Wiedersehen mit Patagonien - Bruce Chatwin - E-Book

Wiedersehen mit Patagonien E-Book

Bruce Chatwin

0,0

Beschreibung

Auf der Suche nach dem Außergewöhnlichen und Geheimnisvollen haben zwei »literarische« Reisende ein wildes und ödes Land erkundet, das, am äußersten Rand unserer Welt gelegen, zur Metapher für das Ungeheuerliche, Unheimliche und verhängnisvoll Anziehende wurde. Sie folgten sagenumwobenen Pfaden und realen Spuren und halten nun eine reizvolle Zwiesprache über ihre merkwürdigen Erlebnisse.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 61

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

Auf der Suche nach dem Außergewöhnlichen und Geheimnisvollen haben zwei »literarische« Reisende ein wildes und ödes Land erkundet, das, am äußersten Rand unserer Welt gelegen, zur Metapher für das Ungeheuerliche, Unheimliche und verhängnisvoll Anziehende wurde. Sie folgten sagenumwobenen Pfaden und realen Spuren und halten nun eine reizvolle Zwiesprache über ihre merkwürdigen Erlebnisse.

Bruce ChatwinPaul Theroux

Wiedersehen mit Patagonien

Aus dem Englischen von Anna Kamp

Carl Hanser Verlag

Bruce Chatwin: Seit seiner Entdeckung durch Magellan im Jahre 1520 war Patagonien als ein Land der schwarzen Nebel und Wirbelwinde am Ende der bewohnten Welt bekannt. Das Wort »Patagonien« setzte sich, wie »Mandalay« oder »Timbuktu«, in der abendländischen Phantasie als eine Metapher für das Äußerste fest, den Punkt, über den man nicht hinausgehen konnte. So benutzt Melville im Eröffnungskapitel von Moby Dick »Patagonien« als einen Begriff für das Fremdartige, das Ungeheuerliche und verhängnisvoll Verführerische:

Sodann die fremden, wilden Meere, durch die er den Riesenleib wälzt wie eine schwimmende Insel, die unnennbaren und unentrinnbaren Gefahren, die dort lauern, dazu noch die tausend Wunder, die Patagonien für Auge und Ohr bereithält, all das bestimmte mich, dem Drang des Herzens endlich zu willfahren.

Paul und ich sind aus sehr unterschiedlichen Gründen nach Patagonien gefahren. Doch wenn wir überhaupt Reisende sind, dann sind wir literarische Reisende. Ein literarischer Bezug oder Zusammenhang vermag unsere Neugier ebensosehr zu erregen wie ein seltenes Tier oder eine seltene Pflanze; und so kommen wir auf einige Fälle zu sprechen, in denen Patagonien die literarische Phantasie beflügelt hat.

Außerdem sind wir beide fasziniert von Menschen, die im Exil leben. Wenn morgen die übrige Welt in die Luft flöge, würde man in Patagonien immer noch einen erstaunlichen Querschnitt durch die Nationen der Welt antreffen, Menschen, die es aus keinem anderen ersichtlichen Grund, als um dort zu sein, zu diesem »endgültigen Kap des Exils« hinzog.

In Patagonien konnte der Reisende jederzeit damit rechnen, einem Waliser zu begegnen, einem englischen Gentleman-Farmer, einem Blumenkind von Haight-Ashbury, einem Nationalisten aus Montenegro, einem Afrikaander, einem persischen Missionar für die Bahai-Religion oder dem anglikanischen Erzdiakon von Buenos Aires auf seiner Rundreise zu Taufkindern.

Oder es gab Originale wie Bautista Dias Low, einen Pferdezüchter und Anarchisten, den ich in der Nähe von Puerto Natales in Südchile traf und der sich mit eigenen Händen eine Rinderfarm aus dem Regenwald herausgehauen hatte. Er überraschte mich mit Kenntnissen entlegener Details von der Reise der Beagle; nicht daß er Bücher darüber gelesen hätte oder überhaupt lesen konnte; vielmehr hatte sein Urgroßvater, Captain William Low, Darwin und Fitzroy durch die canales gelotst. Es war großzügig von ihm, seinen Mut und seine absolute Grausamkeit auf seine sangre britannica zurückzuführen.

Die ersten Reisenden, die nach Patagonien kamen, hielten es eindeutig für das Land des Teufels. Einmal war das Festland von einer Rasse von Riesen bewohnt, den Tehuelche-Indianern, die sich bei näherer Bekanntschaft als weniger riesig und weniger wild erwiesen, als ihnen nachgesagt wurde, und die Swift als Modell für die derben, aber liebenswürdigen Bewohner von Brobdingnag gedient haben mögen.

