9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €
Festtagsstimmung im Périgord und ein perfider Mordfall
Es ist Sommer in Saint-André, und das mehrtägige Traditionsfest Félibrée steht bevor. Dieses Mal will auch Kommissarin Marie Mercier daran teilnehmen. Doch während ihre Großtante Léonie sich als begnadete Köchin auf kulinarische Highlights freut, gibt es für Marie plötzlich einen ernsten Anlass für den Besuch: Die 16-jährige Tochter der dort ausstellenden Winzerin Jeanne Laroussine ist verschwunden. Kurz darauf spitzen sich die Ereignisse weiter zu: Ein angesehener Bürger der Stadt, der im Rahmen der Félibrée ein wichtiges Amt innehatte, wurde ermordet aufgefunden. Während das Fest in vollem Gang ist, kommen Marie und ihr Kollege Richard Martin einem makabren Verwirrspiel auf die Spur ...
Inmitten der herrlichen Landschaft des Périgord, dem Feinschmeckerparadies Frankreichs, löst die charmant eigenwillige Kommissarin Marie Mercier ihren vierten Fall.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 431
Veröffentlichungsjahr: 2024
Festtagsstimmung im Périgord und ein perfider Mordfall Es ist Sommer in Saint-André, und das mehrtägige Traditionsfest Félibrée steht bevor. Dieses Mal will auch Kommissarin Marie Mercier daran teilnehmen. Doch während ihre Großtante Léonie sich als begnadete Köchin auf kulinarische Highlights freut, gibt es für Marie plötzlich einen ernsten Anlass für den Besuch: Die 16-jährige Tochter der dort ausstellenden Winzerin Jeanne Laroussine ist verschwunden. Kurz darauf spitzen sich die Ereignisse weiter zu: Ein angesehener Bürger der Stadt, der im Rahmen der Félibrée ein wichtiges Amt innehatte, wurde ermordet aufgefunden. Während das Fest in vollem Gang ist, kommen Marie und ihr Kollege Richard Martin einem makabren Verwirrspiel auf die Spur … Inmitten der herrlichen Landschaft des Périgord, dem Feinschmeckerparadies Frankreichs, löst die charmant eigenwillige Kommissarin Marie Mercier ihren vierten Fall.
Julie Dubois ist eine deutsche Autorin mit französischen Wurzeln, die viele Jahre in Berlin zuhause war. Heute lebt sie zwischen Deutschland und dem Périgord, das sie zu dem stimmungsvollen Romansetting Saint André inspiriert hat. TRÜFFELGOLD ist der Auftakt einer Krimiserie um die deutsch-französische Kommissarin Marie Mercier.
Julie Dubois
TRAUBENFEST
EIN PÉRIGORD-KRIMI
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Dies ist ein Roman. Die Handlung und alle handelnden Personensind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personenwäre rein zufällig und unbeabsichtigt.
Originalausgabe
Copyright © 2024 by Bastei Lübbe AG,
Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und
Data-Mining bleiben vorbehalten.
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
Einband-/Umschlagmotiv: © www.buerosued.de;
© mauritius images: Nando Lardi | imageBROKER |
Zoonar GmbH | Alamy | Alamy Stock Photos
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7517-5598-6
luebbe.de
lesejury.de
«J’accepte la grande aventure d’être moi.»
»Ich wage das große Abenteuer, ich selbst zu sein.«
Simone de Beauvoir, «Cahiers de jeunesse»
«Je suis un mensonge qui dit toujours la vérité.»
»Ich bin eine Lüge, die immer die Wahrheit sagt.«
Jean Cocteau, «Le Menteur»
Niemand sieht mich – als wäre ich durchsichtig.
Dass keiner mich richtig wahrnimmt, ist bisweilen praktisch, ja, fast befreiend, doch oft macht es mich auch traurig und wütend. Das würde ich mir jedoch niemals anmerken lassen.
Meine Gedanken kehren immer wieder zurück zu diesem fatalen Augenblick.
In den letzten Sekunden, bevor alles Leben aus ihnen erloschen ist, haben mich die weit aufgerissenen Augen angeschaut – voller Entsetzen und so eindringlich, wie sie wahrscheinlich noch nie jemanden angestarrt hatten. Für sie war ich das letzte Bild vor dem ewigen Nichts. Für sie war ich einen Moment lang die wichtigste Person der Welt.
Tja, so schnell können sich Beziehungen und Verhältnisse zwischen Menschen ändern. Das vergisst man nur zu gern.
Aber nicht nur die Augen, sondern auch die widerlichen metallenen Geräusche verfolgen mich.
Gern wäre ich noch eine Weile bei dem leblosen Körper geblieben. Es heißt ja, dass die Seele noch ein bisschen verweilt, wenn das Herz aufgehört hat zu schlagen. Vielleicht hätten wir doch noch irgendwie kommunizieren können.
Für einen Moment wirkte alles so friedlich, obwohl mein Puls in meinen Schläfen raste. Aus der Ferne hörte ich die fröhlichen Töne des Volksfestes. Gedämpfte Musik, nicht mein Geschmack, aber dennoch Musik. Und ein Ausdruck von gelebtem Leben.
Aber ich musste zusehen, dass ich den Ort jenes tödlichen Geschehens schleunigst verließ.
Saint-André-du-Périgord, Freitag, 30. Juni
Marie Mercier war auf dem abendlichen Heimweg vom Polizeipräsidium in Périgueux nach Saint-André-du-Périgord. Entgegen ihrer Gewohnheit fuhr die Kriminalkommissarin langsam und ließ ihre Gedanken schweifen. Sie war die ganze Woche ständig in Hetze gewesen und von einem Ort zum anderen geeilt, da es im Norden von Périgueux seit fast einem Monat eine Serie von Einbrüchen gab, die von einer gut organisierten Bande durchgeführt wurden. Nachdem ihre Kollegen und sie die Anführer und Hehler der Gang schließlich hatten fassen können und der damit einhergehende Schreibkram erledigt war, genoss sie nun ihre Fahrt ins Wochenende.
Gerade hatte sie auf kurvenreichen Straßen einen wildromantischen Wald durchquert, den die Sonne mit leuchtenden Tupfern durchdrang. Zahlreiche Esskastanien standen hier in Blüte, und durch die weit geöffneten Fenster des Wagens roch sie den herrlich süßen Duft der grün-weißen Kätzchen. Was für ein Privileg, hier leben zu dürfen, dachte sie.
Seit drei Jahren wohnte sie nun im Périgord. Und inzwischen war ihre Zeit in Paris, wo sie aufgewachsen war und später für die Brigade Criminelle gearbeitet hatte, in weite Ferne gerückt. Damals, als ihr kein anderer Wohnort als die Hauptstadt denkbar erschien, hatte sie manchmal im Winter auf den Pariser Grands Boulevards geröstete Kastanien gekauft und sich dabei keine weiteren Gedanken über diese Bäume gemacht. Doch seit sie hier lebte, hatte sich ihre Wahrnehmung der Natur grundlegend verändert. Allein durch die morgendlichen Spaziergänge mit ihrem Mischlingshund César hatte sie nach und nach die jeweils einzigartige Schönheit der Jahreszeiten entdeckt. Vor ein paar Jahren noch hätte sie sich gar nicht vorstellen können, dem so viel Wert beizumessen – ja, das vielleicht sogar belächelt. Heute wusste sie, wie gut ihr das Landleben und der gemächlichere Lebensrhythmus taten.
