Trüffelgold - Julie Dubois - E-Book
SONDERANGEBOT

Trüffelgold E-Book

Julie Dubois

0,0
12,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Julie Dubois entführt mit ihrem ersten Roman um die deutsch-französische Kommissarin Marie Mercier in das zauberhafte Périgord, Frankreichs Feinschmeckerparadies.
Im malerischen Saint-André-du-Périgord hat Marie Mercier einst unbeschwerte Sommerferien auf dem Bauernhof ihrer Großeltern verbracht. Nun hat die Pariser Kommissarin den Hof geerbt und plant eine Auszeit. Dass nebenan ihre lebensfrohe Großtante Léonie wohnt, eine begnadete Köchin, wärmt ihr Herz. Doch kurz nach Maries Ankunft trübt der mysteriöse Tod eines Bikers aus Bordeaux die Idylle. Das Opfer hatte eine Liaison mit der begehrten Dorfschönheit Hélène, und der zuständige Kommissar Michel Leblanc vermutet Mord aus Eifersucht. Marie hat allerdings einen anderen Verdacht - und ein Problem: Es ist der Fall von Leblanc, der das genauso sieht. Als eine überraschende Entdeckung ein neues Licht auf die Tat wirft, hat das ungeahnte Folgen ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 445

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Inhalt

CoverÜber das BuchÜber die AutorinTitelImpressumMottoSonntagKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5MontagKapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9DienstagKapitel 10Kapitel 11MittwochKapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16DonnerstagKapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22FreitagKapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27SamstagKapitel 28

Über das Buch

Julie Dubois entführt mit ihrem ersten Roman um die deutsch-französische Kommissarin Marie Mercier in das zauberhafte Périgord, Frankreichs Feinschmeckerparadies. Im malerischen Saint-André-du-Périgord hat Marie Mercier einst unbeschwerte Sommerferien auf dem Bauernhof ihrer Großeltern verbracht. Nun hat die Pariser Kommissarin den Hof geerbt und plant eine Auszeit. Dass nebenan ihre lebensfrohe Großtante Léonie wohnt, eine begnadete Köchin, wärmt ihr Herz. Doch kurz nach Maries Ankunft trübt der mysteriöse Tod eines Bikers aus Bordeaux die Idylle. Das Opfer hatte eine Liaison mit der begehrten Dorfschönheit Hélène, und der zuständige Kommissar Michel Leblanc vermutet Mord aus Eifersucht. Marie hat allerdings einen anderen Verdacht – und ein Problem: Es ist der Fall von Leblanc, der das genauso sieht. Als eine überraschende Entdeckung ein neues Licht auf die Tat wirft, hat das ungeahnte Folgen …

Über die Autorin

Julie Dubois ist eine deutsche Autorin mit französischen Wurzeln, die viele Jahre in Berlin zuhause war. Heute lebt sie zwischen Deutschland und dem Périgord, das sie zu dem stimmungsvollen Romansetting Saint André inspiriert hat. TRÜFFELGOLD ist der Auftakt einer Krimiserie um die deutsch-französische Kommissarin Marie Mercier.

Julie Dubois

TRÜFFELGOLD

EIN PÉRIGORD-KRIMI

LÜBBE

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen

Originalausgabe

  

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

  

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Einband-/Umschlagmotiv: © www.buerosued.de

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7517-0401-4

www.luebbe.de

www.lesejury.de

 

»La vie, c’est ce qui se passe,quand tout ce que l’on avait prévun’a pas eu lieu.«

  

Das Leben ist das, was passiert,wenn alles, was man geplant hat,nicht stattgefunden hat.

                                Edouard Baer

Sonntag

Kapitel 1

An diesem Septembermorgen strahlte die Sonne von einem wolkenlosen Himmel und tauchte die Welt rund um Saint-André-du-Périgord in warme Farben. Der Frühnebel hatte sich nahezu vollständig aufgelöst – nur noch ein paar Schwaden waren übrig geblieben, die der sanft hügeligen Landschaft etwas Geheimnisvolles verliehen.

Marie Mercier, Kommissarin bei der Pariser Brigade Criminelle, hatte mit ihrem Mischlingshund César die ersten hundert Höhenmeter erklommen, die zum Wald führten. Nun war sie stehen geblieben und schaute hinunter auf das malerisch in die Landschaft eingebettete Dreihundertseelendorf in der südlichen Dordogne. Zwischen den ockerfarbenen Dächern waren die romanische Kirche mit dem großen Pfarrhaus und links davon der Taubenschlag aus dem 14. Jahrhundert zu erkennen. Maries Blick glitt weiter zu den beiden gigantischen Zedern, die sich am Eingang des Dorfes erhoben. Daneben ragte die Schlossruine auf, die sie als Kind immer wieder erkundet hatte. Sie sah die Vézère gemächlich durch das Tal mäandern und konnte bis hier oben das Rauschen der Pappeln hören, die das Flussufer säumten. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl durchströmte sie, während sie die Aussicht in sich aufnahm, und sie schloss die Augen.

Noch immer konnte sie es kaum fassen, dass sie jetzt hier lebte. Sie hatte kurzfristig ein ganzes Jahr Sabbatical beantragt – und tatsächlich bewilligt bekommen. Noch vor einem Monat war sie in Paris gewesen, hatte dort in einer Mordsache festgehangen, die, wie so oft, ihre ganze Zeit und Energie in Anspruch nahm. Gleichzeitig hatte sie immer wieder an ihre Großmutter denken müssen, die im Juni ganz plötzlich gestorben war – eines Morgens war ihre geliebte Mamie einfach nicht mehr aufgewacht.

Marie sah ihr schönes, von unzähligen Fältchen durchzogenes Gesicht vor ihrem geistigen Auge und war dankbar, dass der Tod so gnädig zu ihr gewesen war. Vor gar nicht allzu langer Zeit – irgendwann zu Beginn des Frühlings – hatte sie mit ihr in der Sonne auf der Bank vor dem Bauernhof der Familie gesessen und über Gott und die Welt geredet. Und irgendwann waren sie auch auf den Tod zu sprechen gekommen. Da hatte Mamie ihre Hand genommen und gesagt, dass sie, wenn es so weit wäre, gern im Schlaf in ihrem eigenen Bett in Saint-André sterben würde. Und das war ihr nach einem langen, erfüllten Leben auch vergönnt gewesen.

Marie atmete tief durch und öffnete die Augen wieder. Sie setzte ihren Weg fort, dem fröhlich vorantrottenden César, den sie zusammen mit dem Haus von Mamie geerbt hatte, hinterher. Nach einer Weile schaute sie noch einmal auf das Dorf hinunter und blieb erneut stehen. Ihr Blick fiel auf das prachtvollste Anwesen von Saint-André, das majestätisch in der Morgensonne lag. Die hellockerfarbene Fassade, die mit Rosen bepflanzte Pergola und die Renaissance-Fenster der ersten Etage hatten sie schon als Kind fasziniert. Wie oft hatte sie vor dieser prächtigen Kulisse gespielt? Damals hatte sie sich vorgestellt, dass gleich eine Prinzessin in einem weißen Kleid am Fenster erscheinen würde. Warum habe ich immer gedacht, dass Prinzessinnen weiß gekleidet sein müssen?, fragte sie sich, während sie ihr Sweatshirt auszog und es sich um die Taille band. Die Fenster des gusseisernen Gewächshauses waren geöffnet, und klassische Musik drang zu ihr herauf.

Marie schlang ihre schweren dunklen Locken zu einem lockeren Dutt und ging weiter. Als sie den Waldrand erreicht hatte, blieb sie neben einem Brombeerstrauch stehen. Hier im Halbschatten waren die Beeren vor der großen Hitze der letzten Tage geschützt gewesen und deshalb noch prall und saftig. Sie pflückte ein paar und steckte sie sich in den Mund.

Während sie noch den Geschmack der Beeren auskostete, zog ein Radfahrer in etwa fünfzig Metern Entfernung ihre Aufmerksamkeit auf sich. Breitbeinig stand er neben seinem Mountainbike. Wie hässlich diese bunten Radlermonturen doch sind, dachte sie. Im nächsten Augenblick wurde ihr bewusst, dass sie den Mann kannte: Das war doch Hélènes neuester Verehrer! Erst vor ein paar Tagen hatte ihre Jugendfreundin aus Saint-André ihr den höflichen, seriös wirkenden Versicherungsmakler aus Bordeaux vorgestellt und dabei vor Glück gestrahlt. Auch er schien gerade das eindrucksvolle Anwesen zu bewundern und fotografierte es mit seinem Smartphone. Diese Krankheit, alles Schöne immer gleich fotografieren zu müssen!

