Traumgleiter - Christian Fülling - E-Book

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Christian Fülling

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Beschreibung

Martin Borchardt ist hellsichtiger Psychotherapeut und Traumexperte und arbeitet nebenberuflich als Profiler beim Berliner LKA 1. Als eine grausame Mordserie die Hauptstadt erschüttert, stehen die Ermittler vor einem Rätsel. Es gibt weder Spuren noch Hinweise auf einen Täter. Ist die Entführung einer jungen Frau die Ankündigung einer weiteren Tat? Borchardt steigt in die laufenden Ermittlungen ein. Von da an wird er von unerklärlichen Visionen heimgesucht, die sein Leben bedrohen und ihn bis in seine Träume verfolgen. Stück für Stück offenbart sich ihm das Unvorstellbare. Der Not gehorchend begibt er sich an den Ort, wo seine Fragen Antworten finden – das Reich der Träume. Doch ist Borchardt wirklich bereit für die Antworten, die er sucht?

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Traumgleiter

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort

Prolog

Vorbereitungen

1

2

3

4

5

6

7

8

9

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Die Jagd

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Epilog

Die Magie des Schreibens / Danksagung

Über den Autor

ERSTER TEIL

ZWEITER TEIL

Impressum neobooks

Vorwort

Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären zufällig und nicht beabsichtigt. Die Aussagen über Träume und deren Deutung entspringen der gängigen Praxis; ebenso die Aussagen über die Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie sowie die Schilderungen wissenschaftlicher Erkenntnisse der Neurowissenschaften, Biochemie, Schlaf- und Traumforschung und Parapsychologie, die gleichermaßen recherchierbar und in Fachbüchern nachlesbar sind. Einige psychische, parapsychologische und Traumphänomene wurden zur Erzeugung einer fiktiven Handlung weitergedacht.

„Alle Zeiten existieren jetzt, und Erinnerungen und Vorausnahmen sind Botschaften aus parallelen Welten, die es in der Zukunft und Vergangenheit gibt, in der Gegenwart jedoch immer gleichzeitig sind.“

Dr. Fred Alan Wolf, amerikanischer Physiker und

Bewusstseinsforscher

Prolog

Erhaben betrachteten sich die mit Schnee behangenen Berggipfel in den Wellenbewegungen des kristallenen Seewassers, das den goldgelben Strahlen der aufstrebenden Morgensonne erlaubte, sich in ihnen zu verzaubern und abertausende glitzernde Tänzer zu gebären, deren Rhythmus Nadine Borchardt an jenem Frühlingsmorgen tief im Herzen berührte.

„Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie glücklich ich bin“, flüsterte sie und verlor sich in seinen Augen. „Die Zeit war überreif. Nur du und ich. Wie früher. Weit weg von allem. Jeden Tag danke ich Gott dafür, dass du an meiner Seite bist.“

Martin Borchardt berührte ihre Hand und erwiderte ihren Blick mit der gleichen Intensität und Wärme.

„Es war auch gar nicht so schwer ohne Samira, oder?“

„Ja, ich hatte es mir schwerer vorgestellt.“

„Aber, je mehr ich sie vermisse, umso tiefer begreife ich immer wieder, welch wunderbare Tochter wir haben“, freute sie sich.

„Ja, sie ist der Beweis für unser Glück.“

„Und du bist der Mann, der mir diese hübsche und intelligente Tochter geschenkt hat. Ich danke dir. Für alles.“

„Nichts entsteht aus sich selbst heraus“, zwinkerte er ihr zu. „Deshalb, meine Liebe, ganz meinerseits.“

„Ich kann es kaum fassen, dass sie nächstes Jahr schon 18 wird. Dann ist sie eine erwachsene Frau.“

„Ja, so ist es. Nichts im Leben ist von Dauer, mein Engel“.

„Doch! Unsere Liebe“, stellte sie richtig, während sie sich zart von seinen Augen löste und einen letzten Blick auf den Tegernsee warf. Die Bewegung der funkelnden Wellentänzer hatte sich verändert. Die Sonne übernahm nun die Regie. Sie saßen auf der stilvollen Restaurant-Terrasse des eleganten Seehotels Überfahrt an der Südspitze des Sees. Beide hatten sich eine luxuriöse Auszeit gewünscht - in Ruhe und Abgeschiedenheit.

„Ich liebe diesen klaren See und diese faszinierenden Alpen. Man fühlt sich so beschützt. Als ob die Hektik des Alltags an ihnen abprallt. Ich habe das Gefühl, die Zeit steht still.“

„Warum bleibst du nicht doch noch bis morgen? Dann hätten wir noch eine gemeinsame Nacht“, brannte es auf seinen Lippen.

„Martin, ich möchte einfach morgen früh zu Hause sein und mich in Ruhe auf den Abend vorbereiten.“

„Das verstehe ich ja.“

„Was ist los, Martin?“

„Irgendwie habe ich kein gutes Gefühl.“

„Weil du von mir nicht genug bekommen kannst“, lächelte sie, als sie entschlossen aufstand. „Und außerdem könntest du ja mit mir fahren, aber nein, du musst ja noch unbedingt Theodor einen Besuch abstatten.“

„Schau mal“, lächelte er verkrampft, „wenn du morgen früh gegen 7:00 Uhr losfährst, dann bist du mit Sicherheit um 13:00 Uhr in Berlin, und…“

„…und ich muss jetzt los“, beharrte sie.

Auf dem Parkplatz umarmten sie sich lange und innig. Borchardts Bedürfnis, sie nicht wieder loszulassen, stieg ins Unermessliche. Er versank in ihrem blumenhaft seidigen Körper und drückte ihn entschlossen an seinen. Wie gerne hätte er sie jetzt überredet zu bleiben. Er atmete tief ein und aus und stellte sich vor, ihr mit jedem Ausatmen Kraft und Energie für die bevorstehende Fahrt zu geben. Wie vertraut sie ihm war. Ihre Wärme, ihre Energie und ihr Duft betörten ihn. Ihre Herzen schlugen synchron.

Du wirst eine gute Fahrt haben, wünschte er ihr in Gedanken, und trotz des steigenden inneren Widerstandes, sie loszulassen, redete er sich ein, dass dieser Moment genauso war, wie er sein sollte.

„Mach es mir bitte nicht so schwer“, flüsterte sie anschmiegsam wie eine Katze.

Ich mache es dir nicht schwer, dachte er und drückte sie fester an sich.

„Es war eine so herrliche Zeit mit dir“, schwärmte sie erneut und kniff in seine Taille.

„Melde dich zwischendurch, hast du gehört?“

Sie waren gemeinsam mit einem Auto angereist, und da Borchardt mit dem Zug über Darmstadt zurück nach Berlin fahren würde, hatten sie vereinbart, dass Nadine alleine zurückfahren sollte und Borchardt noch für zwei weitere Tage im Hotel bliebe.

Sie startete den Motor, ließ die Fensterscheibe runter und gab ihm einen letzten Kuss. „Ja, ich melde mich zwischendurch“, versprach sie und rollte langsam los.

Nadine hatte München bereits mehrere Kilometer hinter sich gelassen und befand sich auf der A9 kurz vor Ingolstadt. Es war genau halb elf und die Autobahn rappelvoll. Dennoch war der Verkehr fließend. Auf der linken Spur durchschnittliche 120 km/h. Die rechte Spur gehörte den LKWs und Sattelschleppern, die eine unendliche Reihe bildeten. Dazwischen ruhten vereinzelt kleinere PKWs mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 80 km/h.

„Vielleicht hätte ich doch besser auf Martin hören sollen“, befürchtete Nadine, die ein generelles Misstrauen gegenüber LKWs hegte. Was ist, wenn ein Fahrer übermüdet ist oder einfach nur die Kontrolle verliert? Es fiel ihr schwer, wie Borchardt mit unverminderter Geschwindigkeit ununterbrochen auf Überholspur zu bleiben. Sie wurde zunehmend unruhiger. So unruhig, dass die PKWs auf der rechten Seite sie dann doch motivierten, eine ausreichende Lücke abzuwarten und es für ein paar Kilometer ruhiger angehen zu lassen.

Mit Lichthupe signalisierte sie einem kleineren Sattelschlepper, der gerade den Blinker nach links gesetzt hatte, freie Fahrt und erkannte im Rückspielgel einen dunklen Porsche 911, der mit enormer Geschwindigkeit auf sie zuraste; ebenfalls mit Lichthupe und bedrohlich nah auffahrend. Der Fahrer gestikulierte wild und schimpfte.

Die Durchschnittsgeschwindigkeit auf der linken Spur wurde stark gedrosselt. Hinter Nadine reihten sich blitzschnell Wagen an Wagen. Die Schlange wurde immer länger, der Sattelschlepper mit Anhänger neben ihr endlos ausgedehnt, ebenso ihre Nerven.

Der Porschefahrer brüllte wie ein Choleriker, und Nadine hatte das Gefühl, ihn hören zu können. Der zum Überholen ansetzende Sattelschlepper hatte indes mit seiner Fahrerkabine den Mittelstreifen überwunden. Nadine konnte die Aufregung hinter ihr verstehen, aber was sollte sie jetzt noch machen? Es war bereits zu spät.

Sie verstellte den Rückspiegel, sodass sie den Porschefahrer nicht mehr sehen musste und setzte gleichzeitig den Blinker nach rechts. Der schier endlose Sattelschlepper mit Anhänger neben ihr bremste ab. Offensichtlich amüsierte sich der Fahrer und hieß Nadines Entgegenkommen seinem Kollegen gegenüber willkommen. Dessen Wagen war derweil zur Hälfte auf der linken Spur angekommen, und Nadine konnte vor ihm einen weiteren offenen Sattelschlepper mit ausländischem Kennzeichen sehen, der dutzende meterlange Stahlrohre transportierte.

