Traumpfade - Bruce Chatwin - E-Book

Traumpfade E-Book

Bruce Chatwin

4,6

Beschreibung

Traumpfade, Songlines: das sind die unsichtbaren labyrinthischen Wege, die den australischen Kontinent durchqueren und entlang denen die Ahnen der Ureinwohner wanderten, die mit ihren Liedern die Welt erschlossen. Bis heute dürfen die Traumpfade nicht überschritten werden, und es kommt zum Konflikt zwischen zwei Welten, wenn eine Eisenbahngesellschaft ihre Landvermesser ausschickt. In seinem Reisebuch, das Ideenroman, Abenteuergeschichte, Satire auf den Fortschrittswahn und geistige Autobiographie zugleich ist, schildert Bruce Chatwin eine Reise durch Australien. Der Roman ist durchzogen von grandiosen Landschaftsbeschreibungen, leuchtenden Details und Reflexionen, die alle in ein Hohelied auf den Menschen münden.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 457

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,6 (34 Bewertungen)
23
7
4
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Hanser eBook

Bruce Chatwin

TRAUMPFADE

The Songlines

Roman

Aus dem Englischenvon Anna Kamp

Carl Hanser Verlag

Die Originalausgabe erschien 1987

unter dem Titel The Songlines

bei Jonathan Cape in London.

Der Autor hat, abweichend von der Originalausgabe, einige geringfügige Kürzungen und Ergänzungen vorgenommen.

ISBN 978-3-446-24201-2

© Bruce Chatwin 1987

Alle Rechte der deutschen Ausgabe:

© Carl Hanser Verlag München Wien 1990/2012

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen

finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/HanserLiteraturverlage oder folgen Sie uns auf Twitter: www.twitter.com/hanserliteratur

Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Für Elizabeth

1

In Alice Springs, einem Netz verbrannter Wege, wo Männer in langen weißen Socken unaufhörlich in Landcruiser einstiegen oder aus Landcruisern ausstiegen, begegnete ich einem Russen, der damit beschäftigt war, eine Karte von den heiligen Stätten der Aborigines anzulegen.

Sein Name war Arkady Wolschok. Er war australischer Staatsbürger. Er war dreiunddreißig Jahre alt.

Sein Vater, Iwan Wolschok, ein Kosake aus einem Dorf in der Nähe von Rostow am Don, war 1942 geschnappt und zusammen mit einer Zugladung weiterer »Ostarbeiter« zum Dienst in eine deutsche Fabrik geschickt worden. Eines Nachts, irgendwo in der Ukraine, sprang er aus dem Viehwaggon in ein Sonnenblumenfeld. Soldaten in grauen Uniformen jagten ihn die langen Reihen von Sonnenblumen auf und ab, aber er entkam ihnen. Irgendwo anders, verirrt zwischen modernen Armeen, traf er ein Mädchen aus Kiew und heiratete sie. Gemeinsam verschlug es sie in einen verschlafenen Vorort von Adelaide, wo er eine Wodkabrennerei aufzog und drei kräftige Söhne zeugte.

Der jüngste von ihnen war Arkady.

Arkady war von seinem Temperament her keineswegs für ein Leben in der Abgeschiedenheit eines angelsächsischen Vororts oder für einen konventionellen Beruf bestimmt. Er hatte ein flaches Gesicht und ein sanftes Lächeln, und er durchquerte die hellen Weiten Australiens mit der Unbeschwertheit seiner rastlosen Vorfahren.

Er hatte dichtes, glattes Haar von strohblonder Farbe. Seine Lippen waren in der Hitze aufgesprungen. Er hatte nicht den verkniffenen Mund so vieler weißer Australier aus dem Busch; auch verschluckte er seine Wörter nicht. Er rollte das R auf eine sehr russische Art. Nur aus nächster Nähe erkannte man, wie grobknochig er war.

Er war verheiratet, erzählte er mir, und hatte eine sechsjährige Tochter. Doch da er die Einsamkeit dem häuslichen Chaos vorzog, lebte er nicht mehr mit seiner Frau zusammen. Er besaß, abgesehen von einem Cembalo und einem Regal mit Büchern, kaum etwas.

Er war ein unermüdlicher Buschwanderer. Es machte ihm nichts aus, mit einer Feldflasche Wasser und ein paar Bissen Proviant zu einem Marsch von hundert Meilen längs der MacDonnell-Berge aufzubrechen. Wenn er danach aus der Hitze und der Helligkeit nach Hause kam, zog er die Vorhänge zu und spielte Musik von Buxtehude und Bach auf dem Cembalo. Ihre regelmäßig fortschreitenden Sequenzen, sagte er, entsprächen den Umrissen der zentralaustralischen Landschaft.

Arkadys Eltern hatten beide nie ein Buch in Englisch gelesen. Sie waren hocherfreut, als er sein Studium der Geschichte und der Philosophie an der Universität von Adelaide mit Auszeichnung abschloß. Sie waren traurig, als er fortging, um als Lehrer in einer Aborigines-Siedlung im Warlpiri Country nördlich von Alice Springs zu arbeiten.