Marie beobachtete den großgewachsenen, schlanken Mann, der sich ihr gegenüber ziemlich distanziert verhalten hatte, und fragte sich, was Hélène wohl an diesem bieder wirkenden Typen fand. Aber Hélène und sie hatten, was Männer betraf, seit jeher einen unterschiedlichen Geschmack. Marie stand eher auf Ecken und Kanten – aber okay, das war jetzt nicht das Thema. Wie hieß der Typ noch mal? Franck? Ja … Franck Girard.

Langsam ging sie auf ihn zu. Als er sie bemerkte, steckte er sein Handy weg und lächelte breit.

»Salut, ein schöner Tag, was?«

»Salut. Ja, wunderbar.«

»Sie sind Marie, oder?«

»Ja, und Sie sind Franck. Wollten Sie heute nicht zurück nach Bordeaux?«

»Doch, doch. Ich drehe nur noch eine Runde bei diesem herrlichen Wetter, und dann geht’s los.«

Marie verabschiedete sich freundlich von dem Mann und bog in einen kleinen, verschlungenen Waldpfad ein. Sie hatte keine Lust auf Small Talk, außerdem wollte sie Steinpilze sammeln. Ihre Großtante Léonie, Mamies ebenfalls in Saint-André lebende jüngere Schwester, hatte ihr eine besondere Fundstelle empfohlen. Dorthin wollte sie, bevor andere sie entdeckten und plünderten. Beim Pilzesammeln waren Maries Großmutter und Léonie früher ein unschlagbares Team gewesen. Was die eine nicht sah, fiel der anderen auf, und bei aller Gastfreundlichkeit, durch die sich die Bewohner des Périgord auszeichneten, hätten die beiden für nichts auf der Welt eine gute Stelle für Pilze verraten.

Inzwischen war Léonie stolze achtzig Jahre alt. Sie war zwar noch rüstig und aktiv, aber in den Wald wagte sie sich nicht mehr und hatte daher Marie zur Pilzsammlerin der Merciers ernannt. Das war eine Ehre, und Marie wusste, dass sie ihrer pseudostrengen Großtante nur beste Exemplare bringen durfte. Später würde Léonie diese mit ihren stechend blauen Augen inspizieren. Sie besaß die einzigen blauen Augen in der Familie – die der anderen Merciers waren haselnussbraun.

Marie hoffte, auch die kleinen, festen, schwarzköpfigen Steinpilze zu finden, die so zart waren, dass man sie in hauchdünnen Scheiben mit ein bisschen Fleur de Sel roh essen konnte. Voller Vorfreude beschleunigte sie ihre Schritte. So, dachte sie nach einer kleinen Weile, jetzt an der großen Eiche vorbei und dann links.

»Na, wer sagt’s denn!«, rief sie strahlend und bückte sich, um mit ihrem Opinel-Messer den ersten Steinpilz sauber abzuschneiden. Das traditionelle Klappmesser mit dem abgenutzten Holzgriff hatte Mamie gehört. Ihre Großmutter, die ein Leben lang Hosen getragen hatte, trug es immer griffbereit in ihrer rechten Hosentasche bei sich. Den Schriftzug der Traditionsmarke konnte man kaum noch lesen, aber die Klinge war scharf. Von klein auf hatte Marie zugesehen, wenn Mamie das Messer behutsam mit einem feuchten Schleifstein schärfte.

Maries Blick fiel auf eine große Ansammlung von Steinpilzen. Sie hockte sich hin und begann, weitere abzuschneiden. César kam herbeigelaufen und steckte seine dicke Nase genau dahin, wo Marie gerade hantierte.

»Weg da!«

Sie griff nach einem Stöckchen, zeigte es dem Hund und warf es weit weg, um ihn abzulenken. Dann stellte sie ihren großen Korb auf dem weichen, duftenden Moos ab und suchte im glitzernden Halbschatten von Esskastanien nach weiteren Pilzen. Nachdem César das Stöckchen apportiert hatte, lief er schnaufend zwischen den Bäumen hin und her, während Marie zügig ihren Korb mit Steinpilzen füllte. Wieder empfand sie ein tiefes Glücksgefühl: Sie war genau da, wo sie sein wollte. Es war ein perfekter Sonntag!

Plötzlich ertönten zwei Schüsse, kurz hintereinander. Maries Hand schnellte spontan zu der Stelle, wo sie üblicherweise ihre Waffe trug … die sie natürlich nicht mehr hatte. Im nächsten Moment schüttelte sie über sich selbst den Kopf. Das war sicherlich einer der hiesigen Jäger gewesen – einer von ihren ganz besonderen Freunden. An diesem Tag begann die Jagdsaison, und erst am Vortag hatte sie wieder einmal mit ihrem Jugendfreund Philippe über Sinn und Unsinn der Jagd in heutiger Zeit gestritten. Zwecklos.

Aber gingen die Jäger wirklich schon so früh am Morgen ihrem »Hobby« nach, und das auch noch so nah am Dorf? Seltsam. Marie griff nach ihrem Korb. Es schien ihr ratsam, in den Ort zurückzukehren.

»César, komm, bevor dich noch jemand mit einem Wildschwein verwechselt.«

Sie ließ ihre Gedanken schweifen, während sie über den Weg zurückging. Léonie wollte nachher mit ihr eine Tourte aux cèpes backen, eine gedeckte Steinpilztarte. Eigentlich war dies ein Festmahl für Feiertage, und sie wurde zu solchen Gelegenheiten mit Entenstopfleber gefüllt. Aber heute würden sie sich mit einer bescheidenen Variante begnügen und die Foie gras durch Entenconfit ersetzen.

Seit Marie Paris verlassen und Mamies Haus bezogen hatte, wohnte sie Tür an Tür mit Léonie, und die beiden hatten sich in der ersten Zeit der Trauer gegenseitig getröstet. Nun hatte Léonie sich vorgenommen, ihrer Großnichte die Küche des Périgord nahezubringen. Für Marie war die gemeinsame Zeit mit Léonie ein großes Glück, und es rührte sie zu sehen, wie sehr die energische alte Dame sich über ihre Anwesenheit freute, auch wenn sie dies hin und wieder durch eine gewisse Ruppigkeit kaschierte.

Maries Handy vibrierte, und sie holte es hervor. Eine SMS.

Na, du treulose Tomate?! Ich hoffe, du langweilst dich zu Tode in deinem Kaff!, hatte Pauline geschrieben, Maries Kollegin aus Paris, die mit den Jahren zu ihrer besten Freundin geworden war. Beigefügt war ein Bilderbuchfoto von den Seine-Ufern.

Du kleines Biest, na warte!

Marie machte ein Foto von ihrem mit Steinpilzen gefüllten Korb und schickte es als Antwort. Obgleich sie unwillkürlich schmunzeln musste, hatte ihr Paulines Nachricht einen kleinen Stich versetzt. Sie liebte ihren Beruf, und es war ihr nicht leichtgefallen, eine lange Auszeit zu nehmen und sich von Pauline und ihren übrigen Kollegen zu verabschieden. Die beiden Freundinnen hatten die letzten sechs Jahre eng zusammengearbeitet und waren seelenverwandt. Das hatten sie bald erkannt, denn sie mussten sich nie lange etwas erklären. Sie waren beide toughe Ermittlerinnen, die sich intensiv in jeden Fall hineinknieten. Pauline, die ein paar Jahre jünger war als Marie mit ihren vierunddreißig Jahren, neigte zwar dazu, sich stärker an die Vorschriften zu halten als Marie, aber beide hatten einen ähnlichen Humor, der ihnen im harten Pariser Berufsalltag oft geholfen hatte. Und sie hatten sich mehr als einmal gegenseitig aus brenzligen Situationen gerettet.

Nur Sekunden später folgte die nächste SMS von Pauline.

Sind die echt?

Nee, aus Plastik, die schmecken am besten.

Du fehlst uns gar nicht, du blöde Kuh!

Pauline gehörte zu den Menschen, die Gefühlsregungen immer hinter Grobheiten verstecken mussten – als würden Gefühle dadurch weniger peinlich.