Endlich war der kleine Sattelschlepper zu dreiviertel auf der linken Spur und der große mit Anhänger weit genug hinter ihr, sodass sie auf die rechte Spur wechseln konnte. Der Porsche überholte hupend und der Fahrer brüllte sie mit ausgestrecktem Mittelfinger weiter an. Nadine versuchte, ihn zu ignorieren und griff nach einem Taschentuch und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Das Handy klingelte.

„Ja, hi.“

„Ich wollte mich nur erkundigen, ob alles okay ist bei dir“, tönte Borchardts Stimme aus der Freisprechanlage.

„Ja, es geht. Die Autobahn ist sehr voll. Kannst du mich bitte in ein paar Minuten noch einmal anrufen?“

„Ja klar, mach ich.“

Sie unterbrach die Verbindung und war kurz davor, in Tränen auszubrechen, als ihr der LKW hinter ihr einfiel. Sie positionierte den Rückspiegel zurück in die Ausgangsposition, konnte ihn sehen und schaltete kurz die Warnblinker ein, um sich für seine Aufmerksamkeit zu bedanken.

Unterdessen verfluchte der Porschefahrer den kleinen Sattelschlepper und die nachfolgenden Autofahrer wirkten ebenfalls genervt. Nur eine Fahrerin, die jetzt auf Nadines Höhe war - eine elegant gekleidete Dame im vorgeschrittenen Alter -, schaute sie verständnisvoll an und zwinkerte ihr zu. Endlich konnte Nadine lächeln und durchatmen. Und als sie ihren Blick wieder der netten Dame zuwandte, die kurz hinter der Spiegelung ihres Beifahrerfensters verschwunden war, gestikulierte diese hektisch. Die Spiegelung löste sich auf, und das freundliche Gesicht der Dame war zu einer panikerfüllten Fratze transformiert. Nadine folgte ihrem Blick und sah den mit Stahlrohren beladenen LKW aus der Spur kommen. Er schlängelte nach links und nach rechts, um dann mit voller Wucht zurück nach links auf den Porsche zu krachen, der chancenlos gegen die Leitplanke knallte. Seine Hinterreifen hoben ab.

Nadine schrie auf. Sie befand sich in Reaktionszeit und schaute instinktiv nach links, wo die freundliche alte Dame ungebremst in den Wagen vor ihr schmetterte und mit dem Kopf auf das Lenkrad knallte. Nadine schaute nach vorne. Der LKW schlug nach rechts aus, die Ladefläche geriet außer Kontrolle und begann, unaufhörlich hin und her zu schaukeln, sodass sich einige Stahlrohre aus ihrer Halterung lösten.

Nadine, am Ende ihrer Reaktionszeit angekommen, bremste, während der freundliche LKW Fahrer hinter ihr damit beschäftigt war, eine auf den Boden gefallene CD aufzuheben. Als er sie endlich hatte und die Katastrophe, in der er sich befand, erkannte, war es bereits zu spät. Mit gleichbleibender Geschwindigkeit raste er in Nadines Auto, bescherte ihr ein leichtes Schädelhirntrauma und schob sie unaufhaltsam nach vorne.

Nadine konnte nur noch mit ansehen, wie sich eines der Rohre vollständig löste und mit der nächsten ruckartigen Bewegung in ihre Richtung katapultiert wurde, während der LKW sie weiter nach vorne presste. Sie hatte keine Chance. Das Stahlrohr mit etwa 5 cm Durchmesser durchschmetterte die Windschutzscheibe und bohrte sich durch ihren Kopf wie ein Pfeil durch einen Apfel. Währenddessen klingelte erneut ihr Handy. Es war Borchardt.

Sechseinhalb Jahre später

Vorbereitungen

„Ich weiß nicht, ob ich ein Mann bin,

der träumt, ein Schmetterling zu sein,

oder ob ich ein Schmetterling bin,

der träumt, ein Mann zu sein.“

Dschuang Dsi,

chinesischer Philosoph und Dichter

1

„Können Sie sonst noch was sehen, hören oder riechen? Irgendetwas, das Ihnen noch nicht aufgefallen ist? Irgendwelche Personen oder Gegenstände. Lassen Sie sich Zeit. Schauen Sie sich in Ruhe um.“

„Nein, nicht wirklich“, sagte Herr Günther nach einer Weile. Seine Lider zuckten.

„Dann bleiben Sie bitte noch für einen Moment in diesem Gefühl. Nehmen Sie es noch einmal bewusst wahr und öffnen Sie dann langsam wieder Ihre Augen.“

Nach einer kurzen Weile tat der Klient, wie ihm geheißen und schaute Borchardt leicht benommen an.

„Wie geht es Ihnen jetzt?“, fragte Borchardt.

„Ich bin geschockt, dass ich wieder dasselbe Gefühl hatte wie bei meinen letzten Träumen.“

„Genau darum geht es aber, Herr Günther. So sehr der Verstand das auch leugnen möchte, Ihre gesamte Lebensproblematik hängt im Großen und Ganzen mit Ihrer damaligen Erfahrung als Siebenjähriger zusammen.“

„Ja, das wird mir jetzt so langsam bewusst. Ich hätte nie gedacht, dass unsere Träume uns so wichtige Hinweise geben.“

Borchardt lächelte. „Es ist jetzt von Bedeutung, dass Sie sich in der kommenden Woche die heutigen Erkenntnisse in Gänze vergegenwärtigen. Wenn Ihnen wirklich bewusst wird, dass der kleine Siebenjährige in Ihnen für einen Großteil Ihrer heutigen Probleme verantwortlich ist, erst dann können wir gemeinsam sicheren Kontakt zu ihm aufnehmen und einen nachhaltigen Heilungsprozess einleiten.“

Herr Günther stand auf und die beiden Männer schüttelten sich die Hände. „Dann bis nächsten Mittwoch, Herr Borchardt.“

„Ja genau, bis nächsten Mittwoch. Falls Sie Fragen haben, die bis dahin nicht auf sich warten lassen können, Sie haben meine Nummer.“

„Haben Sie vielen Dank.“

„Ich muss mich bei Ihnen bedanken für Ihr Vertrauen und Ihren Mut. Weiter so. Machen Sie’s gut!“

Herr Günther verließ den Praxisraum, und Borchardt setzte sich an seinen Schreibtisch. Er machte sich Notizen wie immer, wenn ein Klient gerade eine Sitzung verlassen hatte. Es war sein Markenzeichen, während der Sitzungen nicht mitzuschreiben, mit Ausnahme in den ersten beiden Stunden einer beginnenden Therapie. Dieses ständige Aufschreiben störte nur die Konzentration und war oft der Grund, wichtige körperliche Regungen beim Klienten zu verpassen; Regungen, die Anzeichen verdrängter Gefühle sein können. Und diese verdrängten Gefühle, so war er sich sicher, waren der Hauptschlüssel zur Heilung psychologischer Probleme.

Borchardt schaute auf seine Uhr. Heute kam kein Klient mehr. Das passte ihm sehr gut. Er war nämlich erschöpft; hatte einen langen Tag mit anspruchsvollen Klienten hinter sich. In der Vergangenheit vermied er volle Tage wie diesen. Seitdem er jedoch einen Teil des Jahres in seiner Casa auf Gran Canaria verbrachte, um sich seiner schriftstellerischen Karriere zu widmen, ließen die Anfragen nach seinen Behandlungen nicht nach. Im Gegenteil, seit der erfolgreichen Veröffentlichung seines ersten Fachbuches „Paradigmenwechsel in der Psychotherapie“ vor drei Jahren hatte er sich vor Anfragen nicht mehr retten können und für die Sommermonate hier in Berlin eine Gehilfin anstellen müssen - Samira.

Ebenfalls beschränkte er seine Tätigkeit als psychologischer Psychotherapeut und renommierter Traumanalytiker auf nur noch zwei bis drei Tage die Woche. Wenn er früher höchstens vier Klienten á 90 Minuten pro Tag behandelt hatte, so hatte er heute höchstens fünf Klienten á 60 Minuten, und das obwohl er die neunzigminütigen Sitzungen vorzog. Denn gerade in der letzten halben Stunde machten seine Klienten oftmals Quantensprünge. Borchardt war zu sehr Profi, als dass er sich von der herrschenden Meinung hätte einreden lassen, dass einstündige Sitzungen generell ausreichten. Dem ist nicht so und das wusste er nur zu gut. Solche oberflächlichen Plattitüden, wie er sie nannte, konnten ihn nicht beeinflussen.

Darüber hinaus besaß der monetäre Aspekt eine untergeordnete Rolle. An erster Stelle standen seine Klienten und zwar als menschliche und nicht als irgendwelche psychomaschinellen Wesen. An zweiter Stelle stand seine tiefe Überzeugung, dass es zweifellos psychologische Gesetzmäßigkeiten gibt, die allen Menschen gleichermaßen innewohnen, dass aber jedes Individuum seine ureigene und einzigartige innerseelische Landkarte aufweise.

Somit waren für ihn nicht die verschiedenen Therapieformen, die es in der gängigen Praxis gibt, maßgeblich, sondern die Fähigkeit der Empathie und die Kunst, aufmerksam zuzuhören. In der Regel wurde ein Großteil seiner Klienten erst nach 40 Minuten warm. Oft stiegen wenig später die nach Freiheit schreienden und in Vergessenheit geratenen Erinnerungen zurück ins Bewusstsein.

