Der Nomade - Bruce Chatwin - E-Book

Der Nomade E-Book

Bruce Chatwin

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Beschreibung

Er schrieb, wie er lebte: ohne Ruhe, ohne Rast. Bruce Chatwin war ein literarischer Nomade, seine Bücher wie "In Patagonien" oder "Traumpfade" machten ihn weltberühmt. Hinter dem Autor, der auf Reisen stets Notizen in seine Moleskine-Hefte schrieb, verbirgt sich ein widersprüchlicher Mensch. Chatwins Briefe an Verwandte und Freunde wie Susan Sontag oder Salman Rushdie reichen von der Internatszeit bis zur Arbeit bei Sotheby’s, von den journalistischen Anfängen bis zum literarischen Durchbruch und der Erkrankung an Aids. Der von seiner Ehefrau herausgegebene Briefband ist die einzigartige Möglichkeit einer Annäherung an diesen ungewöhnlichen und zu Lebzeiten stets mythenumwobenen Schriftsteller.

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Seitenzahl: 815

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Hanser E-Book

BRUCE

CHATWIN

BRIEFE 1948–1988

Ausgewählt, herausgegeben

und eingeführt von

Elizabeth Chatwin und

Nicholas Shakespeare

Aus dem Englischen von

Anna Leube und

Dietrich Leube

Carl Hanser Verlag

Die englische Originalausgabe erschien 2010

unter dem Titel Under the Sun bei Jonathan Cape in London.

Die vorliegende Ausgabe wurde in Absprache

mit den Herausgebern leicht gekürzt.

Enzensberger, Hans Magnus, »Reisender auf Traumpfaden.

Rückblick auf Bruce Chatwin und sein letztes Buch«,

in: Süddeutsche Zeitung, 23./24. 3.1991 (Zitate auf der Seite 14).

Rezzori, Gregor Von, Greisengemurmel. Ein Rechenschaftsbericht

© 1994 C. Bertelsmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe

Random House GmbH (Zitate auf den Seiten 17, 25, 245 und 605).

Sebald, W. G., Campo Santo, Carl Hanser Verlag, München2003

(Zitate auf den Seiten 26 und 35).

ISBN 978-3-446-24875-5

Briefe und Abbildungen: © The Chatwin Estate

Einleitung und Anmerkungen:

© Nicholas Shakespeare and Elizabeth Chatwin 2010

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

© Carl Hanser Verlag München 2014

Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München © Snowdon / Vogue Magazine Condé Nast

Satz: Greiner & Reichel, Köln

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

INHALT

VORWORT

Elizabeth Chatwin

EINLEITUNG

Nicholas Shakespeare

KAPITEL EINS

Schulzeit: 1948–1958

KAPITEL ZWEI

Sotheby’s: 1959–1966

KAPITEL DREI

Edinburgh: 1966–1968

KAPITEL VIER

Die Nomadische Alternative: 1969–1972

KAPITEL FÜNF

Sunday Times: 1972–1974

KAPITEL SECHS

Nach Patagonien: 1974–1976

KAPITEL SIEBEN

Der Vizekönig von Ouidah: 1976–1980

KAPITEL ACHT

Auf dem Schwarzen Berg: 1980–1983

KAPITEL NEUN

Traumpfade: 1983–1985

KAPITEL ZEHN

China und Indien: 1985–1986

KAPITEL ELF

Homer End: 1986–1988

KAPITEL ZWÖLF

Oxford und Frankreich: 1988–1989

ANHANG

Danksagung

Zeittafel

Bibliographie der Werke Chatwins

Register

VORWORT

Ich lernte Bruce gegen Ende des Jahres 1961 bei Sotheby’s kennen, wo ich für einige Jahre arbeiten sollte. Ich war die erste Amerikanerin, die das Auktionshaus in London einstellte, und natürlich war ich ein Kuriosum. Wenig später schickte man Bruce zum ersten Mal nach New York, wo er sich Gemäldesammlungen für mögliche Versteigerungen ansehen sollte. Er war von allem entzückt, besonders vom Glanz des alten, wohlhabenden WASP-Milieus, das viel Wirbel um ihn machte. Nach dieser Reise – von der er zurückkam angetan mit einer weiten karierten Wolljacke und passendem Hut, wie sie Bauern bei der Arbeit tragen – wurde ich interessanter.

Im Lauf der folgenden paar Jahre verbrachten wir Wochenenden in den Black Mountains, gingen in den Malvern Hills mit seinem Vater wandern, und in einem Sommer hätten wir uns beinahe in Libyen getroffen. Wir heirateten 1965.

Seine Briefe und Postkarten aus jener Zeit sind verlorengegangen. Es gelang mir, die meisten der späteren aufzubewahren. Ich freue mich sehr, dass nun eine Sammlung seiner Korrespondenz veröffentlicht wird. Briefe sind die anschaulichste Art des Schreibens. Bruce’ Mutter hat seine wöchentlichen Briefchen aus der Prep School aufgehoben, und schon darin zeigen sich eine Menge unterschiedlicher Interessen und Leidenschaften. Es ist faszinierend, zu sehen, wie sich dieses Kind zu einem Kunsthistoriker bei Sotheby’s entwickelt. Er war immer gut im Geschichtenerzählen, was schließlich sein Beruf wurde.

Bruce war bei Sotheby’s Experte für impressionistische und moderne Kunst (mit Ausnahme der britischen) und für die Antikenabteilungen. Letztere umfassten Artefakte aus Indien, dem alten Vorderen Orient, aus Europa und dem präkolumbianschen Amerika, aus dem Pazifik und aus Afrika – der ganzen Welt also – und erforderten endlose Recherchen im British Museum und im Pariser Musée de l’Homme. Immer mehr irritierten ihn archäologische Objekte, die zur Auktion eingeliefert wurden und von denen einige aus ungenannten Ausgrabungsorten gestohlen worden waren, und Fälschungen. Er fing an zu bedauern, dass man ihn bei Sotheby’s überredet hatte, nicht nach Oxford zu gehen, als ein Studienplatz frei wurde. Man redete ihm ein, er komme auch ohne akademischen Grad sehr gut zurecht.

1966 sah er sich an Universitäten um, mit der Absicht, Archäologie zu studieren … Nur Edinburgh und Cambridge boten Graduiertenkurse für Erstsemester an, und so ging er nach Edinburgh. Es würde einen dramatischen Einkommensverlust bedeuten, aber wir dachten, wir würden es schon schaffen.

Edinburgh war damals sehr unwirtlich im Winter. In der Royal Mile, wo wir in einem neugebauten Wohnblock ein Apartment gemietet hatten, gab es dreiundzwanzig Pubs, und in keinem gab es einen Stuhl, auf den man sich hätte setzen können. Um Blattgemüse und Salat zu bekommen, musste ich in die New Town gehen (über die Brücke in den Stadtteil aus dem 18. Jahrhundert), wo es einen richtigen Gemüsehändler gab. Im riesigen North British Hotel wusste man nicht, was Salat war. Am besten waren der Fisch und die Austernbar im Freien. Man trank seinen Weißwein und bekam dunkles Brot mit Butter zu den Austern. Es war eiskalt, machte aber Spaß.

Bruce arbeitete wie besessen und bis tief in die Nacht. Er bewies großen Eifer und war mit sechsundzwanzig ein erwachsener Student, der es nicht leicht hatte neben Teenagern, die direkt von der Schule kamen. Er studierte Sanskrit und Archäologie und wurde Bester des Kurses, was ihn sehr freute. Dann, nach zweieinhalb Jahren eines vierjährigen Studiengangs, gab er auf. Er sagte mir nicht einmal, dass er aufhören wollte. Er war enttäuscht, nachdem er im Sommer mehrfach an Ausgrabungen teilgenommen und erkannt hatte, dass er keinen Gefallen daran fand, die Toten zu stören.

In dieser Zeit hatte er angefangen, sich für Nomaden zu interessieren, und er begann, über sie zu schreiben. Das Honorar für die Begutachtung einer Sammlung in Ägypten verschaffte ihm genügend Geld, um ein wenig zu reisen. 1969 fuhren er und Peter Levi mit einem Stipendium, das Peter in Oxford bekommen hatte, nach Afghanistan. Es war Bruce’ dritte Reise dorthin. Ich fuhr ihnen zwei Monate später nach und war von dem Land aufs höchste begeistert. Neun Jahre später haben die Russen die alte Ordnung für immer zerstört.

Bruce arbeitete mehrere Jahre lang an dem Buch über die Nomaden, aber es war nicht zu veröffentlichen – bis heute nicht. Dann ließ er sich dazu überreden, für das Magazin der Sunday Times zu arbeiten, damals ein ausgezeichnetes Blatt. Dort gewann er viele Freunde fürs Leben.

Zunächst begann Bruce als Kunstexperte, er war der Nachfolger von David Sylvester. Am Ende schrieb er Artikel über Algerien, Mrs. Gandhi, André Malraux ebenso wie über Kunst. Er traf Eileen Gray, eine irische Möbeldesignerin und Innenarchitektin, die bedeutenden Einfluss durch die Verwendung neuer Materialien wie Plexiglas in Verbindung mit herkömmlichem Material hatte. Sie lebte seit 1904 in Paris. Gray ermutigte Bruce, an ihrer statt nach Patagonien zu gehen, da sie schon immer dorthin hatte reisen wollen, nun aber zu alt war.

So tat er abermals einen dramatischen Schritt in seinem Leben, ohne irgendjemandem etwas zu sagen, bis er praktisch schon unterwegs war. Er schrieb an die Sunday Times einen Brief auf einem Stück gelben Schreibpapier, das verlorenging oder gestohlen wurde. Auf dem Weg nach Süden rief er mich gewöhnlich aus irgendeiner kleinen Bar an der Straße an. Er war voll des Lobs für argentinischen Moët-&-Chandon-Schampus. Champagner an einem unwahrscheinlichen Ort zu finden, gab ihm großen Auftrieb. So etwas gefiel ihm.

