Organismus in einen Zustand absoluter Energiekonservierung gesteuert ist.
Situationen, die uns aus unserem Stresstoleranzfenster herauszwingen, haben das Potenzial, traumatisch zu wirken, je länger und je häufiger wir ihnen ausgesetzt sind, denn sie sind so intensiv und überwältigend, dass wir sie, anders als üblichen Erfahrungen, deutlich schwerer verarbeiten können. Das Trauma liegt also nicht im Ereignis allein, sondern vor allem im Unvermögen, es zu verarbeiten.
In der Konsequenz entwickeln sich Probleme für die Überlebenden, die man treffend als Traumafolgen, Traumafolgesymptome oder Traumafolgestörungen bezeichnet. Diese Folgen und Symptome umfassen wiederum ein großes Spektrum und reichen von quälenden, sich unvermittelt aufdrängenden bildhaften oder emotionalen Erinnerungsfragmenten (Flashbacks) über Angst und Depression bis hin zu chronischen Krankheiten, Selbstwertproblemen und Schwierigkeiten in der Beziehungsgestaltung.
TRAUMA UND VERBUNDENHEIT NEUROBIOLOGISCH BETRACHTET
Trauma compromises our ability to engage with others by replacing patterns of connection by patterns of protection.
Stephen Porges
Alles eine Frage der Sicherheit
Dass die Bindungssuche unsere primäre, automatische Antwort auf den Verlust von Sicherheit ist, unterstreicht auf eindrückliche Weise die bereits erwähnte Tatsache, dass wir einander auf existenzielle Weise brauchen. Diese Grundeinstellung unseres Nervensystems macht die biologische Dimension unserer naturgegebenen, gegenseitigen Abhängigkeit auf nüchterne Weise deutlich. Die Ausrichtung auf Bindung ist tief in unsere Gene und in unser Gehirn geprägt. Soziale Unterstützung stellt nicht etwa eine Option dar, sondern eine biologische Notwendigkeit, wie es der niederländische Psychiater und Autor Bessel van der Kolk in seinem Buch Verkörperter Schrecken eindrücklich beschreibt.
Bindung und Verbundenheit sind somit die Basis für Sicherheit und zugleich ein Ausdruck derselben.
Wie können wir uns in einer Welt voller Gefahren sicher fühlen? Dass wir ein Empfinden von Sicherheit erleben, ist nicht allein von äußeren Bedingungen abhängig, sondern viel mehr von einem neurophysiologischen Zustand unseres Nervensystems, der sich durch Wohlbefinden und soziale Verbundenheit auszeichnet. Er stellt sich dann ein, wenn unser Nervensystem in Balance ist und Sympathikus und Parasympathikus so zusammenwirken, dass wir entspannt sind. Sicherheit finden wir ausschließlich innerhalb des Stresstoleranzfensters. Maßgeblich verantwortlich für diesen erstrebenswerten Zustand ist der ventrale Vagus. Wenn er aktiv ist, fühlen wir uns sicher und verbunden.
Die Neurobiologie der Interaktion – das »social engagement system«
Stephen Porges, der Begründer der Polyvagaltheorie, prägte den Begriff des »social engagement systems« (SES). Das soziale Engagement-System, oder auch soziale Nervensystem, wird so genannt, weil es uns ermöglicht, mit unserer sozialen Umgebung zu interagieren und uns in ihr zu engagieren. Es hat wesentlichen Einfluss darauf, wie wir Sicherheit in sozialen Kontexten empfinden und aufbauen. Seine verschiedenen Funktionen ermöglichen es uns, soziale Signale zu entschlüsseln und zu senden, und es ist damit entscheidend an der Entwicklung und Aufrechterhaltung zwischenmenschlicher Beziehungen beteiligt. In all den Situationen, in denen wir verbunden sind oder die Bindungssuche aktiviert ist, ist das soziale Nervensystem am Werk. Wenn es aktiv ist, ist unser Inneres auf Bindung und Verbundenheit ausgerichtet, sowohl in Sicherheit wie auch – als Teil einer Überlebensreaktion – in Gefahr.
