Trotzdem Aufbrechen - Angelika Wilke - E-Book

Trotzdem Aufbrechen E-Book

Angelika Wilke

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Beschreibung

Nur, wer wagt, gewinnt, sagt sich die Reiseschriftstellerin Angelika Wilke und radelt durch neun Länder zum Nordkap sowie zurück nach Süden – insgesamt fast 5400 Kilometer weit. Der Norden Europas lässt die Radnomadin seitdem nicht mehr los! Die drei Kinder sind inzwischen erwachsen – da passt das große Abenteuer doch! Andererseits, lässt sich der Traum trotz eines Handicaps, das sie seit Jahren begleitet, verwirklichen? Ohne loszufahren, wird es nie Klarheit darüber geben, was sein kann und was nicht. Also startet die Radwanderin gen Osten, durchquert Mecklenburg-Vorpommern und Nordpolen. Im Baltikum geht es schließlich nach Norden, da sind schon zwei Dinge klar: Mit der „ Salamitaktik“ im Kopf zu radeln, bringt Vorteile. Aber vor allem begegnet die 52-Jährige als Alleinreisende unterschiedlichsten Einheimischen – freundlichen, grummeligen, jedoch stets hilfsbereiten. Gerade in den fantastisch weiten Landschaften Finnlands, Norwegens und Schwedens, als das Vorankommen richtig hart wird, lernt die Autorin zudem eine Menge über sich selbst: Was passiert, wenn ich meine Grenzen überschreite? Wie gehe ich mit Angst um? Und wie mit den ach so fixen „Velo-Kollegen“? Manchmal will Angelika Wilke aufgeben. Aber im Verlauf der Reise wächst die Gewissheit, dass der lange Weg nach Norden trotz allem der richtige für sie ist.

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IMPRESSUM

Trotzdem aufbrechen

Mit Fahrrad und Zelt allein zum Nordkap und um die Ostsee

Angelika Wilke

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über portal.dnb.de abrufbar.

© 2021 I 360° medien I Nachtigallenweg 1 I 40822 Mettmann 360grad-medien.de

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung sowie Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Der Inhalt des Werkes wurde sorgfältig recherchiert, ist jedoch teilweise der Subjektivität unterworfen und bleibt ohne Gewähr für Richtigkeit, Vollständigkeit und Aktualität.

Redaktion und Lektorat: 360° medien

Satz und Layout: Serpil Sevim-Haase, Lucas Walter

Bildnachweis: Alle Bilder von Angelika Wilke

Gedruckt und gebunden:

Lensing Druck GmbH & Co. KG I Feldbachacker 16 I 44149 Dortmund www.lensingdruck.de

ISBN: 978-3-947944-77-4

Hergestellt in Deutschland

360grad-medien.de

Angelika Wilke

Trotzdem aufbrechen

Mit Fahrrad und Zelt allein zum Nordkap und um die Ostsee

Vorwort

Die Sonne wandert gemächlich über meinen Rücken, während die Stunden verstreichen und ich möglichst gleichmäßig in die Pedale trete. An anderen Tagen peitschen mir Regen oder eisiger Wind ins Gesicht. Krampfhaft umklammere ich den Lenker. Neben der Straße erstrecken sich mal Wälder, mal Seen, eher selten das Meer; dann wieder säumen schroffe Felsspitzen meinen Weg – je nachdem, welche Region ich gerade durchquere.

Jubel wechselt mit Zweifeln ab. Unter allen Umständen muss ich entschleunigen und zurückrudern, wenn ich mich wieder über die Maßen verausgabt habe. Denn ich bin nicht wie die anderen hier auf zwei Rädern, bei mir geht es vergleichsweise gemächlich voran. Trotzdem bleibt eins: Kilometer um Kilometer verschwinden unter dem Asphalt, auf dem ich jetzt zu Hause bin. Das Zelt aufschlagen, um am nächsten Morgen erneut aufzubrechen, das ist derzeit mein Leben, zwischen Nordkap und Norddeutschland, 5365 Radkilometer und vier Monate lang. Ich habe es mir selbst ausgesucht.

Die Länder Deutschland und Polen, dann die baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland sowie Finnland und Norwegen, außerdem auf dem Rückweg Schweden und Dänemark – neun Staaten breiten sich vor mir aus.

Überhaupt, eine Fahrradreise zum Nordkap – allein, mit Zelt und fünfzig plus? Immer mehr vom Radreisen Begeisterte nehmen Berge und sonstige Strapazen in Kauf, um von ihrem Heimatort ganz nach oben zur Nordspitze Europas zu sprinten. Dafür richtig fit zu sein, das sei das A und O, so die landläufige Meinung versierter Radprofis.

Was sie sagen, kann ich bestätigen. Selbstverständlich nagt eine solche Unternehmung tüchtig an Energie und Kraft. Je mehr man also davon mitbringt, desto besser. Aber was tun, wenn die körperliche Kraft gesundheitlich eingeschränkt ist – und folglich alles Training kaum hilft? Dann sei man zwangsläufig nicht „richtig fit“ für diese Reise, so die allgemeine Einschätzung. Besser also, sich das Ganze abzuschminken, bevor der Traum von endlosen Wäldern voller Elche und den arktischen Landstrichen des hohen Nordens allzu klare Formen annimmt?

Aber warum eigentlich? Unsere drei Kinder sind erwachsen, meinen Job als Betreuerin in einer Demenz-Wohngruppe habe ich für die Tour gekündigt. Allerdings nicht nur dafür, ich war auch erleichtert, trotz meines unsicheren Gehens alle am Arm eingehakten Senior*innen immer sicher an ihr jeweiliges Ziel geleitet zu haben. Allein deshalb schien es also ein guter Zeitpunkt aufzuhören, bevor sich das wegen meiner wachsenden Stabilitätsprobleme änderte. Auf der Reise jedoch müsste ich nur die Verantwortung für mich selbst übernehmen. Bereits das klingt wunderbar!

Wie es so treffend heißt: Nur, wer etwas tut, kann Fehler machen. Und nur, wer aufbricht, kann scheitern. Aufgeben, abbrechen, den Mut verlieren – warum wird all das von uns so negativ betrachtet? Wer den Mut verliert, hat ihn immerhin einmal besessen.

Ich will ja schließlich nicht mein Leben aufs Spiel setzen. Sondern meine sechs Radtaschen mit allem Unentbehrlichen füllen, mich umständlich, wie es bei mir eben so ist, in den Sattel meines 18-Kilogramm-Herren-Trekkingrades hieven und losfahren. Sollte ich in Lettlands Hauptstadt Riga (oder anderswo) das Nordkap-Projekt, aus welchen Gründen auch immer, lieber an den Nagel hängen – ja, dann bin ich eben bis Riga gefahren!