Fast immer reiste er allein. Zwei Menschen zusammen wirken abweisend, aber eine Einzelperson ist zugänglich. Er hätte In Patagonien niemals mit mir im Schlepptau schreiben können, auch nicht den Vizekönig von Ouidah oder die meisten seiner anderen Bücher.

Die Menschen, denen er unterwegs begegnete, veränderte er ein wenig – die Brüder in Auf dem Schwarzen Berg waren keine Zwillinge; eine Krankenschwester in seinem Erstling In Patagonien war eine Verehrerin von Agatha Christie, nicht von Ossip Mandelstam. Es verärgerte die solcherart veränderten Leute, wie Nicholas Shakespeare und ich feststellten, als wir 1992 Bruce’ Spuren in Patagonien folgten – alles war Teil seiner Erzählweise. In Traumpfade tauchen vollkommen erfundene Figuren auf.

Man hat mich oft gefragt, wie ich seine endlosen Abwesenheiten von zu Hause empfand. Manchmal war es irritierend, dass ich mit allem allein zurechtkommen musste, doch ich wusste, dass er arbeitete; er musste frei sein. Ganz zu Beginn unserer Ehe sagte er, er hoffe, es mache mir nichts aus, aber er müsse allein losziehen – Der Kater, der allein umherzieht, ein hübsches Bild von Kipling, steht auf meinem Küchenschrank.

Bruce hielt immer brieflich oder telefonisch Verbindung, noch von den entferntesten Winkeln der Erde aus, und ich war schlicht nicht neugierig auf das, was er machte. Er unterhielt mich mit Geschichten, wenn er zurück war.

In den frühen 1970er Jahren bekam ich meine ersten schwarzen walisischen Bergschafe, und seitdem orientierte sich mein Tagesablauf nach den Schafen. Ich habe immer noch ihre Nachkommen und freue mich noch genauso an ihnen.

Bei allem, was Bruce unternahm, zog er die unterschiedlichsten Menschen an. Er besaß ein Talent, Freunde zu gewinnen, wo immer er war: in Bussen, Zügen oder auf Schiffen. Irgendwie entdeckte er innerhalb von Minuten das, was Fremde besonders interessierte, und sie plauderten drauflos wie alte Freunde. Das hat mich immer erstaunt. Sie dachten, sie seien Freunde fürs Leben geworden. Der Austausch von Adressen bedeutete, dass Bruce Briefe aus allen möglichen unwahrscheinlichen Orten bekam. Ein Nigerianer schickte eine endlos lange Liste von Sachen wie Socken und Hemden und Hosen und Baumwollfaden für den Laden, den er aufmachen wollte. Weitere Listen folgten. Ich fürchte, wir haben sie ignoriert.

Nachdem Bruce angefangen hatte, Bücher zu schreiben, wurde er süchtig danach und dachte schon morgens beim Aufwachen an die Arbeit. Wenn wir zusammen auf dem Kontinent reisten, konnte er sehr unruhig werden, wenn er mehrere Tage lang nicht zum Schreiben kam. Er pflegte das Zimmer, in dem wir logierten, so umzuräumen, dass er dort arbeiten konnte. Ich wurde fortgeschickt, um allein Besichtigungstouren zu machen.

Es ist wunderbar, dass so viele Menschen seine Briefe aufbewahrt haben, noch bevor er ein bekannter Schriftsteller wurde. Er hat nie etwas aufgehoben, nicht einmal die Erstausgaben seiner Bücher.

Ich habe keine Ahnung, was er von Computern gehalten hätte und ihrer Verwendung beim Bücherschreiben. Vielleicht hätte es ihm das allergrößte Vergnügen bereitet, sich mit irgendeiner Person irgendwo auf der Welt zu unterhalten, aber vielleicht hätte er es auch gehasst. Als wir 1983 im Everest National Park unterwegs waren, stieß ein einsamer Amerikaner zu uns und wollte sich unserem Camp anschließen (schließlich wurde er unter einem Vorwand abgewiesen). Er sagte, in wenigen Jahren werde Bruce einen Computer zum Schreiben verwenden. Wir gaben ihm eine spöttische Antwort, und tatsächlich hat Bruce, soweit ich weiß, nie einen Computer auch nur angeschaut. Aber er stellte fest, dass die meisten Bücher, seit es Computer gab, viel dicker geworden waren. Er hatte nichts daran auszusetzen, aber sie waren zu lang, weil das Korrigieren und Bearbeiten mit dem Gerät so leicht war.

Er schrieb gewöhnlich von Hand auf gelbem (amerikanischem) Behördenpapier, korrigierte dann das Geschriebene, strich Dinge und legte Blatt für Blatt ab. Wenn er einigermaßen zufrieden war, tippte er den Text breitrandig auf der Schreibmaschine und überarbeitete ihn noch einmal. Dann gab es vielleicht eine weitere handschriftliche Version und auf jeden Fall mehrere getippte Fassungen. Er warf Berge von Papier weg, es gibt also keine Manuskripte.

Er zeigte seine Arbeit niemandem, bevor er damit zufrieden war, doch er las sie mir vor. Alles musste richtig und flüssig klingen. Die Briefe sind seine einzigen unbearbeiteten Texte. Er empfand Schreiben als mühevolle Arbeit. Ein Computer machte es zu leicht.

Heute, da die Kommunikation dank Mobiltelefonen und E-Mail so schnell und einfach geworden ist, schreibt kein Mensch mehr Briefe. Keine Zettelchen mehr von den Kleinen in der Grundschule, die man aufheben könnte, vielleicht nicht einmal mehr Liebesbriefe oder Reiseberichte. Druckt irgendjemand die Mitteilungen, die er erhält, zum Andenken aus?

So sind die Briefe von Bruce, beginnend in früher Jugend und lebenslang fortgeführt, ein letztes Beispiel einer traditionellen Form der Mitteilung, die nun möglicherweise verschwindet.

ELIZABETH CHATWIN

EINLEITUNG

Ich bin ganz bestimmt

zum Briefeschreiben aufgelegt.

Ein Jahr vor seinem Tod im Januar 1989 öffnete Bruce Chatwin einen Brief seines Londoner Verlegers Tom Maschler und las Folgendes:

»Ich habe es bereits gesagt, und ich werde es wieder sagen: Es gibt schlicht keinen Schriftsteller in England, für dessen Werk ich eine größere Leidenschaft empfände als für Deines. Diese Aussage kommt von ganzem Herzen.«

Einundzwanzig Jahre später findet Maschler keinen Grund, seine Meinung zu ändern. »Von denen, die ich ›meine Leute‹ nenne – Ian McEwan, Martin Amis, Julian Barnes, Salman Rushdie –, war Bruce derjenige, bei dem mir am meisten daran lag, zu wissen, in welche Richtung er sich entwickeln würde. Wenn er länger gelebt hätte, wäre er ihnen vermutlich allen vorausgewesen«, sagte er mir.

Chatwins bezwingende Erzählstimme verstummte gerade in dem Moment, als er sie fand. In seinen letzten Monaten, eingewickelt in einen Schal neben dem Ofen in Homer End bei Oxford, klagte er Elizabeth gegenüber: »Es gibt so viele Sachen, die ich machen möchte.« Eine Arbeit über Heilkunde, die Die Söhne des Donners heißen sollte; ein Triptychon von Erzählungen nach dem Vorbild von Flauberts Trois Contes, eine davon sollte in Irland spielen, »zur Zeit der irischen Könige«; einen asiatischen Roman über den austroamerikanischen Botaniker Joseph Rock, der in China gelebt hatte; ein weiterer, in Südafrika angesiedelter Roman sollte den Klatsch und die Eifersüchteleien in einem Karoo-Dorf erforschen. Und natürlich sein russisches Epos LydiaLivingstone, zuallererst eine Liebesgeschichte, die in drei Städten – Paris, Moskau, New York – spielen sollte und in der er versuchen wollte, die an James’sche Romane erinnernde Familie seiner Frau zu fiktionalisieren. »Bruce hatte gerade erst begonnen«, sagte sein Freund Salman Rushdie. »Wir hatten noch nicht die Bücher der Reifezeit, die vielleicht aus der Liebesgeschichte mit seiner Frau entstanden wären. Wir sahen nur den ersten Akt.«

Einer der Titel, die er mochte, obwohl er noch kein Buch dafür hatte, war Unter der Sonne.1

Es war ein Ausländer, der die Frage stellte: »Warum sollte das Verschwinden von Bruce Chatwin einen solchen Unterschied machen?« Im Juni 1989 beantwortete Hans Magnus Enzensberger seine eigene Frage folgendermaßen: »Gewiss aber wird man sich an Chatwin als an einen Geschichtenerzähler erinnern (und als solcher wird er auch vermisst werden), einen Geschichtenerzähler, der weit über die Grenzen der Fiktion hinausgeht und in seinen Erzählungen Elemente der Reportage, der Autobiographie, der Ethnologie, der kontinentalen Tradition des Essays, ja sogar des Klatsches einbezieht.« Für Enzensberger, mit dem Chatwin eine Wanderung entlang der Berliner Mauer und der ostdeutschen Grenze geplant hatte, reichte es nicht, zu sagen, dass er jung starb oder dass von ihm noch viel zu erhoffen war. »Chatwin hat nie das geliefert, was die Kritiker, die Verleger oder die Leser von ihm erwarteten. Er hatte keine Angst, uns zu enttäuschen, und vermochte uns deshalb auf jeder Seite von neuem zu überraschen.« Enzensberger schloss: »Aber unter der Brillanz seiner Texte schimmert etwas Beklemmendes, Brüchiges, Einsames, Bewegendes, wie in der Prosa Turgenjews. Bei Bruce Chatwin stoßen wir auf vieles, was er ungesagt gelassen hat.« [»Reisender auf Traumpfaden. Rückblick auf Bruce Chatwin und sein letztes Buch«,in: Süddeutsche Zeitung, 23./24. 3. 1991]

Auch wenn wir uns von keinen künftigen Werken überraschen lassen können, hat Chatwin eine Sammlung von Schriften hinterlassen, deren Frische erstaunt; einen authentischen Faden, der uns eine Rückkehr zu ihm gestattet und uns sogar auf eine Weise belohnt, wie sie Enzensberger andeutet: nämlich die Briefe und Postkarten, die er von seiner ersten Woche im Internat an, zwei Wochen vor seinem achten Geburtstag, schrieb, bis kurz vor seinem Tod im Alter von 48 Jahren.