Für Borchardt war das eine Gesetzmäßigkeit, die er gleich zu Beginn seiner Berufslaufbahn entdeckt und beherzigt hatte. Natürlich war er sich bewusst, dass er seinen Klienten viel abverlangte, aber seine Erfolge sprachen letztlich für ihn. Dennoch war Borchardt kein Besserwisser und schon gar nicht ein sturer Zeitgenosse. Er war flexibel und stets bereit, neue Wege zu gehen und hatte für sich einen Weg gefunden, auch in 60-Minuten-Sitzungen zu einem guten Ergebnis zu kommen.

Er bediente die Sprechanlage.

„Ja, Papa.“

„Ich habe ja heute niemanden mehr. Mach doch bitte Schluss und kümmer dich um deine Sachen.“

„Ja, gerne, aber ein Abschiedsküsschen wollte ich dir schon noch geben“, lächelte Samira in die Anlage.

„Den gebe ich dir, wenn ich gleich rauskomme“, lächelte er zurück.

Samira war zu einer hübschen 23-jährigen Frau herangewachsen. Sie studierte Agrarwissenschaften im zweiten Semester an der Humboldt-Universität, nachdem sie eine Ausbildung zur Landwirtin erfolgreich abgeschlossen hatte. Sie begrüßte die Tätigkeit bei ihrem Vater und hatte mit ihm vereinbart, ihn mit höchstens 15 Stunden die Woche zu entlasten. Sie übernahm einfache Tätigkeiten wie Terminierungen, Reservierungen und die anfallende Verwaltung von Praxismaterial.

Nachdem sie alle Unterlagen geordnet und den Computer heruntergefahren hatte, warf sie wie gewöhnlich einen Blick auf das Foto Nadines auf ihrem Schreibtisch. Sie war doch das Herz der Familie gewesen, eine so lebensfrohe Frau und Borchardts erste große Liebe. Sie hatte immerzu gelächelt - kein aufgesetztes sondern ein authentisches und durch und durch lebensbejahendes Lächeln. Auch auf diesem Foto.

Während Samira in Erinnerungen versunken auf das Bild starrte, kam Borchardt dazu. „Ich vermisse sie.“

„Ich auch, Papa.“

„Wir müssen lernen, mit dem Verlust zu leben.“

„Wie soll ich das? Sie ist meine Mutter. Sie starb einfach zu früh.“

Er ging zu ihr und legte seine Hand auf ihre Schulter, wissend, dass eine Berührung mehr als Worte sagt. Sofort brach Samira in Tränen aus. Sie weinte bitterlich, stand auf, umarmte ihn und vergrub ihr Gesicht in seiner Schulter.

„Wir schaffen das, meine Prinzessin.“

„Sie war eine so gute Frau.“

„Ich weiß.“

„Warum lässt Gott so etwas nur zu?“

„Samira, unsere Aufgabe ist es, zu lernen, mit diesem Verlust zu leben.“

„Ich bin einfach nur traurig.“

„Ich weiß.“ Zärtlich nahm er den Kopf seiner Tochter von seiner Schulter, sodass er ihr in die Augen schauen konnte. „Glaubst du immer noch nicht an ein Leben nach dem Tod?“, lächelte er sie an.

„Ich weiß es nicht“, erwiderte sie leicht verunsichert.

„Auf der ganzen Welt gibt es nicht eine einzige wissenschaftliche Studie, die nachweist, dass es nicht so etwas gibt wie ein Leben nach dem Tod.“

„Das bringt mir meine Mama auch nicht zurück“, weinte sie.

„Ich weiß, aber solange niemand beweisen kann, dass es nach dem Tod nicht weitergeht, glaube ich an ein Leben nach dem Tod. Weißt du, wie ich das meine? Für mich ist Nadine noch da, auf einer anderen Ebene, nicht sichtbar, aber trotzdem ist sie für mich noch da.“

„Trotzdem verstehe ich nicht, warum Gott so etwas zulässt.“

„Ich weiß es auch nicht. Ich glaube noch nicht einmal, dass Gott es zugelassen hat. Ich glaube an Schicksal und Fügung. Ich glaube nicht an einen Gott, der Leiden bringt.“

„Aber warum ist sie so gestorben, auf so eine fürchterliche Weise?“

„Samira, mein Ein und Alles“, sagte er nach einer kurzen Weile mit Tränen in den Augen, „ich glaube, wie gesagt, dass sie auf einer anderen Ebene noch unter uns weilt. Ja, ich glaube, dass sie jetzt gerade unter uns ist.“

„Aber dann müsste man doch ein Zeichen oder sowas von ihr erhalten, wenn das wirklich stimmt.“

„Wer sagt denn, dass das hier kein Zeichen ist?“

„Wie bitte?“

„Vielleicht macht sie ja gerade dadurch auf sich aufmerksam, indem sie uns beide in dieses Gespräch verwickelt. Vielleicht war sie es, die dich veranlasst hat zu weinen. Dass du weinst, ist in Ordnung. Aber, nehmen wir einmal an, Mama lebt tatsächlich auf einer anderen Ebene und kann uns hier und jetzt sehen oder vielleicht sogar hören, wie traurig müsste sie dann sein, dich so zu sehen?“

Samira hatte Ähnliches von ihrem Vater schon des Öfteren gehört. „Du meinst, ich bin es Mama schuldig, mich positiver zu fühlen, wenn ich an sie denke?“

Borchardt lächelte.

„Vielleicht hast du recht.“

„Ich glaube, du bist es Mama schuldig, sie zum Lachen zu bringen, wenn du an sie denkst“, sagte er weich.

Samira musste lächeln.

„Weißt du, mein Engel“, fuhr er fort, „wir alle müssen sterben. Es gibt rein gar nichts, das überlebt. Alle müssen gehen. Die einen früher, die anderen später. Mama ist nur vorausgegangen, und wir kommen nach.“

„Ich vermisse sie trotzdem.“

„Ich weiß. Wenn du aber ständig ihren Tod bedauerst und deine Wut darüber auslebst, hat ihre Seele keine Chance, dort hinzugehen, wo sie vielleicht hingehen will. Du musst sie so langsam aber sicher gehen lassen. Das ist sehr wichtig. Sie ist tot, Samira. Daran ist nichts mehr zu ändern. Sie kommt so, wie sie war, nicht mehr zurück. Nie mehr. Das ist der Lauf der Dinge. Ihre Seele kann einfach nicht frei sein, wenn du an ihr festhältst.“

Diesmal musste sie nicken. „Was hast du heute noch vor?“

„Ich gehe meiner Lieblingsbeschäftigung nach.“

„Einem Spaziergang.“

„So ist es, meine Liebe.“

„Danke, Papa.“

Borchardts Praxis lag in der malerischen Sophienstraße in Mitte direkt gegenüber der dreihundert Jahre alten Sophienkirche. Draußen glühte die Sonne. Es waren schwüle 30 Grad. Er war froh, dass er Samira einigermaßen beruhigen konnte und musste sich die ganze Zeit beherrschen, nicht selbst in Tränen auszubrechen.

Wie sehr er doch Nadine in Wahrheit vermisste. Sie war seine große Liebe, die Liebe seines Lebens. Und ihr hatte er es zu verdanken, dass er heute der war, der er war. Sie war es, die ihn immer wieder ermutigte, hinter dem zu stehen, was er in den ersten 20 Jahren seines Lebens geleugnet hatte.

Borchardt besaß nämlich die Fähigkeit der außersinnlichen Wahrnehmung. Er vermochte, Gedanken anderer zu erkennen, Antworten in Träumen zu erhalten und Zukünftiges zu erahnen. Darüber hinaus besaß er ein ausgeprägtes empathisches und intuitives Gespür, das ihn aus der Masse seiner Therapeuten-Kollegen hervorhob. Schon in seiner frühen Kindheit entdeckte er sein Talent, seiner Intuition nicht nur zu trauen, sondern auch Folge zu leisten. Er lag mit seinen intuitiven Entscheidungen immer richtig. Nicht manchmal, immer.

Er definierte sie als seinen inneren Kompass, der ihn zu seinem Ziel, welcher Natur auch immer, führte oder besser drängte. Mit diesem Instrument konnte er verlorengegangene Gegenstände wiederfinden, deren Suche andere längst aufgegeben hätten, oder vor schwierigen Klausuren die richtigen Kapitel studieren oder einen gebuchten Flug canceln, um wenig später vom Absturz der Maschine zu erfahren. Man kann den Übergang in den intuitiv gesteuerten Geist - einen Zustand, den Borchardt übrigens Mentalnavi nennt - mit einem Wechsel in seiner Wahrnehmung beschreiben. Er fing an, die Umwelt anders wahrzunehmen. Er sah sie nicht mehr durch die Augen seines Verstandes. Alles erschien langsamer, weitaus langsamer. Die Geräusche zogen sich in die Länge, so als würde man ein Gummiband ausdehnen. Und dennoch bewegte er sich in der von allen Menschen gemeinsam wahrgenommenen Zeit. Auch Gerüche nahm er intensiver wahr. Er erkannte Vorkommnisse, die er außerhalb dieses Zustandes nicht beobachtet hätte. Selbst innerseelische Konflikte anderer erfasste er in symbolischer Form direkt vor seinen Augen, und es erforderte Jahre psychotherapeutischer Praxiserfahrung, bis er zufällig darauf stieß, wie er sein Mentalnavi bewusst aktivieren konnte. Seitdem nutzte er es in der Therapie und löste die psychischen Probleme seiner Klienten überdurchschnittlich schnell.