Die beiden Kolleginnen tauschten noch ein paar Emojis aus, dann steckte Marie das Handy wieder in ihre Jeanstasche. Am Abend würden sie bestimmt noch ausführlich telefonieren.

Kurze Zeit später gelangte Marie an einen breiteren Bach, und sie musste Anlauf nehmen, um darüberzuspringen. César folgte ihr mit einem weiten Satz. Ihr kam ein Spruch in den Sinn: Reculer pour mieux sauter – um besser springen zu können, muss man einen Schritt zurücktreten. Das passte doch zu ihrer derzeitigen Lebenslage! Dass sie weiter bei der Kripo arbeiten würde, stand außer Frage – aber unter welchen Bedingungen? Und musste es wirklich in Paris sein? Sie hatte den Großteil ihres Lebens dort verbracht, und für sie würde Paris immer die schönste Stadt der Welt sein. Gleichwohl war ihr bewusst, dass die wachsende Not vieler Menschen, die in der Metropole lebten, zu immer abstruseren Verbrechen und mehr Gewalttaten führte.

Mit dem Tod ihrer Großmutter hatte sie einen wesentlichen Halt im Leben verloren und wahrscheinlich deshalb endlich den Mut gefunden, auf die Pause-Taste zu drücken. Das sah ihr gar nicht ähnlich, und ihr Umfeld hatte es zunächst nicht glauben können. Pauline war entsetzt und Léonie sogar kurz sprachlos gewesen. Nun ja, inzwischen hatten sie es akzeptiert. Maries Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück. Jetzt stand erst einmal die Renovierung von Mamies Haus an – und dann würde sie eingehend darüber nachdenken, welcher Weg der richtige für sie sein könnte.

Kapitel 2

Die meisten Touristen waren am Ende der Woche aus Saint-André-du-Périgord abgereist. In den pittoresken Gässchen und um die Hauptstraße herum war es nun still und friedlich, und Marie hatte das Gefühl, das Dorf ruhe in sich. Irgendwo krähte ein Hahn, eine Katze saß lauernd auf einer Steinmauer, und ein paar Jugendliche hatten sich um das Denkmal im Ortszentrum versammelt. Am nächsten Morgen stand die Rentrée bevor, was für Kinder bedeutete, dass die Schule wieder anfing. In den kommenden zwei Monaten würde in Frankreich traditionsgemäß alles unter diesem Begriff starten: Rentrée scolaire, politique, économique, littéraire … Neuanfang in Schule, Politik, Wirtschaft, Literatur … Man gewann den Eindruck, als würde sich die Gesellschaft jeden September neu erfinden.

Maries Vater war Deutscher und sie selbst in Frankreich und Deutschland aufgewachsen. Es war ihr stets schwergefallen, diese sehr französische Tradition ihren deutschen Freunden und Verwandten zu erklären. Überhaupt erstaunten Marie immer wieder die feinen Unterschiede zwischen ihren beiden Heimatländern, die so nahe beieinanderlagen, und mitunter amüsierte sie sich auch darüber. Es waren nicht nur kulinarische Details, sondern oft auch der Blick auf Dinge und sprachliche Eigenarten, und all das bot ausreichend Inspiration für ein lustiges Sprachquiz mit ihren Cousins aus Deutschland: Was heißt wohl poser un lapin – ein Kaninchen stellen? Jemanden versetzen. Und être fleur bleue – eine blaue Blume sein? Sentimental sein. Das ließ sich mit großem Vergnügen in beide Richtungen spielen: Franzosen konnten sich unter einem Bratkartoffelverhältnis – une relation de pommes de terre sautées – nämlich auch herzlich wenig vorstellen.

Während Marie lächelnd ihren Gedanken nachhing, kam ihr ein übrig gebliebenes Touristenpaar entgegen, das soeben das Lebensmittelgeschäft an der Hauptstraße verlassen hatte. Die beiden hatten sich in dem Tante-Emma-Laden mit Croissants eingedeckt. Als sie Maries Korb bemerkten, machten sie große Augen. Und wie es der Zufall wollte, unterhielten sie sich auf Deutsch.

»Ach, guck mal, was für schöne Steinpilze!«, rief der Mann.

Auch die Frau war begeistert von Maries Sammelerfolg. »Oh, die sehen aber lecker aus! Meinst du, sie hat die hier gefunden? Dann ist sie auch von hier und kennt sich bestimmt gut aus in der Gegend.«

Marie tat, als würde sie die beiden nicht verstehen, lächelte freundlich und spürte einen kindlichen Stolz, als Einheimische wahrgenommen zu werden.

Nachdem sie das Rathaus hinter sich gelassen hatte, das zugleich auch die örtliche Grundschule beherbergte, bog sie links in eine kleine Straße ab. Sogleich hörte sie die resolute Stimme Léonies, die mit ihrer Nachbarin Rose einen Schwatz hielt. Die beiden alten Damen waren in ihren Gärten und lehnten jeweils an ihrer Seite der Mauer, die ihre Grundstücke voneinander trennte. Die zwei erinnerten ein bisschen an Pat und Patachon: Léonie war klein und drahtig, Rose hingegen groß und kräftig. Auch durch ihr Outfit unterschieden sie sich erheblich, denn Rose trug stets rosafarbene Kleidung, um ihrem Vornamen gerecht zu werden. Die beiden waren schon ein Leben lang Nachbarinnen und standen seit jeher in Konkurrenz, was die Pracht ihrer Bilderbuchgärten anging. Wer hatte die schönsten Blumen, die besten Tomaten, die meisten Beeren …? Natürlich kam diese Rivalität niemals zur Sprache. Die beiden gaben sich des Öfteren sogar Tipps oder schenkten sich Setzlinge. Einzig Roses – natürlich rosafarbene – Klematis gigantischen Ausmaßes galt auch in Léonies Augen als unübertroffen.

»Bonjour, Mesdames!«, grüßte Marie, als sie auf die beiden zutrat.

»Ach, du bist schon zurück?«, fragte Léonie verwundert.

»Ja, die blöden Jäger waren überpünktlich und haben rumgeballert.« Marie hob ihren Korb ein wenig nach oben. »Aber schaut mal.«

»Lass die Jäger in Ruhe!«, sagte Léonie in strengem Tonfall. »Auf dem Land wird gejagt, so ist das nun mal.«

Marie schaute zum Himmel, wohl wissend, dass eine Diskussion zu diesem Thema in Saint-André sinnlos war.

Rose streckte den Kopf vor, um über die Mauer hinweg einen Blick in den Korb zu werfen, und nickte dann anerkennend. Marie überreichte ihn Léonie. Diese prüfte die Ausbeute sogleich kritisch. Aber da gab es nichts zu beanstanden.

»Bien, ma chérie. Dann mal an die Arbeit.«

»Ich hole nur noch schnell mein Heft, dann bin ich bei dir«, antwortete Marie.

»Bis dann, Rose!«, rief Léonie – was so viel hieß wie: »Bis gleich zum Kaffee.«

Marie eilte zu Mamies Haus, ihrem neuen Heim. Das zweistöckige Sandsteinhaus mit dem kleinen Balkon auf der ersten Etage war das älteste Gebäude des Familienhofs, und es sah noch so aus wie in Maries Kindheit. Die weiße Kletterrose, die den Eingang mit der Glaspergola umrahmte, blühte vom Frühjahr bis zum ersten Frost. Die Sprossenfenster und die blauen Fensterläden brauchten dringend einen neuen Anstrich, und manche Renovierungsarbeit stand an.

Marie trat ein. Drinnen duftete es angenehm nach dem Bienenwachs, mit dem das Parkett schon immer gepflegt worden war. Abermals dachte sie, dass sie sich kein besseres Refugium hätte vorstellen können. Soweit möglich, hatte sie allzu Rustikales entsorgt und überflüssige Möbel, Deko und alles Selbstgehäkelte ausrangiert. Behalten hatte sie nur ausgesuchte Familienstücke, die zur Grundausstattung gehörten: einen großen Tisch, Stühle, Betten, den Lieblingssessel ihrer Großmutter, Schränke, die Küchenlampe aus den Dreißigerjahren. Und natürlich die Kisten mit alten Fotos, die die Geschichte der Merciers wie auch die von Saint-André erzählten. Maries eigene Möbel waren in ihrer Pariser Zweizimmerwohnung geblieben, die sie untervermietet hatte, bis sie wissen würde, wie ihr Leben sich weiterentwickelte.