Er mochte die Aborigines. Er mochte ihre Courage und ihre Zähigkeit und ihre geschickte Art im Umgang mit dem weißen Mann. Er hatte einige ihrer Sprachen gelernt oder halb gelernt, und ihre intellektuelle Kraft, ihr fabelhaftes Gedächtnis und ihre Fähigkeit und ihr Wille zu überleben hatten ihn in Erstaunen gesetzt. Sie seien, betonte er, keine aussterbende Rasse – wenn sie auch hin und wieder Hilfe brauchten, um sich die Regierung und die Bergbaugesellschaften vom Hals zu schaffen.

Während seiner Zeit als Lehrer hörte Arkady zum erstenmal von dem Labyrinth unsichtbarer Wege, die sich durch ganz Australien schlängeln und die Europäern als »Traumpfade« oder »Songlines« und den Aborigines als »Fußspuren der Ahnen« oder »Weg des Gesetzes« bekannt sind.

Schöpfungsmythen der Aborigines berichten von den legendären totemistischen Wesen, die einst in der Traumzeit über den Kontinent wanderten und singend alles benannten, was ihre Wege kreuzte – Vögel, Tiere, Pflanzen, Felsen, Wasserlöcher –, und so die Welt ins Dasein sangen.

Arkady war von der Schönheit dieser Vorstellung so beeindruckt, daß er begann, alles aufzuschreiben, was er hörte oder sah, nicht um es zu veröffentlichen, sondern um seine eigene Neugier zu befriedigen. Anfangs mißtrauten ihm die Ältesten der Warlpiri und gaben ihm ausweichende Antworten auf seine Fragen. Mit der Zeit jedoch, als er ihr Vertrauen gewonnen hatte, luden sie ihn ein, ihren streng geheimen Zeremonien beizuwohnen, und ermutigten ihn, ihre Lieder zu lernen.

Einmal kam ein Anthropologe aus Canberra, um die Landbesitz-Ordnung der Warlpiri zu erforschen: ein neidischer Akademiker, der Arkady seine Freundschaft mit den Lieder-Menschen mißgönnte, Informationen aus ihm herausholte und prompt ein Geheimnis verriet, das zu bewahren er versprochen hatte. Angewidert von dem nachfolgenden Streit warf der »Russe« seine Arbeit hin und ging ins Ausland.

Er sah die buddhistischen Tempel Javas, saß mit Sadhus an den Totenverbrennungsstätten in Benares, rauchte Haschisch in Kabul und arbeitete in einem Kibbuz. Auf der schneebestäubten Akropolis von Athen war nur ein einziger anderer Tourist: ein griechisches Mädchen aus Sydney.

Sie reisten zusammen durch Italien, sie schliefen miteinander, und in Paris beschlossen sie zu heiraten.

Da er in einem Land groß geworden war, in dem es »nichts« gab, hatte Arkady sich sein Leben lang danach gesehnt, die Monumente der abendländischen Zivilisation zu sehen. Er war verliebt. Es war Frühling. Es hätte wunderbar sein sollen in Europa. Zu seiner Enttäuschung hinterließ es bei ihm einen schalen Geschmack.

In Australien hatte er die Aborigines oft gegen Leute verteidigen müssen, die sie als Trunkenbolde und unfähige Wilde abtaten; doch hatte es in dem Fliegendreck und Elend eines Warlpiri-Lagers Augenblicke gegeben, in denen ihm der Verdacht kam, daß sie recht haben könnten und daß seine Berufung, diesen Schwarzen zu helfen, entweder eine vorsätzliche Selbsttäuschung oder aber Zeitverschwendung sei.

Jetzt, in einem Europa des gedankenlosen Materialis mus, erschienen ihm seine »alten Männer« weiser und besonnener denn je. Er ging in ein Qantas-Büro und kaufte zwei Tickets für den Rückflug. Er heiratete sechs Wochen später in Sydney und nahm seine Frau mit nach Alice Springs.

Sie sagte, daß es ihr Wunsch sei, im Innern des Landes zu leben. Sie sagte, daß es ihr gefalle, als sie dort ankam. Nach nur einem Sommer in einem blechgedeckten Haus, in dem es heiß war wie in einem Backofen, begannen sie sich auseinanderzuleben.

Die Landrechte-Gesetzgebung gab den Aborigines-»Besitzern« Anrecht auf ihr Land, vorausgesetzt, es lag brach. Die Arbeit, die Arkady für sich ausdachte, bestand darin, die »Stammesgesetze« in die Sprache der Krone zu übersetzen.

Niemand wußte besser, daß die »idyllischen« Tage des Jagens und Sammeins vorüber waren – falls sie überhaupt jemals so idyllisch gewesen waren. Wenn man für die Aborigines etwas tun wollte, so mußte man ihnen ihre wichtigste Freiheit erhalten: die Freiheit, arm zu bleiben, oder, wie er es taktvoll formulierte, den Raum, in dem sie arm sein konnten, wenn sie arm sein wollten.

Jetzt, da er allein lebte, verbrachte er die meiste Zeit gern »draußen im Busch«. Wenn er in die Stadt kam, arbeitete er in einer stillgelegten Druckerei, wo Rollen alten Zeitungspapiers noch immer die Druckerpressen verstopften und Serien seiner Luftaufnahmen wie Dominosteine über die schäbigen weißen Wände verteilt waren.

Eine Serie zeigte einen dreihundert Meilen langen Streifen Land, der ziemlich genau nach Norden führte. Es war die geplante neue Eisenbahnlinie von Alice nach Darwin.