Borchardt lag immer Wert darauf, seine Mitmenschen wissen zu lassen, dass jeder die Fähigkeit des psychischen Sehens und Fühlens besäße und ausbauen könne. Aber - und dessen war er sich bewusst - es war ausschließlich Nadine, die ihm half, sein Talent in Gänze anzunehmen, sich nicht sonderbar zu fühlen und es in seinem Leben sinnvoll und im Dienst für andere einzusetzen.

Momentan verbrachte er also nur noch Anfang Frühling bis Mitte Herbst in Berlin und seit vorletztem Jahr seine Zeit auch damit, der hiesigen Mordkommission bei unlösbar erscheinenden Kriminalfällen fallanalytisch beratend zur Seite zu stehen. Sein Kindheitsfreund Tomas Reichstatt, mittlerweile Kriminalhauptkommissar beim Berliner LKA 1, hatte sich vertrauensvoll an ihn gewandt, als sein Team während der laufenden Ermittlungen gegen den „Schlitzer von Neukölln“ fortwährend im Dunkeln tappte.

Tomas war immerzu von Borchardts Talent begeistert gewesen, genauso wie Borchardt Tomas‘ Begabung, am Ball zu bleiben, faszinierte, egal was passierte. Für Tomas erschien es unter den damaligen extrem angespannten Umständen völlig in Ordnung, die übersinnlichen Fähigkeiten seines seit Lebzeiten besten Freundes zu Rate zu ziehen. Wie sich jedoch herauskristallisierte, wurde aus der Beratung eine aktive Ermittlungsteilnahme. Borchardts Navi drängte ihn nicht nur auf die richtige Fährte, die den Ermittlern des LKA 1 verschlossen blieb, sondern vermittelte ihm darüber hinaus mentale Skizzen des Tathergangs und er konnte somit dazu beitragen, den „Schlitzer von Neukölln“ zu fassen.

2

Wie ein Blutegel klebte seine Hand auf ihren nach Gnade flehenden Lippen.

„Hab keine Angst, du wirst eh sterben.“

Was immer sie auch tat, welcher Gedanke ihr auch kam, er war stärker - weitaus stärker.

„Wenn der Tod anklopft“, während der warme Sommerregen auf ihre nagelneue Frisur prasselte und ihre Augen randvoll tränkte, „dann kann man ihm nicht mehr entkommen.“

Sie hatte einfach keine Chance, ihren Widersacher wenigstens im Ansatz zu erkennen - es war zu dunkel und ihre Augen zu nass. Und sie fürchtete sich, sie nur für einen Bruchteil einer Sekunde zu schließen. Sie befürchtete, er könne sie dann töten.

Er hatte sie unerwartet und heimtückisch überrascht, sodass sie außerstande war, auch nur irgendwie zu reagieren, obgleich sie seit Jahren im Kampfsport - insbesondere im Bodenkampf - trainiert war. Ihr Vater, ein professioneller Kampfkünstler, hatte sie schon im frühen Kindesalter an die Notwendigkeit dieser Kunst herangeführt. Im Vordergrund stand dabei sein Wunsch, seine Tochter möge sich stets gegen Übergriffe erfolgreich zur Wehr setzen. Eine seiner Maxime lautete: Gleichgültig, wie perfekt man kämpfen kann, ein wahrer Kampfkünstler verteidigt sich nur im Notfall. Und jetzt war so ein Notfall, und was brachte ihr seine Maxime nun? Eduard - hier mitten im Berliner Volkspark Hasenheide an der Grenze von Neukölln und Kreuzberg - ließ sie dastehen, als hätte sie nie zuvor trainiert. Er war ihr immer einen Schritt voraus. Zudem hatte er sie auch noch mit einer ihr bis dato unbekannten Grifftechnik förmlich bewegungslos gemacht.

„Verstehst du das, Martina?“

Martina? Erstmals konnte sie einen bewussten Gedanken aufgreifen.

„Das ist sehr wichtig. Du musst begreifen, dass es im Leben keine Garantie gibt, außer die, dass wir alle sterben.“

Wieder suchte sie nach Möglichkeiten, sich zu befreien, erneut vergebens. Es war auch schon spät, sehr spät sogar – 0:31 Uhr Sonntagnacht mitten im Hochsommer. Der Volkspark menschenleer, nur die beiden und der unaufhörlich warme Sommerregen, der zunehmend ankündigte, sich in ein wildes Unwetter zu verwandeln. Tagsüber mit unzähligen Anwohnern, Touristen und Dealern angefüllt bot der Volkspark um diese Nachtzeit das perfekte Szenario für Eduards Absichten. Er hatte sie an einem der spärlich beleuchteten Hauptwege überwältigt, mit einem gezielten Hieb ins Gesicht ausgeschaltet, auf eine kleine freie Fläche zwischen den anliegenden Büschen gezerrt, in denen tagsüber die afrikanischen Dealer ihre Drogen versteckten, und sie mit einem weiteren professionellen Hieb gegen ihre Schläfe wieder zu Bewusstsein befördert.

Martina hatte sich auf dem Rückweg von ihrem Verlobten Lucas Dupont befunden, einem Einzelkind einer französischen Unternehmerfamilie in dritter Generation. Lucas wohnte in einer 200 qm großen Wohnung am einen Ende des Volksparks - am Südstern in Kreuzberg – und Martina am diagonal gegenüberliegenden Neuköllner Herrfurthplatz, der sich von einem unbedeutenden und hausgemachten Problemkiez zu einem angesagten Szenekiez gemausert hatte. Normalerweise mied sie um diese Tageszeit den Park und normalerweise war sie auch mit ihrem Fahrrad unterwegs, das sich ausgerechnet heute in der Werkstatt befand. Vor allem aber war es der plötzliche Regen, der sie veranlasst hatte, die Abkürzung durch den Park zu nehmen. Nie hätte sie gedacht, dass dieser Abend sie hier hinführen würde. So selig war sie bis eben noch gewesen. So verliebt.

Martina und Lucas hatten sich in einem Masterstudiengang einer renommierten französischen Business School kennen und lieben gelernt. Kurz vor der Abschlussprüfung verstarb Lucas‘ Vater im Alter von 56 Jahren unerwartet an einem Herzinfarkt. Ein Schicksalsschlag, der die gesamte Familie traumatisierte. Ohne zu zögern, übernahm Lucas die Verantwortung und nahm den Tod seines geliebten Vaters als Anlass, sich von seinem Traum, ein Internetunternehmen aufzubauen, zu verabschieden - zumindest bis auf Weiteres - und stieg nach Rücksprache mit seiner Mutter in die Geschäftsführung des Handelsunternehmens ein. Eine seiner ersten Entscheidungen war, die Handelsaktivitäten räumlich von der Administration zu trennen. Berlins geographische Lage zu nutzen, sei eine notwendige und strategisch wichtige Ausrichtung im modernen Europa. Nach nur sechs Monaten zog er mit fast all seinen Tradern von Paris nach Berlin in die oberste Etage des in Mitte gelegenen internationalen Handelszentrums.

„In Momenten wie dieser wird einem bewusst, wie einzigartig das Leben doch ist, nicht wahr Martina?“

Ein Gewitterdonnern untermauerte die Feststellung und bot der gesamten Szenerie eine perfide Hässlichkeit. Nach wie vor klebte seine Hand auf ihrem Mund, sie konnte nur durch die Nase atmen, die sich immer wieder mit Regenwasser füllte. Ihr blieb nichts anderes übrig, als von Zeit zu Zeit heftig auszuschnaufen, um überhaupt noch atmen zu können.

Wenngleich sich alles in Sekundenschnelle abspielte, so kam es ihr wie Minuten vor. Ihre Augen schmerzten so sehr, dass sie von ihr verlangten, kurz geschlossen zu werden, nur für einen winzigen Moment. Aber Martina war sich mehr als zuvor bewusst, sich in einer lebensbedrohlichen Ausgangslage zu befinden; sie konnte den Tod förmlich neben ihr stehen spüren. Ihre Augen jetzt zu schließen, war schier unmöglich. Das konnte und durfte auch nicht ihr Ende sein, nicht jetzt, nicht hier und auch nicht so. Ihre Kampfkunsterfahrung hatte sie gelehrt, die energetischen Absichten ihrer Gegner intuitiv zu erspüren und umgehend darauf zu reagieren. Es bestand kein Zweifel: ihr Opponent hatte die schlimmsten Absichten.

„Warum setzt du dich nicht zur Wehr? Komm, kämpfe.“

Aber wie? Ihr Kampfgeist und ihr Überlebenswille schienen sie zu verlassen. Als würde sie unter einem tonnenschweren Felsen liegen, der sie für immer gefangen halten wird, der ihr all die noch vorhandene Lebensenergie absaugte.

Mehrere hintereinander aufleuchtende Blitze, ein immer näherkommendes Donnern und ein aufbrausender Wind kündigten des Unwetters bevorstehende Vormachtstellung an, und der durchaus angenehme Sommerregen wurde schlussendlich von einem heftigen orkanartigen Gewittersturm abgelöst. Die Baumkronen mitsamt den Sträuchern schlugen wild um sich, der Wind schrie aus allen Himmelsrichtungen. Der Regenfall verwandelte sich in eine Dusche. Die Geräuschkulisse der Natur wurde übermächtig – genauso wie ihr Gegner.