In der Zwischenzeit wollte sie Mamies Haus weiter verschönern. Am nächsten Morgen hatte sie bereits einen ersten Termin mit einem Handwerker. Sie plante, die Wand zwischen Küche und Esszimmer einreißen zu lassen, um die winzige Küche zu erweitern. Ihre Großmutter hatte nie gekocht, das war immer die Aufgabe ihrer acht Jahre jüngeren Schwester Léonie gewesen – ein Arrangement, das beide zufriedengestellt hatte. Aber Mamie war ja auch mit der Bewirtschaftung des Hofs hinlänglich ausgelastet gewesen.

Aus einer alten Kommode im Wohnzimmer holte Marie das große Heft, in dem sie Léonies Rezepte notierte, und ging hinüber ins Nachbarhaus, das auf dem gleichen Grundstück lag. Offiziell waren es zwei getrennte Grundstücke, da Mamies und Léonies Mutter vor langer Zeit ihr Anwesen mitsamt den Hofgebäuden in zwei Hälften aufgeteilt und ihren Töchtern jeweils eine der beiden vererbt hatte, was notariell beglaubigt worden war. Auf diese Weise hatte sie verhindern wollen, dass es zwischen den beiden Schwestern wegen Erbschaftsfragen zu Streit kam – ein familiäres Unheil, das viele im Dorf ereilte.

*

»Der Blätterteig ist fast fertig, ich muss ihn nur noch zweimal ausrollen«, sagte Léonie. »Du kannst in der Zwischenzeit die Steinpilze putzen. Aber …«

»Ich weiß, ich weiß.« Marie hielt einen Pinsel hoch. »Bloß kein Wasser!«

Léonie schaute leicht pikiert, doch Marie wusste, wie sehr es ihre Großtante freute, dass sie ihre Ratschläge im Kopf behielt. Das Rezept für Léonies Blätterteig hatte Marie sich schon letzte Woche notiert und gut gemerkt. Zumal die Umsetzung eine Kunst für sich war, die unter anderem die Fähigkeit erforderte, in einer Art Origami-Faltung ein Pfund Butter wie von Zauberhand im Teig verschwinden zu lassen.

Während sie die Steinpilze mit dem speziell dafür vorgesehenen Pinsel putzte, schweiften Maries Gedanken ab. Wie es wohl Olivier in Quebec ging? Ihr langjähriger Lebensgefährte hatte in Kanada eine Stelle in der wissenschaftlichen Forschung angenommen. So würden sie nicht mehr ständig umsonst aufeinander warten, hatte er ihr mit einem müden Lächeln erklärt. Gestritten hatten sie nicht, denn sie wussten beide, dass sie am Ende ihrer Beziehung angelangt waren. Sie hatten sich ihren Jobs so sehr verschrieben, dass sie kaum noch Zeit füreinander gefunden hatten. Die nächsten Wochen wollten sie nutzen, um sich neu zu sortieren, und hatten daher beschlossen, vorerst weder miteinander zu telefonieren noch sich zu schreiben. Marie stand dazu, auch wenn sie zugeben musste, dass sie die vertraute Gegenwart ihres zerstreuten Biologie-Professors in manchen Momenten vermisste. Vermutlich ging es ihm ähnlich, auch wenn er in der nächsten Zeit bestimmt rund um die Uhr mit seinem neuen Forschungsprojekt beschäftigt sein würde, das für seine berufliche Karriere einen großen Schritt nach vorn bedeutete.

»Marie. Hörst du? Marie? Maaaariiiiie?«

»Äh, ja?«

»Wie lange willst du die Pilze noch putzen?« Léonie nahm ihr die Schüssel energisch weg und ging zum Herd. »Kümmere dich um Knoblauch und Petersilie. So verträumt kenne ich dich gar nicht!«

»Ich hab gerade an die Umbauarbeiten für die Küche gedacht.« Das war vielleicht nicht die beste Notlüge, aber Marie hatte keine Lust, mit Léonie über Olivier zu sprechen. Sie wollte sie nicht unnötig beunruhigen. »Glaubst du, Lambert ist ein guter Handwerker?« Marie kannte Lambert auch schon seit ihrer Kindheit. Er war Maurer und hatte Anfang des Jahres das Unternehmen seines Vaters übernommen.

»Der ist vor allem ein guter Charmeur. Pass auf, dass er dir nicht den Kopf verdreht.«

»Keine Sorge, er ist nicht mein Typ. Außerdem schwärmt er für Hélène.«

»Das arme Ding bringt alle Männer um den Verstand. Das nimmt noch mal ein böses Ende.«

»Die Geschichte mit diesem Franck aus Bordeaux scheint aber eine ernste Sache zu sein.«

»Tsss … Das werden wir noch sehen!«

Léonie trocknete sich die Hände an ihrer geblümten Schürze ab, eine Geste, die Marie schon immer fasziniert hatte. Die alte Dame mit den dauergewellten weißen Haaren hatte ein Leben lang hart gearbeitet, und ihre sehnigen Hände mussten immer etwas zu tun haben. Marie wunderte sich wieder einmal, dass es im 21. Jahrhundert noch solche Schürzen zu kaufen gab. Wahrscheinlich gab es viele Tante Léonies – ein Gedanke, den sie irgendwie tröstlich fand.

»Wie fein soll ich die Petersilie hacken?«

»Nicht allzu fein.«

Eine typische Antwort von Léonie, die immer davon ausging, dass andere genau wüssten, was sie meinte. Im Job ließ Marie ihren Kollegen nie eine ungenaue oder unverbindliche Aussage durchgehen, dafür war sie in ihrer Abteilung bekannt, aber hier amüsierte es sie. Sie schnitt »nicht allzu fein« und zeigte Léonie das Ergebnis.

»Also, so grob auch wieder nicht«, kritisierte ihre Großtante.

Alles andere hätte Marie auch gewundert.

*

Léonie legte die Petersilie auf ein Brett und hackte sie kopfschüttelnd ganz fein. Ein bisschen Theater musste sein. Dann mischte sie sie zu der Steinpilz-Entenconfit-Mischung und füllte die Masse in eine tiefe, mit Blätterteig ausgelegte Form.

Von wegen an Umbauarbeiten gedacht! Léonie konnte in Maries Gesicht lesen wie in einem Buch. Ihre Großnichte hatte sich ganz schön was vorgenommen, indem sie ihr Leben so umkrempelte. An Mut fehlte es ihr ja nicht. Bis jetzt hatte sie nur für ihren Beruf gelebt. Kein Wunder, dass ihre Beziehung in die Brüche gegangen war. Auch da war sie ihrer Großmutter sehr ähnlich. Mal sehen, ob sie nach dem Winter immer noch bleiben will, dachte Léonie. Im Winter war es in Saint-André schon sehr ruhig, hier sagten sich Fuchs und Hase gute Nacht. Das würde für die quirlige Großstädterin eine echte Herausforderung werden. Hoffentlich würde Marie dann nicht nach Paris zurückwollen! Sie brachte so viel Leben ins Haus. Vielleicht könnte sie in der Gegend einen netten, handfesten Mann kennenlernen – und nicht wieder so einen verschrobenen Wissenschaftler. Es musste ja nicht gleich einer sein, mit dem sie zusammenziehen würde.

Kapitel 3

Das Café de la Place war seit drei Generationen das Herzstück des Dorfes. Hier konnte man Zigaretten kaufen, sich gemütlich hinsetzen und einen Kaffee, ein anderes Getränk oder auch die traditionelle Küche der Region genießen. In Maries Kindheit war das Café obendrein noch ein Hotel gewesen, doch die Zimmer im ersten Stock entsprachen längst nicht mehr den gesetzlichen Vorgaben und waren nun verwaist.

Hélène arbeitete hier seit ein paar Jahren als Kellnerin, aus einem Sommerjob war eine Festanstellung geworden. Wegen ihrer natürlichen Ausstrahlung und ihrer Zuverlässigkeit war Hélène bei den Besitzern wie auch bei den Stammkunden hochgeschätzt. Letztere nannten sie La belle Hélène. Zu Recht, hatte sie doch mit Anfang zwanzig als Miss Périgord kandidiert und immerhin den zweiten Platz belegt.

Auf der Suche nach ihr stieg Marie die wenigen Stufen hinauf, die zu der quadratischen Terrasse des Cafés führten, wo Vintage-Bistro-Möbel in beige-grünen Tönen unter zwei niedrig geschnittenen Linden standen. Am Abend erleuchtete eine bunte Lichterkette die Terrasse. Es war ein unprätentiöser Ort, der mit seinem authentischen Charme zum Verweilen einlud. Aber dort war Hélène nicht zu sehen.