Diese Linie, sagte er mir, sei der letzte längere Schienenstrang, der in Australien gelegt werden würde; und der Chefingenieur, ein Eisenbahner der alten Schule, habe verkündet, daß sie auch die beste sein müsse.

Der Ingenieur stand kurz vor seiner Pensionierung und war um seinen Nachruf besorgt. Ihm war besonders daran gelegen, den Tumult zu vermeiden, der jedesmal ausbrach, wenn eine Bergbaugesellschaft ihren Maschinenpark auf Aborigine-Land abstellte. Daher hatte er versprochen, keine einzige ihrer heiligen Stätten zu zerstören, und ihre Vertreter gebeten, ihm eine Karte zu beschaffen.

Arkadys Arbeit bestand darin, die »traditionellen Landbesitzer« ausfindig zu machen, mit ihnen über ihre alten Jagdgründe zu fahren, auch wenn diese jetzt einer Viehzüchtergesellschaft gehörten, und in Erfahrung zu brin gen, welcher Felsen, welches Schlammloch oder welcher Geistereukalyptusbaum das Werk eines Traumzeit-Heroen war.

Er hatte bereits eine Karte von der hundertfünfzig Meilen langen Strecke von Alice bis zur Middle-Bore-Ranch angelegt. Er hatte noch weitere hundertfünfzig Meilen vor sich.

»Ich habe den Ingenieur darauf aufmerksam gemacht, daß er reichlich verwegen ist«, sagte er. »Aber er will es nun einmal so.«

»Wieso verwegen?« fragte ich.

»Na ja, wenn man es mit ihren Augen betrachtet«, meinte er grinsend, »dann ist das ganze verflixte Australien eine heilige Stätte.«

»Erklären Sie«, sagte ich.

Er wollte soeben damit beginnen, als ein Aborigine-Mädchen mit einem Stapel Akten hereinkam. Es war eine Sekretärin, ein geschmeidiges braunes Mädchen in einem braunen Strickkleid. Sie lächelte und sage: »Hallo, Ark!«, aber ihr Lächeln erlosch, als sie den Fremden erblickte.

Arkady senkte die Stimme. Er hatte mich schon vorher darauf aufmerksam gemacht, wie sehr die Aborigines es hassen, wenn sie Weiße über ihre »Angelegenheiten« sprechen hören.

»Dies ist ein Engländer«, sagte er zur Sekretärin. »Ein Engländer mit dem Namen Bruce.«

Das Mädchen kicherte mißtrauisch, ließ die Akten auf den Tisch fallen und stürzte zur Tür.

»Gehen wir einen Kaffee trinken«, sagte er.

Und so gingen wir zu einem Coffee-Shop in der Todd Street.

2

In meiner Kindheit hörte ich das Wort »Australien« nie, ohne daß ich an die Eukalyptusdämpfe des Inhalierapparats und an ein endloses, von Schafen bevölkertes rotes Land denken mußte.

Mein Vater erzählte gern – und wir hörten gern – die Geschichte von dem australischen Schafmillionär, der in London in einen Vorführraum von Rolls-Royce schlenderte, alle kleineren Modelle verschmähte, sich für eine enorme Limousine mit einer gläsernen Trennwand zwischen Chauffeur und Fahrgästen entschied und beim Hinblättern des Bargelds arrogant hinzufügte: »Jetzt werden mir die Schafe nicht länger in den Nacken blasen können.«

Von meiner Großtante Ruth wußte ich außerdem, daß Australien das Land war, wo die Menschen mit dem Kopf nach unten gingen. Ein Loch, von England geradeaus durch die Erde gebohrt, würde unter ihren Füßen aufplatzen.

»Warum fallen sie nicht um?« fragte ich.

»Schwerkraft«, flüsterte sie.

Sie hatte in ihrer Bibliothek ein Buch über diesen Kontinent, und ich starrte verwundert auf Bilder vom Koalabären und vom Lachenden Hans, vom Schnabeltier und vom tasmanischen Buschteufel, vom alten Känguruhmann und dem gelben Dingohund und von der Hafenbrücke von Sydney.

Aber am besten gefiel mir das Bild, das eine Aborigine-Familie auf Wanderschaft darstellte. Es waren magere, knochige Menschen, und sie gingen nackt. Ihre Haut war sehr schwarz, nicht das glänzende Schwarz von Negern, sondern ein mattes Schwarz, als hätte die Sonne jede Möglichkeit der Spiegelung aufgesogen. Der Mann hatte einen langen gegabelten Bart und trug einen Speer oder zwei und eine Speerschleuder. Die Frau trug ein dilly-bag – einen Tragebehälter – und ein Baby an ihrer Brust. An ihrer Seite ging ein kleiner Junge – und mit ihm identifizierte ich mich.

Ich erinnere mich an die fantastische Heimatlosigkeit meiner ersten fünf Lebensjahre. Mein Vater war bei der Kriegsmarine, auf See. Meine Mutter und ich reisten mit der Eisenbahn kreuz und quer durch das vom Krieg gezeichnete England und besuchten Verwandte und Freunde.