Im Licht der Abendsonne fuhr Marie jetzt durch ein von sanften Hügeln gesäumtes Tal und erreichte das Ortsschild von Saint-André-du-Périgord, unter dem ein brandneues Schild prangte. Un des plus beaux villages de France. Der Bürgermeister hatte mit dem ihm eigenen Durchsetzungsvermögen unermüdlich für diese besondere Auszeichnung gekämpft, die inzwischen mehr als hundertsiebzig Dörfern in ganz Frankreich verliehen worden war. Die Aufnahme von Saint-André in diesen erlesenen Kreis besonders idyllischer Ortschaften war absolut gerechtfertigt, denn das ins Vézère-Tal gebettete, mittelalterliche Dreihundertseelendorf mit seinen engen Gassen, der Schlossruine und der romanischen Kirche war wirklich eine Augenweide. Marie gefiel auch, dass es dabei nicht über die Maßen restauriert und herausgeputzt wirkte.
Sie lebte dort, seitdem sie das Haus ihrer verstorbenen Großmutter Madeleine auf dem alten Familienhof der Merciers geerbt und mit viel Herzblut renoviert hatte. Dieser wunderschöne Ort ist jetzt meine Heimat, dachte sie voller Freude, als sie die um diese Jahreszeit belebte Hauptstraße entlangfuhr.
Plötzlich fiel ihr etwas ins Auge, das sie überraschte. Die Épicerie, der kleine Lebensmittelladen, der eigentlich sieben Tage die Woche geöffnet hatte, war wegen Hochzeit geschlossen, wie sie einem Schild an der Eingangstür entnahm. Obwohl sich hier an den malerischen Gebäuden nichts geändert hatte und viele fröhlich aussehende Menschen spazieren gingen, war das Straßenbild für Marie nun nicht mehr ganz vollkommen. Wie auch das etwas weiter entfernt gelegene Café de la Place war der Tante-Emma-Laden ein Herzstück des Dorflebens – ob Ferienzeit oder nicht. Marie würde ihr Brot morgen ausnahmsweise im Nachbardorf kaufen müssen.
Von der Hauptstraße bog sie in eine enge Gasse und parkte einen Moment später neben einer alten Sandsteinmauer, an der entlang dunkelrote Stockrosen wuchsen. Nachdem sie ausgestiegen war und das gerade einmal drei Meter breite, mit Naturstein gepflasterte Gässchen überquert hatte, stand sie vor dem Eingang des alten, großen ehemaligen Bauernhofs. Sie öffnete die kleine Tür, die in das schwere Holztor eingelassen war, und betrat ihr Zuhause.
Die tief stehende Sonne strahlte noch in den Hof hinein und tauchte ihn in warmes Licht. César kam sogleich auf sie zugelaufen und begrüßte sie mit freudigem Bellen, als hätte sie ihr Heim nicht am frühen Morgen, sondern vor Ewigkeiten verlassen. Sie streichelte ihn, sprang und rannte ein bisschen mit ihm herum. Kater Gaston hingegen machte kein großes Aufheben und döste einfach weiter in einem Blumenbeet.
Dann entschied Marie, nicht zu ihrem Haus, sondern direkt zu dem ihrer Großtante Léonie zu gehen, der jüngeren Schwester ihrer Großmutter. Auch sie wohnte auf dem weitläufigen, von einer Mauer eingefassten Familienanwesen: Es gab hier drei Wohngebäude, einen Schuppen, ein Schweinegehege, eine Wiese mit Obstbäumen, einen beeindruckenden Gemüsegarten sowie einen großen Innenhof.
Während sie sich dem Haus ihrer Großtante näherte, nahm Marie einen besonderen Geruch wahr. Sie blickte kurz zurück zu den rosafarbenen Kletterrosen, die sich um ihre eigene Eingangstür rankten und in den Stunden vor dem Sonnenuntergang einen besonders intensiven Duft verströmten. Nach den Pfeifensträuchern blühten die Lindenbäume und jetzt die Spindelsträucher, die eine niedrige Hecke zum Gemüsegarten bildeten. Marie mochte ihren Duft genauso wie den der blühenden Kornfelder, an denen sie morgens mit César entlangspazierte. Doch neuerdings joggte sie meistens – das Gefühl, dabei körperlich an ihre Grenzen zu gehen, gab ihr zusätzlich Kraft für den oft anstrengenden Arbeitstag.
Die Außentür zu Léonies Küche stand weit offen. Marie meldete sich mit einem munteren »Coucou« und betrat den weitläufigen Raum.
Wie erwartet, fand sie Léonie in ihrem Reich vor: In ihrer gemütlichen Wohnküche beschäftigte sie sich im geblümten Hauskittel gerade mit den Zutaten fürs Abendessen. Das war ein wichtiger Bestandteil ihrer Routine – sie bereitete täglich ein Festessen für Georges vor, ihren Lebensbegleiter und ihre heimliche große Liebe. Georges war der ehemalige Knecht, der seit über sechzig Jahren mit auf dem Hof lebte und in einem Nebengebäude nahe am Gemüsegarten wohnte. Marie kannte ihn, solange sie zurückdenken konnte. Auch wenn er und Léonie nie offiziell ein Paar sein durften – aus irgendeinem Dünkel heraus hatte Léonies strenge Mutter sich zu Lebzeiten vehement dagegen ausgesprochen –, gehörte er längst fest zur Familie. Die beiden hielten sich fast immer in Rufweite voneinander auf, und die wenigen Male, da sie mehr als einen Tag voneinander getrennt gewesen waren, konnte man an einer Hand abzählen. Marie wusste nicht, ob sie jemals darüber gesprochen hatten, was sie füreinander empfanden – eine derart persönliche Frage hätte sie ihrer Großtante niemals zu stellen gewagt, auch wenn Léonie sich unter anderem durch ihre Offenheit auszeichnete.
Georges war sicherlich nicht weit entfernt; er hatte, wie Léonie stets sagte, eine Uhr im Magen und war der größte Fan ihrer Kochkünste. Wahrscheinlich hielt er sich gerade im Gehege der beiden Hängebauchschweine Augustine und Joseph auf, um ihnen wie jeden Tag mitzuteilen, dass er nach dem Abendessen noch auf einen Gute-Nacht-Gruß vorbeikommen würde. Er war tatsächlich der Ansicht, die Tiere schliefen sonst nicht gut. Marie hielt es für wahrscheinlicher, dass er selbst keine Ruhe finden würde, ohne sich vor dem Zubettgehen noch einmal zu vergewissern, dass das Gatter ihres Geheges auch wirklich verriegelt war, denn Joseph war immer wieder zu Streichen aufgelegt. Besonders folgenreich war der letzte gewesen, als der Eber es eines Nachmittags geschafft hatte, aus seinem Gehege auszubrechen und auf das angrenzende Grundstück zu gelangen – vermutlich angelockt vom betörenden Duft der Himbeeren, aus denen Rose, die achtzigjährige Nachbarin, bei offener Tür Marmelade gekocht hatte. In der Küche war er dann zwischen ihre Beine geraten, woraufhin Rose vor Schreck gestürzt war und sich unglücklicherweise die Hüfte gebrochen hatte. Die reinste Katastrophe! Zum Glück war die anschließende Operation gut verlaufen, und jetzt befand sich Rose in einer Rehaklinik in Domme, wo sie reichlich Zuspruch erhielt und die Zeit mit vielen neuen Gesprächspartnerinnen genoss. Da sie herzensgut und nicht nachtragend war, hatte sie Joseph und seinem Besitzer den Vorfall gleich verziehen. Georges war seitdem allerdings mehr als wachsam, wenngleich der schlimme Vorfall seine Liebe zu dem verfressenen Hängebauchschwein nicht beeinträchtigt hatte.