Dieses Buch soll denjenigen Mut machen, die vor einem Projekt stehen, das sich wie ein unüberwindlicher Berg vor ihnen auftürmt. Besondere Unternehmungen werden oft als zu schwierig empfunden, weil sich die Einschätzung diesbezüglich an denjenigen orientiert, die das Ganze effektiver und schneller erledigt haben.

Das passt doch nicht für mich, lautet dabei der leitende Gedanke. Aber sind nicht Wunschtraum und Wille die entscheidenden Kriterien dafür, ein solches Vorhaben umzusetzen? Ein Plan, für den niemand brennt, wird, sogar falls Geld und Kapazitäten reichlich zur Verfügung stehen, höchstens halbherzig realisiert. Ich beiße mich an der Idee, mit Fahrrad und Zelt Richtung Norden zu starten, förmlich fest. Vielleicht bis ans Ende Nordeuropas zu gelangen, das will ich keineswegs ausschließen.

Pause in Ankershagen

Mehr jedoch als dieses Ziel beherrschen die Tage des Unterwegsseins meine Gedanken: Im Zelt von Vogelrufen geweckt zu werden, auf dem Kocher Wasser zu erhitzen, um dann mit einem Becher Kaffee in der Hand auf einen stillen See zu schauen, Menschen mit fremden Lebensweisen zu begegnen. Solche Bilder sind mein Motor, geben mir die Energie sowie den Durchhaltewillen. Kopf wie Herz stellen meine Triebfedern dar, das Ausmalen von möglichen Erlebnissen mein Vorbereitungstraining.

Mit starken Muskeln hat das alles herzlich wenig zu tun. Mehr und mehr verabschiede ich mich von dem Bedauern darüber, das körperliche Potenzial für eine solche Kraftanstrengung nicht mitzubringen. Dafür steigen neue Varianten, die Tour zu meistern, wie Sterne am Firmament auf. Sie leuchten verheißungsvoll.

Hirngespinste legen den Grundstein für Reisen und andere Sehnsuchtsvorhaben. Solche Träume auszublenden – das ist immer traurig und bedeutet Verlust, ganz gleich, ob es sich um eine Radreise handelt oder um eine sonstige Intention.

Also will ich versuchen, was nicht meiner Kragenweite entspricht: In der Fantasie bin ich bereits losgeradelt – durch die grünen Tunnel masurischer Alleen, das Baltikum und weiter durch Finnland, wo ich in Seen eintauchen will, das Fahrrad am Ufer geparkt.

Meine neuromuskulär bedingte Gehbehinderung, eine Art Polyneuropathie mit dem Namen Charcot-Marie-Tooth-Krankheit (CMT), verschlechtert sich von Jahr zu Jahr, erst unmerklich, inzwischen spürbarer. Die Muskelkraft in den Füßen und Unterschenkeln schwindet dahin.

Schön wäre es, ich könnte dieses Handicap einfach zu Hause lassen wie ein löchriges Paar Schuhe. Es begleitet mich mein ganzes Leben, haftet wie Sand im Getriebe an mir. Und wenn die Krankheit weiterhin voranschreitet, wird in gar nicht so ferner Zeit an eine Radexpedition nicht mehr zu denken sein.

Es gibt genau zwei Alternativen: Entweder gebe ich der Beeinträchtigung nach und bleibe zu Hause oder ich nehme sie mit und passe meine Art des Reisens entsprechend an.

„Wenn du nicht mehr weiterkannst, hole ich dich ab“, sagt mein Mann. Ein beruhigendes Angebot – aber ich will es aus eigener Kraft schaffen. Von unserem Gartentor bis zum Nordkap. Und falls die Kräfte reichen, weiträumig um die Ostsee zurück. Als Radnomadin will ich von Ort zu Ort weiterziehen, jedem Tag neu begegnen und auf mich selbst gestellt den Weg vor mir erkunden. Wie schon früher, auf etlichen kleinen Radauszeiten von Familie und Job.

Im Alltag ist mein Tempo seit Jahren, wann immer möglich, gemächlicher getaktet. Mögen andere ihr Haus an einem Tag von oben bis unten putzen, „mal eben schnell“ einkaufen und beruflich im Laufschritt ihre To-do-Liste abarbeiten – ich teile alles, soweit möglich, in Portionen auf – gebe mir Zeit, minimiere Stress.

Für die Radreise zum Nordkap übersetzt, heißt das: Jederzeit abbrechen können, kein Tagespensum höher als achtzig Kilometer und zwischendurch immer wieder Ruhetage einlegen.

Ohnedies wachsen Zweifel, je näher der Abfahrttermin rückt: Wird es mir gelingen, das Fahrrad mit dreißig Kilogramm Gepäck all die Anstiege hochzuschieben, wenn die Beine beim Pedalieren bereits die Segel gestrichen haben? Werde ich da überhaupt die Balance halten können?

Zu Hause lässt sich das schlecht testen, der höchste Punkt hier an der Ostseeküste ist der Deich. Andrerseits, wie oft findet sich eine Lösung erst, wenn man sie wirklich braucht!

Zur Sicherheit lege ich noch eine Sache obendrauf und nehme mir fest vor, die Salamitaktik zu praktizieren.

„Der Begriff Salamitaktik beschreibt bildlich das Vorgehen bei einer Sache“, so die Erläuterung in der online-Karrierebibel der Autorin Anja Rassek. „Statt alles auf einmal anzugehen, unterteilen Sie Ihr Vorhaben in lauter kleinere Teilschritte“, schlägt sie vor. „So wie man eben auch eine Salami essen würde. Niemand käme auf die Idee, die Wurst als Ganzes hinunterzuschlingen, sondern Scheibchen für Scheibchen wird sie verzehrt.“

Das klingt doch wie für mich erfunden – auch wenn die Salamitaktik ursprünglich von Potentaten sowie für zermürbende Verhandlungen angewendet wurde und mittlerweile die Basis für etliche Fortbildungen darstellt. Auf der Reise soll sie meine ganz persönliche Lebensphilosophie werden. Ich bin sicher, sie wird mir helfen klarzukommen und ganz fest an mein Ziel zu glauben.

Von Tag zu Tag weiter nach Norden

Inhalt

Vorwort

Schleswig-Holstein: Am Gartentor

Mecklenburg: Der „Eichenstreichler“

Polen, Pommern: Drittes Gebot: Du sollst den Feiertag heiligen

Polen: Von Pommern ins Ermland – Sturz

Polen: Masuren und Podlachien – Milchweißer und Supersalbe

Litauen: Letzte Hoffnung Akmenynai

Lettland: Ist das etwa mein Leben?

Estland: Der Elch und ein Sturm

Finnland: Still und schwarz der Wald

Finnland: Wie schlimm ist eine Nacht im Wald?

Finnland: Hinter Naomis Café wird es ernst

Finnisch-Lappland: Peppi

Finnisch-Lappland: Die Sache mit dem Bier

Von Finnisch-Lappland nach Nordnorwegen: Jetzt fährst du da auch hin!