Vielleicht ist sie ja nach Hause gegangen, überlegte Marie. Die Geschichte mit dem Radler, wie man ihn im Dorf nannte, schien wirklich ernst gewesen zu sein. Letzte Woche noch hatte Hélène Marie besucht und ihr strahlend erzählt, dass sie den richtigen Mann gefunden habe. Endlich. Auch an ein gemeinsames Haus hatten sie schon gedacht. Marie hatte Hélène selten so glücklich und entspannt gesehen. Sie musste jetzt am Boden zerstört sein.

Die Stimmen um sie herum wurden immer lauter und rissen Marie aus ihren Gedanken. Es waren die Jäger, die leidenschaftlich über den Vorfall diskutierten.

»Der lag auf dem Rücken, sage ich dir!«, rief jemand.

»Ich hab aber gehört, dass er auf dem Bauch lag«, widersprach ein anderer.

»Egal, tot ist tot.«

»Ich kann es jedenfalls nicht gewesen sein, ich war auf der anderen Seite vom Hügel positioniert.«

»Wer war denn überhaupt am Südhang vorgesehen?«

»Philippe und Lambert.«

Die Männer hatten die Jagd vorzeitig abgebrochen und sich dann sofort hier eingefunden. Der Schreck steckte ihnen noch in den Gliedern. Die Jagd hatte doch gerade erst angefangen – und dann so was!

Marie grüßte den einen oder anderen mit einem schwachen Lächeln. Die Jäger saßen in ihren hässlichen Camouflage-Monturen da. Manche trugen auch noch die im Departement der Dordogne für die Jagd gesetzlich vorgeschriebenen orangefarbenen Westen mit den fluoreszierenden Streifen. Sie tranken ein Bier oder einen Pastis und redeten laut durcheinander. Jeder hatte eine klare Meinung, die lautstark und mit ausladenden Gesten verkündet wurde.

»Was müssen die Leute auch am Wochenende mit dem Fahrrad durch den Wald fahren!«, empörte sich einer.

»Es gab ja einen Gesetzesvorschlag, der das während einer Jagd verbietet«, wusste ein anderer zu berichten. »Hat sich aber nicht durchsetzen können.«

»Jaja, die Jäger sind immer an allem schuld.«

Und wer am lautesten redet, hat recht, dachte Marie.

Plötzlich entdeckte sie den blonden Haarschopf von Hélène, die ein Tablett mit leeren Gläsern trug, und ging auf sie zu.

Bevor Marie sie erreichte, rief einer der Jäger: »Hallo, belle Hélène, bring uns doch auch etwas Wurst und Paté de campagne.«

Die sonst so fröhliche Hélène nickte nur mit versteinerter Miene. Sie trug ein kurzes geblümtes Kleid, das ihre grazile Figur und ihre wohlgeformten, braun gebrannten Beine zur Geltung brachte, und dazu hübsche, farblich passende Sandalen. Gewandt schlängelte sie sich durch die vielen Besucher, um aus der Küche das bestellte Essen zu holen.

Marie war schon immer davon fasziniert gewesen, wie elegant und anmutig zugleich Hélène sich bewegte. Wenn sie ihr dabei zusah, fühlte sie sich oft an die geschmeidigen Bewegungen einer Raubkatze erinnert. Und was hätte sie als Teenager – und, ehrlich gesagt, auch heute noch – für Beine wie die von Hélène gegeben!

Sie folgte ihr in die Küche. Hélène nahm die Gläser von dem Tablett und stellte sie auf die Spüle. Sie schien sie nicht zu bemerken.

Marie trat näher und lächelte sie mitfühlend an. »Das mit Franck tut mir so leid. Warum gehst du nicht nach Hause?«

»Siehst du nicht, was hier los ist?«, erwiderte Hélène gereizt.

»Aber du musst doch nicht die Heldin spielen.«

»Mir ist gerade nicht nach Spielen, wenn du es genau wissen willst.«

»Das meine ich doch nicht.« Marie wollte ihr die Hand auf die Schulter legen, aber sie wandte sich rasch von ihr ab.

Die beiden kannten sich seit ihrer frühen Kindheit. Maries Großmutter und Madame Durand, Hélènes Pflegemutter, hatten sich immer sehr geschätzt und dafür gesorgt, dass die beiden gleichaltrigen Mädchen sich trafen, wenn Marie die Ferien in Saint-André verbrachte. Aber auch wenn Marie und Hélène sich mochten und viel voneinander wussten, waren sie nie richtig enge Freundinnen geworden. Das wurde Marie in diesem Moment einmal mehr bewusst.

Hélène war schon als Kind auffallend hübsch gewesen und nach dem tragischen Tod ihrer Eltern von allen Bewohnern beschützt worden. Hélène hatte bereits in jungen Jahren besonnen gewirkt, während Marie ein garçon manqué war, ein Wildfang: Sie lief ständig mit schmutzigen, zerrissenen Klamotten herum, kletterte gern auf Bäume, erkundete Grotten, rettete aus ihren Nestern gefallene Vögel oder half Georges im Stall.

»Hélène …«

»Reichst du mir mal das Glas mit den Cornichons hinter dir?«

Marie tat wie geheißen, und musterte das Gesicht ihrer Freundin. Offensichtlich hatte Hélène heftig geweint, und ihr Schmerz ging Marie nahe. Dunkle Ränder ließen Hélènes blaue Augen größer wirken. Hals und Dekolleté waren hektisch gerötet, das sonst so gepflegte Haar war achtlos zusammengebunden. Hélènes Hände zitterten, während sie die Teller mit Paté und Cornichons anrichtete.

»Weißt du, was passiert ist?«, fragte Marie vorsichtig.

»Ich weiß, dass er tot ist«, erwiderte ihre Freundin mit gepresster Stimme, während sie begann, Brot in dicke Scheiben zu schneiden.

Marie reichte ihr die kleinen Brotkörbe an, die auf einer Anrichte standen.

»Ich kann mir vorstellen, wie es dir geht.«

»Nein, kannst du nicht!« Hélène verließ die Küche mit dem vollen Tablett, ohne Marie weiter zu beachten.

Marie war ratlos. Vor allem aber ärgerte sie sich über sich selbst, weil sie nicht die richtigen Worte gefunden hatte, um Hélène zu trösten.

Als sie auf die Terrasse zurückkehrte, entdeckte sie dort Bruno Dubosc, den Bürgermeister von Saint-André, der mit herrischer Miene auf die Anwesenden starrte. Vielleicht weiß er, was passiert ist, dachte Marie und ging auf ihn zu. Das grau melierte Haar hatte er wie immer sehr kurz geschnitten, und er trug sein obligatorisches Polohemd mit dem Krokodil. Marie konnte sich nicht erinnern, ihn außerhalb der Jagd jemals in anderer Oberbekleidung gesehen zu haben. Im Zivilleben war er Mathematiklehrer an der Mittelschule der nächsten Gemeinde, aber sein Herz schlug für das Amt als Bürgermeister. Bruno Dubosc liebte Saint-André über alles und wollte das Beste für sein Dorf – und das war mehr, als manchem lieb war. Denn er hatte den Tourismus vorangetrieben, sodass in der Ferienzeit immer mehr Urlauber durch die Dorfgassen strömten, und das gefiel nicht allen Bewohnern. Es war in der Tat ein Balanceakt, die Authentizität des Ortes zu bewahren und ihn zugleich für den Tourismus zu öffnen, der immerhin Arbeitsplätze schuf und Leben ins Dorf brachte.

»Salut, Bruno. Ein schlimmer Tag, was?«

»Ah, salut, Marie. Ja, furchtbar! Und morgen kommt die Kommission für die Vorauswahl des Siegels Un des plus beaux villages de France. Ganz schlechtes Timing.«

Empathie war noch nie Brunos Stärke gewesen. Der Gedanke, dass Saint-André das begehrte Prädikat »Eines der schönsten Dörfer Frankreichs« erhalten könnte, ließ ihn alles zwischenmenschliche Mitgefühl vergessen.

»Weißt du, was passiert ist?«

»Warum wir das Prädikat nicht gleich bekommen haben?«

»Nein! Der Unfall!«, entgegnete Marie ein wenig empört. Der Mann war unmöglich.