Beauftragt, im von den Nazis besetzten Paris zivile Post aus Deutschland zu zensieren, vertraute Ernst Jünger, dem einer von Chatwins besten Essays gewidmet ist, seinem Tagebuch an: »Es gibt nichts, was Menschen nicht in Briefen festhalten würden.«

Ob getippt auf Briefpapier von Sotheby’s oder mit einem Mont-Blanc-Füller auf blauem Schreibpapier aus einem Laden in der Mount Street geschrieben (mit eingeprägter Adresse) oder auf die Rückseite von Ansichtskarten mit einem stumpfen Hotelbleistift gekritzelt – Chatwins Korrespondenz verrät viel mehr über ihn selbst, als er bereit war, in seinen Büchern preiszugeben.

Nur in seinen Briefen lässt er wissen, dass er an einem Februartag in der Nähe von Johannesburg dabei war, als ein zersplittertes Fragment eines Antilopenknochens vom Grund der Höhle von Swartkrans zutage gefördert wurde, glitschig und mit dunklen Flecken gesprenkelt, als ob es verbrannt wäre: der Beweis, wie sich herausstellte, für den »frühesten Gebrauch des Feuers« durch den Menschen. Bei all seiner Brillanz konnte Chatwin entwaffnend bescheiden sein, indem er sein Licht unter denselben Scheffel stellte wie seine gut verborgenen dunklen Seiten. Jener Bruce Chatwin, der in seinen Büchern Traumpfade, In Patagonien und Was mache ich hier erscheint, ist seine eigene, gelungenste Figur: aufmerksam, intelligent, scharfsinnig, heterosexuell, großzügig, furchtlos. Diese Persönlichkeit trug wesentlich zum Reiz seines Schreibens bei. »In seinen Büchern wurde man nicht nur von einer unverwechselbaren Stimme angesprochen«, bemerkte Michael Ignatieff, »sondern auch von der sagenhaften Figur, die er für sich selbst geschaffen hatte.« Der Bruce Chatwin der Briefe ist sich weniger sicher, wer er ist, ist verletzlicher, aber auch menschlicher. Empfindlich, was seine Gesundheit und seine Finanzen, unsicher, was seine sexuelle Orientierung und sein Verhältnis zu England betrifft, vor allem ruhelos bis an die Grenze zur Neurose.

In seinem Pass gab Chatwin »Farmer« als Beruf an, doch sein Leben verbrachte er auf Schusters Rappen, einen beträchtlichen Teil davon bei der Beobachtung von Nomaden. Eine interne Notiz, die im Oktober 1982 im Verlag Cape zirkulierte, vermittelt eine Vorstellung von seinen Reisen, auf denen es ihn, wie die Seeschwalben, in alle Himmelsrichtungen zog. »Die Presseabteilung hat keine Ahnung, wann Bruce Chatwin in Australien sein wird – und seine Agentin weiß es auch nicht! Soweit wir wissen, ist er immer noch in Sibirien, Russland.« In eines seiner legendären Moleskine-Notizbücher übertrug er die vielsagende Zeile von Montaigne: »Gewöhnlich antworte ich denen, die mich nach dem Grund meiner Reisen fragen, dass ich genau weiß, wovor ich fliehe, doch nicht, wonach ich suche.« Für die Beweggründe von Chatwins Ruhelosigkeit habe ich bislang keine überzeugendere Erklärung gefunden als den Satz des vietnamesischen Schriftstellers Nguyen Qui Duc: »Nomaden zogen in früheren Zeiten auf der Suche nach Nahrung, nach Lagerplätzen, nach Wasser umher; wir modernen Nomaden ziehen umher auf der Suche nach uns selbst.«

Geschrieben mit der Verve und der Prägnanz des Ausdrucks, die ihn von Anfang an als Autor auszeichneten, bietet Chatwins Korrespondenz eine anschauliche Übersicht über seine Interessen und Anliegen aus vierzig Jahren. Seine Briefe und Postkarten zu lesen heißt, mit ihm unterwegs zu sein: im Sudan, in Afghanistan, Niger, Benin, Mauretanien, Feuerland, Brasilien, Nepal, Indien, Alice Springs, London, New York, Edinburgh, Wotton-under-Edge, Ipsden – auf den Spuren der ruhelosen Chimäre, die Bruce Chatwin war, diese »beklemmende« und schwer fassbare Präsenz, die zugleich etwas »Brüchiges, Einsames, Bewegendes« ist.

Ein durch Briefe enthülltes Leben ist nicht so linear wie eine Biographie. Es schlingert eher auf eine Weise durch Zeit und Raum wie Chatwins Berichte von seinen Reisen nach Patagonien und Australien; es ist chaotisch, wiederholt sich ständig, ist überbordend, dem Augenblick unterworfen. Auch kann man sich leider nicht darauf verlassen, dass man bei Bedarf Briefe finden kann – aus bestimmten Zeiträumen und über Vorkommnisse und Menschen, über die man gerade dann allzu gerne mehr wissen möchte. Doch das in Briefen erzählte Leben besitzt diesen Vorzug: Es ist ein Leben, das in diesem Augenblick mit der Stimme und den Worten der Person selbst erzählt wird. Es kommt einem Gespräch mit ihr noch am nächsten.

Der vielgestaltige Erzähler der Bücher Chatwins ist ein Mensch, der bemerkenswert wenig sagt. Er ist ein Pantomime, ein Charakter, der lakonische Kommentare und lapidare Nebenbemerkungen von sich gibt, die verschleiern, was er denkt – »Möglicherweise (gewissermaßen hinter sich selbst zurückgetreten)«, wie sein Freund Gregor von Rezzori es sah, »in der hochgezüchteten Unpersönlichkeit eines Zeitungsartikels« [Greisengemurmel. Ein Rechenschaftsbericht, München1994,S. 42]. Dieser Eindruck ist irreführend. In seinen Briefen wie auch im Leben war Chatwin nicht weniger gesprächig, als es Marcel Marceau war, wenn er nicht stumm auf der Bühne agierte.

»Ich halte nichts davon, alles offenzulegen«, sagte Chatwin bekanntlich zu Paul Theroux. In seinen Briefen kann er es nicht vermeiden. Sie sind der Rohstoff seiner Gedanken, ein Mittel, sie auf dem Papier zu testen, eine erste Version. Sie markieren seinen Kampf mit dem, der er war, und mit dem, der er sein wollte; Kunstexperte, Ehemann, Archäologe, Schriftsteller – erst als akademischer Theoretiker, dann als unverbesserlicher Geschichtenerzähler. Sie sind in gleichem Maß Austausch mit jedem, mit dem er Briefe wechselt, wie fortwährendes Geplauder mit sich selbst.

Chatwins Nachbar in Gloucestershire, Jim Lees-Milne, notierte in seinem Tagebuch die Ansicht des Herzogs von Beaufort, »die Nachwelt sollte niemals Menschen nach ihrer Korrespondenz beurteilen, weil das, was sie an einem Tag schrieben, oft das Gegenteil dessen war, was sie am nächsten Tag dachten«. Der fluktuierende Strom von Chatwins Gedankengängen ist Teil dessen, was seinen Briefen ihre Vitalität verleiht. Es ist für ihn nicht ungewöhnlich, seine Meinung von einem Brief zum nächsten zu ändern, selbst zwischen den Absätzen ein und desselben Briefs. Er ändert seine Meinung über sein Haus, über Australien, Afrikaner oder darüber, ob er seine Frau in Indien treffen soll. »Er denkt auf Papier und schafft Klarheit in seinem Kopf, wie bei einer Unterhaltung«, sagt Elizabeth. Besonders sprunghaft ist er, wenn es um seine Reisepläne geht, sie sind ungewisser noch als das Hin und Her beim Verkauf seines Maori-Bettteils, das einst Sarah Bernhardt gehört hatte, oder als die Story des langerwarteten Schecks von James Ivory, mit dem die Kosten für einen in Frankreich für eine Woche gemieteten Wagen zu bestreiten waren. Kaum kommt Chatwin irgendwo an, schultert er wieder seinen Rucksack, bereit zum Aufbruch. »Am Anfang ist immer alles perfekt, aber er wird eines Orts sehr schnell überdrüssig, und im Nu beginnt er daran herumzukritteln.«

Dann, gar nicht selten schon vom nächsten Ort verschickt – eine Ansichtskarte.