Nordnorwegen: Finnmark – Über die Unvernunft, Apfelsinen zu kaufen

Nordnorwegen: Finnmark Nachtspaziergang in Honningsvåg

Nordnorwegen: Der rote Punkt

Von Nordnorwegen nach Mittelschweden: Zelten in der Nachbarschaft von Bären

Südschweden und Dänemark: Das Salamiende

Epilog

Schleswig-Holstein: Am Gartentor

Einfach losfahren, diese zwei Wörter klangen magisch für mich. Während der Zeit, in der die Idee einer Fahrradreise zum Nordkap, und am besten rund um die Ostsee, allmählich Formen annahm, stand mir ein Bild immer konkret vor Augen:

Wie ich, wenn alles gepackt und erledigt ist, einfach losfahre.

Sich von allem Gewohnten lösen, in die Welt hinaus reisen, allein und ohne Rückkehrdatum. Besonders Letzteres besitzt Seltenheitswert im durch Freizeit und Arbeit strukturierten Leben – und paradiesisch klingt es allemal.

Aber so einfach ist es eben doch nicht. Statt mich auf den Sattel zu setzen und loszurauschen, verharre ich am Gartentor. Voller Zweifel, ob ich nicht lieber das Fahrrad an die Holzwand des Schuppens lehnen und in der Küche mit meinem Mann noch eine Tasse Kaffee trinken will. Darauf zu verzichten, fühlt sich an wie ein Rauswurf aus dem eigenen Haus, dem Nest.

Mit langer Unterhose darunter spannt die Trekking-Hose, das Bein lässt sich kaum über das obere Rahmenrohr heben. (Früher, als ich noch dazu in der Lage war, den rechten Fuß, mit der Hand auf den Sattel gestützt, über den Lenker zu schwingen, empfand ich das Aufsteigen als einfacher.) Ein bisschen spät, um mich zu fragen, ob ein Herrenrad noch das richtige für mich ist. Sowieso fühlt sich die ganze Geschichte falsch an. Sogar das Wetter. Manchmal herrschen Ende April schon milde Temperaturen. Heute ist es jedoch kalt, die Sonne hinter den Wolken versteckt.

Vom eigenen Gartentor zum Nordkap radeln, klingt das etwa nicht nach einer tollen runden Sache? Immer draußen und Tag für Tag ein Stückchen weiter Richtung Norden. Alles dabei in den Radtaschen und jedes Detail selbst bestimmen! So viel Freiheit, das klingt wunderbar!

Von wegen. Gerade das Freiheitsgefühl schmolz dahin wie Butter auf einer heißen Kartoffel, je näher der Abreisetermin rückte. Vor zwei Jahren, als die Kinder so eben flügge wurden, meinte ich, nach Jahren mit Familien- und sonstiger Arbeit diesen Freiraum unbedingt zu brauchen. Die Reise meines Lebens, wenn nicht jetzt, wann dann!

Mein Leben zu Hause in Schleswig-Holstein quasi stillzulegen, damit ich so lange fort kann, hat Zeit und Planung erfordert. Darüber habe ich vergessen, mein Inneres ebenfalls entsprechend umzukrempeln. Will heißen, zwar habe ich mir eine Wind-und-Wetter-Jacke sowie eine Fleecemütze gekauft … aber im Kopf? Da rumort nichts von Aufbruchstimmung, alles scheint verflixt wenig flexibel und so überhaupt nicht auf Zukunft geeicht, dabei beginnt die eigentlich genau jetzt.

Dieses Riesenvorhaben, durch Länder zu radeln, in die ich noch nie einen Fuß gesetzt habe, verursacht mir ein mulmiges Gefühl. Ich glaube fest daran, dass jeder für sein Wunschprojekt bestimmte Talente mitbringt. Welcher Gestalt werden meine sein?

Ich fahre gerne Rad, weil ich dann unmittelbar am Geschehen teilnehme, vielleicht sogar dazu zähle. Zum Beispiel bei einem Gewitter laufen mir die Wassertropfen übers Gesicht, ich zittere vor Angst, Nässe und Kälte. Die Blitze zucken förmlich durch mein Herz. Fürchterlich, wenn man mitten drin steckt. Jede Maus darf sich in ihr Loch verkriechen. Als Reisende zieht man den Kopf ein und harrt aus – was soll daran schön sein?

Dass man sich selten so glasklar als Mensch fühlt. So ursprünglich. So gerne. Geschubst auf den Platz, der einem zusteht. Pflanzen, Tiere, Menschen. Auf einmal passen letztere wunderbar ins Schema. Aufrecht Gehende sind nicht länger Störenfriede, Umweltverschmutzer oder Besserwisser, sondern mangels Fell oder Schuppen höchstens die nassesten von allen Lebewesen!

Am Gartentor steckengeblieben, kommen mir die Gedankenblitze über das Menschsein schlichtweg abstrus vor. Ein Drittel Jahr? Tausende von Kilometern? Eine selten bescheuerte Idee. Was wäre, wenn etwas kaputt ginge in der Wildnis da oben – ich zum Beispiel?

Jedem Nordabenteurer, im Alleingang sind es tatsächlich allermeistens Männer, kann ein Unfall passieren. Also muss ich vorsichtig sein, achtsamer noch als die anderen. Bloß nicht straucheln. Bloß nicht stürzen. Langsam, dafür sicher – das scheint die beste Devise für mich.

Mit Langsamkeit kenne ich mich aus, allerdings besitze ich keine Vorstellung davon, inwiefern ein Schneckentempo riskant wird, weil der Weg bis zum nächsten Lebensmittelgeschäft zu lange dauert. Strecke, Zeit, Kraft – ein unberechenbares Trio. Unter Umständen müsste ich hungern und würde erst kurz vor dem Zusammenbrechen Hilfe erreichen – oder gar nicht. Übertrieb ich da? In den Reiseberichten läuft letztendlich immer alles glatt, aber die Autor*innen sind ja auch zurückgekommen, um dann darüber zu schreiben. Von den anderen hört man nichts.

„Da wirst du tüchtig abnehmen“, prophezeite mein Mann schon vor einer Weile. Anfangs, als ich das Thema zum ersten Mal auf den Tisch brachte, hatte er sich gegen meine Pläne gesträubt: „Wer kümmert sich denn um den Hund, wenn du so lange weg bist?“

Der Hund ist eine Hündin, bei so ernsten Entscheidungen wird sie jedoch nur der Hund genannt. Möglicherweise, damit sie nicht mitbekommt, dass problembehaftet von ihr gesprochen wird. Es soll nicht gut für die Psyche eines Hundes sein. Selbstverständlich merkt sie es trotzdem.