»Ach so. Ich habe den Tatort sofort abriegeln lassen und die Menschentraube, die sich da schon versammelt hatte, eigenhändig weggescheucht.«

»Und wo lag die Leiche?«

»Am Südhang, direkt am Wegrand. Ein paar Meter von der Quelle entfernt und …« Er stutzte. »Aber du bist doch nicht im Dienst, oder? Zumal das hier im Zuständigkeitsbereich des Kommissars aus Périgueux liegt, und der ist schon am Tatort.«

Marie biss sich auf die Innenseite der Wange. Eine schlechte Angewohnheit, wenn sie nicht weiterwusste oder verärgert war. »Natürlich nicht. Aber dieser Unfall geht einem doch an die Nieren. Übrigens, ich war heute Morgen im Wald. Hätte mich genauso erwischen können.«

»Jaja …« Er nickte zerstreut.

Jaja, äffte Marie ihn innerlich nach. Dass ein junger Mensch gestorben war, schien ihn kaum zu berühren.

»Monsieur le Maire, der Kommissar ist gerade angekommen«, unterbrach ein Angestellter des Rathauses das unergiebige Gespräch.

Dubosc ließ Marie kommentarlos stehen, und sie sah ihn auf einen großen, schlanken Mann zugehen. Marie schätzte den Kommissar auf Ende vierzig. Ein echter Provinz-Kommissar. Dieser lange Lulatsch mit seinen beigen Klamotten könnte glatt einem Claude-Chabrol-Film entsprungen sein, dachte sie und beobachtete, wie er in aller Ruhe sein Umfeld taxierte.

»Bonjour, Monsieur le Commissaire. Ich bin Bruno Dubosc, der Bürgermeister von Saint-André«, verkündete Dubosc in einem großspurigen Tonfall.

»Michel Leblanc«, erwiderte der Kommissar knapp und deutete auf den rundlichen, jovial wirkenden Mann, der ihn begleitete. »Inspecteur Martin.«

Martin reichte Dubosc die Hand und grüßte freundlich.

»Mein Hund hat die Leiche entdeckt, und ich habe gleich alle nötigen Maßnahmen veranlasst und den Tatort großräumig absperren lassen«, verkündete Dubosc selbstzufrieden.

»Da haben Sie richtig gehandelt«, entgegnete der Kommissar.

»Ja, nicht jeder wäre so geistesgegenwärtig gewesen, aber ich sage ja immer: In Krisen muss man einen kühlen Kopf bewahren.«

Marie musste schmunzeln, als sie in den Augen des Kommissars einen Anflug von Gereiztheit entdeckte. Ja, so ist er – der nervt.

»Wissen Sie, ich lese gern Krimis, da lernt man viel über Ihren Beruf«, fuhr Dubosc fort.

»Verstehe«, antwortete Leblanc. »Wo können wir uns setzen? Ich will gleich mit allen Teilnehmern der Jagd sprechen. Die Kollegen werden die Personalien aufnehmen. Und Sie waren auch bei der Jagd?«, fragte er und blickte auf Duboscs Polohemd.

»Natürlich. Ich habe mich nur rasch umgezogen. Ich bin kein Freund von Laisser-aller.«

Marie beobachtete amüsiert, wie Leblanc ihn leicht spöttisch anschaute und nickte.

»Ja, man sollte sich nicht gehen lassen«, sagte der Kommissar.

Dubosc schluckte. »Also dann, am besten setzen wir uns rein. Da ist es etwas ruhiger.«

Die drei Männer nahmen an einem Fenstertisch Platz. Marie folgte ihnen unauffällig und setzte sich an den Tresen. Sie war gespannt darauf, was der Kommissar zu erzählen hatte. Das stand ihr natürlich nicht zu, aber sie konnte der Versuchung nicht widerstehen, ein wenig zu lauschen, und dachte: Dann wollen wir doch mal sehen, wie die Kollegen hier auf dem Land arbeiten.

Sie schaute zur Besitzerin des Café de la Place, die hinter dem Tresen stand, und sagte: »Bonjour, Danielle, ein Panaché, bitte.«

Die Wirtin war stark geschminkt, wie Marie auch heute nicht entging, und stellte in ihrem eng sitzenden Kleid mit Leopardenmuster ein üppiges Dekolleté zur Schau. Überall im Café hingen Schwarz-Weiß-Fotos von Schauspielerinnen aus den Sechzigerjahren, und im Laufe der Jahre hatte Danielle sich ihren Idolen modisch angepasst.

»Isst du sonntags nicht bei Léonie?«, fragte sie.

»Doch … später.«

Danielle hob verwundert die scharf nachgezeichneten Augenbrauen, während sie ihr das Limonade-Bier-Getränk servierte. Im Dorf wusste jeder, dass Léonie feste Gewohnheiten hatte, und dazu zählten pünktliche Mahlzeiten. Aber im Moment war Danielle offenbar zu sehr mit der Anwesenheit der Polizeibeamten in ihrem Lokal beschäftigt, um weiter nachzufragen.

Marie sah, wie Dubosc irritiert Richtung Tresen schaute. Sie tat so, als würde sie sich auf ihr Getränk konzentrieren, und beobachtete Hélène, die sich anscheinend krampfhaft an den Tabletts festhielt, mit denen sie zwischen Küche und Terrasse hin- und hereilte. Die Ärmste schien kurz vor einem Nervenzusammenbruch zu stehen.

Danielle war ihrem Blick gefolgt. »Das arme Ding! Ich habe ihr gesagt, dass sie nach Hause gehen soll. Aber sie will lieber hierbleiben. Zur Ablenkung.« Und während sie die Gläser aus der Spülmaschine räumte, fügte sie hinzu: »Ist mir, ehrlich gesagt, ganz recht bei all dem Trubel hier.«

»Ja, das glaube ich«, murmelte Marie, die nichts von dem verpassen wollte, was am Tisch des Kommissars gesprochen wurde.

»Kanntest du den Radfahrer?«, fragte Danielle.

»Kaum. Hélène hat ihn mir letzte Woche kurz vorgestellt.«

»C’est terrible! Als hätte sie nicht genug Kummer mit ihrer Pflegemutter, die langsam den Verstand verliert.«

Kapitel 4

Der Bürgermeister war offensichtlich ganz in seinem Element. Es passierte etwas in seinem Dorf, und er war mittendrin im Geschehen. Wahrscheinlich ist der Mann ja ganz in Ordnung, dachte Michel Leblanc, aber ziemlich anstrengend. Während er mit einem halben Ohr den Ausführungen über die zahlreichen Vorzüge von Saint-André lauschte, schweifte sein Blick über die anwesenden Leute: die aufgeregten, lauten Jäger, die aufgebrezelte Restaurantbesitzerin, die blasse blonde Kellnerin und die attraktive junge Frau am Tresen, die nur ein, zwei Schritte von ihm entfernt saß. Er kannte das Lokal. Hier hatte er einmal ein wunderbares Entenbrustfilet mit Pommes de terre sarladaises gegessen. Vielleicht könnte er sich gleich nach der Befragung ein gutes Mittagessen gönnen. Bei dem Gedanken an Entenbrust mit Bratkartoffeln – womöglich sogar noch mit Steinpilzen – hob sich augenblicklich seine Stimmung.

»Was wissen Sie über diesen Franck Girard?«, unterbrach er schließlich den schwadronierenden Bürgermeister.

»Der ist seit ein paar Monaten jedes Wochenende aus Bordeaux hergekommen«, antwortete Dubosc in besserwisserischem Tonfall. »Soweit ich weiß, wollte er die Gegend mit dem Fahrrad erkunden. Saint-André hatte es ihm verständlicherweise besonders angetan – und sie wohl auch.« Sein Kinn ruckte in Richtung der Kellnerin.

Leblanc fand diese Geste despektierlich. Sie passte aber zu dem Mann. Er sah kurz zu der gestressten jungen Frau hinüber und fuhr dann mit der Befragung fort. »Wo hat er gewohnt?«

»Ich glaube, er hatte ein Zimmer bei den Engländern gemietet. Die haben ein B & B am Dorfausgang. Cosy Périgord.«

Leblanc wandte sich Martin zu. »Gehen Sie da mal hin!«

»Jetzt?«

»Ja, jetzt gleich und nicht morgen«, antwortete er grinsend. »Schauen Sie nach einem Laptop, persönlichen Papieren und dergleichen – und suchen Sie nach seinem Handy!«

Der Inspektor stand behäbig auf, lächelte verlegen und trollte sich.