Für Paul Theroux, mit dem er einmal vor der Royal Geographical Society einen Vortrag hielt, wirken Chatwins Ansichtskarten wie Miniatur-Reklameschilder, da sie »für viele Angeber das perfekte Medium sind, denn sie kombinieren Anschaulichkeit mit niedrigem Preis und geringem Aufwand«; sie erlauben ihm, ohne die Tiefe und Verbindlichkeit von Briefen in Kontakt zu bleiben. Doch ein anderer amerikanischer Schriftsteller, David Mason, ist nicht so sicher, dass diese Postkarten das Laster der Eigenreklame verrieten. Mason traf Chatwin nur ein einziges Mal – an einer Bushaltestelle in Griechenland: »Seine knappe Korrespondenz mit Bekannten wie mir war zweifellos Frucht einer geselligen Sensibilität. Manche Schriftsteller betreiben Eigenwerbung aus einem verzweifelten Bedürfnis heraus. Was ich bei Bruce spürte, ähnelte mehr einer ungezügelten Begeisterung.«

Gewiss war es diese Begeisterung, von der Chatwins Lektorin Susannah Clapp so angetan war; für sie passte das Idiom der Postkarte gut zu Chatwins Elan, zu seiner geheimnisvollen Art, dem elliptischen Stil des Schriftstellers. Er liebte kurze Sätze, kurze Abschnitte; die komprimierte Beschreibung des Katalogbearbeiters von Sotheby’s und Postkartenverfassers. »Zupackend, optisch auffällig und flüchtig«, schreibt Clapp, »waren Postkarten für Bruce Chatwin das perfekte Kommunikationsmittel« – und ermöglichten es ihm, aus heiterem Himmel zu verblüffen. Wohl sein berühmtester Satz (allerdings konnte die Vorlage nicht ausfindig gemacht werden) war das Telegramm (es kann auch ein Brief gewesen sein), das er seinem Redakteur beim Magazin der Sunday Times geschickt haben soll, mit den Worten BIN WEG NACH PATAGONIEN FÜR VIER MONATEN (es können auch sechs gewesen sein). Eine Postkarte an seinen italienischen Verleger (ebenfalls verlorengegangen) enthielt anscheinend die warnende Zeile: »Australien ist die Hölle.«

Ein häufig wiederkehrender Satz lautet: »Ich denke oft an Dich.« Eine von vielen, die ihn zu lesen bekamen, war die Lyrikerin Pam Bell aus Queensland, mit der Chatwin am Ende seiner zweiten und letzten Australienreise zusammen war. »Es war ein warmer Ton in seinen Postkarten«, sagte sie. »Man spürte, dass er einen wirklich auf dem Laufenden halten wollte. Die Leute erklären oft, dass sie an einen gedacht haben, aber es ist nur so dahingesagt, doch bei Bruce spürte man, dass er es einige Minuten lang so meinte.« Dem Althistoriker Robin Lane Fox, dessen Vorfahr, General Augustus Pitt-Rivers, eine Sammlung von unerhört wertvollen Beninbronzen angehäuft hatte, erbeutet 1897 von einem britischen Stoßtrupp, schickte er eine Karte. »Bruce schrieb, er werde, wenn ich mich nicht meldete, eine Strafexpedition losschicken und mir meine Tassen mit dem Weidenmuster wegnehmen.«

Nicht jeder kann etwas mit Chatwin anfangen. Nachdem er die längste Zeit seines Schriftstellerlebens – mehr oder weniger bis zur Veröffentlichung der Traumpfade (1987) – unterschätzt worden war, erlangte er nach seinem Tod für kurze Zeit einen kultartigen Status, mit dem es bald wieder vorbei war. Alan Bennett, der Lieblingsautor der Nation, wurde zu einem »böswilligen« Leser bei der Lektüre von Chatwins Einleitung zu Robert Byrons Der Weg nach Oxiana [dt. 2004]. »[E]ines Nachmittags«, schreibt Chatwin, »[ging ich] mit Byrons Wegnach Oxiana in die Moschee [Scheich-Luftfullah-Moschee in Isfahan], saß mit untergeschlagenen Beinen da und bewunderte die Fliesenpracht und die Art und Weise, wie Byron sie beschrieben hatte.« [Der Weg nach Oxiana. Mit einem Vorwort von Bruce Chatwin, Frankfurt am Main2004,S.IX]

»Es ist jenes ›mit untergeschlagenen Beinen‹, das ich nicht mag«, schrieb Bennett, »zum einen, weil ich nach fünf Minuten in einer solchen Stellung zum Krüppel würde. Aber warum erzählt er es uns überhaupt?« Bennett missfiel, was er als Chatwins »Snobismus« gegenüber Reisenden auffasste, die nach Byron gekommen waren, »die Horden junger Leute, die sich in den sechziger und siebziger Jahren auf den Weg machten«. Ebenso wenig war Bennett von der Schilderung einer Situation angetan, in der Wali Jahn Chatwin retten half, als dieser sich eine Blutvergiftung zugezogen hatte, und die ihm als »purer Buchan« aufstieß, was das »erlaubte Maß männlicher Kumpanei anging, wenn Männer füreinander sorgen und wegen einander weinen, und zwar beides auf edelmütige Art und Weise« [Writing Home, London1994,S. 159 f.].

Barry Humphries ging es wie mehreren ehemaligen Freunden, die behaupteten, nicht länger von Chatwin fasziniert zu sein. Im Mai 2006 schrieb er im Spectator: »Starbucks steht übrigens auf meiner Liste der maßlos überschätzten Sachen, neben Bruce Chatwin, Cézannes Badenden, französischer Zwiebelsuppe, Bob Dylan, den Niagarafällen, Citizen Cane, der Karibik, den Romanen von Patrick O’Brian, Pilates, Hummer, dem Herrn der Ringe und fast der gesamten Bildhauerei.« Und doch kann es für eine Generation, die damit aufgewachsen ist, durchs Internet zu surfen, so aussehen, als ob Chatwin, weit entfernt davon, überschätzt zu werden, wieder in der Versenkung verschwunden wäre, in der er sich abmühte, als er seine ersten drei Bücher schrieb und publizierte. Als ich zwölf Jahre nach seinem Tod einmal in Australien interviewt wurde, fragte mich der junge Journalist verwundert: »Wer war Bruce Chatwin?«

Meine Antwort lautete, in groben Zügen, Chatwin sei ein Vorläufer des Internets gewesen: ein verbindender Superhighway ohne Grenzen mit unmittelbarem Zugang zu verschiedenen Kulturen. Er war ein Geschichtenerzähler, der eine bezwingende Prosa schrieb, zugleich glasklar und dicht, und eine völlig neue Art der Reiseliteratur entwickelt hatte; außerdem hielt er uns in seinen sechs Büchern die Möglichkeit von etwas Wunderbarem und Verbindendem vor Augen, überschwemmte uns mit Informationen, versprach jedoch auch, dass wir eines Tages den Sachen auf den Grund kämen. Und ich zitierte seine Freundin Robyn Davidson: »Er stellte Fragen, auf die wir alle eine Antwort wollen, und vermittelte vielleicht die Illusion, dass es Antworten darauf gäbe.«

Wie seine Fragen sind auch die Zweifel an Chatwins Ruf nicht verschwunden. Das im Titel seines letzten Buchs bewusst weggelassene Fragezeichen schwebt weiterhin über dem Charakter seines Autors, dem, auf der Basis dürftiger Beweise, vorgeworfen wurde, sich Sachen auszudenken, nicht die Wahrheit zu sagen. Er mag andere Sünden begangen haben – zum Beispiel hatte er Anatoly Sawenko nicht gesagt, dass er die Hauptfigur in Traumpfade nach seinem Vorbild entwickelt hatte, und es versäumt, ihm ein Exemplar des fertigen Buches zu schicken. Und doch war Chatwin kein Hochstapler. Als ich seine Spur verfolgte, fand ich Irrtümer, doch erstaunlich wenige Beispiele für pure Erfindung, weniger als bei einem oder zweien seiner Jünger oder auch bei Norman Lewis, der, obwohl ein großartiger Reiseschriftsteller, den Ruf genießt, jemand zu sein, »der die Wahrheit sagt«, was ihn riesig amüsiert hätte, und wahrscheinlich war er auch amüsiert.

»Ich werde bis ans Ende meiner Tage bestreiten, Bruce sei ein Schwindler, ein Poseur und ein Fälscher gewesen«, sagt Robin Lane Fox. »Ich glaube, er war nichts dergleichen. Er verfügte partiell über ausgeprägte Kenntnisse und eine Anzahl von bruchstückhaften, genauestens beobachteten Bezügen, die er zu einem höchst außergewöhnlichen, originellen Ganzen zusammensetzen konnte, über den Rahmen einer normalen Publikation hinaus. Ich konnte mich auf keinen Gegenstand beziehen, den er nicht gekannt hätte – eine Bronze aus Sparta, der Krater von Vix in Burgund, eine Silberplatte auf einem griechisch-baktrischen Elefanten und die Zeichnung eines ähnlichen Objekts, im neunzehnten Jahrhundert auf den Kanalinseln bekannt und seither verschwunden. Er konnte sich in abenteuerliche Spekulationen darüber verlieren, und los ging’s über einen weiten Horizont, der sich von Russland bis Sibirien erstreckte – eine phänomenale Entfaltung von Phantasie, vollkommen spontan, doch auf echtes Wissen gegründet. Es waren keine gezinkten Karten. Er verstand. Ich lernte so viel von Bruce. Junge, er wusste wirklich Bescheid!«

Für Elisabeth Sifton, Chatwins amerikanische Lektorin und Verlegerin, war Bruce »ein Künstler, kein Lügner«. Paradoxerweise war er nicht erfinderisch begabt. Er besaß Phantasie, um Geschichten zu erzählen, sie zu verknüpfen, sie auszubauen, auszuschmücken und zu verbessern, aber nicht, sie zu erfinden. Vielleicht spiegelt es die Angst des Autodidakten wider, wenn Chatwin sich mehr als die meisten Schriftsteller bemüßigt fühlte, die Leute zu treffen, über die er schrieb, die Orte aufzusuchen, die Bücher zu lesen – wenn möglich in der Originalsprache. »Seine Kunst, das Material zu ordnen, zu komponieren und mit Leben zu erfüllen, war jedoch mehr die eines Romanciers als die eines Journalisten«, sagt Sifton.

Um seine Geschichten zu verstehen, muss man sie vielleicht auf die Art betrachten, wie sie Graham Speake für die Geschichten von Mönchen auf dem Berg Athos empfiehlt, dem Ort, der in vieler Hinsicht das Ende von Chatwins Gralssuche bezeichnet – nämlich als »Verzierungen einer fundamentalen Wahrheit«. Im schlimmsten Fall kann Chatwin irritieren wie jeder andere Schriftsteller auch; er kann kalt sein, herrisch, hoffnungslos exotisch. Im besten Fall jedoch geht er mit der Wahrheit nicht so sehr sparsam um als vielmehr verschwenderisch. Er erzählt keine Halbwahrheit, sondern eine Wahrheit und eine halbe.