All die wahnsinnige Unruhe der damaligen Zeit teilte sich mir mit: der zischende Dampf auf einem nebelverhüllten Bahnhof, das zweimalige Klu-unk der sich schließenden Zugtüren, das Dröhnen von Flugzeugen, die Scheinwerfer, die Sirenen; die Klänge einer Mundharmonika auf einem Bahnsteig voller schlafender Soldaten.

Unser Zuhause, soweit wir eines hatten, war ein stabiler schwarzer Koffer, Zauberkoffer genannt, in dem es eine Ecke für meine Kleidung und meine Mickymaus-Gasmaske gab. Ich wußte, daß ich, sobald die Bomben fielen, mich in dem Zauberkoffer zusammenrollen konnte und in Sicherheit war.

Manchmal lebte ich monatelang bei meinen beiden Großtanten in ihrem Reihenhaus hinter der Kirche von Stratford-on-Avon. Sie waren alte Jungfern.

Tante Katie war Malerin und war viel gereist. In Paris war sie auf einer sehr halbseidenen Party im Atelier von Kees van Dongen gewesen. Auf Capri hatte sie die Melone eines Mr. Uljanow gesehen, die die Piccola Marina entlang auf- und abhüpfte.

Tante Ruth war nur einmal in ihrem Leben gereist, nach Flandern, um einen Kranz auf das Grab eines geliebten Menschen zu legen. Sie war ein einfacher, zutraulicher Mensch. Ihre Wangen waren hellrosarot, und sie konnte so süß und unschuldig erröten wie ein junges Mädchen. Sie war sehr taub, und ich mußte immer in ihren Hörapparat brüllen, der wie ein Kofferradio aussah. Neben ihrem Bett stand eine Fotografie von ihrem Lieblingsneffen, meinem Vater, der gelassen unter dem Lackschirm seiner Marineoffiziersmütze hervorblickte.

Die Männer in der Familie meines Vaters waren entweder solide, seßhafte Bürger – Rechtsanwälte, Architekten, Altertumsforscher – oder horizontsüchtige Wanderer gewesen, deren Gebeine in allen Winkeln der Erde verstreut lagen: Cousin Charlie in Patagonien, Onkel Victor in einer Goldgräbersiedlung in Yukon, Onkel Robert in einem orientalischen Hafen, Onkel Desmond, der mit dem langen blonden Haar, war spurlos in Paris verschwunden, und Onkel Walter hatte in einem Hospital für heilige Männer in Kairo auf seinem Sterbebett Suren aus dem glorreichen Koran gesungen.

Manchmal hörte ich, wie meine Tanten über diese verkorksten Existenzen sprachen; dann drückte Tante Ruth mich an sich, als wollte sie verhindern, daß ich in ihre Fußstapfen trat. Doch aus der Art, wie sie bei Wörtern wie »Xanadu«, »Samarkand« oder »weinrote See« verweilte, konnte man schließen, daß auch sie die Unruhe des »Wanderers in ihrer Seele« spürte.

Das Haus stand voller klobiger Möbel, ein Erbe aus der Zeit der hohen Plafonds und der Dienstboten. Im Salon gab es William-Morris-Vorhänge, ein Klavier, eine Vitrine mit Porzellan und ein Ölgemälde mit Muschelsammlern, das Tante Katies Freund A.E. Russell gemalt hatte.

Mein meistgehüteter Besitz war damals eine Muschelschale mit Namen Mona, die mein Vater von den Westindischen Inseln mitgebracht hatte. Ich drückte mein Gesicht an ihre rosaglänzende Öffnung und lauschte dem Rauschen der Brandung.

Eines Tages, nachdem Tante Katie mir einen Druck von Botticellis Geburt der Venus gezeigt hatte, betete und betete ich darum, daß aus Mona eine schöne blonde junge Dame hervorkäme.

Tante Ruth schimpfte nie mit mir, außer einem einzigen Mal, an einem Abend im Mai 1944, als ich ins Badewasser pinkelte. Ich dürfte eines der letzten Kinder auf der Welt sein, denen noch mit dem Geist Bonapartes gedroht wurde. »Wenn du das noch einmal tust«, rief sie, »kommt Boney dich holen.«

Wie Boney aussah, wußte ich von seiner Porzellanfigur in der Vitrine: schwarze Stiefel, weiße Breeches, goldene Knöpfe und ein schwarzer Zweispitz. Aber die Zeichnung, die Tante Ruth für mich anfertigte – nach dem Vorbild einer anderen Zeichnung, die ein Freund ihres Vaters, Lawrence Alma-Tadema, für sie gemacht hatte, als sie ein Kind war –, zeigte den pelzigen Zweispitz nur auf zwei spindeldürren Beinen.

In derselben Nacht und in den darauffolgenden Wochen träumte ich, daß ich Boney auf dem Platz draußen vor dem Pfarrhaus begegnete. Er öffnete sich wie eine zweischalige Muschel in zwei Hälften. Innen waren Reihen von schwarzen Reißzähnen und eine Masse von drahtigem blauschwarzem Haar – in die ich hineinfiel, bevor ich schreiend aufwachte.

Freitags gingen Tante Ruth und ich zur Pfarrkirche, um sie für den Sonntagsgottesdienst herzurichten. Sie polierte die Messinggeräte, staubte das Chorgestühl ab, wechselte die Altardecke aus und stellte frische Blumen auf den Altar, während ich auf die Kanzel kletterte oder imaginäre Gespräche mit Mr. Shakespeare führte.