Der Hund kommt immer ins Spiel, wenn ich länger unterwegs sein will. Als ob ich einzig und allein auf die Welt gekommen bin, um mir als Hundesitterin eine Daseinsberechtigung zu verschaffen. Dabei lebt neben meinem Mann selbst noch unsere Tochter im Haus. Die beiden werden die schwarze Labradorhündin liebevollst umsorgen, ganz bestimmt.

Trotz allem, ist es nicht erbärmlich, einen Hund, der ja auch ein bisschen etwas von Abschied versteht, einfach so zurückzulassen? Ihre dunklen Augen blicken wissend und ratlos zugleich.

Unser Ältester und seine Freundin haben mir eine Halskette mit einem Anhänger in Form einer Schneeflocke geschenkt – als Symbol für das Nordkap. Der Talisman hängt mir locker um den Hals, denn er ist natürlich als Glücksbringer für die gesamte Fahrt gemeint und soll mir keinen Druck wegen des Zieles verursachen.

Der Zweitjüngste ist viel weiter weg als das Nordkap, nämlich in Australien. Er macht dort Work and Travel. Das passt nach dem Abitur, aber wie steht es mit mir? Erst Hausfrau und Mutter mit Teilzeitjobs, dann Nordkapradlerin?

Die nächsten Monate breiten sich wie eine unbeschriebene, schier endlose Papierrolle vor mir aus. Allein für ein paar erste Zeilen darauf sollte ich jetzt losfahren. Ich kann ja jederzeit aufhören.

Letzteres gibt mir endlich den entscheidenden Schubs. Um notfalls umzukehren, dafür muss man erst mal aufbrechen. Nicht gerade die heroischste Zielsetzung für den Beginn einer Fahrradreise, aber sie funktioniert. Ich fahre los.

Die Sternmiere blüht. Bald kommt die Sonne heraus, und die kleinen weißen Sterne am Wegesrand stehen zusammen mit zarten Blattknospen für das Frühjahr – was man von den sechs Plusgraden nicht behaupten kann. Der vordere Gepäckträger quietscht, die vier Kilogramm Packlast pro Seite sind ihm wohl zu schwer. Da beginnt sie schon, die Personalisierung des Fahrrades und seiner Bestandteile, in Ermangelung realer Personen. Die Hauptlast des Gepäcks befindet sich in den großen Taschen hinten sowie im obenauf verstauten, wasserdichten Sack mit Zelt, Schlafsack und Isomatte darin. Entsprechend schlingernd ist meine Fahrweise.

Falls ich überraschend mal fix mit beiden Füßen auf die Erde muss – werden meine Beine das schwer beladene Velo in Balance halten? Meine Unsicherheit ärgert mich. Was nützt es, über derlei Notsituationen zu grübeln, mein Entschluss zur Tour steht doch längst fest! Solche Dinge muss ich auf mich zukommen lassen, wie manches andere auch. So oder so ist das Ganze ein Abenteuer.

Vorläufig ist zum Glück jedoch bequemes Radeln auf verkehrsarmen Landwegen angesagt. Nach knapp zwanzig Kilometern erreiche ich über ein kleines Sträßchen entlang des von Bäumen verdeckten Selenter Sees den Ort Selent. Klaftertief ist die Straße aufgebuddelt, die Weiterfahrt sogar für Radler*innen versperrt. Tja, wenn man das Umleitungsschild missachtet … Leider kenne ich mich hier gut aus und weiß, dass diese Straße schöner zu fahren ist als die Hauptstraße.

Ein Bauarbeiter schiebt mein Rad eng am Schacht entlang durch den Sand. „Ganz schön schweres Gepäck hat die Frau auf ihrem Renner“, findet er. Hätte ich auch so einen freundlichen Helfer gefunden, wenn ich ein Mann wäre? Und die Hilfe angenommen? Wie auch immer, in der Situation passt es, eine Frau zu sein.

Töpferei in Grabensee am Selenter See

Den See, immerhin den zweitgrößten Schleswig-Holsteins, nutzte das Militär im Zweiten Weltkrieg als Wasserflughafen. Der Fliegerhorst lag in Bellin und wurde nach dem Krieg in ein Lager für Flüchtlinge aus dem Osten umgewandelt. Heute verbindet man den Namen des Dorfes zum Glück nur noch mit Fischerei – und in meinem Fall mit dem ersten Anstieg. Bloß nicht schlappmachen – wenn ich es ernst meine mit dem Nordkap, folgen da noch ganz andere! Während ich darüber sinniere, dass es allein auf mich ankommt, wie ernst die Sache genommen wird, treten die Füße in die Pedale, bis hoch zur Kuppe. Klappt doch!

Seen leuchten blau, Wiesen grün, Rapsfelder gelb, Dächer rot. Das Gros der für den hohen Norden eingepackten warmen Kleidung trage ich am Körper: Fleecejacke und -mütze, zwei Schals und Handschuhe. Eine Liste für die Ausrüstung hatte ich beizeiten erstellt. Als es jedoch tatsächlich ans Einpacken ging, war mir ziemlich egal, was in den Taschen landete und was vergessen blieb. Ich war viel zu aufgeregt. Meine Tochter packte alles ein, was ich ihr hinstellte.

(In Polen zog ich dann ein paar unbekannte schwarze Socken ganz unten aus einer der Radtaschen. Wo kamen die denn her? Liebevolle töchterliche Fürsorge? Typische Mutterdenke – ihr waren die dünnen Dinger genauso wenig bekannt.)

Die Mittagspause im ostholsteinischen Timmdorf, mit selbstgemachtem Nudelsalat, gestern erst in der Küche geschnippelt – es scheint unwirklich lange her. Ein kurzer Hagelschauer unterbricht diese erste Mahlzeit draußen.

In einer Bäckerei in Eutin ist es hingegen angenehm warm, und ich halte einen kurzen Schnack mit einem Ehepaar, etwas älter als ich. Früher hätte ich sie kurzerhand als älteres Ehepaar eingestuft. Nun selbst über 50, muss ich mir einen neuen Blickwinkel angewöhnen.

In Timmendorf sieht die Ostseeküste schon ein winziges bisschen anders aus als zu Hause am Schönberger Strand. Vorwiegend liegt das allerdings an der eleganteren Promenade. Die Freude an dem wie bleiern ruhenden Wasserspiegel vergeht mir, als mein Tretlager sich quietschend meldet. So ein Fiasko habe ich auf all meinen Touren nicht gehabt! Und jetzt am ersten Tag! Nach weniger als achtzig Kilometern!

Ein Fahrradhändler äußert sich düster: Am besten das Tretlager auswechseln, da jederzeit die Welle brechen könne, oder es wenigstens eine Nacht in Öl baden.

Will ich vielleicht bereits am ersten Reisetag 160 Euro für eine Reparatur opfern? Und warten, bis das Teil fertig gebadet hat, will ich genauso wenig, denn eigentlich bin ich gerade so gut in Schwung.