Leblanc schaute ihm nach. Dabei streifte sein Blick abermals die junge Frau, die an der Bar saß und so tat, als würde das Gespräch sie nicht weiter interessieren. Sie trug ein schlichtes weißes T-Shirt, Jeans und Turnschuhe und schien die Wirtin zu kennen, aber irgendwie wirkte sie hier etwas fremd. Bestimmt eine Großstadtpflanze. Vielleicht aus Paris?

»Ein furchtbarer Unfall!«, rief der Bürgermeister in einem theatralischen Ton. »Ganz, ganz furchtbar.«

»Das war kein Unfall«, widersprach der Kommissar und taxierte sein Gegenüber mit nüchternem Blick. »Das Opfer wurde mit zwei Patronen aus unmittelbarer Nähe erschossen.«

Dubosc fiel aus allen Wolken. »Ein Mord in Saint-André! Das hat mir gerade noch gefehlt.«

Leblanc war zunächst fassungslos über die Reaktion des Bürgermeisters, der einen Mord offenbar nur als Imageschaden ansah, mit dem er sich beschäftigen musste. Und so einer kümmert sich um die Belange der Bürgerinnen und Bürger! Da ist man wohl gut beraten, keine Probleme zu haben, dachte er, setzte ein falsches Lächeln auf und erwiderte spöttisch: »Ja, dem Opfer auch.«

Dubosc fand darauf keine Antwort und schaute irritiert.

Leblanc wunderte sich über sich selbst, dass er diese Bombe schon jetzt hatte platzen lassen. Eigentlich hätte er die Information in diesem Stadium der Ermittlungen noch zurückhalten müssen. Er hatte intuitiv gehandelt, und damit war er bisher immer gut gefahren. Bei seinem letzten Fall hatte er auch gleich mit offenen Karten gespielt und auf diese Weise eine komplizierte Intrige gelöst. Der Überraschungseffekt sorgte manchmal für unüberlegte Reaktionen, die wertvoll sein konnten. Außerdem waren Regeln dazu da, dass man sie zwar beherrschte, doch in besonderen Fällen auch überging. Ermittlungsarbeit verlangte einen freien Geist. Wie sollte man sonst begreifen, wie Menschen funktionieren – und was sie zu Mördern machte?

»So, und jetzt will ich alle Jäger mit ihren Jagdscheinen und Waffennummern sehen«, beschied er Dubosc. »Schön einer nach dem anderen. Ich will überhaupt mit jedem sprechen, der sich in dieser Kneipe befindet.« Von diesem eitlen Fatzke an seinem Tisch hatte er allerdings genug. »Ich danke Ihnen, Monsieur le Maire. Ich will Sie jetzt nicht länger aufhalten. Wir sprechen später weiter.«

»Sind Sie sicher, dass Sie zurechtkommen?«

»Jaja, vielen Dank. Und bei Bedarf weiß ich ja, wo ich Sie finde.«

Dubosc erhob sich. »Au revoir, Monsieur le Commissaire. A bientôt.«

Hoffentlich nicht, dachte Leblanc, während er eine möglichst freundliche Miene aufsetzte. »Au revoir.«

Er sah Dubosc nach, der sich mit steifem Gang Richtung Terrasse entfernte. In dem Moment fiel sein Blick erneut auf die Frau auf dem Barhocker. Es störte ihn, dass sie sich so nah zu ihnen gesetzt und wohl das gesamte Gespräch mit dem Bürgermeister gehört hatte, und er sprach sie an, ohne sich höflich vorzustellen.

»Und wer sind Sie?«

»Marie Mercier.«

Ihm fielen sofort ihre wachen Augen auf. Wenn die mal nicht neugierig ist, dachte er. »Und was machen Sie hier?«

Sie zeigte auf ihren Panaché.

»Sind Sie Jägerin?«

»Nein!«

»Wohnen Sie hier?«

»Ja, zwei Straßen weiter.« Sie deutete in die entsprechende Richtung.

»Kannten Sie das Opfer?«

»Flüchtig.«

»Bitte lassen Sie gleich von meinen Kollegen Ihre Personalien aufnehmen.«

»Klar.«

»Wissen Sie, wie die Kellnerin heißt?«

»Hélène Bouet.«

Leblanc ließ den Blick durch den Raum wandern, entdeckte die Gesuchte und rief: »Madame Bouet?«

Die Kellnerin drehte sich um und blieb mit ihrem Tablett stehen, und Leblanc beobachtete, wie sie die Frau am Tresen hilfesuchend anschaute, die daraufhin in seine Richtung nickte. Die beiden kannten sich also gut, das verriet allein der mitfühlende Blick von dieser Marie Mercier.

Mit langsamen Schritten kam die Kellnerin auf ihn zu. Da er sich nicht länger von der neugierigen Frau belauschen lassen wollte, sagte er: »Vielleicht haben Sie noch was zu tun?«

»Jaja.«

Er sah zu, wie sie gemächlich von ihrem Barhocker rutschte, fast ein bisschen trotzig. Ihm fiel auf, dass sie klein war – maximal einen Meter sechzig, schätzte er. Wie alt mochte sie sein? Anfang dreißig? Aber vielleicht ließen das rundliche Gesicht und die Stupsnase sie auch jünger wirken. Sie strahlte eine besondere Energie aus und bewegte sich mit natürlicher Anmut. Eine interessante Frau – und hübsch obendrein. Ihr Getränk hatte sie kaum angerührt. Das sprach für sie; diese Limo-Bier-Mischung war wirklich etwas Abscheuliches.

Unterdessen hatte sich die Kellnerin zu ihm an den Tisch gesetzt. Noch im selben Moment war es um ihre Selbstbeherrschung geschehen. Sie brach in Tränen aus, legte ihren Kopf auf die Arme und schluchzte herzzerreißend. Leblanc schloss kurz die Augen. Bitte nicht! Ratlos schaute er Marie Mercier an, die nach zwei, drei Schritten stehen geblieben war und jetzt zu ihm blickte.

»Ich lasse Sie dann mal arbeiten. Au revoir, Monsieur le Commissaire.«

Er vergaß zu antworten und sah ihr hinterher, wie sie zur Terrasse ging. Die Wirtin kam mit einer Rolle Küchentücher an den Tisch geeilt und warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu.

Heute ist ja wirklich mein Glückstag, dachte er. Valérie, wenn du mich sehen könntest, würdest du den Kopf schütteln und sagen: »Mon pauvre Michel!« Vor zwei Jahren war seine Ehefrau an einer Herzkrankheit gestorben, doch er führte im Geiste immer noch Gespräche mit ihr.

Nun saß er dieser jungen Frau gegenüber, die im Begriff war, sich in Tränen aufzulösen, während die Cafébesitzerin Hektik verbreitete.

»Sehen Sie nicht, dass die Arme jetzt Ruhe braucht?«, herrschte sie ihn an.

Doch dann raffte sich die Kellnerin plötzlich auf, putzte sich laut die Nase und wandte Leblanc ihr Gesicht zu. Ihre verzweifelte Miene versetzte ihm einen Stich, und er dachte unwillkürlich an seine eigene Trauer nach dem Tod von Valérie.

»Schon gut, Danielle«, sagte sie, ehe sie sich mit dumpfer Stimme an Leblanc wandte. »Wie kann ich Ihnen helfen, Monsieur le Commissaire?«

Leblanc atmete innerlich auf und lächelte sie dankbar an.

»Indem Sie mir ein paar Fragen beantworten, Madame Bouet. Sie kannten das Opfer gut?«

Sie nickte.

»Sehr gut?«

Ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen, aber sie beherrschte sich. »Ja. Wir wollten bald zusammenziehen. Also … Franck wollte zu mir nach Saint-André kommen.«

»Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?«

»Heute früh. Er wollte am Morgen eine Radtour machen. Es war ja tolles Wetter angesagt. Und dann wollte er nach Bordeaux zurückfahren. Ich muss heute arbeiten und war schon ab acht Uhr früh hier. Sie sehen ja, was hier am ersten Jagdtag los ist.« Sie senkte den Kopf und flüsterte: »Und dann dieser Unfall.«

»Madame Bouet, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass es kein Unfall war.« Er machte eine kleine Pause, und sie schaute verwirrt zu ihm hoch. »Monsieur Girard wurde aus unmittelbarer Nähe erschossen.« Sie starrte ihn ungläubig an, und er ergänzte: »Nicht mit einem, sondern mit zwei Schüssen. Da wollte jemand, sagen wir mal, ganz sichergehen.«

Die junge Frau schüttelte vehement den Kopf. »Das glaube ich nicht. Das kann doch nicht wahr sein.« Sie schaute Leblanc entsetzt an. »Er kannte hier doch kaum jemanden! Wer sollte so etwas tun? Und vor allem – warum?« Sie atmete tief ein, um Fassung bemüht.