Mr. Shakespeare blickte von der Höhe seines Standbilds im nördlichen Teil des Altarraums herab. Er war ein kahlköpfiger Mann mit einem hochgezwirbelten Schnurrbart. Seine linke Hand ruhte auf einer Schriftrolle, und seine rechte Hand hielt einen Federkiel.

Ich ernannte mich zum Wächter seiner Grabstätte, spielte den Führer und verlangte von den G.I.s drei Pennies pro Rundgang. Die ersten Verse, die ich auswendig lernte, waren die vier Zeilen, die in seinen Grabstein eingraviert waren:

Du guter Freund, tu’s Jesus zu Gefallen

Und wühle nicht im Staub, der hier verschlossen.

Gesegnet sei der Mann, der schonet diese Steine,

Und jeder sei verflucht, der stört meine Gebeine.

Lange Zeit danach, in Ungarn, wo ich mich aufhielt, um die Archäologie von Nomaden zu studieren, hatte ich das Glück, bei der Öffnung des Grabes einer Hunnen-»Prinzessin« zugegen zu sein. Das Mädchen lag auf dem Rükken, auf schwarze Erde gebettet, die mürben Knochen von einem Regen goldener Plättchen bedeckt, und quer über ihrer Brust lag mit ausgebreiteten Schwingen das Skelett eines Goldadlers.

Einer der Ausgräber rief ein paar Bäuerinnen herbei, die auf dem Feld in der Nähe Heu machten. Sie ließen ihre Rechen fallen, drängten sich um die Graböffnung und bekreuzigten sich mit schwerfälligen Handbewegungen, als wollten sie sagen: »Laßt sie in Ruhe. Laßt sie mit ihrem Liebhaber allein. Laßt sie mit Zeus allein.«

»Und jeder sei verflucht …« Mir war, als hörte ich Mr. Shakespeare rufen, und zum erstenmal fragte ich mich, ob die Archäologie selbst nicht vielleicht verflucht sei.

Wenn in Stratford am Nachmittag schönes Wetter war, gingen Tante Ruth und ich mit ihrem Cockerspaniel Amber, der an seiner Leine zerrte, den Weg, der Tante Ruth zufolge Shakespeares Lieblingsspazierweg gewesen war. Wir begannen in der College Street, gingen am Getreidesilo und dem schäumenden Mühlgerinne vorbei, weiter über den Steg über den Avon und folgten dem Pfad nach Weir Brake.

Weir Brake war ein Haselnußwäldchen an einem Hang, der zum Fluß hin abfiel. Im Frühling blühten dort Primeln und Glockenblumen. Im Sommer war es ein Gestrüpp aus Nesseln, Dornsträuchern und Blutweiderich, unter dem das schlammige Wasser plätscherte.

Meine Tante versicherte mir, dies sei die Stelle, wo Mr. Shakespeare mit einer jungen Dame ein »Stelldichein« gehabt habe. Genau an diesem Ufer habe der wilde Thymian geblüht. Aber sie sagte nie, was ein Stelldichein war, und ich mochte noch so angestrengt suchen, ich fand dort weder Thymian noch Schlüsselblumen, wenn ich auch ein paar nickende Veilchen entdeckte.

Viel später, als ich Mr. Shakespeares Stücke endlich gelesen hatte und endlich wußte, was ein Stelldichein war, kam mir in den Sinn, daß Weir Brake viel zu schlammig und zu dornig war, als daß Titania und Zettel sich dort niedergelassen hätten, doch daß es eine ausgezeichnete Stelle für Ophelia war, um den Sprung zu tun.

Tante Ruth las gern Shakespeare vor, und an Tagen, wenn das Gras trocken war, ließ ich meine Beine am Ufer baumeln und lauschte ihrem Vortrag: »Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist …«, »Die Art der Gnade weiß von keinem Zwang …«, oder: »Fünf Faden tief liegt Vater dein …«

»Fünf Faden tief …« regte mich schrecklich auf, weil mein Vater noch auf See war. Ich hatte einen anderen, ständig wiederkehrenden Traum: daß sein Schiff gesunken war, daß mir Kiemen und ein Fischschwanz wuchsen und ich zu ihm hinunter auf den Meeresboden schwamm und die Perlen erblickte, die einst seine hellblauen Augen gewesen waren.

Ein oder zwei Jahre später brachte mir meine Tante – zur Abwechslung nach so viel Mr. Shakespeare – einen eigens für Reisende zusammengestellten Gedichtband mit dem Titel The Open Road mit. Er hatte einen grünen Leineneinband, und auf dem Deckel war ein Schwarm goldener Schwalben abgebildet.

Ich liebte es, Schwalben zu beobachten. Wenn sie im Frühling eintrafen, wußte ich, daß meine Lungen bald vom grünen Schleim befreit sein würden. Im Herbst, wenn sie schwatzend auf den Telegrafendrähten saßen, konnte ich beinahe die Tage bis zum Inhalierapparat zählen.

The Open Road enthielt schwarzweiße Vorsatzblätter im Stil von Aubrey Beardsley, auf denen sich ein heller Pfad durch einen Kiefernwald schlängelte. Eines nach dem andern lasen wir jedes Gedicht in dem Buch.