„Du sollst dich wehren!“, brüllte Eduard in den kreischenden Wind. Sie konnte ihn nicht mehr hören, geschweige denn verstehen. Ihre fünf Sinne verloren zunehmend die Kontrolle, und ein durch all ihre Zellen wehender Schüttelfrost ließ ihren Organismus unkontrolliert beben. Ihre Augen schmerzten unsäglich.

Auf einmal glitt seine Hand von ihrem Mund seitlich auf den Boden. Blitzschnell verteilte sich das Regenwasser auf die noch trockenen Stellen. Gleichzeitig schien Eduard seinen kontrollierten Halt zu verlieren, um sich wieder zügig und mit überwältigender Kraft auf ihr zu positionieren und ihren Mund erneut zuzuhalten. Was war geschehen? Hatte Eduard das Wetter unterschätzt? War er nicht mehr Herr der Lage? Seine Hand löste sich immer wieder; ihre nasse und mittlerweile glitschige Haut bot keinen dauerhaften Halt mehr.

Martina war noch in der Lage, die Situation auf unterbewusster Ebene wahrzunehmen. Sie registrierte eine Veränderung in seiner Energie. Seine Standfestigkeit war nicht mehr dieselbe. Das löste eine unscheinbare dennoch wahrnehmbare Hoffnung in ihr aus, eine ganz bestimmte Art von Hoffnung, die sie an eine Unterhaltung mit ihrem Vater aus ihrer Jugend erinnerte. Eine Unterhaltung, die sie längst vergessen hatte.

Ihre Angst, die Augen zu schließen, wich dem unwiderstehlichen körperlichen Drang, es tun zu müssen. Nein, bitte nicht jetzt, dachte sie noch, während sie sich schlossen. Martina hatte den Kampf gegen ihren Körper verloren. Alles wurde schwarz um sie herum. Nur noch der felsenschwere Druck des Gegners, der Schüttelfrost, die brennenden Augen und der gewaltige Regen waren ihrer physischen Wahrnehmung geblieben. Sie musste kapitulieren und ihrem Schicksal die Führung übergeben - ihre Psyche hatte die Kontrolle über ihre Physis verwirkt. Und genau diese Erkenntnis erinnerte sie nochmals an die Unterhaltung mit ihrem Vater, und diesmal schien sie ihr nicht mehr ausweichen zu können. Ihr Geist schob einen Riegel vor ihren Verstand, ließ sie unaufhaltsam zurück in die Vergangenheit gleiten und die gesamte Szene in Windeseile im Zeitraffer vor ihrem inneren Auge zum Leben erwecken.

Sie sitzt mit ihrem Vater im Biergarten am Münchener Viktualienmarkt. Es ist Hochsommer und ein wunderschöner warmer Dienstagnachmittag. Die Sonne scheint auf Hochtouren am wolkenlosen Himmel. Die beiden treffen sich hier regelmäßig, da ihr Vater in der Nähe ein Dojo betreibt, in dem Martina ab und an trainiert. Obwohl ihr Vater ein seit Jahren erfolgreicher Profikampfsportler ist, der darüber hinaus zwei Bestseller über die Philosophie hinter den Kampfkünsten veröffentlicht hat, lässt er es sich nicht nehmen, hin und wieder einen Maßkrug gekühltes bayerisches Bier zu trinken.

Martina ist vor einer Woche 15 Jahre alt geworden. Sie besucht eine Privatschule im Zentrum Münchens und ist eine exzellente Schülerin. Leider hat sie immer wieder Probleme mit diesem einen Mitschüler, der eine Klasse über ihr ist und sie regelmäßig verbal attackiert. Rhetorisch scheint er ihr um Längen voraus. Er beherrscht die Kunst, andere mit seinen Worten außer Gefecht zu setzen.

„Mein Schatz, hast du wieder Probleme mit diesem Frank?“, fragt ihr Vater, während er seinen ersten Schluck mit einem befreienden Seufzer belohnt.

„Wie kommst du darauf?“

„Ich kann es in deinem Gesicht sehen.“

Ohne, dass sie etwas dagegen tun kann, schießen ihr Tränen in die Augen. „Man kann vor dir auch wirklich nichts verbergen.“

Mit einem verständnisvollen Lächeln und einer zarten Berührung beruhigt er seine Tochter, die er besser als jeden anderen Menschen kennt. „Mein Engel, du sollst vor mir auch gar nichts verbergen, was dir Sorgen bereitet. Also, nur Mut und raus damit.“

„Ja, er hat mich heute wieder so richtig schön vor seinen Kumpels auflaufen lassen. Ich schaffe es einfach nicht, ihm was entgegenzusetzen.“

„Hast du dich jemals gefragt, warum du es nicht schaffst?“, fragt er.

„Na ja, er kann halt sehr gut reden… viel besser als ich.“

„Das wage ich zu bezweifeln“, entgegnet er mit der ihr nur allzu vertrauten Sicherheit eines lebenserfahrenen Vaters. „Schau mal, Tina, einer der Beweggründe, warum ich die Kampfkunst so liebe, ist die Tatsache, dass man die dort gewonnenen Erkenntnisse in allen Lebensbereichen anwenden kann. Als ich vor vielen Jahren damit begonnen hatte, bin ich immer wieder auf Kämpfer gestoßen, denen ein angsteinflößender Ruf vorauseilte. Regelmäßig verlor ich gegen sie. Eines Tages dämmerte es mir, dass es nicht in erster Linie deren Technik und Ausdauer waren, sondern ihr Ruf, der mich einschüchterte. Mein damaliger Meister gab mir einen mentalen Trick mit auf den Weg, den ich dir gerne weitergeben möchte. Wenn jemand vor dir steht, der etwas Bestimmtes kann, das dich einschüchtert, dann nehme ihm im Geiste genau das weg. Stell dir vor, wie diese Person dastünde ohne das, was dich so hemmt. In deinem konkreten Fall frage dich: Was bleibt von Frank übrig, wenn man ihm seine rhetorische Überlegenheit wegnähme? Die Person, die übrig bleibt, ist der wahre Frank. Lerne dann, ihn nur noch so zu sehen - in deiner Imagination. Du wirst bald einen Wechsel in seiner Energie feststellen, weil du ihn mit einer anderen Einstellung begegnest. Das wird ihn verunsichern und dich stärken.“

Diese Erinnerung rüttelte augenblicklich Martinas innere Starre auf und durchbrach die eiserne Mauer zwischen ihrem Unterbewusstsein und ihrem Verstand. All das in Millisekundenschnelle. Sie hatte dieses Prinzip seit damals längst verinnerlicht, zumal es ihr umgehend geholfen hatte, die Situation mit Frank unter Kontrolle zu bringen.

Und nun wurde dieses Wissen wieder zum Leben erweckt. Wie von fremder Hand geleitet, riss sie ihre Augen auf, deren Schmerzen wie weggeblasen. Gleichzeitig schaffte sie es, mit ihrem rechten Bein die Haltekraft ihres Angreifers außer Balance zu bringen, sodass Eduard sich neu positionieren musste, um nicht seine Übermacht zu verlieren. Im selben Atemzug war sie endlich mithilfe eines leuchtenden Blitzes in der Lage, ihren Widersacher kurz ansatzweise zu erkennen. Etwas Weißes bedeckte einen Großteil seines Gesichtes. Da waren nur seine Augen. Sie wirkten feurig und aufgerissen. Auch seine Hand konnte sie erblicken. Trug er Handschuhe?

Ein weiterer von einem kräftigen Donnern begleiteter Blitz erleuchtete die Szene und schlug schnurstracks in einen der umliegenden Bäume. Martinas Aggressor konnte jetzt auch ihre Augen sehen, während ein lautes knackendes Geräusch eine unvorhergesehene Bedrohung ankündigte, die schwungvoll wie eine Bombe auf Eduard einschlug und ihn als nassen leblosen Sack auf ihren Leib fallen ließ.

Das Unwetter tobte unaufhörlich weiter. Wie am Spieß schreiend, mobilisierte Martina all ihre noch zur Verfügung stehenden Kräfte, stemmte den großen schweren Körper von sich und ließ ihn links neben sich auf die Erde sacken. Dann sprang sie auf, schrie unaufhörlich weiter, als würde sie sich von einem inneren Dämon befreien.

Eduard lag bewegungslos vor ihr auf dem Boden. Sie unternahm alles, um die Grundfunktionen ihrer Wahrnehmung wiederzuerlangen; wischte sich hektisch das Wasser aus dem Gesicht, rieb mit Nachdruck ihre Augen und haute sich mit flachen Händen mehrere Male auf die Wangen. Währenddessen ließ sie ihn nicht aus den Augen und checkte die unmittelbare Umgebung und bemerkte diesen großen Ast, der neben Eduard lag.

Sie starrte auf den riesigen Mann am Boden, als sich seine Finger bewegten. Adrenalin aktivierte aufs Neue ihre Kampf-oder-Flucht-Reaktion. Martina entschied sich für die Flucht, um im Eifer des Gefechts über einen harten Gegenstand zu stolpern und geradewegs wieder auf dem Boden zu landen. Sie krachte zuerst auf ihre linke Schulter und dann mitten aufs Gesicht. Ein stechender Schmerz schoss durch ihre Schulter bis in die Schläfe und ins Nasenbein. Sie schrie und raffte sich auf - ihr Adrenalin stärker als jede Verletzung -, schaute nach hinten und sah Eduard mühevoll aufstehen. Vor ihr lag der Gegenstand, über den sie gestolpert war: ein silberner Aluminiumaktenkoffer.