Als ich ablehnend den Kopf schüttle, rückt der Fachmann noch mit einem dritten Tipp heraus; nämlich bei jedem Quietschen Öl in alle vorhandenen Schlitze zu träufeln. Anschließend sofort weiterfahren! Eventuell verteile sich das Öl so bis zu den Kugellagern.

Mit sieben Unterbrechungen bewege ich mich weiter Richtung Priwall. Bald brauche ich zum Ölen nicht einmal mehr abzusteigen. Die Oberschenkel, um Balance zu halten, an die Rahmenstange gepresst, beuge ich mich, das Ölfläschchen in der Hand, nach unten. Es quietscht immer aufs Neue.

Für jedes Problem gäbe es eine Lösung, hat mir mein in Australien weilender Sohn mit auf den Weg gegeben. Ob das stimmt oder nicht, es kann nur zu meinem Besten sein, mich daran zu halten. Mit schlauen Sprüchen habe ich mich schon über manche Distanz gehangelt.

Allerdings darf die Lösung unmöglich darin bestehen, mich in den Zug nach Hause zu setzen, den Schaden reparieren zu lassen, um neu zu starten. Daran denke ich keine Sekunde ernsthaft. Ein zweites Mal loszufahren, das packe ich nämlich nicht.

Mecklenburg: Der „Eichenstreichler“

Am Priwall, einer Halbinsel vor den Toren Lübecks, trennte die innerdeutsche Grenze bis 1990 die heutigen Bundesländer Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern. Mit einer kleinen Fähre setzt man über die Trave. Ohne „krankes“ Fahrrad hätte ich die kurze Fahrt über den Fluss, der hier in die Ostsee mündet, genossen.

Hinüber und frei weiterzureisen ist für mich nach wie vor ein besonderer Augenblick. Das Beklemmende eines Grenzübertritts, bei dem man misstrauischen Kontrollorganen Pass und Visum vorlegen muss, eingeschüchtert von weiteren, bewaffneten Grenzposten in Reichweite, das habe ich als Schülerin und Studentin auf meinen Reisen in die DDR etliche Male erlebt. Die einstige Erfahrung hat sich so eingefressen, dass ich mir (verfrüht) enthusiastisch vorstelle, wie ich die Grenzen in die EU-Staaten Polen, Litauen, Lettland und Estland flugs überquere.

Gesunden Radwandernden geht es wohl nach einer langen Etappe abends ähnlich: Mich beim Fixieren der Haken ums Zelt zu bewegen und niederzuknien, aufzustehen, um zwei, drei Schritte weiter erneut niederzuknien, später die Gänge zum Sanitärbereich des etwas verlotterten Campingplatzes – alles wird mir zu mühsam.

An der Mündung der Trave in die Ostsee

Also ab ins „Bett“! Leichter gesagt, als getan. Es dauert, mich in acht Stoffschichten, bestehend aus Schlafsack, Inlet, Jacke, Fleecejacke, Pullover, Hemd und T-Shirt plus Unterwäsche zu mummeln. Zuletzt ziehe ich die Handschuhe an. Tüdle im Licht der Taschenlampe herum, um es wirklich kuschelig zu haben. Die erste Nacht im neuen Zelt. Aber Gemütlichkeit fühlt sich anders an. Nur warm genug ist mir.

Bei der Kälte morgens um sechs funktioniert der Kugelschreiber nur eingeschränkt. Etwas später hat die Sonne den Weg auf meinen Frühstückstisch unter einem Vordach gefunden. Was wird mit dem Rad sein? So kann man nicht zum Nordkap fahren, ein defektes Rad ist das Ausschlusskriterium schlechthin. Mehr noch als ein gehandicapter Mensch.

Gestern Abend nervte das Übel gewaltig, einigermaßen ausgeschlafen ist es leichter zu akzeptieren. Immer brav weiter ölen – ist das die Lösung?

Es quietscht nicht! Sogar der vordere Gepäckträger gibt Ruhe, nachdem ich dort ebenfalls geölt und die Last erleichtert habe. Hält ein Schutzengel also wirklich für jedes Problem eine Antwort bereit. Eindeutig hat sich das Öl über Nacht um die Kugellager geschmiegt.

Es ist nur eines der schönen Dinge auf einer Radtour allein, dass für idealistische Wahrnehmungen Muße bleibt. Ohne Kommunikation mit anderen hat man Zeit, sich mit Hintergründen zu beschäftigen. Mystisches, wie beschützende Elfen, bekommen eine neue Dimension, wenn einem der Bereich liegt. Ganz allgemein eröffnen sich neue Blickwinkel. Genau dafür reist man doch, oder?

Manchmal reichlich geflickt, werden Landsträßchen zu einem Muster moderner Kunst.Von einem Feldhügel blickt ein rotes Kirchlein hinweg über den Raps, der zaghaft Knospen öffnet. Mittags fahre ich in Wismar ein, nach Lübeck die zweite Hansestadt. Treppen- und Volutengiebel zieren die Dächer der alten Schwedenhäuser am Marktplatz. In der Backsteingotik errichtete Kathedralen recken sich in den strahlend blauen Himmel.

Beim Schreiben in das von meiner Tochter geschenkte Reisetagebuch gelange ich zum ersten einer Reihe von eingeklebten Zetteln, beschriftet mit liebevollen kleinen Sprüchen. Das erinnert mich an unsere Abmachung, zusätzlich zu Whatsapp-Nachrichten ab und an eine Postkarte zu schicken.

Hanseatische Fassaden in Wismar

Am Nebentisch in der Bäckerei eines Supermarktes, wo ich sie schreibe, kakeln zwei gebrechlich wirkende Männer die Probleme des Alters durch. Lautstark, vielleicht verstehen sie sonst einander nicht. Von der Rente übers Rauchen bis zu einzelnen Bekannten wechselt der Gesprächsstoff.

„Hau rein!“, ruft der eine Greis zum Abschied, als der andere umständlich den Rollator vom Tisch weg manövriert. Um wie viel besser ist das Treffen in dieser Café-Ecke, als zwischen vier Wänden allein zu sitzen, da sind beide sich einig, so wie in allem anderen auch. Im Rückblick auf meine Arbeit bei alten Menschen, deren letzte Lebensphase in den Wohngruppenräumen eines Pflegeheims verfloss, freue ich mich für die Männer. Beinahe kommen mir die zwei wie Ausreißer vor, die sich vor zu viel Fürsorge verdrückt haben und an diesem Ort ein bisschen Unabhängigkeit genießen.

Mit fünfzig plus schleicht sich allerdings auch eine zweite Frage ein: Wie wird es mir ergehen? Wie verkümmert werden meine Muskeln dann sein, wie verbraucht mein alternder Körper? Die Last der Jahre und die Last der Krankheit laufen parallel. Werde ich überhaupt noch imstande sein, selbstständig in eine Bäckerei zu wackeln? Den Kaffee zum Tisch zu tragen, ohne etwas davon zu verplempern, das misslingt oft bereits jetzt.