Wir standen auf und gingen nach Innisfree. Wir sahen die für den Menschen unermeßlichen Höhlen. Wir wanderten, einsam wie eine Wolke. Wir schmeckten die ganze Blüte des Sommers, weinten um Lycidas, standen tränenüberströmt im fremden Korn und lauschten der schrillen, lockenden Musik Walt Whitmans:

O Straße du,Du drückst mich besser aus, als ich es selbst vermöchte,Du sollst mir mehr sein als mein Lied.

Einmal erzählte mir Tante Ruth, daß unser Familienname einmal »Chettewynde« gewesen war, was im Angelsächsischen »der gewundene Pfad« bedeutete; und mir prägte sich die Vorstellung ein, daß Poesie, mein eigener Name und der Pfad, daß alle drei auf irgendeine geheimnisvolle Weise miteinander verbunden seien.

Von den Gutenachtgeschichten war mir die Erzählung von dem jungen Coyoten in Ernest Thompson Setons Lives of the Hunted die liebste.

Coyotito war die kleinste aus einem Wurf, dessen Mutter von dem Cowboy Wolver Jake erschossen worden war. Ihre Brüder und Schwestern wurden totgeschlagen, ihr eigenes Leben jedoch geschont, damit Jakes Bullterrier und Windhunde ihren Zeitvertreib hatten. Ihr Bild, wie sie in Ketten lag, stellte die traurigste kleine Hundeperson dar, die ich je gesehen hatte. Und doch entwickelte sich Coyotito zu ei nem klugen Tier, und eines Morgens, nachdem sie sich tot gestellt hatte, riß sie in die Wildnis aus: um dort eine neue Generation von Coyoten in die Kunst einzuweisen, den Menschen aus dem Weg zu gehen.

Ich kann die Folge von Assoziationen heute nicht mehr aneinanderreihen, die mich veranlaßten, Coyotitos Freiheitsdrang mit dem »Walkabout«, der Buschwanderung der australischen Aborigines, in Zusammenhang zu bringen. Und ich weiß auch nicht mehr, wo ich den Ausdruck »Walkabout« zum erstenmal hörte. Doch irgendwie gewann ich die Vorstellung von den »zahmen« Australnegern, die an einem Tag zufrieden auf einer Rinderfarm arbeiteten und am nächsten Tag, ohne Ankündigung und ohne ersichtlichen Grund, ihre Stöcke aufpflanzten und das Weite suchten.

Sie zogen ihre Arbeitskleidung aus und gingen davon: für Wochen und Monate und sogar Jahre, und sie wanderten über den halben Kontinent, und sei es nur, um einen Menschen zu treffen, ehe sie zurückwanderten, als wäre nichts geschehen.

Ich versuchte mir das Gesicht ihres Arbeitgebers vorzustellen, wenn er entdeckte, daß sie gegangen waren.

Vielleicht war es ein Schotte: ein großer kräftiger Mann mit fleckigem Gesicht und einem Mund voller Obszönitäten. Ich malte mir aus, daß er zum Frühstück Steak und Eier aß – in den Tagen der Lebensmittelrationierung war uns bekannt, daß alle Australier ein Pfund Fleisch zum Frühstück aßen. Danach trat er in das blendende Sonnenlicht hinaus – in Australien war das Sonnenlicht immer blendend – und rief seine »Boys«.

Nichts.

Er rief wieder. Kein Laut, bis auf das höhnische Gelächter des Lachenden Hans. Er ließ den Blick über den Horizont schweifen. Nichts als Gummibäume. Er schritt über die Viehweiden. Auch dort nichts. Dann, draußen vor ihren Hütten, fand er die Stöcke mit ihren Hemden und Hüten und ihren aus den Hosen herausragenden Stiefeln …

3

Arkady bestellte zwei Cappuccinos im Coffee-Shop. Wir trugen sie zu einem Tisch am Fenster, und er begann zu erzählen.

Sein schnelles Denken machte mich ganz benommen, wenn ich auch manchmal den Eindruck hatte, daß er redete, als stünde er auf einem Podium, und daß vieles von dem, was er sagte, schon einmal gesagt worden war.

Die Aborigines hatten eine erdgebundene Philosophie. Die Erde schenkte einem Menschen das Leben, gab ihm seine Nahrung, seine Sprache und Intelligenz; und die Erde nahm ihn zurück, wenn er starb. Eines Menschen »eigenes Land«, und war es auch nur ein öder Landstrich mit Spinifexgestrüpp, war eine heilige Ikone, die unversehrt bleiben mußte.

»Unversehrt, meinen Sie, von Straßen und Bergwerken und Eisenbahnen?«

»Wenn man die Erde verwundet, verwundet man sich selbst«, sagte er ernst, »und wenn andere die Erde verwunden, verwunden sie dich. Das Land sollte unberührt bleiben: so wie in der Traumzeit, als die Ahnen die Welt ins Dasein sangen.«

»Rilke«, sagte ich, »hatte eine ähnliche Vorstellung. Auch er sagte: Gesang ist Dasein.«

»Ich weiß«, sagte Arkady und stützte sein Kinn in beide Hände. »Drittes Sonett an Orpheus.«

Die Aborigines, fuhr er fort, waren ein Volk, das auf leichten Füßen über die Erde schritt; und je weniger sie der Erde wegnahmen, um so weniger mußten sie ihr zurückgeben. Sie hatten nie verstanden, warum die Missionare ihnen ihre unschuldigen Opferriten verboten. Sie schlachte ten nicht, weder Tiere noch Menschen. Wenn sie jedoch der Erde für ihre Geschenke danken wollten, schlitzten sie sich einfach eine Ader am Unterarm auf und ließen ihr eigenes Blut auf den Boden tropfen.