„Du willst es wirklich wissen, nicht wahr, Martina?“, schrie Eduard in die Dunkelheit und den peitschenden Regen.

Sie konnte seine Worte kaum verstehen und musste jetzt Gas geben, sonst war es zu spät. Sie rannte los. Sträucher, Büsche und florale Überreste versetzten ihr einen Hieb nach dem anderen. Ihre Augen waren angeschlagen. Sie konnte nichts klar erkennen, die Konturen verschwammen ineinander. Was sie jetzt aber sehen konnte, waren die Laternen des spärlich beleuchteten Hauptweges; also wechselte sie die Laufrichtung nach links und spurtete los. Ihre Prellung und ihr angebrochenes Nasenbein sandten keine Schmerzen mehr. Sie rannte um ihr Leben - um ihr junges Leben. Sie war doch gerade erst Ende 20 und hatte noch so viel vor. Sie wollte doch Lucas heiraten und ihre Geschäftsidee umsetzen und einen Freundeskreis in Berlin aufbauen. Sie stand doch mitten in der Blüte ihres Daseins. Sie begann doch gerade erst, das Leben in vollen Zügen zu genießen. Und jetzt so etwas.

Sie erreichte den Hauptweg und wusste nicht in welche Richtung. Wie viele Male war sie schon hier gewesen und jetzt wusste sie nicht wohin. Was für ein Dilemma! Sie hatte keine Zeit für solch einen Mist. Konzentrier dich, Martina, los, konzentrier dich. Und dann sah sie ihn: den Wegweiser Richtung Hermannstraße! Da musste sie hin und rannte los. Immer wieder schaute sie nach hinten. Wo war er geblieben? Egal. Sie musste einfach nur rennen. Endlich bekam sie einen Ton heraus; zuerst einen krächzenden, dann einen heiseren und schließlich einen klaren - ein befreiendes: „Hilfe... Hilfe!“

Das Unwetter war im vollen Gange, keine Menschenseele weit und breit. Wo ist meine Handtasche, schoss es aus dem Nichts in ihren ohnehin schon überforderten Verstand. „Oh mein Gott, ich habe meine Handtasche nicht dabei.“ Panisch griff sie in ihre Hosentaschen. Da war er! Der Schlüsselbund! Erleichterung! Sie beschleunigte. Rannte was das Zeug hielt am Wegweiser vorbei Richtung Columbiadamm. Wieder bekam sie ein befreiendes „Hilfe... Hilfe!“ heraus, gelangte über die Fontanestraße zum Herrfurthplatz, wo sie in der Schillerpromenade in einer schicken und frisch sanierten Berliner Altbauwohnung ein beschützendes Dach über dem Kopf hatte.

Martina knallte die Tür hinter sich zu, rannte ins Badezimmer und schaute in den Spiegel. Unverzüglich fing sie an zu weinen. Tränen der Angst und der Ausweglosigkeit überschwemmten ihr geschundenes Gesicht.

„Papa! Ich muss Papa anrufen. Nein! Ich muss Lucas anrufen.“ Sie wischte sich die Tränen ab und ließ das Wasser laufen, um ihr Gesicht zu waschen. Es zu reinigen von seinen widerlichen Händen, deren Geruch nachwievor auf ihrer Haut klebte. Sie eilte in den Flur, hechtete ans Telefon, wählte Lucas‘ Nummer. Freizeichen. „Los komm, geh dran. Melde dich! Bitte, melde dich!“ Sein Anrufbeantworter. „Lucas, bitte geh dran… Bitte nimm ab! Ich bin’s, Martina…“ Sie wollte gerade dem Anrufbeantworter erklären, was passiert war, als jemand die Wohnungstür aufschloss.

Er trug einen weißen Mundschutz und betrat langsam die Wohnung. Die Schockstarre aus dem Park war zurück. Sie konnte sich weder bewegen noch um Hilfe schreien.

„Martina.“

Kein Wort bekam sie mehr heraus. Er hatte den silbernen Aluminiumkoffer dabei. In der linken Hand ein Messer. Über der linken Schulter ihre Handtasche.

„Martina. Martina.“

Er trug eine knielange beige Regenjacke und seine Beine waren mit einem weißen Stoff eingehüllt. An den Händen trug er weiße Latexhandschuhe. Eduard stellte den Koffer ab, schloss die Tür und warf den Schlüssel und die Tasche vor ihre Füße. „Den hast du stecken lassen. Und die hast du vergessen.“

Scheiße, dachte sie, immer noch nicht in der Lage, zu reagieren.

„Weißt du, was ich hier in der Hand halte?“

Sie ahnte Schreckliches.

„Das ist ein Wurfmesser. Okay?“

Nicht einmal mehr nicken konnte sie.

Er musste an die zwei Meter groß sein. Seine Augen waren weder feurig noch Furcht einflößend. Sie wirkten jetzt ruhig und gelassen, fast schon freundlich.

„Hast du wirklich geglaubt, du wirst mich so schnell los?“ Er blickte auf das Telefon und signalisierte mit eindeutigem Blick, sie möge umgehend auflegen. „Wenn du schreist werfe ich dir das Messer zwischen deine Augen - schneller als du sehen kannst. Okay?“

Sie legte auf.

„Du musst verstehen, wenn ich mir etwas vornehme, dann ziehe ich es auch durch.“

Sie dachte an die Unterhaltung mit ihrem Vater.

Eduard entledigte sich seiner Jacke, warf sie auf den Boden und stand in voller Ausrüstung vor ihr: ein weißer Ganzkörperschutzanzug mit Kapuze, Mundschutz und Latexhandschuhen. „Die Jacke ist aus Latex und die Schuhüberzieher aus Kunststoff. Die haben heutzutage alles Mögliche drauf. Man muss vorsichtig sein. Verstehst du das, Martina?“ Dann setzte er die Kapuze auf und kam auf sie zu.

3

An einem darauffolgenden Samstagmorgen erhielt Borchardt aus heiterem Himmel eine SMS von Tomas. „Komm zu den Heckmann-Höfen. Eingang Auguststraße. Es ist soweit, ich brauche dich!!!“

Der Ton der SMS deutete an, dass Tomas etwas Heftigem gegenüberstand. Borchardt war in der Lage, die Stimmungen geschriebener Worte genauso zu erfühlen wie die seelische Verfassung eines Redners. Und als er ein wenig später an den Heckmann-Höfen in Mitte ankam, bestätigte sich seine Gewissheit. Das gesamte Gebiet war weiträumig abgesperrt. Überall Polizisten, Kriminaltechniker und Mitarbeiter der Spurensicherung - ein Großteil in Ganzkörperschutzanzügen - und nicht zu vergessen die Schaulustigen.

Die Größe der Absperrung wies auf ein außergewöhnliches Verbrechen hin. Auch wenn die Quantität der Tötungsdelikte in Berlin zurückgegangen sein soll, so war die Brutalität zweifellos angestiegen. Die Morde, mit denen Borchardt während der laufenden Ermittlung im Fall Schlitzer zu tun hatte, waren verabscheuungswürdig und der Presse weitestgehend vorenthalten worden.

Borchardts Armbanduhr schlug genau 7:29 Uhr. An diesem bereits schwülen Morgen, der versicherte, erneut ein heißer Tag zu werden, bewies die Hauptstadt einmal mehr, dass sie zu einem Albtraum werden kann, zu einem fürchterlichen Albtraum. Und der zu dieser Geschichte gehörende Angsttraum begann genau in jenem Moment, als Borchardt Tomas‘ SMS zu Ende gelesen hatte. Auf Anhieb spürte er, dass Tomas erschüttert, erschrocken, ja zutiefst geschockt sein musste. So schnell ließ er sich doch nicht aus der Ruhe bringen. Dafür hatte er im Laufe seiner erfolgreichen Karriere im gehobenen Polizeivollzugsdienst zu vielen Toten in die Augen geschaut und sich bis über die Stadtgrenzen hinaus einen ihm verhassten Spitznamen zugelegt. „Der Täterschreck“ wurde er in Fachkreisen genannt. Er löste nämlich Fälle, die mittlerweile als Fallbeispiele in Lehrbüchern auftauchten. Er konnte sich derart in einen Fall verbeißen, dass ihn nichts und niemand aufhalten konnten, den Fall zu lösen.

Tomas stand vor dem Eingang Auguststraße. Er spürte Borchardts Anwesenheit und drehte sich zu ihm um, als im selben Moment eine Polizeibeamtin aus den Höfen auftauchte, um sich unmittelbar Vorort zu übergeben. Sie kotzte direkt auf den Bürgersteig der feinen Auguststraße und, wie Borchardt fand, eine ungeheuer große Menge zu dieser Tageszeit. Tomas ließ das alles kalt und kam eiligen Schrittes auf Borchardt zu und ließ ihn durch die Absperrung. „Schön, dass du es so schnell geschafft hast, Martin.“

„Kein Thema.“

„Schau dir das unbedingt an. Unfassbar. Sie liegt im großen Hof.“ Er holte tief Luft, drehte sich kurz um, hustete, als hätte er literweise Schleim in seinen Lungen, drehte sich wieder zu Borchardt um, wischte mit seinem Ärmel über seinen Mund, holte aus seiner Jackentasche einen Anhänger und sagte: „Geh vorher zu dem Mannschaftswagen dort drüben und zieh dir einen Schutzanzug an. Die wissen Bescheid. Und dann mach dich auf und lass mich alles wissen, was du denkst.“

Borchardt liebte diesen Anhänger. Mit dem dazugehörigen Ausweis hatte er einen barrierefreien Zutritt zu jedem Leichenfundort und Tatort Berlins, ohne dass die anwesenden Beamten auch nur das geringste Misstrauen schöpften. Er wurde eigens vom Polizeipräsidenten Berlins nach der Festnahme des Schlitzers genehmigt, damit er, ja genau Borchardt, jemand, der kein Polizeibeamter war, auf jeden x-beliebigen Tatort Zugriff hatte. Einzige Bedingung war: er musste ihm grundsätzlich von Tomas persönlich übergeben und sofort nach der Tatortbesichtigung wieder an ihn abgegeben werden.