Niemand kann mir die Zukunft prognostizieren. Eigentlich will ich sie auch gar nicht wissen, solange es keine Therapie gibt. Besser raus aus Wismar und zurück auf die Landstraße.

Auf hohen Brücken Autobahnen zu überqueren, macht keinen Spaß. Im Dröhnen der Motoren hinaufzuschieben ist nervig, beim Hinunterschauen zu den dahinjagenden Fahrzeugen fürchte ich mich beinahe. Allerdings, ich muss ja nicht bleiben, zumal die Abfahrt ansteht. Wäre man ein Schwein in der angrenzenden Mastanlage, würde man in einer weitaus erschreckenderen Welt dahinvegetieren.

Die Sonne ist verschwunden, die Felder grau und trostlos. Kraniche schreien dissonant, als ihr Kumpan eintrifft. Durch die Ausschilderung einer Radroute nach Neukloster lande ich auf einem gerölligen Hügelweg.

An den Türen zu ehemaligen DDR-Ferienquartieren auf dem Campingplatz blättert die Farbe ab, die bunten Rollos sind verschlissen. Meine Motivation ist nach rund siebzig Kilometern hügelauf, hügelab und Wind von vorn auf den Nullpunkt gesunken, während ich zum zweiten Mal auf einer durchweichten Wiese zu Bett gehe. Hier macht wohl niemand mehr Urlaub.

So ein Morgen am Neuklostersee baut auf.

In der leergeräumten Gemeinschaftsküche des Platzes müffelt es stockig. Der Raum ist kein Ort für ein Frühstück, das einem Lust auf den Tag macht. Durch eine Tür im Zaun gehe ich zum Neuklostersee. Die ersten Schwalben jagen übers Wasser. Vielleicht wird es ja irgendwann Sommer, und ich reise immer noch.

Wie komme ich darauf? Habe ich doch gar nicht gemerkt, was für ein wunderbarer Morgen heute ist! Er lässt nur positive Gedanken zu.

Alle Zweifel sind verflogen, natürlich geht es weiter. Mit einem Becher Kaffee sitze ich auf einer Bank. Sonnenlicht bringt das Grün der Blätter einer Trauerweide zu einem traumhaft zarten Leuchten. Ein Eisvogel zischt vorbei, der bringt mir Glück. Ich bin wieder da!

Schwäne fliegen über den See, mit schwerfälligem Rauschen, als sei es äußerst mühsam, die Flügel zu heben und zu senken sowie den Körper in der Luft zu halten. Vielleicht ist es das sogar – wenn ich schon das Radeln anstrengend finde.

„Da führt nur die Hauptstraße nach Güstrow. Der Radweg ist nicht ausgebaut“, behauptet eine Ortsansässige in Bützow. Dabei gibt es eine lauschige Strecke auf dem Deich entlang des Bützow-Güstrow-Kanals. Schilf spiegelt sich im Wasser, wie ein bärtiger dünnlippiger Mund. Wohltuende Stille nach all den Autos vorher, nur ein Specht hämmert oder eine Regionalbahn rauscht vorbei.

Güstrow mit seinem beeindruckenden Backsteingotik-Dom wirkt verschlafen, abgesehen von ein paar aufgebrezelten Frauen mit krassen Haarfarben und Kinderwagen.

Finde ich die Gegend schön, durch die ich radle? Ja, die hohen Bäume, Felder, Hügel und alten roten Höfe schon. Aber mir sind zu viele große Straßen hier. Sie durchschneiden die Landschaft, werden so fleißig benutzt, dass sie für Radwander*innen kaum in Frage kommen. Die kleinen Wege treiben einen jedoch kreuz und quer.

Beim Betreten eines Lebensmittelgeschäftes am späten Nachmittag zieht mir Zigarettenrauch in die Nase. Alles wirkt bleich, die freundlichen Verkäuferinnen eingeschlossen. Ein Schokoriegel von dort verleiht Ausdauer für den Rest der Etappe, aus dem Wald heraus, über eine Hoppelpiste nach Alt Sammit hinunter. Die trutzige, aus Feld- und Backsteinen erbaute Dorfkirche rührt mich an. So hübsch und kein bisschen berühmt.

Kirche in Alt Sammit

In Krakow am See klebt morgens um sechs Uhr Eis auf meinem Zelt ... naja, zumindest dickster Raureif. Ein älterer Schweizer lässt Bademantel und Handtuch in meiner Obhut und huscht trotz der Kälte ins Wasser. „Davon wird die Haut schön weich“, lächelt er und schenkt mir später eine Tafel Schokolade – „für die gute Stimmung“.

Auf glattem Asphalt durch den hochstämmigen Wald der Nossentiner Heide zu fahren, ist exquisit, die Schokolade bereits in Drewitz halb gegessen, die Stimmung gut – bis sich die Strecke in einen Waldweg mit Steinen, Schlaglöchern und am Schluss Sand verwandelt. Verkrampft halte ich den mit einer weiteren Tasche beschwerten Lenker, unter dem zudem die Vordertaschen hängen. Scharfer Schmerz in der Schulter ist die Folge. Schlimmer noch, etwas am Rad rattert eigenartig. Nervt natürlich. Mehrfach steige ich ab, um herauszufinden, was los ist. Keine Chance. Die Abfahrt zum Heilbad Waren bietet eigentlich herrliche Ausblicke, aber ich horche vor allem auf das Rad.

Warens Marina mit eng nebeneinander dümpelnden Jachten liegt direkt an der Binnenmüritz, die sich etwas südlich zur Riesenwasserfläche der eigentlichen Müritz weitet. Der Bodensee ist zwar noch größer, wird allerdings von anderen angrenzenden Ländern mit vereinnahmt. Die Wellen der Müritz hingegen schlagen überall an mecklenburgische Ufer.

Vor plötzlichen Wetterumschlägen wird gewarnt, Respekt sei geboten, heißt es hier. 2012 nahm ich mir das sehr zu Herzen und war entsprechend nervös, als ich mit dem Kajak über die Binnenmüritz und dann weiter Deutschlands größten See hinunter paddelte – bloß nicht zu dicht am Ufersaum wegen der zahlreichen Wasservögel im Nationalpark.

Diese Reise hat (noch) keinen Rhythmus. Ich weiß nur, dass sie einen haben muss, wenn ich länger durchhalten will, jedoch nicht, wie es dazu kommen kann.