Kaum hatte Marie Léonies Küche betreten, überkam sie der Heißhunger. Wie schon während der ganzen zurückliegenden Woche hatte sie auch heute keine Zeit gefunden, tagsüber etwas Vernünftiges zu essen. Aber jetzt war endlich Wochenende, und das wollte sie genießen. Ihr Freund Michel würde morgen aus Bordeaux kommen, und seit vergangenem Montag sehnte sie ihr Wiedersehen inständig herbei. Da er in Bordeaux das Drogendezernat leitete und sie im Kommissariat von Périgueux arbeitete, fand ihre Beziehung vor allem an den Wochenenden statt. Und morgen früh musste Michel leider noch einen Vertreter des Innenministeriums empfangen. Dass der Termin an einem Samstag stattfand, war Pech. Marie konnte nur hoffen, dass Michels Gesprächspartner auch ein Privatleben hatte und möglichst schnell wieder in den Zug nach Paris steigen würde.
Léonie saß an dem großen Eichentisch und schnitt Kräuter, die sie über einen appetitlich aussehenden Salat streute – natürlich alles aus dem eigenen Garten.
»Isst du mit uns?«, fragte ihre Großtante, nachdem Marie ihr einen Kuss auf die Wange gedrückt hatte. »Wenn du müde bist und lieber abschalten möchtest, kann ich dir auch gern später eine Portion vorbeibringen«, fügte sie hinzu – obwohl in ihrer Stimme mitschwang, wie sehr sie sich wünschte, Marie würde dieses zweite, nur höflich gemeinte Angebot nicht annehmen. Sie schaute Marie mit ihren blauen, wachen Augen hoffnungsvoll an.
»Nein! Ich setze mich gern zu euch!«
Marie war froh über die Einladung. Ein gemütlicher Abend mit Léonie und Georges war genau das, worauf sie jetzt Lust hatte. Sie hatten schon so lange nicht mehr gemeinsam gegessen, da Marie in letzter Zeit immer erst spät nach Hause gekommen war. Durch den langen Vaterschaftsurlaub von Inspektor Richard Martin – ihrem engsten Mitarbeiter, für den sie keine würdige Vertretung gefunden hatte – war sie oft gezwungen gewesen, Aufgaben zu erledigen, die für gewöhnlich er übernahm. Aber diese Durststrecke hatte nun ein Ende gefunden: Seit Anfang der Woche war Richard wieder im Dienst. Endlich! Sie hatte ihn in den letzten vier Monaten wirklich sehr vermisst.
Und das nicht nur wegen seines unermüdlichen Einsatzes bei der Ermittlungsarbeit. Auch seine besonnene und liebenswürdige Art hatte ihr gefehlt – ja sogar sein Putzfimmel! Sie hatte zuvor noch keinen Kollegen gehabt, der von zu Hause Fleece-Tücher in fröhlichen Farben mitbrachte, um dann in bester Laune das Büro sauber zu machen. Und zwei, drei Mal hatte sie sogar der kleine plätschernde Zimmerbrunnen zum Lächeln gebracht, den er seinerzeit in ihrem gemeinsamen Dienstzimmer aufgestellt hatte – in guter Absicht und nicht ahnend, dass sie für diese Art der Entspannung von Geist und Seele so gar nichts übrig hatte.
Die Auszeit hatte Richard sichtlich gutgetan, wie Marie in den vergangenen Tagen aufgefallen war. Vieles an ihm hatte sich zum Positiven hin verändert: Er strahlte oft förmlich vor Glück, hatte sich in der Zwischenzeit einen pfiffigeren Haarschnitt zugelegt und bewies mit seinen neuen Oberhemden ungewohnten Mut zur Farbe.
Das musste der Einfluss von Sophie sein. Seine Partnerin war acht Jahre jünger als er und ein lebensbejahender Mensch. Marie kannte sie schon seit vielen Jahren, und bis zum fünften Schwangerschaftsmonat von Sophie hatten sie sich einmal die Woche zum Yogakurs getroffen. Danach waren sie meistens noch irgendwo etwas trinken gegangen – am liebsten im Café de la Place gleich bei Marie um die Ecke. Hoffentlich wäre Sophie nach den Sommerferien wieder dabei.
»So, der Salat ist fertig«, verkündete Léonie. »Jetzt muss ich nur noch nach dem Hauptgang schauen.«
Es roch verführerisch nach gedünsteten Tomaten mit Zwiebeln, Paprikaschoten und Knoblauch.
»Was gibt’s denn eigentlich?« Marie hing der Magen bis in die Kniekehlen.
Léonie stand auf, trocknete sich gewohnheitsmäßig die Hände an ihrer Schürze ab und ging zum Herd. Sie hob den Deckel des schweren gusseisernen Kochtopfes hoch, der seit Jahrzehnten regelmäßig im Einsatz war.
»Ein altes Rezept meiner Mutter: Poulet basquaise.«
Marie folgte der Großtante und schaute ihr neugierig über die Schulter, um zu sehen, ob das baskische Gericht bald fertig war. Das einst glückliche Huhn vom Nachbarhof lag in Stücken in einer sämigen Tomatensoße und köchelte leise vor sich hin. Léonie schaltete den Gasherd aus und entfernte mit dem Holzlöffel ein paar Lorbeerblätter und Thymianzweige, die ihre Schuldigkeit getan hatten.
»Das kann jetzt noch ein bisschen ruhen«, stellte sie zufrieden fest.
Eine Aussage, die Marie nicht so stehen lassen wollte. »Sollte ich nicht vorsichtshalber mal probieren?«, fragte sie in scheinbar arglosem Ton und griff nach dem Holzlöffel.
Sie wusste, dass Léonie es gar nicht mochte, wenn man an ihre Töpfe ging, hoffte aber, dass sie diesmal Erbarmen haben würde.
»Nix da! Gegessen wird am Tisch.« Léonie nahm ihr energisch den Löffel aus der Hand und legt ihn wieder auf den dafür vorgesehenen Ablageteller. »Und bestimmt nicht mit dem Kochlöffel! Warum nicht gleich mit den Fingern?«
Sie war ansonsten eher nachsichtig und entspannt, aber in ihrer Küche herrschten strenge Regeln. Wenn Marie kochte, goss sie sich zum Beispiel gern ein Gläschen Wein ein und hörte laut Musik – für Léonie kam so etwas nicht infrage. Es war, als sei sie in der Küche im Dienst.
Marie hob ergeben die Hände, beugte sich aber dennoch über den Topf.
»Da sind ja gar keine grünen Paprika drin«, wunderte sie sich. »Als du es das letzte Mal gekocht hast, habe ich mir das Rezept aufgeschrieben. Ich erinnere mich, wie du darauf beharrt hast, dass sie da reinkommen, weil sie dem Ganzen eine herbe Note geben. Das habe ich noch extra unterstrichen.«
»Das stimmt auch, aber Georges verträgt sie nicht mehr so gut. Deshalb habe ich nur gelbe und rote Paprika genommen. Die sind bekömmlicher. Aber keine Sorge, es wird schon schmecken.«
»Ich bin ganz zuversichtlich!« Das kam aus tiefstem Herzen. Léonie war die beste Köchin weit und breit, und Marie hütete ihr Les-recettes-de-Tante-Léonie-Heft wie einen Schatz. »Ich springe nur noch schnell unter die Dusche und zieh mich um. Dann decke ich draußen den Tisch.«
Vor Léonies Küche stand ein alter, runder Metalltisch, an dem man auch gut zu dritt sitzen und speisen konnte. Weil es bequemer war, aßen Léonie und Georges trotzdem meistens in der Küche.