»Kein sehr hoher Preis«, sagte er. »Die Kriege des zwanzigsten Jahrhunderts sind der Preis dafür, daß zu viel genommen wurde.«

»Ich verstehe«, sagte ich und nickte ratlos. »Aber könnten wir zu den Songlines zurückkehren?«

»Können wir.«

Ich war nach Australien gekommen, um nach Möglichkeit selber in Erfahrung zu bringen und nicht aus Büchern anderer zu lernen, was eine Songline war – und wie sie funktionierte. Es war offensichtlich, daß ich nicht bis zum Kern der Sache vorstoßen würde, aber das wollte ich auch gar nicht. Ich hatte eine Freundin in Adelaide gefragt, ob sie einen Experten kenne. Sie gab mir Arkadys Telefonnummer.

»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mein Notizbuch benutze?« fragte ich.

»Nur zu!«

Ich zog ein Notizbuch mit einem schwarzen Wachstucheinband aus meiner Tasche; die Seiten wurden von einem Gummiband zusammengehalten.

»Ein hübsches Notizbuch«, sagte er.

»Ich habe sie immer in Paris gekauft«, sagte ich. »Aber jetzt werden sie nicht mehr hergestellt.«

»Paris?« wiederholte er und runzelte die Brauen, als sei ihm so etwas Anmaßendes noch nie zu Ohren gekommen.

Dann zwinkerte er mir zu und sprach weiter.

Um die Vorstellung der Traumzeit zu verstehen, sagte er, müsse man sie als eine Aborigine-Version der ersten beiden Kapitel der Genesis ansehen – mit einem entscheidenden Unterschied.

In der Genesis erschuf Gott zuerst die »lebenden Dinge«, und dann formte er Vater Adam aus Lehm. Hier in Australien erschufen sich die Ahnen selbst aus Lehm, zu Hunderten und Tausenden, je einen für jedes totemistische Wesen.

»Wenn also ein Aborigine Ihnen sagt: ›Ich habe einen Wallaby-Traum‹, will er damit sagen: ›Mein Totem ist das Wallaby. Ich bin ein Mitglied des Wallaby-Klans.‹«

»Ein Traum ist also ein Klan-Emblem? Eine Art Abzeichen, das ›uns‹ von ›ihnen‹ unterscheidet? ›Unser Land‹ von ›ihrem Land‹?«

»Das geht noch sehr viel weiter«, sagte er.

Jeder Wallaby-Mensch glaubte, von einem universalen Wallaby-Vater abzustammen, der der Ahne aller Wallaby-Menschen und aller lebenden Wallabys war. Wallabys waren daher seine Brüder. Eins zu töten, um es zu verzehren, war sowohl Brudermord als auch Kannibalismus.

»Und doch«, beharrte ich, »war der Mensch nicht mehr ein Wallaby, als die Briten Löwen, die Russen Bären oder die Amerikaner Weißkopf-Seeadler sind?«

»Jede Spezies kann ein Traum sein«, sagte er. »Ein Virus kann ein Traum sein. Man kann einen Windpocken-Traum haben, einen Regen-Traum, einen Wüstenorangen-Traum, einen Läuse-Traum. Auf dem Kimberley-Plateau haben sie jetzt einen Geld-Traum.«

»Und die Waliser haben Lauch, die Schotten Disteln, und Daphne wurde in einen Lorbeerbaum verwandelt.«

»Immer dieselbe alte Geschichte«, sagte er.

Er fuhr fort, mir zu erklären, daß jeder totemistische Ahne auf seiner Reise durch das Land eine Spur von Wörtern und Noten neben seinen Fußspuren ausgestreut habe und daß sich diese Traumpfade wie Verkehrs-»Wege« zwischen den am weitesten auseinanderliegenden Stämmen über das ganze Land hinzögen.

»Ein Lied«, sagte er, »war gleichzeitig Karte und Kompaß. Wenn man das Lied kannte, konnte man immer seinen Weg durch das Land finden.«

»Und wanderte ein Mann beim ›Walkabout‹ immer an einer dieser Songlines entlang?«

»In den alten Zeiten, ja«, stimmte er zu. »Heutzutage nehmen sie den Zug oder das Auto.«

»Und wenn der Mann von seiner Songline abwich?«

»Das war Betreten fremden Bodens. Dafür konnte er mit dem Speer getötet werden.«

»Aber solange er sich an seinen Pfad hielt, fand er immer Menschen, die seinen Traum teilten? Die in Wirklichkeit seine Brüder waren?«

»Ja.«

»Von denen er Gastfreundschaft erwarten konnte?«

»Und umgekehrt.«

»Ein Lied ist also eine Art Paß, ein Gutschein für eine Mahlzeit?«

»Auch das ist komplizierter.«

Zumindest theoretisch konnte ganz Australien wie eine Partitur gelesen werden. Es gab kaum einen Felsen oder einen Bach im Land, der nicht gesungen werden konnte oder gesungen worden war. Man mußte sich die Songlines wie Spaghetti aus Iliaden und Odysseen vorstellen, die sich hierhin und dorthin schlängelten, wobei jede »Episode« den geologischen Formen abzulesen war.