Patagonien war aber auch ein Land voll seltsamer wilder Tiere und Vogel. »Pen-gwyn« soll ein walisischer Ausdruck für »nicht fliegender Vogel« sein; einer abergläubischen Vorstellung von Seemännern aus Elisabethanischer Zeit zufolge verkörperten Eselspinguine die Seelen ihrer ertrunkenen Kameraden, und im siebzehnten Jahrhundert beschrieb sie Sir John Narborough während eines Aufenthalts in Puerto Deseado als »aufrecht stehend wie kleine Kinder in weißen Schürzen, die einander Gesellschaft leisten«. Da war der Kondor, der auf irgendeine Weise mit dem Adler des Zeus und Sindbad des Seefahrers Vogel Ruck verwechselt wurde; und vor der Küste von Feuerland erblickte Captain Shelvocke, ein englischer Freibeuter des achtzehnten Jahrhunderts, einen Albatros:

Der Himmel war uns ständig durch düstere, unheilvolle Wolken verdeckt … man hätte es für unmöglich gehalten, daß irgendein lebendes Wesen in einem so strengen Klima überleben könnte; und in der Tat hatten wir keinen Fisch zu Gesicht bekommen, auch keinen einzigen Meeresvogel bis auf einen trostlosen schwarzen albitross … der über uns schwebte, als hätte er sich verirrt, bis Hatley (mein zweiter Maat), der bei einem seiner melancholischen Anfälle bemerkte, daß dieser Vogel immer in unserer Nähe schwebte, ihn aufgrund seiner Farbe für ein böses Omen hielt … und nach ein paar fruchtlosen Versuchen den albitross schließlich erschoß, wobei er (vielleicht) nicht daran zweifelte, daß wir danach guten Wind haben würden …

Aus diesem Text, zunächst von Wordsworth gelesen und dann an Coleridge weitergegeben, wurde natürlich:

Im Nebel hockt’ da auf Segel und Rah

Der Vogel neun Vespern lang,

Da all die Nacht durch Nebelrauch sacht

Das weiße Mondlicht drang.

»Gott schütze dich, alter Seefahrer,

Was war es, das da dich verdroß?

Was raubt dir das Heil?« »Mit meinem Pfeil

Schoß ich den ALBATROS!«*1

Auch das spätere neunzehnte Jahrhundert tat nichts, um die Vorstellung zu zerstreuen, Patagonien sei ein Land der Wunder. Kaum scharrten Wissenschaftler wie etwa Darwin den Boden auf, meinten sie, ein Knochenlager prähistorischer Säugetiere vor sich zu haben, von denen einige, wie man glaubte, noch existierten. Auch fanden sie versteinerte Wälder, brodelnde Seen und Gletscher aus blauem Eis, die sich durch südliche Buchenwälder zogen.

PAUL THEROUX: Wenn ich mir vorstelle, irgendwohin zu fahren, dann stelle ich mir vor, ich fahre in den Süden. Ich verbinde das Wort »Süden« mit Freiheit, und in ganz jungen Jahren kaufte ich mir Sir Ernest Shackletons Buch Süden, allein des Titels wegen. Meinen ersten Job hatte ich im südlichen Teil von Njassaland, und das war keine schlechte Wahl: ich konnte dort klar denken und begann zum erstenmal in meinem Leben zu schreiben.

Ich hatte nichts zu tun, also beschloß ich, nach Patagonien zu fahren. Die Wahl fiel mir leicht. Ich wußte, es war die menschenleerste Gegend Amerikas und eine der unbekanntesten dazu — infolgedessen ein Treibhaus von Legenden, Halbwahrheiten und Fehlinformationen. Und es war auf dem Landweg zu erreichen. Ich kenne kein größeres Vergnügen, als am Morgen in Boston aufzuwachen und zu wissen, daß man fünfzehntausend Meilen reisen wird, ohne in ein Flugzeug steigen zu müssen. (Darin irrte ich mich, aber das wußte ich damals noch nicht.) Patagonien war, so schien mir, ein Bezirk meines eigenen Landes, denn die Menschen dort nannten sich Amerikaner. Wenn ich auf die Landkarte blickte, sah es so aus, als könnte ich auf meinem Weg nach Süden Mexiko durchqueren, durch Mittelamerika sprinten und, nachdem ich in den großen südamerikanischen Trichter gerutscht wäre, gemächlich die Anden hinabgondeln und wie selbstverständlich nach Patagonien gelangen, wo ich haltmachen würde. Es schneite in Boston, als ich abreiste: Patagonien verhieß ein anderes Klima, einen Stimmungswandel und die vollständige Freiheit des Wanderns.

Das ist die beste Stimmung für einen Aufbruch. Ich war willig, ich war für alles zu haben; erst später, wenn man unterwegs ist, begreift man, daß die größte Entfernung die größten Illusionen weckt und daß Alleinreisen sowohl Vergnügen als auch Strafe ist.

Patagonien ist nur wenig fotografiert worden. Ich hatte kein Bild vor Augen, kannte nur die phantastischen, verworrenen Legenden — die Riesen an der Küste, der Vogel Strauß in der Ebene —, und ich hatte Verständnis für Emigranten wie meine eigenen Vorfahren, die aus Europa geflohen waren. Wenn ich versuchte, mir ein Bild von Patagonien zu machen, stellte sich gar nichts ein, und ich war so hilflos, als hätte ich versucht, die Landschaft eines fernen Planeten zu beschreiben oder den Geruch einer Zwiebel zu malen. Die unbekannte Landschaft ist Grund genug, sie aufzusuchen.

Es gab einen zweiten, simpleren Grund. 1901