»Gut. Dann bis gleich.«
Kaum war Marie hinausgegangen, fiel ihr der Prospekt in ihrer Tasche wieder ein, den sie ihrer Großtante hatte geben wollen. Sie zog ihn heraus, ging zurück und gab ihn Léonie. »Schau mal. Ich habe dir das Programm von der Félibrée mitgebracht.«
Die Félibrée war ein besonderes Festival im Périgord, das heute im Nachbarort Montignac begonnen hatte. Drei Tage lang standen dort Musik, Tanz und volkstümliche Traditionen aus dem Périgord im Mittelpunkt. An zahlreichen Ständen präsentierten sich alte Berufe und traditionelle Gastronomie. Marie hatte Léonie versprochen, sie gemeinsam mit Michel am Wochenende dorthin zu begleiten. Sie selbst kannte es nur vom Hörensagen und hoffte, dass es keine allzu folkloristische Veranstaltung sein würde.
»Merci!« Léonie überflog das Faltblatt mit einem glücklichen Lächeln. »Ist lange her, dass ich eine Félibrée besucht habe. Madeleine und ich sind da immer so gern hingegangen! Natürlich nur, wenn die Arbeit auf dem Hof es zuließ. Ich erinnere mich sogar noch an unseren ersten Besuch: 1962 war das, damals übrigens auch in Montignac. Herrje, da waren wir noch junge, hübsche Dinger.« Versonnen blickte sie in die Ferne und gab sich offenbar kurz glücklichen Erinnerungen an ihre Schwester Madeleine hin. »Und dieses Jahr werde ich zum ersten Mal ohne sie hingehen«, fuhr sie dann fort. »C’est la vie!«
1962! Damals hatte Maries Mutter noch »die Wolken gekehrt«, wie man es in ihrer Kölner Familie ausdrückte, wenn jemand zu einer bestimmten Zeit noch nicht geboren war. Maries Familie väterlicherseits lebte im Rheinland, und sie selbst war zweisprachig aufgewachsen. Marie stellte sich die zwei Schwestern vor, die damals viel jünger gewesen waren als sie selbst heute – wie sie sich hübsch machten und auf der Félibrée mit den jungen Männern flirteten. Marie hatte ihre eigentlich herzensgute Großmutter tendenziell eher als streng erlebt, ganz nach dem Motto: harte Schale, weicher Kern. Der Gedanke, dass Madeleine als junge Frau fröhlich, ausgelassen oder auch leichtsinnig gewesen sein mochte, berührte sie.
»Ist doch schön, dass diese Tradition sich über die Jahrzehnte gehalten hat«, sagte sie.
»Ja, stell dir vor, die Félibrée ist noch älter als ich mit meinen zweiundachtzig.« Léonie lachte. »Die gibt es seit über hundert Jahren.«
»Und schon immer an wechselnden Orten?«
»Ja, jedes Jahr in einem anderen, und zwar quer durch das Département! In Belvès, Sarlat, Brantôme, Ribérac, Le Bugue, Montpazier … und dieses Mal endlich wieder gleich bei uns um die Ecke. Ich kann’s kaum erwarten.« Léonie strahlte und sah in ihrer Begeisterung fast wie ein junges Mädchen aus.
Erst jetzt bemerkte Marie, dass ihre Großtante beim Friseur gewesen war. Ihr Kurzhaarschnitt war aufgefrischt, und ihr weißes Haar glänzte. Für dieses besondere Ereignis wollte sie natürlich gut aussehen – vor ein paar Wochen hatte sie sich mit Maries Hilfe sogar noch ein geblümtes Kleid und einen Strohhut bei einem Versandhaus bestellt.
»Okay, dann schau das Programm in Ruhe durch, und heute Abend entscheiden wir, wann wir dorthin gehen. Sieht übrigens gut aus, deine Frisur.«
Während Léonie zufrieden nickte, konnte Marie nicht der Versuchung widerstehen, ein Blatt Salat aus der Schüssel zu stibitzen. Das vorwurfsvolle Seufzen ihrer Großtante ignorierte sie geflissentlich.
Saint-André-du-Périgord, Freitag, 30. Juni
Marie kam gerade aus der Dusche, als es an der Hoftür laut klopfte. César als guter Wachhund reagierte sofort. Wobei er immer nur bellte – gebissen hatte er noch niemanden. Marie runzelte die Stirn. An diesem Abend erwartete sie keinen Besuch. Vielleicht waren es wieder Touristen, die sich für den Hof interessierten. Alles schon da gewesen. Neulich hatte Georges ihr empört erzählt, dass ein Pärchen in Shorts plötzlich mitten auf dem Hof gestanden hatte, ohne zuvor auch nur anzuklopfen, und dann in aller Seelenruhe Fotos gemacht hatte. Als wäre ihr schönes Dorf das Gelände eines Freilichtmuseums, wo die Besucher jedes Gebäude und Anwesen einfach betreten konnten! Vermutlich waren auf Instagram längst Bilder von ihrem Zuhause zu finden.
Marie zog rasch ein Ringel-T-Shirt und Jeans an, ging die Treppe hinunter und lief barfuß zum Tor. Dabei fiel ihr auf, wie gut der neue lindgrüne Nagellack zu ihren leicht gebräunten Füßen passte. Sie hatte gezögert, aber die Farbe war wirklich perfekt.
Sie öffnete die Hoftür, und vor ihr stand kein Geringerer als Bruno Dubosc, der Bürgermeister von Saint-André-du-Périgord. Als Erstes fiel ihr auf, dass sein Mecki frisch gestutzt war. Wie üblich trug er ein Polohemd mit Krokodilemblem, heute in leuchtendem Türkis.
Verwundert lächelte sie ihn an. »Salut, Bruno. Das ist ja eine Überraschung. Willst du reinkommen?«
»Non, merci! Mich erwarten Gäste zu Hause. Ich bin auf dem Sprung.«
»Wie du meinst. Was kann ich für dich tun?«
Wenn der stets beschäftigte Bürgermeister ihr an einem lauen Freitagabend einen unangemeldeten Besuch abstattete, musste er ein wichtiges Anliegen haben.
»Also, mein Amtskollege aus Montignac hat mich gerade angerufen. Die Félibrée hat heute dort angefangen. Das ist natürlich ein wichtiger Termin für die Gemeinde, die arbeiten ja schon seit Monaten darauf hin …«
Plötzlich starrte er wie gebannt auf ihre nackten Füße und schien vergessen zu haben, was er ihr erzählen wollte. Das war ungewöhnlich für ihn, denn Sprechpausen waren bei ihm eher selten.
Als er etliche Sekunden lang nichts sagte, sondern weiterhin auf ihre Füße blickte, wackelte sie mit den Zehen und konnte sich nicht verkneifen, ihn zu fragen: »Und, wie findest du die Farbe?«
Bruno neigte eher zur Förmlichkeit, einige fanden ihn deshalb hochnäsig – aber Marie mochte ihn. Sie hatten sich vor zwei Jahren bei einem dramatischen Fall näher kennengelernt und gegenseitig helfen müssen. Und am Ende hatte es funktioniert. Im Grunde war er schwer in Ordnung, nur mit Diplomatie hatte er es nicht so.