Im bunten Sonntagstreiben am Jachthafen fühle ich mich deplatziert. Es ist vier Uhr nachmittags, soll ich weiterfahren? Ich entscheide mich für „Ecktannen“, den Campingplatz am Steilufer der Binnenmüritz – und werde ruhiger. Wer treibt mich denn? Ich brauche doch nicht täglich Höchstleistung zu erbringen. Immerhin radle ich nicht nur, sondern baue auch meine Unterkunft ständig auf und ab, koche, wasche und wandere zu Toiletten und Wasserplätzen. Alles geruhsam zu erledigen, ist das Nonplusultra. Leider reicht es nicht, mir dieses Denkschema einmal vorgenommen zu haben. Ständig muss ich mich neu darauf einschweißen. Sonst gerate ich ins Schlingern, hetze einem fremden Tempo hinterher, versäume mich auszuruhen, bin gestresst, versuche am darauffolgenden Tag, Zeit aufzuholen, die keineswegs aufgeholt werden muss. Insofern kann ich meiner mangelnden Balance richtig dankbar sein, dass sie mich ausbremst, wenn ich es übertreibe. Oder wäre ich ohne sie in der Lage zu rasen, wie es mir in den Sinn kommt? Eher nicht.

Orangerot versinkt die Sonne hinter Waren. Hohe Kiefern rauschen, ich schlafe tief, will einmal sogar auf den Wecker gucken, wie zu Hause. Jetzt bin ich hier. Morgen wieder woanders. So ist mein Leben zur Zeit.

Das Rattern hat sich verflüchtigt. Was das nun wieder bedeuten sollte? In den Mittagsstunden des darauffolgenden Tages besichtige ich die Kirche in Ankershagen sowie das Pastorat daneben. In letzterem hat nämlich der für seine Entdeckung von Troja berühmte Archäologe und Pfarrsohn Heinrich Schliemann seine frühen Kindheitsjahre verbracht. Zwanzig Sprachen lernte der rührige Kaufmann und riss sich außerdem den Schatz des Priamos unter den Nagel. Nicht zu glauben, was manche Menschen so leisten.

Trotzdem ist mir der „Eichenstreichler“ sympathischer. Ich unterhalte mich am Tollensesee mit ihm, nachdem ich den lindgrün knospenden Buchenwald am Ufer hinter mir gelassen habe. Am nördlichen Seeende liegt Neubrandenburg, dort wohnt der Rentner mit seiner Frau. Einmal im Jahr wandert er um das zehn Kilometer lange und bis zu zweieinhalb Kilometer breite Gewässer. Um fünf Uhr ist er bereits aufgebrochen, eine lange sowie eine kurze Seeseite liegen hinter ihm. An der Eiche neben mir legt er eine Pause ein, um den Baum, den er schon zu DDR-Zeiten jedes Jahr besucht hat, versonnen zu streicheln. Nur im vergangenen Jahr war die Wanderung ausgefallen, weil seine Frau zu krank war.

Wir geben uns die Hand. Seine Jahresaufgabe scheint mir so banal, dass sie gleichzeitig etwas Philosophisches hat. Einen See umrunden, um mit der Hand über die Rinde einer Eiche zu reiben! Der „Eichenstreichler“ hat keine Eile, überhaupt erweckt er den Eindruck, schon die meisten Stufen auf der Leiter zur Gelassenheit erklommen zu haben. Ich wünsche ihm, dass seine Frau wieder gesund wird.

Wanderung um den Tollensesee

Der Gegenwind bleibt sich immer gleich, die Dörfer ebenfalls. Ein Teich, eine rote Kirche. Kopfsteinpflaster, weshalb ich die schiefen Platten des Bürgersteiges bevorzuge, solange sie nicht im Sand enden. Dann hoppele ich auf der Straße wieder aus dem Dorf hinaus, bis Asphalt beginnt. Beides, der buckelige Untergrund und der Wind, nerven. Letzterer braust ungebremst über die riesigen Flächen der ehemaligen LPG an meine Brust. Ich beuge mich über den Lenker, zu gucken gibt es sowieso nichts.

Die mecklenburgische Kleinstadt Burg Stargard wirkt grau, als hätte sie es nach 900 Jahren satt, sich im knirschenden Rad der Geschichte mitzudrehen. In einer Kurve riecht es unvermittelt ganz stark nach DDR. Benutzen sie hier etwa immer noch das gleiche Desinfektionsmittel wie früher in Zügen, Toiletten, Kaufhäusern und Schulen? Zusammen mit der Braunkohleheizung ergab sich aus dieser Mischung der Duft des deutschen Sozialismus. Also lebt in einem der bleichsüchtigen Häuser jemand heiz- und putztechnisch auf ganz altem Niveau. Ob aus nostalgischen oder der Not geborenen Gründen, muss ich nicht wissen.

Ich setze mich im Zentrum in ein Gasthaus, um die Kondition mit einem Bauernfrühstück zu stärken. „Haben Sie Internet?“, frage ich.

„Nee, so was haben wir nicht“, antwortet die Bedienung in so beleidigtem Tonfall, als hätte ich nach einem Pornoheft gefragt.

Vom Nebentisch wehen Fetzen der Unterhaltung einer Frauenrunde herüber: „Für die Kinder vorkochen“ ... „Ich werde nicht warm mit dem“ (Freund der Tochter). Befremdete Blicke kriechen herüber. Das kann verschiedene Gründe haben: Ein unbekanntes Gesicht? Seltsam, diese einzelne grauhaarige Radlerin – wo ist der Mann dazu oder wenigstens eine Freundin? So ganz allein unterwegs, hat die keine Angst? Ungezählte Male ist mir diese Frage auf Touren schon gestellt worden. Aber nicht in Burg Stargard, da spricht man komische Frauen nicht einfach an. Da guckt man nur.

Noch viel komischer wird es am Abend, als ich mich dafür entscheide, zwischen Acker und Zaun neben einem Gasthaus bei Woldegk zu zelten. Dabei hätten sie dort Zimmer! Andrerseits, ich will noch lange unterwegs sein, da spare ich das Geld für Übernachtungen drinnen, wenn möglich.

Gegen fünf Uhr morgens guckt eine rote Sonne gemeinsam mit einer dunklen Regenfront über den fernen Waldrand. Ein Reh wundert sich über das Zelt. Die Schneeflocken-Kette, das Geschenk meines Sohnes und seiner Freundin, liegt neben einer Ackerfurche im langen Gras. Sie muss beim Kämmen abgerissen sein, lässt sich aber im hellen Licht reparieren. Wie kommt es, dass ich sie überhaupt entdeckt habe?! Ist dieser Glücksfund ein Wink der Elfen, dass ich bis zum Nordkap radeln werde?

In Woldegk selbst erinnert mich ganz viel an einen Morgen früher in der DDR. Blass weißer Dunst liegt noch über Plattenbauten und Grünflächen, da ist die Betriebsamkeit von Menschen auf dem Weg zu Arbeit und Schule längst in Gang. Niemand hetzt, schreit oder hupt – warum auch, das Alltagseinerlei bewegt sich überschaubar und im gewohnten Getriebe, wie gestern, morgen und übermorgen. Als ob das Leben vor sich hin plätschere, „wie zu DDR-Zeiten“, so sagt eine Frau im Bäckerei-Café.