»Unter Episode verstehen Sie ›heilige Stätte‹?« fragte ich.

»So ist es.«

»Stätten wie die, die Sie zur Zeit für die Eisenbahngesellschaft vermessen?«

»Sie müssen es so sehen«, sagte er. »Überall im Busch können Sie auf irgendeine Stelle in der Landschaft zeigen und den Aborigine an Ihrer Seite fragen: ›Was für eine Geschichte ist das?‹ oder: ›Wer ist das?‹ Es ist möglich, daß er ›Känguruh‹ oder ›Wellensittich‹ oder ›Eidechse‹ antwortet, je nachdem, welcher Ahne diesen Weg gegangen ist.«

»Und die Entfernung zwischen zwei solcher Stätten kann als Abschnitt des Lieds gemessen werden?«

»Deshalb«, sagte Arkady, »habe ich so viele Schwierigkeiten mit den Leuten von der Eisenbahn.«

Es war nicht leicht, einen Vermesser davon zu überzeugen, daß ein Haufen Flußsteine die Eier einer Regenbogenschlange oder ein rötlicher Sandsteinbrocken die Leber eines mit dem Speer erlegten Känguruhs war. Schwerer noch war es, ihm einsichtig zu machen, daß eine öde Schotterlandschaft die musikalische Entsprechung zu Beethovens Opus 111 war.

Indem sie die Welt ins Dasein sangen, sagte er, seien die Ahnen Dichter in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes poesis gewesen, das »Schöpfung« besage. Kein Aborigine könne sich vorstellen, daß die erschaffene Welt in irgendeiner Weise unvollkommen sei. Sein religiöses Leben hatte nur ein Ziel: das Land so zu erhalten, wie es war und wie es sein sollte. Ein Mann, der »Walkabout« ging, machte eine rituelle Reise. Er folgte den Fußspuren seines Ahnen. Er sang die Strophen seines Ahnen, ohne ein Wort oder eine Note zu ändern – und erschuf so die Schöpfung neu.

»Manchmal«, sagte Arkady, »wenn ich meine ›alten Männer‹ durch die Wüste fahre und wir zu einer Kette von Sandhügeln kommen, fangen sie plötzlich alle an zu singen. ›Was singt ihr Leute da?‹ frage ich sie, und sie antworten: ›Wir singen das Land herbei, Boß. Dann kommt das Land schneller.‹«

Aborigines konnten nicht glauben, daß das Land existierte, bevor sie es sehen und singen konnten – wie auch das Land in der Traumzeit nicht existierte, bevor die Ahnen es sangen.

»Das Land muß also zuerst als Vorstellung im Kopf existieren?« sagte ich. »Und dann gesungen werden? Erst dann kann es als existent bezeichnet werden?«

»Richtig.«

»Mit anderen Worten, ›existieren‹ bedeutet ›wahrgenommen werden‹?«

»Ja.«

»Hört sich verdächtig nach Bischof Berkeleys Widerlegung der Materie an.«

»Oder wie der Buddhismus des reinen Denkens«, sagte Arkady, »für den die Welt ebenfalls eine Illusion ist.«

»Dann ist es also so, daß diese dreihundert Meilen Stahl, die zahllose Songs durchschneiden, zwangsläufig das psychische Gleichgewicht Ihrer ›alten Männer‹ erschüttern werden?«

»Ja und nein«, sagte er. »Sie sind in emotionaler Hinsicht sehr stark, und sie sind sehr pragmatisch. Außerdem haben sie weitaus Schlimmeres erlebt als die Eisenbahn.«

Aborigines glaubten, daß alle »lebenden Dinge« im verborgenen unter der Erdkruste gemacht worden waren, wie auch alle Maschinen des weißen Mannes – seine Flugzeuge, seine Gewehre, seine Toyota-Landcruiser – und alle Erfindungen, die man noch erfinden würde; sie schlummerten unter der Oberfläche und warteten, bis sie gerufen wurden.

»Vielleicht können sie die Eisenbahn in die erschaffene Welt Gottes zurücksingen?« schlug ich vor.

»Da können Sie sicher sein«, sagte Arkady.

4

Es war nach fünf. Das Abendlicht harkte in die Straße hinunter, und durch das Fenster sahen wir eine Gruppe schwarzer Jugendlicher in karierten Hemden und Cowboyhüten, die sich unter den Flamboyants ruckartig auf das Pub zubewegten.

Die Kellnerin räumte die Speisereste ab. Arkady wollte noch einen Kaffee, aber sie hatte die Maschine bereits abgestellt. Er sah in seine leere Tasse und zog die Stirn in Falten.

Dann blickte er hoch und fragte schroff: »Warum interessieren Sie sich für all das? Was wollen Sie hier?«

»Ich bin hierhergekommen, um eine Idee zu testen«, sagte ich.

»Eine große Idee?«

»Wahrscheinlich eine Idee, die auf der Hand liegt. Aber eine, die ich loswerden muß.«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!