Er hob den Kopf und schaute sie an – genauer gesagt, er blickte sie einen kurzen Moment nachdenklich an und sah dann an ihr vorbei ins Leere. Irgendetwas stimmte nicht.
»Jetzt lass mich raten: Vermutlich bist du nicht hergekommen, um mit mitzuteilen, dass die Félibrée in Montignac begonnen hat …«, sagte sie mit einem aufmunternden Lächeln.
Seit Wochen konnte man keine hiesige Zeitung aufschlagen und keinen lokalen Radiosender einschalten, ohne mit den neuesten Informationen zu dem bedeutendsten Sommerevent im Département überschüttet zu werden.
»Natürlich nicht«, antwortete er prompt und richtete endlich den Blick wieder auf ihr Gesicht. »Es gibt da so eine heikle Sache, bei der du möglicherweise ein bisschen helfen kannst …«
Aha! Daher wehte der Wind.
»Der Bürgermeister von Montignac hat mir erzählt, dass seit dort heute Vormittag ein Mädchen verschwunden ist.«
Das klang schon mal nicht gut. Marie wurde schlagartig ernst.
»Und wie alt?«
»Sechzehn, glaube ich.«
»Dass Teenager in dem Alter abhauen, kann schon mal vorkommen, oder? Mit sechzehn sind viele Mädchen schon fast erwachsen – oder fühlen sich zumindest so. Daran erinnere ich mich noch gut.«
»Mag sein. Aber das Mädchen ist anscheinend noch nie auffällig geworden. Die Frage ist, ob du da mal vorbeischauen könntest.«
»Ich? Haben die Eltern das noch nicht bei der Polizei von Montignac gemeldet?« Marie war abermals verwundert. Warum kam Bruno in dieser Angelegenheit zu ihr?
»Nein, noch nicht. Aber ich dachte, vielleicht könntest du dich, sagen wir mal, diskret umhören. Weißt du … um die festliche Stimmung nicht gleich am ersten Abend zu gefährden und dadurch die Besucher zu beunruhigen. Die Félibrée ist wirklich ein wichtiges Ereignis für Montignac – und für das gesamte Périgord, also auch für uns. Alles in allem bedeutet das Fest viel Arbeit, Geld und Prestige.«
Marie wusste, dass vor allem Letzteres für Bruno besonders wichtig war.
»Aber warum wendet sich der Bürgermeister von Montignac nicht an die örtliche Gendarmerie oder die Police Municipale? Wäre doch naheliegend, dass erst mal die sich dort umhören.«
»Weil da jeder jeden kennt. Das würde sich gleich wie ein Lauffeuer verbreiten. Die Öffentlichkeit und die Presse wären sofort im Bilde. Das wäre fatal! Nein, zuerst müssen wir wissen, ob das Mädchen wirklich in Gefahr ist. Vielleicht ist es ja nur eine harmlose Familienangelegenheit. Ich denke, es wäre einfach besser, wenn jemand von außerhalb der Sache nachgeht. Jemand, der ein bisschen mehr Distanz hat. Verstehst du, was ich meine?«
»Ja, schon.«
»Du würdest es also machen?«
»Ich kann ja mal mit den Eltern reden und mir einen Eindruck verschaffen, ob das Verschwinden ernst zu nehmen ist.« Noch im selben Moment fragte sich Marie, ob sie da gerade nicht zu schnell zugesagt hatte. Gelegentlich reagierte sie einfach zu spontan. Andererseits, wenn das Mädchen tatsächlich längere Zeit verschwunden blieb oder es Unheil verheißende Begleitumstände gab, würde der Fall ohnehin von Montignac nach Périgueux weitergeleitet werden.
»Prima! Das wäre also geregelt.« Er lächelte zufrieden.
So wie sie den Bürgermeister kannte, der sich bei anderen stets gern in ein gutes Licht stellte, war er sofort auf die Bitte seines Amtskollegen eingegangen. Vielleicht war er sogar derjenige gewesen, der angeboten hatte, Marie anzusprechen. Zutrauen würde sie es ihm.
»Aber nur damit das klar ist: Ich werde nicht verheimlichen, dass ich Polizistin bin«, hob Marie hervor. »Und wenn ich das Gefühl habe, dass in irgendeiner Form Gefahr besteht, werde ich ermitteln, ohne auf die Besucher der Félibrée Rücksicht zu nehmen. In dem Fall wird die Öffentlichkeit davon erfahren.«
»So weit wird es doch gar nicht erst kommen – da bin ich mir sicher. Wahrscheinlich ist das nur ein dummer Teenie-Streich«, entgegnete Bruno, wie um die Sache herunterzuspielen. »Solche Kindereien dürfen selbstverständlich keinen dunklen Schatten auf die Veranstaltung werfen.«
Er teilte offensichtlich den Standpunkt seines Amtskollegen: Das Verschwinden des Mädchens passte nicht ins PR-Konzept, und lokalpolitische Interessen waren erst einmal wichtiger als das Wohlergehen einzelner Menschen.
»Ja, gehen wir erst mal davon aus.«
Womöglich bereut er es jetzt, mich angesprochen zu haben, dachte Marie. Aber eigentlich hätte er sie gut genug kennen sollen, um schon vorher zu wissen, dass sie bei der Ermittlungsarbeit keine halben Sachen machte.
Das war’s dann wohl mit dem gemütlichen Abend im Familienkreis. Marie seufzte. Frustrierende Erlebnisse dieser Art kannte sie zur Genüge. Ihr Beruf brachte es nun mal mit sich, dass sie Privates immer wieder hintanstellen musste.
»Wie heißt denn das vermisste Mädchen, und wer sind die Eltern?«
»Das Mädchen heißt Emma Laroussine, und ihre Eltern sind wohl geschieden. Sie lebt hier bei ihrer Mutter – einer ambitionierten Winzerin. Jeanne Laroussine heißt sie. Ihre Weine sind gerade im Kommen.«
»Ist das nicht die, die in Mussillac das alte Weingut ihrer Vorfahren auf Vordermann gebracht und es in ›Vignes en Fête‹ – ›Traubenfest‹ umbenannt hat?«
»Ach, du kennst sie?« Anscheinend war es Bruno noch nicht bekannt gewesen, dass sie sich für Weingüter aus dem Département interessierte und einen guten Tropfen zu schätzen wusste.
»Nicht persönlich, aber ich hab von ihr gehört.« Michel, der ein noch besserer Weinkenner war als sie, hatte neulich ein paar Flaschen mitgebracht, die von diesem Gut stammten. Und sie beide hatten sich davon überzeugen können, dass auf dem Weingut Traubenfest Tropfen von exquisiter Qualität hergestellt wurden. »Weißt du, ob sie jetzt auf der Félibrée ist?«
»Ja, sie hat einen Stand auf der Place Carnot, gleich links neben der Kirche, wenn ich das richtig verstanden habe. Mehr weiß ich nicht. Schönen Abend noch.«
Und weg war er.
Erst einen um ein Essen im Familienkreis bringen, und sich dann blitzschnell aus dem Staub machen. Nicht gerade das, was man sensibel nennen würde, dachte Marie. Aber so war Bruno: schmerzfrei.
Marie würde Léonie absagen müssen, die sich genau wie sie auf das gemeinsame Abendessen gefreut hatte, und stattdessen nach Montignac fahren und eine besorgte Mutter aufsuchen.