Durch nichts erregt Chatwin mehr Argwohn als durch die Art und Weise, in der man seinen Umgang mit seiner tödlichen Krankheit wahrgenommen hat: Er starb an Aids, aber er leugnete in der Öffentlichkeit, dass er aidskrank war. Sein Leugnen erzeugte den Eindruck, dass er, wenn er gelogen hatte, als es um sein Leben ging, auch im Hinblick auf sein Werk gelogen haben musste. Manche Leser haben dies zum Anlass genommen, seine Bücher zu verurteilen – oder aber sich nicht dafür zu interessieren. Doch Chatwins Krankenberichte bestätigen, dass er nur wiederholte, was ihn seine Ärzte am Churchill Hospital in Oxford hatten glauben lassen. Zu der Zeit, als er krank wurde – Mitte der 1990er Jahre –, hatten alle an Aids Erkrankten HIV, doch man wusste nicht mit Sicherheit, ob jeder mit HIV Infizierte automatisch Aids bekommen würde. Die Krankheit, die in New York erstmals 1981 aufgetreten war, war für England relativ neu und noch »mysteriös und anstößig« in den Worten des schwulen Schriftstellers Edmund White, einem von etlichen Männern, die Sex mit Chatwin hatten.

Welche privaten Ängste Chatwin in dieser Zeit tiefer allgemeiner Verstörung auch gehabt haben mag – er klammerte sich an das Stückchen Hoffnung, das ihm das Auftreten eines damals seltenen Pilzes bot, dass er schließlich doch nicht zwangsläufig Aids bekommen müsste (von diesem Pilz weiß man heute, dass er ein für Aids charakteristisches Symptom ist). Es ist ungerecht, ihn wegen irgendwelcher Äußerungen zu beurteilen, die er machte, nachdem sein Gehirn vergiftet worden war. Als sich dann aus seiner HIV-Infektion eindeutig Aids entwickelt hatte, erinnerte er stark an seine Beschreibung Rimbauds, der 1891 in einem Marseiller Hospital starb und »in seinem Delirium einen Strom poetischer Bilder murmelte, die aufzuschreiben seiner Schwester Isabelle nicht in den Sinn kam, obwohl sie Papier und Stift zur Hand hatte«.

Es war typisch für Chatwins proteische Natur, dass sich Freunde nach seinem Tod fast so sehr über ihn stritten wie seine Leser und Kritiker. In Australien reagierte Murray Bail, einer seiner engsten Briefpartner, auf die Todesnachricht in einem Tagebucheintrag mit einem einzigen Absatz, der in seiner Lakonik an Chatwin erinnert. »18. 1. 89 Nichts als Kopf und hervorquellende blaue Augen. Kein Sinn für Humor, konnte aber eine Geschichte aufgreifen und gut erzählen – immer von einer Person ausgehend, einem Erlebnis, meist etwas extrem. Er reiste – geographisch, intellektuell, ästhetisch und offenbar auch sexuell. Diese seltsamen verwirrten Gefühle, wenn ein Freund oder auch nur ein Bekannter in weiter Ferne stirbt.«

Während sich Bail an Chatwins Humorlosigkeit als ein Hauptmerkmal erinnerte, war für Patrick Leigh Fermor, der aus Griechenland schrieb, sein kindlicher Humor die Eigenschaft, die er besonders mochte: »Obwohl sehr reif an Erfahrung, ausgestattet mit Wahrnehmungsvermögen und Bildung, weitgereist und weltklug, besaß er die äußerst einnehmende Aura eines Wunderkinds, aufgeschossen wie eine Bohnenstange zu einer Art Freiluft-Radiguet. Alles – sein gutes Aussehen, der Fluss und Elan seiner Rede, die außergewöhnlichen Abenteuer, die Eindringlichkeit, die Genussfreude und der Humor, das fast diabolische Gelächter am Ende mancher Sätze – verstärkte den Eindruck von Jugendlichkeit, so dass der weite Horizont im Gespräch noch überraschender erschien.« Was Leigh Fermor nach dem Tod seines »erstaunlich begabten und auf einmal verschwundenen Freundes« am meisten vermisste, waren »die Energie, die Originalität und das Lachen«.

Für Salman Rushdie war Chatwin einer der zwei komischsten Menschen, die er je gekannt hatte. »Er war so maßlos komisch, man starb beinah vor Lachen.«

Die Romanschriftstellerin Shirley Hazzard, die Chatwins schwer fassbares Wesen auf den Begriff zu bringen versuchte, sah ihn als Aufklärer, der Licht verbreitete, etwa so, wie ein vom Blitz getroffener Busch, der in die Höhle von Swartkrans geschleppt wird. Als ich mich mühte, seiner Vita eine Form zu geben, schrieb sie mir: »Schwer zu vermitteln ist, wie viel er uns gegeben hat, vor allem durch den Zauber seiner Gegenwart und seine kristallklaren Interpretationen scheinbar gewöhnlicher Dinge.«

Niemand von denen, die mit Chatwin bei Sotheby’s zusammengearbeitet hatten, hätte vorhergesagt, dass er eine lukrative Partnerschaft ablehnen würde, um Archäologie zu studieren, und noch weniger, um Schriftsteller zu werden. »Niemand mochte diesem späten Jüngling zutrauen, dass er jemals mehr als seinen Namen hätte schreiben können«, meinte von Rezzori in Greisengemurmel [München1994,S. 86]. War das Wesen, das Chatwin in persona präsentierte, in ständiger Bewegung – »Ich glaube, ich kannte ihn kaum, er hatte so viele Gesichter«, sagte seine Schwägerin –, so widersetzten sich auch seine Bücher, jedes auf einem anderen Kontinent angesiedelt, einer Kategorisierung. Nur wenige verstanden sein Vorhaben und seine Bedeutung besser als ein deutscher Autor, der ihm nur in seinen Büchern begegnet war. W. G. Sebald war der bedeutendste unter jenen Schriftstellern, denen Chatwin den Weg geebnet hatte. Im letzten Essay, den Sebald vor seinem frühen Tod veröffentlichte, erwähnte er Chatwins Leistung, die Zäune niederzureißen, die Verleger, Buchhändler und Kritiker errichtet hatten. Chatwins Beispiel hatte ihm gezeigt, dass man sich nicht von konventionellen Grenzen einpferchen lassen musste. Sebald legte sodann den Gedanken nahe, Chatwins belebendes Erbe liege darin, einen Weg nach vorne wie auch zurück aufzuzeigen:

»Wie er selber letztendlich ein Enigma geblieben ist, so weiß man von seinen Büchern nicht, wohin sie gehören. Offenkundig ist nur, dass sie in ihrer Anlage und Absicht mit keinem bekannten Genre übereinstimmen. Inspiriert von einer Art Gier nach dem Unentdeckten, bewegen sie sich entlang einer Linie, deren Markierungspunkte jene sonderbaren Manifestationen und Dinge sind, von denen man nicht sagen kann, ob sie zur Wirklichkeit gehören oder zu den von unseren Köpfen seit jeher hervorgebrachten Phantasmen. Anthropologisch-mythologische Studien im Gefolge der Tristes Tropiques, Abenteuergeschichten, die anschließen an die erste Kindheitslektüre, Realiensammlungen, Traumbücher, Heimatromane und Exempel des sehnsüchtigsten Exotismus, puritanisches Bußwerk und ausschweifend barocke Vision, Selbstverleugnung und Bekenntnis, das sind sie alles in einem. Am ehesten wird ihnen wohl gerecht, wer sie in ihrer das Konzept der Moderne sprengenden Promiskuität begreift als späte Ausprägungen der frühen, bis zu Marco Polo herabreichenden Reiseberichte, in denen ja die Wirklichkeit ständig sich verdichtet ins Metaphysische und Mirakulöse und der Weg durch die Welt von vornherein durchschritten wird im Hinblick auf das eigene Ende.« [Campo Santo, München2003,S. 215]

Die Suche nach Chatwins Korrespondenz begann1991, als ich den Auftrag erhielt, seine autorisierte Biographie zu schreiben. Ich verbrachte aus freien Stücken sieben Jahre mit der Arbeit über sein Leben und machte reichlichen Gebrauch von Briefen, die ich im Rahmen der Interviews zusammentrug, welche ich mit Menschen in siebenundzwanzig Ländern führte. Fast alle – mit einer Ausnahme – gestatteten mir, sie vollständig zu kopieren. Mit manchen seiner Briefpartner unterhielt ich mich über lange Zeiträume; anderen bin ich nie begegnet. Eine im Times Literary Supplement nach der Veröffentlichung meiner Biographie im Jahr 1999 [dt. Bruce Chatwin – Eine Biografie, 2000] publizierte Notiz zeitigte fünf Antworten, außerdem Kopien von Briefen Chatwins an Michael Davie, David Mason, Charles Way und J. Howard Woolmer. Das vorliegende Buch repräsentiert ungefähr neunzig Prozent des in fast zwei Jahrzehnten gesammelten Materials. Wir hoffen, dass sich daraus weitere Entdeckungen ergeben könnten. Einen Tag nach Abgabe des Manuskripts wurden vier Briefe und eine Postkarte an Susan Sontag in einem Archiv in Los Angeles aufgespürt; es war uns möglich, sie noch mit aufzunehmen.