Das soziale Nervensystem setzt sich aus verschiedenen Hirnnerven zusammen und steuert, insbesondere durch die Aktivität des Vagusnervs, eine Reihe von Funktionen, die für zwischenmenschliche Kommunikation und soziale Interaktion essenziell sind. Sie helfen uns, einander instinkthaft zu verstehen und wahrzunehmen, auch ohne, dass wir bewusst darüber nachdenken. Das soziale Nervensystem umfasst folgende Funktionen (wenn du möchtest, beobachte deine Reaktionen und Assoziationen, während du der Auflistung folgst):
Mimik und Gesichtsausdruck: Wir haben eine sehr feine und differenzierte Wahrnehmung für kleinste mimische Veränderungen und deren Botschaft im Gesicht unseres Gegenübers. Die Fähigkeit, Emotionen durch Mimik und Mikromimik zu zeigen und zu erkennen, ist entscheidend für die nonverbale Kommunikation, die in vielen Situationen einen großen Teil der Interaktion ausmacht. Insbesondere, wenn verbale und mimische Botschaften nicht übereinstimmen, jemand also etwas sagt, was nicht zu seiner Mimik passt, bewerten wir meist unbewusst die nonverbalen Informationen höher als die Worte. Das drückt sich häufig in unserem »Bauchgefühl« aus, wenn wir etwa jemandem nicht glauben, obwohl er so gute Argumente vorbringt oder wenn nach einem Gespräch ein Gefühl von Irritation zurückbleibt, das wir nicht in Worte fassen können. Der Trend, sich mit Botox oder anderen die Mimik verändernden Eingriffen attraktiver machen zu wollen, geht oft auf Kosten der fein abgestimmten nonverbalen Kommunikation. Insbesondere für Kinder im vorsprachlichen Alter, aber auch für Erwachsene kann dies zur Folge haben, dass sie sich mit dem unnatürlich veränderten Gegenüber irritiert und weniger sicher fühlen.Augen (Blick): Der Blickkontakt ist elementar, wenn es darum geht, eine Verbindung herzustellen und soziale Signale zu erkennen. Wenn wir uns schämen, senken wir den Blick, und wenn wir auf jemanden wütend sind, fixieren wir ihn mit den Augen. Menschen, die intensiv und verbunden miteinander sprechen, haben viel Blickkontakt. Der freundliche Blick eines zugewandten Menschen beruhigt uns in aufregenden Situationen »augenblicklich«, während uns die Angst in den Augen eines anderen als Signal drohender Gefahr sofort beunruhigt. Paare, die wenig Augenkontakt haben, sind sich oft innerlich fremd (geworden) und erleben wenig Nähe und Verbundenheit. Es kann einen hohen Preis haben, wenn wir gebannt aufs Handy schauen und den Blick nicht mehr heben, wenn ein geliebter Mensch den Raum betritt. Blickkontakt bewusst zu pflegen, ist eine wirkungsvolle Möglichkeit, um Nähe und Wärme zu schenken und dadurch unser soziales Engagement-System zu aktivieren und unser Nervensystem zu balancieren.Ohr: Das Hören der menschlichen Stimme nutzt unser Nervensystem, um Sicherheit oder Gefahr zu erkennen. Über spezifische Funktionen filtert unser Gehör die Frequenzen der menschlichen Stimme aus Umgebungsgeräuschen heraus, was die verbale Kommunikation erleichtert.Kiefer und Zungengrund: Auch der Saugreflex in der frühen Kindheit steht im Zusammenhang mit dem sozialen Nervensystem. Kinder beruhigen sich, wenn sie an der Brust oder einem Schnuller saugen. Viele Menschen haben einen sehr angespannten Kiefer, wenn sie gestresst sind, oder suchen unwillkürlich Beruhigung durch Nägel- oder Kaugummikauen, Snacks knabbern oder Zähneknirschen.Stimme und Prosodie: In der Art und Weise, wie jemand spricht, steckt eine Fülle an Informationen. Ob die Stimme eines Menschen freundlich und warm, angestrengt oder aggressiv klingt, hängt unmittelbar mit dem Zustand seines Nervensystems zusammen. Das soziale Nervensystem beeinflusst die Prosodie der Stimme, also den Klang, den Tonfall und die Sprachmelodie. Je entspannter ein Mensch ist, desto melodischer und lebendiger klingt seine Stimme. Eine schrille, laute Stimme zeigt uns eine starke Aktivierung des Sympathikus an, während eine monotone, gedämpfte Stimme Folge einer parasympathikotonen Untererregung ist. All diese feinen Aspekte nehmen wir wahr und deuten sie als Signale der Sicherheit oder Bedrohung, auch wenn es uns nicht bewusst ist.Kopf und Hals: Das soziale Nervensystem hilft uns, uns über die Bewegungen des Kopfes und Halses ständig zu orientieren und dadurch Sicherheit zu generieren. Wir wenden unseren Kopf in Richtung anderer Menschen oder von ihnen ab oder wir neigen den Kopf zur Seite und nutzen so unwillkürliche soziale Gesten zur Kommunikation. Menschen, die sehr gestresst sind, blicken sich andauernd um, während Menschen in der Untererregung ihren Kopf oft starr auf dem Hals tragen und mit ihrer Umwelt nicht in Kontakt stehen.Unter Stress wird das soziale Nervensystem gedämpft
Wenn unsere Neurozeption Gefahr wahrnimmt, aktiviert der Körper, wie du schon erfahren hast, als Allererstes die Bindungssuche, also das soziale Nervensystem. Wenn dadurch die Gefahr nicht gebannt werden kann, aktiviert er die anderen Überlebensreaktionen, was zugleich zur Folge hat, dass das soziale Nervensystem in den Hintergrund tritt. Es macht Platz für die basalen und reflexartigen Reaktionen, die das Überleben sichern sollen.