Aber auch wenn sie sich bis vor wenigen Minuten den Start ins Wochenende anders vorgestellt hatte – sie sah es als ihre Pflicht an, der Sache nachzugehen. Zwar konnten Jugendliche ab sechzehn mit Genehmigung der Eltern ausziehen und waren strafrechtlich haftbar, wenn sie etwas verbrochen hatten. Aber natürlich durfte man das unerwartete Verschwinden eines Teenagers nicht als normales Verhalten abtun. Marie erinnerte sich noch gut an einen Fall während ihrer Zeit bei der Brigade Criminelle in Paris, als sie mit ihrer damaligen Kollegin Pauline wochenlang nach einem Mädchen gefahndet und es schließlich in größter Notlage gefunden hatte.
Die Arbeit an jenem Fall hatte Pauline und sie zusammengeschweißt. Danach hatten sie angefangen, sich auch in ihrer knapp bemessenen Freizeit zu treffen. Heute war die einstige Kollegin ihre beste Freundin, und neben dem privaten Kontakt tauschte Marie sich auch nach wie vor gern beruflich mit ihr aus. Weil sie beide einen intensiven Arbeitsalltag hatten, fand die Kommunikation allerdings hauptsächlich über Text- und Bildnachrichten statt.
Und da sie gerade an Pauline dachte, schickte sie ihr noch schnell eine SMS, um ihr ein schönes Wochenende zu wünschen.
Ihre Freundin antwortete binnen Sekunden mit dem Foto eines Paars glitzernder, silberfarbener High Heels. Marie musste grinsen, aber überrascht war sie keineswegs: Pauline hatte einen Schuhtick.
Sogleich folgte eine SMS: Bestens ausgestattet für ein heißes Date. Heute mit einem Schriftsteller. Mal was Neues. Hoffentlich ist der nicht zu verkopft … Ist ja nicht Sinn der Sache.
Wenn Pauline, die inzwischen wie Michel ins Drogendezernat gewechselt war, keinen Dienst hatte, verbrachte sie einen Großteil ihrer Freizeit auf diversen Dating-Portalen, um sich dann abends mit einem Auserwählten ins Pariser Nachtleben zu stürzen.
Marie antwortete umgehend: Du wirst ihn schon auf die richtigen Gedanken bringen.
Im Laufe des Wochenendes würden sie miteinander telefonieren. Dann würde Pauline ihr bestimmt detailreich von ihrem neuen Abenteuer erzählen.
Saint-André du Périgord, Freitag, 30. Juni
Léonie war in der Regel stolz auf ihre Großnichte. Marie war ein feiner, gutherziger Mensch und eine engagierte Kriminalpolizistin, und Léonie war sich absolut sicher, dass sie ihre Arbeit gut machte. Aber im Moment war sie einfach nur enttäuscht. Sie hatte sich so auf einen gemütlichen Abend mit Marie gefreut – die dann, anstatt wie versprochen draußen den Tisch zu decken, plötzlich herbeigeeilt war, um ihr mitzuteilen, sie müsse wegen einer dringenden Angelegenheit weg und könne den heutigen Abend doch nicht mit ihr verbringen. Seit Monaten schon sah Léonie sie nur noch im Vorbeigehen, so eingespannt war sie.
Als hätte er geahnt, dass er sie auf andere Gedanken bringen sollte, betrat in diesem Moment Georges die Küche.
»Hmmm! Wie das hier duftet! Poulet basquaise?«
Meistens erriet er die Gerichte sofort an ihrem Geruch.
»Exactement!«
Er grinste breit, und sie freute sich, ihn so glücklich zu sehen.
Dank seiner ruhigen, zufriedenen Ausstrahlung löste sich ihre Missstimmung auf.
»Marie sieht man nur noch im Vorbeifliegen«, stellte Georges fest. »Die hat gerade wieder mit wehenden Fahnen den Hof verlassen. Dass die jungen Menschen ständig so rennen müssen! Dadurch dreht sich die Welt auch nicht schneller!«
»Ich glaube, es ist was Berufliches. Eigentlich wollte sie mit uns essen, aber dann hieß es, sie müsse irgendwohin. Hoffentlich ist das nicht wieder ein Fall, der sie tagelang von früh bis spät in Anspruch nimmt.«
»Wollte Michel nicht am Wochenende kommen?«
»Wohl morgen erst. Und dann verbringt sie die restliche Zeit bestimmt ausschließlich mit ihm.« Die letzten Worte hatte sie sich nicht verkneifen können. Aber das war spitzzüngig, und ihr wurde im selben Moment bewusst, dass sie kein Recht hatte, so zu reden.
Georges musste das auch aufgefallen sein, denn er schaute sie überrascht an. Das machte Léonie verlegen. Sie nahm ein gerahmtes Foto in die Hand, das auf dem Küchenschrank stand. Michel hatte es an einem schönen Herbsttag aufgenommen und ihr zu Weihnachten geschenkt. Es zeigte eine Nahaufnahme von Marie und ihr. Die starke Zuneigung, die sie füreinander empfanden, kam auf diesem Bild perfekt zum Ausdruck, sprengte geradezu den hübschen Holzrahmen. Die Köpfe dicht aneinandergelegt, lächelten sie beide glücklich in die Kamera. Die braunen Locken ihrer Großnichte vermengten sich mit ihrem feinen weißen Haar.
»Ich vermisse einfach die schöne Zeit, die wir zusammen verbracht haben – am Anfang, als sie hierhergezogen ist. Jetzt muss ich sie mit so vielen anderen teilen«, sagte Léonie leise.
»So kenne ich dich ja gar nicht.« Das klang nicht vorwurfsvoll, Georges schien nur verwundert zu sein. »Du siehst sie doch fast täglich.«
»Ja, wahrscheinlich höre ich mich gerade an wie ein bockiges Kind.«
Dabei sollte es genau so sein: dass Marie eine Arbeit hatte, die sie ausfüllte, und dass sie in ihrer Freizeit möglichst viele Stunden mit Michel verbrachte. Zumal Léonie sehr besorgt gewesen war, als letzten Sommer bei den beiden der Haussegen schief hing und sie sogar befürchtet hatte, sie würden sich trennen.
»Schlimmer noch … wie eine verbitterte Alte!«, fügte Léonie beschämt hinzu. »Marie ist jetzt sechsunddreißig und steht mitten im Leben. Zum Glück!«
»Genau!« Damit war für Georges alles gesagt, und das Thema, das in seinen Augen offensichtlich gar kein Thema war, hatte sich für ihn erledigt.
Er nahm einen großen, runden Brotlaib aus dem Emaillekasten, der noch von Léonies Mutter stammte, und das alte Messer mit dem abgewetzten dunklen Holzgriff, das danebenlag. Dann schnitt er dicke Scheiben ab, die er andächtig in den Brotkorb legte. Léonie wusste, dass für ihn ein Essen ohne Brot kein richtiges Essen war – wie für die meisten aus ihrer Generation. Die jungen Menschen heute aßen kaum noch Brot. Weil es dick machte. Oder wegen irgendwelcher Allergien. Wirklich erstaunlich, was es alles für Krankheiten gibt, wunderte sich Léonie und beobachtete weiter Georges. Er holte zwei Teller und ihre rot-weiß-karierten Stoffservietten aus dem schweren Eichenschrank und deckte in der Küche den Tisch – für sie an der Kopf- und für ihn an der Längsseite zu ihrer Linken. Anschließend betrachtete er zufrieden sein Werk und strich sich mit seiner knochigen Hand das weiße Haar nach hinten. Einen kurzen Moment dachte Léonie, dass sie ihm gern über den Kopf gestrichen hätte, aber so weit gingen ihre Berührungen im Alltag nicht. Dafür hatten sie ihre Liebe zu lange Jahre vor den Argusaugen ihrer Mutter verstecken müssen.