Chatwins hauptsächliche Briefpartner waren seine Eltern Charles und Margharita, die in den frühen 1960er Jahren von Brown’s Green Farm außerhalb von Birmingham nach Stratford-upon-Avon umzogen, wo sie bis zu ihrem Lebensende blieben; Elizabeth Chanler, mit der Chatwin dreiundzwanzig Jahre verheiratet war, abgesehen von einer kurzen Trennung in den frühen 1980er Jahren; ihre Mutter Gertrude Chanler, die in Geneseo im Staat New York lebte; Cary Welch, ein amerikanischer Sammler, der mit Elizabeth’ Cousine Edith verheiratet war; Ivry Freyberg, die Schwester von Raulin Guild, seinem besten Freund im Marlborough College; John Kasmin, ein Londoner Kunsthändler, mit dem er nach Afrika, Kathmandu und Haiti reiste; Tom Maschler, sein Verleger bei Jonathan Cape; Diana Melly, seine Gastgeberin in Wales; der Schriftsteller Francis Wyndham, der mit ihm beim Magazin der Sunday Times arbeitete und als Erster seine fertigen Manuskripte lesen durfte; die australischen Schriftsteller Murray Bail, Ninette Dutton und Shirley Hazzard; der amerikanische Filmregisseur James Ivory, der im Sommer 1971 Chatwin in Frankreich besuchte; Sunil Sethi, ein indischer Journalist, den er 1978 kennenlernte, als er mit Mrs. Gandhi unterwegs war.

Das Kapitel der Liebesaffären nimmt wenig Raum ein. Chatwin ist oft mit jenen am intimsten, denen er flüchtig begegnet, an weit entfernten Orten. »Du findest keine schmachtenden Liebhaber unter den Zigeunern«, schrieb er in einem Notizbuch. »Romantische Liebe spielt eine so geringe Rolle, als gäbe es sie kaum.« Briefe, die er an Donald Richards oder Jasper Conran geschrieben haben mag, sind nicht aufgetaucht; die an Andrew Batey wurden bei einer Überschwemmung im Napa Valley vernichtet.

Es fehlen ebenso Briefe an Penelope Betjeman, Werner Herzog, David Nash, Robin Lane Fox, Gita Mehta, Redmond O’Hanlon, David Sulzberger; weitere aus den Archiven von Sotheby’s und der Sunday Times aus den Jahren, in denen Chatwin für das Magazin schrieb.

In die Fußnoten eingefügt sind Elizabeth Chatwins Kommentare zum Text. Sie sollen den Eindruck einer fortlaufenden Unterhaltung vermitteln. Der Dichter Matthew Prior hat es in »Eine bessere Antwort an die eifersüchtige Chloe« treffend gesagt:

Welche Schönheiten auch immer ich auf meinem Wege sah;

Ihnen galt nur mein Besuch; doch mein Heim bist du.

Um so viele Briefe wie möglich aufzunehmen und Wiederholungen zu vermeiden, haben wir gekürzt, manchmal stark; alle Auslassungen sind durch Punkte markiert. Wenn Chatwin die gleiche Version von Ereignissen an verschiedene Leute schrieb, haben wir die vollständigste oder interessanteste gewählt. In anderen Fällen – besonders bei den Schilderungen von Penelope Betjemans Tod, des Hauses, das Chatwin in Indien mietete, als er Traumpfade beendete, und seiner Krankheit – haben wir unterschiedliche Fassungen mit aufgenommen, um zu zeigen, dass diese nicht so sehr Wiederholungen als Belege für seine sorgfältige Vorgehensweise sind. In einem Fall wurde ein einziges Wort getilgt, um einer noch lebenden Person Kummer zu ersparen. Chatwin in gutem oder schlechtem Licht zu zeigen lag nicht in unserer Absicht. Wir haben versucht, dem Rat von Isaiah Berlin zu folgen, der in einem Brief schrieb: »Wir haben alle weit mehr zu gewinnen als zu verlieren, wenn wir sogar indiskrete Dokumente veröffentlichen, die immer eines Tages ans Licht kommen und dann mehr Schaden anrichten, als wenn sie offen, ehrlich und rasch publiziert wurden.« Für unsere Auswahl war entscheidend, ob das Material interessant oder erhellend ist. Offensichtliche Irrtümer wurden berichtigt; Zeichensetzung, Adressen und Rechtschreibung vereinheitlicht. Die Briefe zu datieren war, selbst wenn sie ein Datum tragen, nicht immer einfach. Chatwin wusste nicht einmal den Geburtstag seiner Frau mit Sicherheit; mehrere Briefe sind nicht nur mit dem falschen Monat, sondern auch dem falschen Jahr datiert.

Wenn Bruce Chatwin eine Autobiographie geschrieben hätte, bis zu welchem Grad wäre es dann dieses Buch? Wäre er noch am Leben gewesen, wie viel von diesem Band hätte er weggelassen oder umgeschrieben? Diese Fragen waren während unserer Arbeit an diesem Buch allgegenwärtig. Die Antwort kann nur die Gleiche sein wie die auf die Frage nach seinen ungeschriebenen Büchern. Doch eine faszinierende Version seines Lebens liegt uns vor, beginnend mit dem ersten Sonntag in der Old Hall School in Shropshire, als er sich nach dem Gottesdienst hinsetzte, um an seine Eltern zu schreiben.

NICHOLAS SHAKESPEARE

1 So lautet der Titel der englischen Ausgabe von Chatwins Briefen [Anm. d. Übers.].

KAPITEL EINS

1948–1958

Bruce Chatwin wurde in einem Hotel südlich von Aberystwyth gezeugt und am 13. Mai 1940 in der Entbindungsklinik Shearwood Road in Sheffield geboren. Charles Chatwin, sein Vater, war Rechtsanwalt in Birmingham; er war als Marineangehöriger auf See, als Bruce zur Welt kam. Margharita Turnell, seine Mutter, Tochter eines Angestellten in einer Sheffielder Messerfabrik, zog ihn bei Großonkeln, Großtanten und Großeltern auf. Er hatte einen jüngeren Bruder, Hugh, geboren am 1. Juli 1944.

In den ersten sechs Jahren, solange sie vor dem Kriegslärm flohen, waren Mutter und Sohn alles füreinander. Das Flächenbombardement Coventrys im November1940, das in einer einzigen Nacht das Stadtzentrum einebnete, erschreckte Margharita so sehr, dass sie – ohne es ihrem Mann zu sagen – das kleine Haus aufgab, das Charles für sie in Barnt Green gemietet hatte; Birminghams Austin-Motorenwerke, die Hawker Hurricanes bauten, lagen jenseits der Bahnlinie an der direkten Einflugschneise der Navigatoren der deutschen Luftwaffe. Die Erinnerung an das furchtbare rötliche Leuchten am Nachthimmel verfolgte Margharita noch lange, nachdem sie nach Norden geflüchtet war. Sie hatte Panikattacken. Sie sprach oft mit sich selbst und rief auf der Suche nach ihrem abwesenden Mann laut: »Charles! Charles!« »Was ist los, Mummy?« »Oh, nichts, Schatz. Nichts. Alles ist gut.« Solange sie zwischen einem Dutzend Aufenthaltsorten, darunter bescheidenen Unterkünften in Baslow und Filey, mit dem Zug hin- und herfuhren, war es Chatwins Pflicht, der tapfere kleine Junge zu sein, der sich um seine verzweifelte Mutter kümmerte – Tanten und Onkel brachten es ihm bei.

Als Charles aus dem Krieg zurückkam, zog die Familie zunächst wieder nach Birmingham und mietete ein Haus in der Stirling Road, das die Armee als Bordell genutzt hatte; dann, im April1947, zogen sie in die Brown’s Green Farm, zwölf Meilen südlich von Birmingham, ein »ganz schön heruntergekommenes« kleines Landgut von viereinhalb Hektar für 98 £ im Jahr. Unter der Woche als Anwalt tätig, verwandelte sich Charles am Wochenende zum Nahrungsmittelproduzenten, und nach einer Weile besaßen sie Schweine, Gänse, Enten und 200 Hühner. »Wir wuchsen als Bauernkinder auf, ganz im Rhythmus der Jahreszeiten«, sagt Hugh.

Ende April 1948 ging Chatwin fort an die Old Hall School in Shropshire. Den ersten Brief, der sich erhalten hat, schrieb er nach dem Besuch von einem der drei Sonntagsgottesdienste in der Kapelle. Er war sieben Jahre alt und sollte die nächsten zehn Jahre im Internat verbringen.

Old Hall School, ein Herrenhaus aus dem 15. Jahrhundert auf 25 Hektar Land, war eine Preparatory School für 108 Söhne von Fabrikbesitzern, Freiberuflern und Geschäftsleuten aus den Midlands und das persönliche Reich von Paul Denman Fee-Smith, einem untersetzten, energischen Junggesellen, der sie als »die beste Prep School von ganz England« anpries. Fee-Smith war ein Mann von strengen anglokatholischen Überzeugungen und trat an den drei Sonntagsgottesdiensten im vollen Priesterornat mit Soutane, Chorhemd und Chorrock auf. Besonders gern las er die Geschichten vom Verlorenen Sohn, von Daniel in der Löwengrube und Sauls Bekehrung vor. Bei den Buben hieß er »der Boss«. Seine Vorliebe für liturgische Gewänder und seine enzyklopädischen Bibelkenntnisse hinterließen bei Chatwin einen unauslöschlichen Eindruck.

An der Old Hall School trug Chatwin eine braungraue Mütze und den dazu passenden Blazer. Er trieb montag-, dienstag- und freitagnachmittags Sport und zeichnete sich im Boxen und Theaterspielen aus. Damals nannte man ihn immer noch Charles Bruce Chatwin; da er gern plauderte, bekam er den Spitznamen »Chatty«[Plappermaul].