»Ist Ihnen gestern Abend etwas aufgefallen? War Monsieur Girard irgendwie anders, vielleicht angespannt? Hat er einen ungewöhnlichen Anruf bekommen?«

Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. Sie schaute ihn nun mit der Arglosigkeit eines kleinen Mädchens an und murmelte gedankenverloren: »Wir hatten ein Haus gefunden. Das Haus der Monteil am Dorfausgang ist zu vermieten.«

Ihre Unterlippe zitterte gefährlich. Doch Leblanc wagte es, noch eine Frage zu stellen. »Monsieur Girard hatte seine Brieftasche in der Satteltasche, aber kein Handy. Ist er immer ohne Handy los?«

»Eigentlich nicht.« Sie schüttelte heftig den Kopf; dicke Tränen liefen ihre blassen Wangen hinunter. Sie griff zu der Küchenrolle, die die Wirtin zurückgelassen hatte.

Leblanc schob ihr eine Visitenkarte zu. Er wollte ihr nicht noch mehr zumuten. »Ruhen Sie sich aus. Glauben Sie mir, das ist wichtig. Und melden Sie sich bitte, falls Ihnen irgendwas einfällt, das uns bei den Ermittlungen weiterhelfen kann. Auf Wiedersehen, Madame Bouet.«

Leblanc wusste nur zu gut, was es bedeutete, von abgrundtiefer Trauer erfüllt zu sein. Er sah der jungen Frau nach, die sich mühsam in die Küche schleppte. Er konnte gut nachvollziehen, wie viel Kraft jeder Schritt ihr abverlangte.

Noch einmal ließ er den Blick durch die Kneipe wandern. Die Einrichtung war schlicht, hatte aber eine gefällige Patina. Der imposante Tresen aus Zinn stammte noch aus alten Zeiten und war tadellos erhalten. Diese alten Modelle sah man nur noch selten. Er ging auf die Restaurantbesitzerin zu – eine bescheidene Kopie von Gina Lollobrigida –, die hinter dem Tresen hin und her wuselte.

Leblanc setzte sich mit der Hälfte seines Gesäßes auf einen Barhocker.

»Kam Monsieur Girard oft ins Café?«, fragte er die Wirtin, die daraufhin unwirsch aufblickte.

»Nur um Hélène nach der Arbeit abzuholen. Getrunken hat er nie etwas. Das war einer, der auf seine Figur geachtet hat. Immer mit dem Fahrrad unterwegs. Kein Alkohol, keine Zigaretten …«, sagte sie eine Spur vorwurfsvoll und betrachtete dabei kritisch ihre perfekt rot lackierten Fingernägel.

»Wer könnte etwas gegen ihn gehabt haben?«

»Woher soll ich das wissen?«

»In so einem kleinen Dorf kriegt man doch viel mit. Wer sich mag und wer nicht …«

»Schon. Da wird viel geredet, wenn der Tag lang ist.«

»Verstehe. Und Sie haben da was gehört, ja?« Na komm, spuck’s schon aus!, dachte Leblanc.

Doch sie räumte weiter Flaschen von links nach rechts und schnaufte. Leblanc sah sie unbeirrt an, und das machte sie nervös.

»Na ja, Philippe …«, antwortete sie schließlich. »Der wird ihn nicht in sein Herz geschlossen haben.«

»Aha?«

»Der ist verrückt nach Hélène. Schon immer, der arme Bursche.«

»Aber man muss einen Rivalen ja nicht gleich umbringen.«

»Ich sag ja nur. Weil er die Jagd gleich am Anfang verlassen hat und seitdem nicht mehr gesehen wurde.«

»Interessant. Und wo wohnt dieser Philippe?«

»Hier im Dorf. In der kleinen Gasse hinter dem Brunnen.«

Auf einen Zettel zeichnete sie umständlich den Weg zu Philippes Haus auf, nachdem Leblanc sie darum gebeten hatte.

»Und wie heißt er mit Nachnamen?«

»Lavaud.«

»Eine Frage noch: Madame Bouet hat mir gesagt, dass sie heute um acht Uhr hier war. Können Sie das bestätigen?«

»Ja, sie kommt immer um acht Uhr. Sie ist sehr pünktlich.«

Leblanc bedankte sich und schlenderte hinaus. Vor der Speisekarte blieb er einen Moment lang stehen, und das Herz ging ihm auf.

Omelette aux truffes ou aux cèpes, Trüffel- oder Steinpilzomelett, lecker! Terrine de Foie gras, Entenstopfleberpastete, mmh! Escargots au beurre persillé, Weinbergschnecken in Petersilie-Knoblauch-Butter … auch nicht schlecht!

»Meine Frau meint, dass ich auch leichtere Gerichte anbieten soll, weil Fleisch und Foie gras heutzutage schlechte Presse haben«, sagte ein dickbäuchiger Mann in blauer Küchenschürze – vermutlich der Restaurantbesitzer –, der sich zu ihm gesellt hatte.

»Ich finde Ihre Karte ganz wunderbar.«

»Meine Meinung. Und wem’s nicht passt, der kann ja in irgendeinem buddhistischen Restaurant Tofu essen.«

*

Marie war am Rand der Terrasse stehen geblieben, und während sie scheinbar interessiert die Hügellandschaft betrachtete, dachte sie über den Kommissar nach. Sie musste feststellen, dass ihr erster Eindruck nicht gerade positiv war. Warum hatte er gleich am Anfang der Ermittlung verraten, dass es sich um einen Mord handelte? Das war nicht wirklich professionell. Er machte sich auch keine Notizen und wirkte, als würde er nur mit einem Ohr zuhören. Aber er schien einen guten Sinn für Ironie zu haben. Dubosc hatte er wohl gleich durchschaut. Aber hoffentlich würde er Hélène nicht allzu viel zumuten. Ihr fiel ein, dass sie Leblancs Foto im Intranet der Polizei gesehen hatte. Erst kürzlich hatte er irgendeine Auszeichnung für einen gelösten Fall erhalten. Verwunderlich bei diesen Arbeitsmethoden! Sie hatte das gelesen, als sie neulich rein interessehalber geschaut hatte, ob im nahe gelegenen Périgueux, wo sich die Präfektur des Departements Dordogne befand, in absehbarer Zeit ein Posten frei würde. Aufgefallen waren ihr dabei die traurigen Augen des Kommissars, die sie auch jetzt bemerkt hatte. Und seine seltsame Frisur. Ob er sich die Haare selbst schnitt?

Ihr Blick schweifte hinüber zu zwei Polizeibeamten. Sie nahmen die Personalien der Jäger auf und notierten deren jeweiligen Standort, als die Schüsse gefallen waren. Natürlich hatten die wenigsten ihren Ausweis oder ihren Jagdschein dabei, was zu großer Aufregung führte. Die Jäger trockneten sich mit dem Ärmel den Schweiß unter ihren Kappen oder tranken noch ein Glas, um sich zu stärken. Manche griffen zu ihren Handys. Sie riefen ihre Frauen an, schilderten die Situation und baten sie, ihnen die Papiere ins Café zu bringen.

Während Marie die Jäger betrachtete, fiel ihr plötzlich auf, dass Philippe nicht unter ihnen war. Er war ein passionierter Jäger und hätte eigentlich hier sein müssen. Sie verabscheute zwar die Jagd, aber dennoch mochte sie den gleichaltrigen Philippe, den sie wie Hélène seit der Kindheit kannte.

»Weißt du, wo Philippe ist?«, fragte Marie einen der Jäger.

»Ach, der hat sich wieder mit Bruno in die Wolle gekriegt und ist nach fünf Minuten fluchend abgehauen.«

»Was war denn los?«

»Nichts, wie immer. Irgendwas mit den Hunden. Die beiden können sich einfach nicht ausstehen. Tja, wenn Bruno das Mordopfer wäre, bräuchten die Bullen nicht weiter nach dem Täter zu suchen.«

»Er ist aber quicklebendig.«