»Ach, der Wein!«, rief er plötzlich.
Ein Schlückchen Wein gehörte zu einer guten Mahlzeit. Georges stellte eine angebrochene Rotweinflasche auf den Tisch, einen vollmundigen Bergerac, den Michel ihnen mitgebracht hatte.
Stillschweigend setzte er sich an seinen Platz, und Léonie sah das erwartungsvolle Leuchten in seinen Augen. Es war nicht zu übersehen, dass er hungrig war. Dieser dürre lange Lulatsch hatte einen mächtigen Appetit. Und er wusste gutes Essen zu schätzen. Deswegen bereitete es ihr auch jeden Tag aufs Neue solche Freude, für ihn zu kochen.
*
Bereits mehrere Hundert Meter vor dem Ortsschild von Montignac sah Marie zahlreiche Autos am Straßenrand parken. Es war deutlich mehr los als an einem Wochenendmarkt im Hochsommer. In der Tageszeitung Sud-Ouest hatte sie gelesen, dass für das Wochenende über dreißigtausend Gäste erwartet wurden, was für eine Dreitausendseelengemeinde eine gewaltige Besucherzahl war. Trotzdem wagte sie sich mit ihrem Auto bis zum Ortskern vor und stellte es am linken Ufer der Vézère ab, unterhalb der alten Steinbrücke auf dem Parkplatz der Police Municipale. Selbst notorische Falschparker trauten sich nicht, ihre Wagen hier zurückzulassen. Zu Recht, denn hier hatte man die Gewissheit, unverzüglich abgeschleppt zu werden, und die nächste Abholstelle für Parksünder war mehr als dreißig Kilometer entfernt. Das konnte einem den Besuch in der Heimat der berühmten Lascaux-Höhlen gründlich verhageln.
Sie ging kurz in das bescheidene Polizeigebäude, um die Kollegen zu informieren, dass ihr Dienstwagen auf deren Parkplatz stand. Zudem hoffte sie, dort Agent Visla anzutreffen, den Polizisten, der sie bei ihren letzten Fällen mehrfach unterstützt hatte. Sie mochte seine verbindliche Art und sein Pflichtbewusstsein. Obendrein schätzte sie seine schnelle Auffassungsgabe.
»Den werden Sie am Marktplatz bei den Ausstellern finden. Er schaut dort mit einem Kollegen nach dem Rechten«, wusste eine junge Frau in Uniform zu berichten, die hinter einem schlichten grauen Tresen die Stellung hielt. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu schließen langweilte sie sich, wahrscheinlich wäre auch sie gern da draußen in dem bunten Treiben. »Da sind wieder mal Taschendiebe unterwegs. Denen wollen wir keine Chance geben«, fügte sie noch in energischem Tonfall hinzu.
Marie bedankte sich und verließ das Gebäude.
Sie ging links eine schmale Straße hinauf, auf der man nach fünfzig Metern zum Stadtkern gelangte. Von dort erklang laute Musik. Oben angekommen, betrat sie den Platz des Bürgermeisteramts und fand sich augenblicklich mitten im Trubel wieder, der in ein ungewohntes Licht getaucht war. Im Stadtzentrum hingen über den Straßen und Plätzen farbig leuchtende Girlanden, deren bunte geometrische Muster sich wie bei einem Kaleidoskop drehten und sich auf dem Pflaster, den Fassaden und auch auf den Menschen spiegelten. Marie schaute hoch zu dem noch makellos blauen Himmel, vor dem die Farben der Girlanden noch kräftiger wirkten – dabei war es schon nach zwanzig Uhr, wie sie der großen, runden Uhr auf der Frontseite des Bürgermeisteramts entnehmen konnte. In der zweiten Junihälfte gab es die längsten Tage des Jahres, und vor halb elf würde es nicht dunkel werden. Marie liebte diese Jahreszeit und hatte immer den fast kindlichen Drang, diese hellen Abende in vollen Zügen zu genießen.
Viele Menschen waren unterwegs, und Marie vernahm einen fröhlich klingenden Wirrwarr unterschiedlicher Dialekte und Sprachen. Auch lauschte sie der Musik, auf deren Quelle sie langsam zuging. Einen Augenblick später konnte sie sehen, was das Publikum auf dem Vorplatz der Mairie so faszinierte: Vier Frauen und vier Männer führten auf dem Platz einen traditionellen Tanz auf, und zwei Akkordeonspieler sorgten für die musikalische Begleitung. Der Tanz hatte bestimmt einen besonderen Namen, den Léonie kennen würde. Marie hingegen musste passen, als typisches Stadtkind verstand sie nichts von Volkstänzen.
Die vier Tänzerinnen trugen weite, knöchellange, pastellfarbene Kleider mit Blumenmuster und Spitzenkragen. Zu ihren Kostümen gehörten Schürzen, gehäkelte Handschuhe und Hauben, die kunstvoll die Haare umrahmten. Léonie hatte Marie erklärt, dass die Akteure der Félibrée sich bei der Wahl ihrer Kleidung streng an die Trachtenmode von 1900 halten mussten. Für Maries Geschmack war das zu viel Folklore und Schnickschnack. Die schlichten, zeitlos wirkenden Kostüme der vier tanzenden Männer fand sie allerdings stilvoll: Jeder von ihnen trug eine dunkle Hose, ein weites weißes Leinenhemd, eine schwarze Weste und einen Hut mit breiter Krempe, der ebenfalls schwarz war. Drei von ihnen hatten sich noch ein rotes Halstuch umgebunden.
Die Tanzgruppe war mit großem Spaß bei der Sache und erntete Beifall von dem gemischten Publikum aus Jung und Alt, Einheimischen und Touristen, die alles zu fotografieren schienen.
Die Veranstaltung hatte einen gewissen Charme, wie Marie sich eingestand. Fast war sie versucht mitzutanzen. Es war bon enfant, wie man im Französischen zu sagen pflegte – »von freundlicher, friedvoller Stimmung«.
Aber die Festivitäten hier waren nicht der Grund ihres Besuchs. Sie wandte sich nach links und betrat die alte Steinbrücke über die Vézère, die das ganze Wochenende für den Verkehr gesperrt war. Der Blick, der sich von dort bot, war Marie vertraut, doch sie fand ihn immer wieder aufs Neue reizvoll. Rechts am Ufer standen die alten Fachwerkhäuser, in denen sich Restaurants befanden und deren großflächige Terrassen sich bis zum Fluss hin erstreckten. Dahinter sah man die Kirche Saint-Pierre-ès-Liens mit ihrem hohen Glockenturm. Und oberhalb davon, zur linken Seite hin, erhob sich das Schloss von Montignac mit seiner lang gestreckten Wehrmauer und dem viereckigen Turm, dem einzigen, der die Jahrhunderte überdauert hatte.
Unter den vorbeiflanierenden Menschen erkannte Marie mehrere vertraute Gesichter. Man warf sich ein freundliches »Salut« zu und suchte sich dann weiter einen Weg durch die dichte Menschenmenge. Auch hier herrschte eine fröhliche Stimmung. An der Straße entlang des Ufers waren nun die ersten Ausstellerstände zu sehen, und überall hingen rot-gelbe Fahnen mit dem Okzitanischen Kreuz, dessen zwölf Spitzen mit Kugeln besteckt waren. Es war das Wappenmotiv Südfrankreichs und zugleich auch das Wahrzeichen der Félibrée.