Buchenwald am Tollensesee

Ein alter Mann steht vor seinem Haus, und ich frage ihn nach dem Weg über die Dörfer. Für die Antwort stiefelt er von seinem Grundstück auf die Straße. Kerzengerade steht er da, zählt jeden winzigen Ort, jede Abbiegung minutiös auf und ist gar nicht zu stoppen, voller Freude, die Route so detailliert im Kopf zu haben. Nur die Nummer der Bundesstraße hat er vergessen. Aber gerade da will ich ja gar nicht hin.

Jetzt, Anfang Mai blühen die Rapsfelder eindeutig und, so weit im Osten Norddeutschlands, tauchen Störche auf. Nach ihrem langen Flug aus dem Süden nehmen die Vögel Quartier in den alten Dörfern mit ehemaligen Gutshäusern und Arbeiterunterkünften. Diese Wohn- und Produktionsstätten unzähliger Generationen haben Grundherrschaft wie sozialistische Bewirtschaftung als Kolchosen überdauert.

Im uckermärkischen Lübbenow lugen noch wunderbar hässliche DDR-Laternen wie hungernde Giraffen über eine Backsteinmauer. Seit Jahrhunderten wird Landwirtschaft betrieben. Der üppige Geruch nach Mist, Tieren, Holz und Treckerdiesel haftet an allem, den putzt niemand weg. Alte Frauen in schwarzen Kleidern sitzen, das Bäckerauto erwartend, vor einem Wohnblock. Frühere Werktätige auf der Kolchose, stelle ich mir vor. Genauso gut könnten es jedoch Geflüchtete sein. Der alte Herrensitz ist sorgfältig gestrichen.

Polen: Pommern – Drittes Gebot: Du sollst den Feiertag heiligen

Warum man sich gerade an der Grenze zwischen Deutschland und Polen die Haare schneiden lassen sollte, will mir nicht in den Kopf. Auf polnischer Seite reiht sich ein Friseur an den anderen. Vielleicht steigen Trucker in dieser ansonsten trostlosen Gegend zwecks einer Verschönerung ab – sowie deutsche Kunden, für die der Besuch hier weniger kostet als zu Hause? Oder geben die von Straßendreck grauen Fassaden bloß vor, Friseurgeschäfte zu beherbergen? Es wird für mich ein Geheimnis bleiben, zum Anhalten laden die verrammelten Buden wahrlich nicht ein, außerdem regnet es.

Nach der Warnung des Platzwartes im deutschen Löcknitz bin ich auf das Schlimmste gefasst, als ich neben dem Autoverkehr ins Zentrum der 410.000-Einwohner-Stadt Szczecin (Stettin) vorstoße. Ja, „neben“! Streckenweise nutze ich, unbehelligt vom motorisierten Trubel, Radwege!

Mitten in Stettin sitze ich kurz später in einem McDonalds. Strömender Regen macht die Stadt hässlich, trotzdem schaue ich glücklich durch die schlierigen Fenster – mein zweites Land!! Unwesentlich, dass ich erst acht Tage mit 400 Kilometern Strecke unterwegs bin. Egal, dass noch knapp 3000 Kilometer vor mir liegen. Ein (für mich selbst) vorzeigbares Stück ist geschafft. Alles ist heil, ich fühle mich fit für die Weiterreise – und sollte dem einmal nicht mehr so sein: Niemand verdammt mich zum Radeln, ich kann jederzeit abbrechen.

Das Hineinfahren ins Zentrum der westpommerschen Großstadt hat also erstaunlich gut funktioniert – aber wie komme ich wieder sicher hinaus? Leider behält der junge Campingwart diesmal Recht. Hätte ich bloß den Bahnhof angepeilt und einen Zug genommen!

Zuerst Straßen begleitende Radwege, dann Auffahrten beziehungsweise Abfahrten für Autos, ein Trampelpfad zum nächsten Radweg, ein Hang zum Schieben, Erdklumpen. Wo bitte geht es mit dem Velo nach Stargard Szczecin´ski?

Als Ergebnis allen Suchens und Fragens werde ich von Leuten an einer Bushaltestelle auf eine Schnellstraße geschickt. Es dürfte ihnen gleichgültig sein, was aus mir wird.

Für Empörung ist es jedoch zu spät.

Wupps, gehöre ich zur „Autobahn“-Klientel, es gibt kein Zurück mehr. 15 Kilometer, so lauten die Zahlen auf dem Riesenschild über mir, nach Stargard, der östlichen Namensschwester des mecklenburgischen Städtchens mit dem spießigen DDR-Mief. Ach, wäre ich nur dort! Ein Platzregen geht nieder. Nun auch noch Aquaplaning! Autos und Laster zischen vorbei. Sprühen Dreckgischt auf mich. Hupen durch die Wasserwand. Miese Sicht für alle. Auf mich sowieso. Meine kleine Fahrradfunzel ist hier ein schlechter Witz.

Am ehesten überlebe ich auf dem schmalen Seitenstreifen. Die Fahrradreifen halten Bodenkontakt. Nochmal Gas geben, ich will diese Gefahrenzone verlassen!

Mit dem Leben davonzukommen, wird das Wichtigste überhaupt. Es muss doch verboten sein, hier Rad zu fahren. Ein Polizeiauto rast vorbei. Stopp! Nehmt mich bitte mit, sperrt mich ein, im Gefängnis ist es allemal sicherer und trockener als in der polnischen Feierabendraserei.

Die nächste Abfahrt ist meine, auch wenn es nach Stargard noch ein Stück weiter geht – ich halte es keine Sekunde mehr aus! Und siehe da, parallel zur Landstraße führt ein Radweg. In der Ferne stechen die Türme der Stadt in den nassen Himmel.

„Stets gute Fahrt“, hat meine Tochter auf der nächsten leeren Seite des Reisetagebuches mittels eines Blümchen-Klebezettels einschließlich Herz und Smiley vermerkt. Nun ja, immerhin bin ich am Leben.

Hotelier in Stargard Szczeciński

Zukünftig werde ich in großen Städten für das Hinein- und Herausfahren ausschließlich Bus, Bahn oder Schiff benutzen, das ist mehr als klar. Das ist ein Schwur.

Ein Hotel muss her. Typisch für meine Radreisen, auf denen ich es liebe, unabhängig zu sein und dennoch zugleich abhängig von den Umständen bin: Unverhofft folgt auf Pech Glück und umgekehrt.

Obwohl erkältet, kümmert sich der Hotelier im „Spichlerz“ (Speicher) fürsorglich um mich. Durch seine vielen Kontakte zu Deutschen spricht er die Sprache prima, nur wegen des Schnupfens etwas rau. Nachdem er die Heizung hochgedreht und ich alle nassen Sachen im Zimmer zum Trocknen verteilt habe, baut er mich mit einer Tasse Kaffee und deutscher Dudelmusik aus riesigen Lautsprechern wieder auf.