Wer hätte das in der Vergangenheit gedacht? Tomas und Borchardt kannten sich ja bereits seit ihrer frühen Kindheit. Sie waren Nachbarn und bis zum Abitur besuchten sie dieselbe Schule. Sie waren, sind und blieben beste Freunde. Sie hatten sogar zur selben Zeit in derselben Stadt studiert. Trotz alledem traute sich Borchardt nicht, brennende Fragen zu stellen, zum Beispiel, wie es Tomas ging, immerhin hatten sich die beiden seit Wochen nicht gesehen.

Er machte sich also direkt auf den Weg zum Mannschaftswagen, während er erneut Tomas hinter sich husten hörte. Seit eh und je hatte Tomas Probleme mit seinen Lungen, keine ernsthaften, aber immer wieder in regelmäßigen Abständen dieses komische schleimige Husten.

Die Beamtin, die sich zuvor in aller Öffentlichkeit entleert hatte, war derweil dabei, die Beweise des Vorabends zu beseitigen, zumindest das, was man provisorisch zu jener Tageszeit unter jenen Umständen rückgängig machen konnte. Sie war blass und wirkte verwirrt. Borchardt hätte sie gerne angesprochen, erfühlte aber ihren Widerstand. Jede einzelne Person, die ihm entgegenkam, wirkte verstört, in sich zurückgezogen und zugleich aufgebracht.

Borchardt durchschritt den langen Durchgang, den Teil der Höfe, welcher mit privaten Wohnungen versehen ist, um dann endlich in den großen Innenhof zu gelangen. Die Heckmann-Höfe sind neben den legendären Hackeschen Höfen eine weitere Sehenswürdigkeit in Mitte. Eine bunte Mischung aus Kleingewerbe, Design, Kultur und Gastronomie geben den originalgetreu und liebevoll restaurierten Höfen mitten im alten Scheunenviertel einen unverwechselbaren Charme. Und genau in diesem Urlaubsgefühle weckenden Charme lag die Leiche, die Borchardt so schnell nicht wieder vergessen sollte. Schon von Weitem konnte er erahnen, dass der auf ihn zukommende Anblick seinen Tag auf einen Schlag verändern wird. Und je näher er der Leiche kam, desto angespannter wurde die Atmosphäre um ihn herum. Die ermittelnden Beamten flüsterten teilweise.

Noch gute zehn Meter. Sie lag direkt auf dem gepflasterten Gehweg in einer Blutlache und unmittelbar vor dem ansässigen Gewerbe. Überall Blut - an den Fensterscheiben, dem Mauerwerk, auf dem Weg und dazwischen irgendeine weiße, schleimige Masse. Die sterbliche Hülle - sie war komplett nackt - gehörte offensichtlich zu einer jungen Frau.

Noch fünf Meter. Von einer Leiche konnte man nicht mehr reden, eher von einem Kadaver. Der Kopf schien zweifach gespalten, er war aufgeplatzt wie ein auf den Boden gefallenes rohes Ei. Der Körper besaß mehrere auffällig große Schnittwunden. Es dauerte eine Weile, bis Borchardt begriff, dass ihr Kopf oder zumindest das, was von ihm übriggeblieben war, um hundertachtzig Grad gedreht war. Sie lag auf dem Bauch und ihr Gesicht in Richtung Himmel. Das linke Auge schien sich am blutüberströmten Schädel abzuseilen. Das linke Bein und beide Arme waren mehrfach gebrochen und irgendwie verdreht, so als hätte man sie gerädert. Dieser Körper, der so da lag, als hätte er nichts Besseres zu tun, war vollkommen entstellt. Was ist hier nur passiert, war sein erster Gedanke.

Ein Mann und eine Frau hockten neben der Leiche und begutachteten sie. Borchardt kannte die beiden. Sie waren Forensiker und hießen Natalie und Markus, ein freundliches und lustiges Ehepaar, das Borchardt während der laufenden Ermittlungen „Schlitzer“ kennengelernt hatte. Offensichtlich war Natalie die diensthabende Gerichtsmedizinerin. Die Präsenz von Markus verunsicherte Borchardt allerdings, da er in der Regel als forensischer Biologe und Biomechaniker keine Leichenschau am Fundort durchführte. Als beide ihn bemerkten, bekamen sie außer einem Augenzwinkern kein Wort heraus und machten den Ort für ihn frei.

Da stand er nun. Sein Herz schlug nicht schnell jedoch eifrig gegen seinen Kehlkopf. Er musste seinen Körper beherrschen und sich darauf besinnen, warum er hier war. Tomas brauchte seine Hilfe, seine Fähigkeit. Borchardt schloss die Augen. Seine inneren Bilder waren wirr und sein Herz klopfte jetzt an seine Augäpfel wie ein Wahnsinniger an die Wohnungstür seines Opfers. Ein leichtes Bibbern breitete sich in seinem Organismus aus. Er zitterte, weil er Angst hatte. Angst vor der Erkenntnis, zu was Menschen fähig sind. Für eine kurze Weile wurde er sogar wütend auf Tomas. Er hätte ihm doch etwas sagen können. Ach quatsch, Tomas war doch genauso geschockt wie alle anderen auch.

Dann öffnete er langsam seine Augen und ging weiter. Schon während er den ersten Schritt machte, wurde ihm bewusst, dass seine Entscheidung, näher an den Leichnam heranzugehen, nicht von seinem Verstand sondern von seiner Intuition gesteuert wurde. Er hatte unbewusst sein Navi eingeschaltet, und es dauerte keine drei Schritte, bis er auf die feinstoffliche Facette einer Person stieß. Eine Facette, deren Stimmung ihn mit unbändiger Kraft fast erschlug. Aggressivität, Hass, Wut und kalte sadistische Gefühle waren anwesend. Emotionen, die Borchardt körperlich angriffen. Deutlich vernahm er eine Gegenwart, deren reale Anwesenheit er nie und nimmer hätte erleben wollen. Sie umkreiste ihn, während er weiter voranschritt, um sich kurz vor dem Leichnam genauso schlagartig wieder ins Nichts aufzulösen.

Borchardt befiel ein Würgereiz, der ihn an die Polizeibeamtin denken ließ und wusste im selben Moment, dass ihm das Gesehene bereits ausreichte. Er musste dort weg, zurück zu Tomas. Er wollte seine Erfahrung mit ihm teilen.

Tomas unterhielt sich mit einer aufgebrachten Frau mittleren Alters und winkte Borchardt gleich zu sich heran.

„Und?“

„Schrecklich. Wo können wir in Ruhe reden?“

„In den Schwarzwaldstuben. Geh du schon mal vor, ich bin gleich bei dir.“

4

Borchardt quälte ein tierischer Hunger. Sein Magen war leer, verkrampft und trocken. Er konnte aber nichts essen. Stattdessen lag der Anblick der Leiche direkt vor ihm auf dem Tisch. Er bestellte sich einen Kaffee, der ihm gebracht wurde, als Tomas - so blass, wie er ihn nie zuvor gesehen hatte – hereingeplatzt kam, ebenfalls einen Kaffee bestellte, sich aufgebracht zu ihm setzte, hustete und schwer ausatmete. „Scheiße, so langsam fange ich an, den Job, den ich liebe, zu hassen.“ Er griff nach Borchardts Kaffee und trank. „Bis dato können wir nicht bestätigen, ob es sich um ein Tötungsdelikt handelt. Natalie wird sie gleich noch obduzieren.“

„Der Anblick war ekelerregend“, flüsterte Borchardt.

„Hast du irgendetwas wahrgenommen?“

„Denke schon.“

„Und?“

„Zuvor würde mich interessieren, was du für einen Eindruck hast.“

„Gut. Mein erster Eindruck? Sie ist aus einem Flugzeug gestürzt. Mein zweiter? Über Mitte herrscht Flugverbot“, sagte er mit einem verkrampften Lächeln, während er einen weiteren Schluck trank und den Kaffee wieder auf dem Tisch abstellte. „Die Deformierungen ihres Körpers“, fuhr er verstört fort, „erschrecken mich. Extreme Gewalteinwirkung. Ich muss den gerichtsmedizinischen Erstbefund abwarten.“

„Es liegt keine höhere Gewalt vor, da bin ich mir jetzt schon ziemlich sicher“, gab ihm Borchardt zu verstehen.

„Sie ist komplett nackt!?“

„Ja.“

„Glaubst du, dass der Fundort der Tatort ist?“

„Gut möglich.“

„Unglaublich. Das Blutspritzermuster ist bereits vermessen. Auch hier warte ich auf die Ergebnisse…“

„Ich habe, während ich sie mir ansah, die energetische Gegenwart einer menschlichen, höchstwahrscheinlich männlichen Person wahrgenommen, die extrem aggressiv war“, unterbrach ihn Borchardt angespannt.