Der Boss vermerkte in seinem ersten Zeugnis Chatwins Ruhelosigkeit: »Er arbeitet ziemlich nachlässig, & seine Aufmerksamkeit schweift rasch ab. Er ist noch sehr jung & kaum aus dem egozentrischen Stadium heraus; sein Verhalten ist kindisch & gelegentlich macht er viel Lärm!« Für Hugh war das Benehmen seines älteren Bruders leicht zu erklären: »Meiner Ansicht nach war Bruce auf der Flucht vor seinem Kriegstrauma, indem er manche eigenen Erfindungen zum Besten gab und Geschichten erzählte, die so gut waren, dass er zu Recht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand.«

Orthographie war nie seine Stärke. Wie die meisten Schüler bestritt er seine wöchentlichen Briefe nach Hause mit den stets gleichen Formeln; er beginnt jeden, wie man es ihm beigebracht hat, mit »Ich hoffe, es geht Euch allen gut« und füllt dann die Seite mit Zusammenfassungen von Filmen, Bestellungen von Büchern, Balsaholzmodellen von Häusern und Bauernhöfen oder mit Berichten über seine Erkältung – seine Gesundheit war schon damals labil –; und jeder Brief endet mit einer neuen Zeile für jedes einzelne Wort.

Sich verkleiden, schauspielern, Religion – schon früh legte er an den Tag, was W. G. Sebald »die ihm auf den Leib geschriebene Kunst der Verwandlung« nennen würde; »das Bewusstsein, stets auf der Bühne zu stehen, das Gespür für die publikumswirksame Geste, fürs Bizarre und Skandalöse, für das Schreckliche und das Wunderbare waren zweifellos Voraussetzungen der schriftstellerischen Befähigung Chatwins« [Campo Santo, München2003,S. 218].

AN CHARLES UND MARGHARITA CHATWIN

THE OLD HALL SCHOOL | WELLINGTON | SHROPSHIRE | 2. MAI [1948]

Liebe Mummy, lieber Daddy,

es ist eine prima Schule. Wir sahen einen prima Film, der Der Geisterzug hieß. Es ging um einen Zug, der jedes Jahr um Mitternacht in den Bahnhof einfuhr, und wer hinsah, musste sterben. Ich bin in der zweiten Klasse.

Alles Liebe

Bruce

AN CHARLES UND MARGHARITA CHATWIN

THE OLD HALL SCHOOL | WELLINGTON | SHROPSHIRE | 31. OKTOBER [1948]

Liebe Mummy, lieber Daddy,

mit dem Flugzeugbaukasten kam ich gut zurecht, aber es flog in eine Tanne und ging kaputt. Davor ging es sehr gut. Gestern spielten wir gegen Packwood Haugh, und es ging unentschieden aus. Ich saß diese Woche in der achten Reihe. In Latein komme ich sehr gut voran. Ich bekam ein Plus in Geschichte. In Mathe bin ich der Zehntbeste. Tante Gracie2 schickte mir eine Postkarte der London Tower Bridge. Vielen Dank für die Sendung meiner Briefmarken und meiner Zigarettenbildchen. Das Boxen läuft gut. Ich muss noch ein paar Extraboxstunden bekommen. Könnte ich bitte noch ein paar frankierte Umschläge haben, weil ich so viele Briefe schreibe. Und könnt Ihr mir Schwalben und Amazonen schicken.

Alles Liebe von Bruce

AN CHARLES UND MARGHARITA CHATWIN

THE OLD HALL SCHOOL | WELLINGTON | SHROPSHIRE | 13. MÄRZ, SONNTAG [1949]

Liebe Mummy, lieber Daddy,

ich hoffe, es geht Euch gut. Gestern schrieb ich an Onkel Humphrey und Tantchen Peggey.3 Ich mag das Bellen von Brig4 sehr. Sagt Hugh, ich komme bald nach Hause. Danke für die Adressen. Gestern gab die IVa eine Varieté-Vorstellung. Man machte ein Quiz. Jemand musste auf die Bühne, und man stellte zwei Fragen. Ich ging hoch und wurde gefragt, was das älteste Bauwerk in England ist und wie groß die Flügelspannweite eines Hubschraubers, und dann musste ich als Baby verkleidet werden. Purce war das Kindermädchen. Man gab mir eine Puppe und eine Klapper. Ich war in einem Kinderwagen. Am Donnerstag war Mr. Fee Smith’ Geburtstag. Es gab eine Schatzsuche, und später am Abend sahen wir einige Filme. Es gab zwei Zeichentrickfilme, einer hieß Andy Panda in Nuttywood Cavern und der andere hieß The Pecquiler Penguins.

Alles alles Liebe

Bruce XXXX

Ein anderer hieß »Für jene in Gefahr«.5

AN CHARLES UND MARGHARITA CHATWIN

THE OLD HALL SCHOOL | WELLINGTON | SHROPSHIRE | 6. NOVEMBER [1949]

Liebe Mummy, lieber Daddy,

ich hoffe, es geht Euch gut. Das Feuerwerk gestern war absolut wunderbar. Es gab 130 Raketen, 14 Feuerräder, 4 Kristallfontänen und vieles mehr. Habt Ihr von der Phönix-Feuerwerk-Kompanie gehört? Jemand tat Schießpulver in ein paar falsche Feuerwerkskörper, und es gab eine schreckliche Explosion in Okengates, und alle Fensterscheiben in der Gegend gingen zu Bruch, und ein Mädchen von 17 wurde verletzt. Wir hatten eine Menge Feuerwerk, und so verschnürten wir es zu einem Päckchen und warfen es in den Teich. Die Halbjahreszeugnisse kommen das nächste Mal. Am Mittwoch spielten wir gegen Abberly Hall. Wir gewannen 2:1. Wir hatten heute einen Gedenkgottesdienst in der Kapelle.

Bruce

Ob Chatwin in der Old Hall School immer so munter war, wie seine Briefe nach Hause nahelegen, stellt eine Kurzgeschichte in Frage, die er gegen Ende seines Lebens schrieb und die ein weniger wunderbares Bild vom nächtlichen Freudenfeuer und vom Schulalltag im Allgemeinen zeichnet.

An einer Wand der Kapelle erinnerte eine Messingtafel an einen Jungen, der an der Old Hall School am 9. September 1923 im Alter von zehn Jahren gestorben war. Hugh sagt: »Zu meiner Zeit hat keine matron je die häufig erzählte Schülergeschichte dementiert, nach der Tommy Woodhouse an Verstopfung gestorben war – die Folge einer dummen, gegen die Regeln verstoßenden Wette.« Daraus entstand Chatwins faktisch letzte abgeschlossene literarische Arbeit. »Der siebte Tag« handelt von einem nervösen, mageren, frommen Jungen – für den eindeutig Chatwin selbst Modell stand –, acht Jahre alt, mit kräftigem blonden Haar, der es so sehr hasst, ins Internat zurückzukehren, dass er darüber krank wird. Er wird wegen seiner Verstopfung von anderen Jungen gehänselt. (»Er wünschte, sie würden aufhören, jedes Mal zu lachen, wenn er Probleme auf dem Klo hatte. Die Klosetts hatten keine Türen.«) Er wird wegen des Autos seines Vaters gehänselt. (»Es war kein Auto, sondern ein grauer Ford-Lieferwagen. Es gab Fenster im Heck und Spitfire-Sitze. Manchmal roch der Wagen nach Schweinefutter.«) Er wird gehänselt, weil man ihn für dünkelhaft hält: »Er hasste die Schule, weil niemand ihn in Ruhe ließ. Weil er so mager war, hasste er es, vom Schulleiter gekitzelt zu werden. Er hasste den Jungen, der seine Murmeln stahl, und er hasste den Jungen, der ihn auf seinem Bett festhielt und mit einer Haarbürste über seine Brust fuhr. In der Nacht, wenn die Lichter aus waren, flüsterten die anderen über ihre Zukunftspläne. Sie würden Frauen und Kinder haben. Er versteckte sich unter dem Laken und sah sich selbst als den letzten Menschen auf der Erde, nachdem die Bombe hochgegangen war. Er sah sich in weißen Kleidern durch eine verkohlte Landschaft wandern …«

Der Junge hasst auch die Guy-Fawkes-Nacht. »Die Guys hatten aus Kürbissen geschnitzte Gesichter. Ein Guy war Mr. Attlee mit dem Hut einer Vogelscheuche und einem Hexenbesen. Mr. Attlee trug Hitlers Schnurrbart. Er hasste die Lehrer dafür, dass sie die Jungen aufhetzten. Er verschwand im Dunkel und weinte um Mrs. Attlee.«

Dieses letzte Erlebnis hatte vermutlich mit der Niederlage von Clement Attlees Labour-Regierung im Oktober 1951 zu tun, die gegen Winston Churchills Konservative verlor. Darauf führte Chatwin den Umstand zurück, dass er »niemals, nicht einmal in [meiner] kapitalistischen Phase, imstande war, die Konservativen zu wählen«.

Hugh sagt: »Es gab zwei Seiten in Bruce´ jungen Jahren. Da war zum einen seine Fähigkeit, sich auf die Erwachsenen und ihre Welt einzustellen und die Freude widerzuspiegeln, die in ihrer Hoffnung für seine Generation von Kriegskindern zum Ausdruck kam; zum andern war da das private Problem, dass er ein kleiner Junge war, der nicht mit anderen Kindern groß geworden war und sich in eine sehr strenge, hochdisziplinierte, seminarähnliche Institution eingesperrt fand. Old Hall konnte ein angsteinflößender Ort sein.«

AN CHARLES UND MARGHARITA CHATWIN

THE OLD HALL SCHOOL | WELLINGTON | SHROPSHIRE | 3. OKTOBER 1950

Liebe Mummy & lieber Daddy,

ich hoffe, es geht Euch gut … Wir haben hier Schnee gehabt. Es taut, aber es ist furchtbar heiß … Ich wurde Zehnter in der Matheprüfung mit 38 Punkten. Ich wurde 4. in Religion mit 52 Punkten. In Geschichte wurde ich Dritter mit 54 Punkten. Das Theaterstück kommt gut voran. Wir werden uns den Sommernachtstraum ansehen, der heute im Fernsehen kommt. Mr. Fee Smith hat einen großen 15-Zoll-Fernseher ausgeliehen. Wir hatten heute einen netten Gottesdienst in der Kapelle. Mein Modell-Rennboot ist fertig, könntet Ihr mir deshalb bitte etwas blauen und silbernen Lack und zwei Farbpinsel schicken. Ihr bekommt es im Laden für Modellflugzeuge. Am Montag bekam ich Dresche,6 weil ich mich geweigert haben soll, einen Verweis zu akzeptieren, aber das stimmt nicht. Ich habe den Lehrer (Mr. Poole) in einer Debatte geschlagen. Er wusste, dass er verliert, deshalb sagte er: »Also, es ist jetzt zu spät, und ich habe dich Mr. Fee Smith gemeldet, und er hat mir gesagt, ich soll dir einen Verweis ausstellen, das hat er gesagt.«