Viele Menschen, die unter Traumafolgen leiden und insbesondere diejenigen, die früh in ihrem Leben durch Bindungspersonen Traumata erlebt haben, leben später häufig mit einem latent hypoaktiven sozialen Nervensystem. Das bedeutet vor allem, dass sie Schwierigkeiten damit haben, in ihren zwischenmenschlichen Begegnungen Sicherheit und Leichtigkeit, Klarheit und Verbundenheit zu finden und zu geben. Die Dämpfung des sozialen Nervensystems, gleich ob durch akuten Stress oder durch frühe Prägungen bedingt, kann viele leidvolle Facetten haben, die ich im Folgenden beschreiben möchte.
Alle Menschen sind gleich (schlecht oder gut)
Wenn unser soziales Nervensystem gedrosselt ist, ist es unmöglich, einen Gesichtsausdruck adäquat zu deuten. Wenn wir in einem dysregulierten Zustand sind, sehen alle Gesichter böse, verächtlich oder desinteressiert aus. Signale der Sicherheit, wie freundliche Blicke, missdeuten wir und halten sie für bedrohlich. Genauso wenig können wir Stimmen, die Mimik und im Grunde jeden kommunikativen Ausdruck eines anderen stimmig übersetzen. Diese Fehlinterpretationen haben viel Gewicht. Sie fühlen sich wie die einzig mögliche Realität und Wahrheit an. Sie ersetzen gewissermaßen unser oben erwähntes »Bauchgefühl« mit einem rigiden, automatischen Bewertungssystem, das jedes Signal ausschließlich als bedrohlich deutet. Wenn das soziale Nervensystem nicht aktiv ist, können wir unserem Bauchgefühl also keineswegs trauen.
Das Nervensystem funkt »Gefahr« und die Antwort darauf ist »Schutz«. Statt Verhaltensmuster zu nutzen, die Verbundenheit stärken, aktivieren wir dann immer mehr Verhaltensmuster, die vor Gefahr, in diesem Falle anderen Menschen, schützen sollen. Wir fliehen, gehen aus dem Kontakt oder in eine abwehrende, kämpferische Haltung. Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie sehr ein solcher innerer Zustand Beziehungen und damit ein ganzes Leben beeinträchtigen und bestimmen kann.
Verbundenheit ist mehr als ein Gefühl
Das Empfinden von Verbundenheit und Sicherheit ist also weit mehr als ein Gefühl. Es ist vielmehr ein neurophysiologischer Zustand, in dem wir uns dann befinden, wenn unser Nervensystem in Balance ist, unser soziales Nervensystem aktiv ist und wir innerhalb des Stresstoleranzfensters verankert sind.
Unsere feinen Sinne helfen uns, Beziehungen bewusst und achtsam zu führen. Im Laufe des Lebens entwickeln wir eine Menschenkenntnis, deren Basis ein grundlegendes Vertrauen in das Gute im Menschen und der Welt ist. Selbst wenn wir schlechte Erfahrungen machen und das Leben uns herausfordert, kehren wir immer wieder zurück in das Gefühl von Zugehörigkeit, Unterstützung und Gemeinschaft. Es sei denn, wir leiden unter den Folgen (früher) Traumatisierungen.
Trauma führt zu einem chronischen Verlust von Sicherheit in allen Dimensionen unseres Seins
Das Nervensystem ist aus der Balance und unser Körper ist kein Ruhepol, sondern ein Quell unangenehmer Empfindungen. Die Beziehung zu uns selbst, unseren Mitmenschen und der Welt ist tief erschüttert und an der Basis verunsichert, denn unser Nervensystem ist chronisch latent dysreguliert. Wo Verbundenheit sein sollte, finden sich Schutz, Wappnung und Kampf. Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit oder schwelende Wut sind dann unsere täglichen Begleiter.