„Das muss doch jemand von den Anwohnern oder Touristen mitbekommen haben, falls sie tatsächlich in aller Öffentlichkeit mitten in Mitte so zugerichtet wurde.“

„Ich will gleich nochmal dorthin zurück.“

„Zum Fundort?“

„Nein, zu den Schaulustigen“ antwortete Borchardt, während er Tomas den Ausweis zurückgab.

„Okay… weil das…?“

„Weil das eine Eingebung ist, ganz genau, Tomas“, beruhigte er ihn.

„So wie damals beim Schlitzer?“

„Ja, so ähnlich“

Tomas nickte. „Okay, tu was immer du zu tun hast. Aber keine Alleingänge mehr ohne mein Wissen. Denk daran, du bist kein Polizist, und ich und meine Kollegen kommen in Teufels Küche, wenn dir etwas zustößt und die Öffentlichkeit davon erfährt. Der Staatanwalt hat ein Auge auf meine Kommission.“

„Versprochen.“

Die Servicekraft brachte den Kaffee.

„Sobald erste Ergebnisse vorliegen, rufe ich dich an. Sei mir nicht böse, ich muss los.“

„Wie? Und dein Kaffee?“

„Keine Zeit mehr. Kannst du das bitte übernehmen? Hast du heute Abend Zeit? Lass uns doch im Hofbräuhaus treffen.“

„Das können wir machen, Tomas. Um wie viel Uhr denn?“

„20 Uhr? Ich lade dich auf ein Bier ein“, zwinkerte er ihm zu, während er ruhelos die Stuben verließ.

Da saß Borchardt nun mit den beiden Kaffees und der Leiche auf dem Tisch und fragte sich: „Wenn das wirklich die Tat eines einzelnen Menschen war, wo finde ich ihn?“

Nachdem er gezahlt und sich auf der Toilette mit zwei Händen voll Wasser frisch gemacht hatte, verließ er die Stuben und ging zurück zum Ort des Geschehens.

Nach wie vor diese Hektik und eine noch größere Menschenmenge. Ein Rettungshubschrauber parkte in der Luft direkt über dem Fundort. Borchardt stellte sich leicht Abseits vom Trubel, sodass er eine gute Übersicht hatte, schloss seine Augen und platzierte die Frage: „Wer ist der Täter und wo finde ich ihn?“

Die Voraussetzung für das bewusste Aktivieren seines Navis ist eine konkrete, ja fast schon brennende Frage und das gleichzeitige Praktizieren einer bestimmten Konzentrationsübung. Ähnlich verhält es sich beim Deaktivieren. Keine fünf Sekunden später war er auf Sendung, wie er den Zustand gerne beschrieb. Die Geräuschkulisse verschwand in den Hintergrund, vor seinen Augen lief die gesamte Realität in Slow Motion. Er scannte die Gegend auf und ab und vertraute seiner Intuition. Immer wieder achtete er auf ein Zeichen, auf einen Hinweis. Aber da war nichts, keine auffällige Person, nichts. Vielleicht sollte er eine Pause einlegen und ein wenig an der Spree entlanglaufen.

Er deaktivierte den Navi, lief die Tucholskystraße hinunter über die Oranienburger Straße hinaus und schlug vor der Ebertbrücke auf den Weg links Richtung Museumsinsel ein und fühlte sich von einer Sekunde zur nächsten erschöpft, unkonzentriert und benommen und ließ sich gähnend auf einer der Bänke entlang des baumgesäumten Spreeufers nieder.

5

Borchardt fährt ein fremdes Auto. Er befindet sich auf einer leeren Autobahn. Sie ist dreispurig und eine deutsche Autobahn. Er fährt auf der linken Spur. Hin und wieder kommen ihm blaue Autobahnschilder entgegen; sie sind leer, ohne Aufschriften. Er fühlt sich entspannt, gelassen und schaut auf den digitalen Tacho - genau 156 km/h. Dann schaut er aus den Fenstern, erst nach links - Wüstenlandschaft, dann nach rechts - Schneelandschaft. Er schaut wieder auf den Tacho - genau 189 km/h. Dann schaut er nach vorne - alles ist plötzlich pechschwarz! Er sieht gar nichts mehr! Er tritt auf die Bremse und schaut auf den Tacho - genau 333 km/h! Er schaut nach rechts. Eine entstellte Fratze starrt ihn an. Das Gesicht ist seitenverkehrt; die Augen sind unter und der Mund über der Nase. Er schreit, guckt genauer hin und erkennt Nadine. Ihre Augen bluten, in ihrem Mund sind keine Zähne. Sie schreit: „Du brauchst das Navi!“ Borchardt schreit nochmal - vor Panik. Dann blickt er auf ein Navigationssystem an der Frontscheibe, das zuvor nicht da gewesen ist. Das Display blinkt: „Bring mich zum Doktor.“ Cut. Borchardt steckt mit seinem Kopf in einer Lünette einer Guillotine. Er hört eine Menschenmenge schreien: „Töte Nadine!“ Er sieht die Beine des Henkers. Dieser sagt: „Du hörst, was sie sagen.“ Cut. Borchardt sieht seinen Kopf auf einem Holzuntergrund in einen geflochtenen Korb rollen. Im Korb angekommen sagt sein Kopf: „Bring mich zum Doktor.“ Der Untergrund wackelt und vibriert, vibriert, vibriert…

…und es dauerte, bis er begriff, dass er geschlafen und geträumt hatte und dass sein Handy vibrierte und klingelte. Erschrocken schaute er auf seine Uhr. Dreieinhalb Stunden später!

Er griff nach einem zerknitterten Zettel und einem Stift in seiner Sakkoinnentasche. „Tomas“, begann er das Gespräch, „einen Moment.“ Er kritzelte zitternd mehrere Stichpunkte auf den Zettel. „So, da bin ich.“

„Mensch, wo bist du denn? Ich versuche, dich seit einer halben Stunde zu erreichen.“

„Entschuldige, ich bin tatsächlich eingeschlafen.“

„Eingeschlafen? Hör zu. Die Obduktion ist noch im vollen Gange und eine fremdverschuldete Tötung kann nicht mehr ausgeschlossen werden. Deine Vermutung scheint durchaus realistisch. Überall am Körper befinden sich mikroskopisch kleine Holzsplitter und Metallrückstände. Möglicherweise sind ihr die Schnitte durch eine Machete oder mit einem Haumesser zugefügt worden. Totschläger und Baseballschläger könnten auch beteiligt gewesen sein.“

Während Tomas weitersprach, entdeckte Borchardt in der vor ihm vorbeilaufenden und zum großen Teil aus Touristen bestehenden Menschenmenge eine Person und konnte seinen Blick nicht mehr von ihr abwenden.

„Tomas?“

„Ja?“

„Gerade lief eine männliche Person an mir vorbei, die ich vorhin unter den Schaulustigen gesehen hatte.“

„Und?“

„Jetzt löst sie Unbehagen in mir aus“, flüsterte er.

„Ah ja, äh, mach jetzt bloß keine Alleingänge. Hast du gehört?“

„Ja.“

„Sei bitte vorsichtig“, fuhr Tomas fort, „sobald ich weitere Indizien habe, rufe ich wieder an. Ansonsten heute Abend im Hofbräuhaus.“

„Warum ist mir der Typ nicht vorhin schon aufgefallen?“ Diese Frage musste sich Borchardt unbedingt gefallen lassen, denn der Typ war auffällig. Einer von diesen mit Anabolika aufgeblasenen Extrem-Bodybuildern, die sich in der Berliner Rocker- und Zuhälterszene aufhalten. Groß, Glatze, Bundeswehrhose, verspanntes leicht rötliches Gesicht, einfach nur angsteinflößend.

Der Typ verharrte auf dem Spree-Weg Richtung Friedrichstraße. Ein Segen war dieser Teil Berlins vollgestopft mit Touristen, sodass Borchardt zumindest bis auf Weiteres ein unauffälliger Verfolger sein konnte, ohne Tomas gegenüber ein schlechtes Gewissen zu bekommen. Sein Schritttempo verriet, dass der Typ ein ganz bestimmtes Ziel anstrebte. Auf jeden Fall machte er keinen Spaziergang.

Wenn man einen Menschen fixiert beziehungsweise lange genug beobachtet oder sich generell mit ihm auseinandersetzt, dann gelangt man an einen Punkt, an dem sich ein Rapport mit dessen Gedanken- und Gefühlswelt aufbaut. Man taucht sozusagen in seine mentale und emotionale Atmosphäre ein. Ein wichtiges Prinzip, das Borchardt nur zu gut aus der Therapie kannte und dessen Tragweite er bei allen zwischenmenschlichen Beziehungen anwandte. Dieser Bodybuilder löste in Borchardt dasselbe Gefühl aus, welches er am Morgen bei der Tatortbesichtigung hatte! War er tatsächlich schon auf einer heißen Fährte? So schnell?

Immer wieder unterbrach Borchardt den Blickkontakt, um ja nicht auf sich aufmerksam zu machen. Wie oft war es ihm schon passiert, dass er eine klare körperliche Wahrnehmung spürte, eine Wahrnehmung, die man mit einem zarten Druck an einer bestimmten Körperstelle, zumeist ist es der Rücken, beschreiben kann, die ihn veranlasste, sich unbewusst umzudrehen, um dann festzustellen, dass ihn jemand beobachtet oder einfach nur angeschaut hatte. Und Borchardt wusste, dass das uneingeschränkt auf alle Menschen zutraf und dass, je länger man eine Person anschaut, der als physischer Druck empfundene Impuls, sich umzudrehen, stärker wird.