Viele Grüße von

Bruce

AN CHARLES UND MARGHARITA CHATWIN

THE OLD HALL SCHOOL | WELLINGTON | SHROPSHIRE | 7. OKTOBER [1951]

Liebe Mummy, lieber Daddy,

Freitagnacht gab es ein sehr schönes Feuerwerk. Es gab sehr große Feuerräder. Ich musste ein wunderbares Feuerwerk halten, das Fliegender Stern heißt. Am Dienstag sahen wir einen wunderschönen Film, der The Overlanders hieß. Es ging um Vieh, das durch Australien transportiert wurde. Sie fuhren vom Northern Territory nach Queensland. Sie kamen an einen tiefen Fluss, wo zwei Krokodile waren. Als der Karren übersetzte, wachte eines der beiden Krokodile auf und klatschte in das Wasser. Es schwamm zu dem Karren, als einer der Männer einen Schuss darauf abgab und es tötete, und dann kamen sie in eine Stadt und trieben das Vieh hindurch. Dann fiel einer der Männer vom Pferd und brach sich den Arm, und eine Kuh trat auf ihn und er brach sich den Fuß, und so brachten sie ihn für drei Tage ins Hospital, und sechs Tage lang waren sie ohne Wasser. Sie fanden etwas Wasser an einer Windmühlenpumpe, aber die Pferde bekamen nur ein wenig Wasser, als man haltmachte. Dann ließen sie sie ausruhen, und dann gab es ein Feuer. Die Kühe rannten los, bis sie Wasser rochen, die Männer rannten, um zu sehen, was es war, aber es war ein Sumpf. Sie versuchten sie zurückzuholen, aber die Pferde vergifteten sich, und sie rannten sehr schnell, aber sie stürzten und starben. Sie kehrten zu dem Karren zurück. Eines Tages, als sie auf einem Felsen lagen, kamen ein paar Wildpferde, und sie zogen einen Drahtzaun und fingen sie ein und zähmten sie und hatten so noch ein paar mehr Pferde. Sie kamen auf einen Berg, und als sie nahe am Gipfel waren, versperrte ein Baum den Weg, und ein Mann stieg hinauf, aber er kam zu spät. Zwei der Kühe fielen herunter. Als dann der Mann zum Gipfel kam, befestigte er das Seil am Pferd und zog den Baum heraus, aber das Pferd rutschte um ein Haar aus, aber er schnitt das Seil durch, und sie kamen herunter.

Viele Grüße von Bruce

AN CHARLES UND MARGHARITA CHATWIN

THE OLD HALL SCHOOL | WELLINGTON SHROPSHIRE | 17. FEBRUAR [1952]

Liebe Mummy, lieber Daddy,

ich hoffe, es geht Euch gut … ich mache bei einem Wettbewerb mit, wo man sich den Preis selbst aussuchen kann. Wir sahen einen prima Film gestern Abend, »Riders in the Forest«, es ging da um ein Pony. Ich bin ganz bestimmt zum Briefeschreiben aufgelegt …

Alles Liebe, Bruce

Im Sommer 1953 bestand Chatwin seine Aufnahmeprüfung für das Marlborough College in Wiltshire. Am 22. Juli schrieb Fee-Smith an seine Eltern: »Haben Sie vielen Dank für den Scheck für Bruce’ Beitrag zu einem Gartenstuhl; sein Name und das Datum seines Ausscheidens werden darauf eingetragen. Ich werde ihn im nächsten Schuljahr vermissen – so ein netter Junge & so ein netter Umgang.«

Im September1953, nach einem Segelurlaub auf dem Fluss Hamble, brachten Chatwins Eltern ihn in ihrem alten schwarzen Rover zu Schulbeginn nach Marlborough, eine 1843 für die Ausbildung von Söhnen armer Pfarrer gegründete Public School. Er verbrachte sein erstes Jahr in der Priory, einem hübschen, außerhalb des Colleges gelegenen Wohnheim für jüngere Schüler in der Stadtmitte mit einem knappen Hektar Grund auf einem Hang oberhalb des Flusses Kennet. Als Chatwin Old Hall School verließ, war er bereits theaterbesessen und hatte, in Hughs Worten, »Hochachtung vor den Gewändern und Ritualen von Autoritäten und eine Vorliebe dafür« mitbekommen. In Marlborough mit seinen 800 Jungen ging es eher zu wie auf einer Universität. Der Alltag war weniger geregelt. Man musste sein eigener Boss sein. Hugh folgte seinem Bruder vier Jahre später nach Marlborough: »Old Hall School war ein abgegrenztes, mönchisches Milieu, man war eingeengt von Vorschriften. Marlborough bot Freiheit von alledem. Das Symbol und die konkrete Form von Freiheit waren Fahrräder. In der Priory konnten wir, solange wir versprachen, zu zweit zu bleiben (falls es Schwierigkeiten gab), vom dreizehnten Lebensjahr an aus Marlborough hinaus in jede Richtung radeln, um zu genießen, was immer Gottes freie Natur in Wiltshire zu bieten hatte. Des Weiteren wurde erwartet, dass wir uns drei bis fünf der 50 selbstverwalteten Vereine des Colleges anschlossen, doch die Wahl unserer Freizeitbeschäftigungen blieb vollkommen unserem eigenen Geschmack und Talent überlassen, innerhalb oder außerhalb der Tore.«

AN CHARLES UND MARGHARITA CHATWIN

PRIORY HOUSE | MARLBOROUGH COLLEGE | WILTSHIRE | SONNTAG [SEPTEMBER 1953]

Liebe Mummy, lieber Daddy,

ich fühle mich hier äußerst wohl und lebe mich gut ein. Ich bin bei den Neulingen in der A-Klasse. Es gibt sechs Klassen. A ist die erste. Ich habe mich schon mit mehreren Jungen angefreundet. Ich verstehe mich sehr gut mit Edwards. Ich habe mich auch mit einem Jungen namens Ghalib7 angefreundet, dessen Vater Türke ist. Das Essen in der Priory ist ausgezeichnet, und ich musste noch nicht meine Vorratskiste plündern. Ihr braucht mir keine Fahrradklammern zu schicken, weil wir in Shorts radeln müssen. Ich weiß noch nicht, wie der Master heißt, und er wird immer der Master genannt.8 Gestern hat er sich mit allen neuen Jungen unterhalten, und er ist sehr nett. Mein Fahrrad hat sich als unbezahlbar erwiesen, da wir das Haus jeden Tag für eine Stunde verlassen müssen und drei halbe Tage in der Woche frei haben. Könntet Ihr mir bitte einige Bücher schicken, weil wir eine Stunde am Abend lesen müssen. Ich habe alle anderen ehemaligen Jungen von Old Hall gesehen … Massey9 ist House Captain und für meinen Schlafsaal zuständig. Man kann jedes Instrument der Schulkapelle wählen. Ich kann freien Unterricht im ersten Quartal bekommen, und wenn der Musiklehrer findet, ich sei gut genug, wird er eine Fortsetzung beantragen. Die meisten Jungen hier spielen Posaune. Aber ich glaube nicht, dass ich genügend Zeit haben werde.10

Liebe Grüße

Bruce

Aus Chatwins Zeit in Marlborough ist wenig Korrespondenz erhalten. Er stand nicht unter dem Druck, Briefe zu schreiben – Familienbesuche wurden an einem Münztelefon im Haus B2 verabredet, in dem spartanischen, weniger teuren Wohnheim, in das er 1954 zog. Auch bot Barbara Farrington, eine enge Freundin Margharitas, der Familie Chatwin in Minal Woodlands House, zwei Meilen östlich von Marlborough, ein »offenes Haus« an. Hugh sagt: »Margharita konnte jederzeit herkommen und am gesellschaftlichen Leben der Lehrer von Marlborough und ihrer Frauen teilnehmen.«

Am Ende seines ersten Jahrs in Marlborough nahm die Familie Bratt in Schweden über einen Freund mit Charles Verbindung auf. Hätte Chatwin Lust, den Sommer in ihrem an einem See gelegenen Haus im Süden von Stockholm zu verbringen und ihren gleichaltrigen Sohn Thomas in Englisch zu unterrichten? Margharita begleitete ihn nach Tilbury, von wo aus er mit dem Schiff SS Patricia abfuhr. Abgesehen von Segelferien mit der Familie in Frankreich war dies Chatwins erste Auslandserfahrung.

AN CHARLES UND MARGHARITA CHATWIN

LUNDBY GÅRD | SCHWEDEN | FREITAG [JULI 1954]

Liebe Mummy, lieber Daddy,

ich bin gestern gut angekommen und hatte eine wundervolle Überfahrt … Es war recht ungünstig, dass ich als Mitreisende in meiner Kabine einen jungen Mann hatte, der Mönch zu werden hoffte und die ganze Nacht laut lateinisch betete, und einen anderen, einen polnischen Juden, glaube ich, der die ganze Nacht schnarchte. Deshalb bekam ich vor lauter Schnarchen und Latein nicht viel Schlaf. Aber bei Tisch saß ich neben sehr netten Leuten. Sie waren in Finnland lebende Schweden und hatten beide einen ganz herrlichen Sinn für Humor. Sie haben ein Boot in Finnland und waren gerade in Lymington, wo sie Laurent Giles11 wegen der Konstruktion eines weiteren Bootes aufgesucht hatten. Wir sprachen einen geschlagenen Nachmittag lang über Boote.