Während sie auf der anderen Flussseite weiterging, fiel ihr an einer Hausfassade eine Banderole ins Auge, auf der ein okzitanisches Sprichwort prangte: »Femna e dentèla son mai polidas a la candèla.« Es war im Dialekt der hiesigen Landbevölkerung geschrieben, den Marie nicht verstand. Die Übersetzung darunter verriet: »Frauen und Spitzen sind bei Kerzenlicht noch schöner.«
Was für ein Chauvispruch, fuhr es Marie durch den Kopf. Aber wenn der hier noch so selbstverständlich hing, bedeutete dies wohl, dass viele Leute noch so dachten oder sich zumindest nicht an ihm störten. So schnell änderten sich die Zeiten leider nicht.
Endlich erreichte sie den Stand des Weinguts Traubenfest. Wie Bruno es ihr gesagt hatte, befand er sich neben der Kirche, und sie sah, dass drei wartende Kunden davorstanden. Sie entschied, sich dahinter anzustellen.
Auf einer Schiefertafel waren die Namen und Preise der Weine notiert. Es waren insgesamt vier – der preiswerteste kostete siebzehn, der teuerste zweiundvierzig Euro. Das muss man sich erst mal leisten können, dachte Marie. Alle hatten poetisch anmutende Namen: La forêt bleue (Der blaue Wald), Le chant du merle (Der Gesang der Amsel), La source folle (Die verrückte Quelle) und Le secret de la vallée (Das Geheimnis des Tals).
Eine schlanke, attraktive Frau Mitte vierzig mit etwas strengen, aber ebenmäßigen Gesichtszügen bediente die Kunden. Das musste Jeanne Laroussine sein. Marie sah ihr die sorgenvolle Anspannung an: Krähenfüße ließen ihre grünen Augen müde wirken. Ihr dunkles, kurzes Haar war ungleichmäßig geschnitten, als würde sie selbst zur Schere greifen, und sie war ungeschminkt. Also eher der natürliche und uneitle Typ, mutmaßte Marie, die sich selbst nur sehr dezent schminkte. Ein wenig Wimperntusche und etwas Lippenstift, das musste reichen.
Marie fiel auf, dass die Frau die Fragen ihrer Kunden freundlich, aber mit einer gewissen Hast beantwortete. Auffallend war, dass sie sich dabei immer wieder aufmerksam umschaute, als hoffte sie, jemanden zu entdecken – ihre Tochter? In Windeseile packte sie die jeweils gewünschten Weinflaschen in braune Papiertüten, kassierte und wandte sich dann mit einem angestrengt wirkenden Lächeln dem nächsten Kunden zu. Marie empfand plötzlich Mitgefühl für diese Frau, die sichtbar um Fassung rang.
Als Marie an der Reihe war, zeigte sie diskret ihre Dienstmarke und fragte leise: »Sind Sie Madame Laroussine?«
»Oui.« Die Frau riss die Augen auf.
Marie sah die Panik, die sich in ihrem Blick widerspiegelte.
»Haben Sie Emma gefunden?« Jeanne Laroussine hatte eine auffallend tiefe Stimme.
»Nein, aber ich würde gern mit Ihnen sprechen, wenn das möglich ist«, erwiderte Marie.
Anstatt ihr zu antworten, wandte die Winzerin sich einem kräftigen, bärtigen Mann mittleren Alters zu, der hinter dem Nachbarstand mit Kupferware saß und zwei englischen Kunden einen handgehämmerten Kessel anpries. Dabei hatte er sich seine Lesebrille auf die Stirn geschoben.
»Entschuldige, Robert, könntest du für ein paar Minuten meinen Stand mit übernehmen?«, bat sie ihn.
Er stellte sofort den Kessel auf seinen Vorführtisch und sagte zu den Touristen in gebrochenem Englisch: »Please … look and wait a moment.«
»No problem«, antwortete einer der beiden Engländer mit einem Nicken.
Der bärtige Kupferschmied lächelte die Winzerin warmherzig an. »Klar, Jeanne. Geh nur, ich kümmere mich um deine Kunden.«
Als er von seinem Hochhocker aufstand, sah Marie, dass er eine braune Lederschürze trug. Aus deren Tasche holte er nun Hammer und Zange hervor und legte beides neben den Kessel.
Ob sich solche hochpreisigen Kupferkessel und -töpfe, die nicht gerade spülmaschinenfreundlich sind, heutzutage noch gut verkaufen?, fragte sich Marie unvermittelt. Zumal sie nicht gerade günstig waren, wie ihr ein Blick auf die Preisschilder verriet.
Er trat zu Jeanne Laroussine, die mit einem kaum hörbaren »Merci« reagierte. Er schien die Winzerin näher zu kennen, schloss Marie aus der behutsamen Art, wie er ihr die Hand auf die Schulter legte.
»Mach dich nicht verrückt, Jeanne. Emma ist bestimmt bald wieder zurück«, sagte er mitfühlend.
Dann schaute er Marie mit aufmerksamem Blick an. Offensichtlich versuchte er zu erraten, wer sie war und was es mit ihrem offensichtlich wichtigen Besuch auf sich hatte.
Marie reichte ihm die Hand und stellte sich vor – allerdings nur mit ihrem Namen. Er musste nicht gleich wissen, dass sie von der Polizei war.
»Enchanté, Robert Pinçon«, gab er freundlich zurück.
Sie würde später mit ihm sprechen.
Wenn Richard da gewesen wäre, hätten sie sich die Aufgaben teilen können, aber so musste sie eins nach dem anderen erledigen.
Montignac, Freitag, 30. Juni
Nachdem Jeanne Laroussine dem Kupferschmied noch einige Anweisungen gegeben hatte, wandte sie sich wieder Marie zu.
»Setzen wir uns in meinen Transporter, da haben wir noch am meisten Ruhe. Bei den vielen Menschen hier versteht man ja sein eigenes Wort nicht.«
Die Winzerin zeigte auf das große Fahrzeug mit geöffneten Hecktüren, das neben ihrem Stand geparkt war und während des Festes wohl als Lager diente – auf der Ladefläche war eine große Menge Weinkartons gestapelt. Kraftvoll warf sie die beiden Türen zu und ging mit energischen Schritten nach vorn, wo sie auf der Fahrerseite einstieg und von dort die Beifahrertür öffnete. Marie folgte ihr und nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Vom Transporter aus konnten sie das Treiben auf dem Kirchplatz weiterhin verfolgen, aber nun waren sie von dem Lärm dort so gut wie abgeschottet.
»Erzählen Sie bitte so genau wie möglich, was passiert ist«, forderte Marie die Winzerin auf, nachdem sie ihr mit wenigen Worten berichtet hatte, wie es dazu gekommen war, dass nicht Polizisten aus Montignac, sondern sie sich nach Emma erkundigte.
»Da gibt es leider nicht viel zu erzählen«, antwortete Jeanne Laroussine. »Ungefähr seit zehn Uhr heute Morgen ist meine Tochter verschwunden. Sie hatte gerade noch einen Kunden bedient, und dann war sie plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wo sie stecken könnte, und werde noch wahnsinnig vor Sorge.«
»Das verstehe ich, und ich möchte Ihnen helfen. Aber bevor wir umfangreichere polizeiliche Ermittlungen aufnehmen, muss ich mir erst ein Bild von der Situation machen. Ist das für Sie okay?«
Die Frau nickte.
Marie blickte kurz auf ihre Uhr.
»Emma ist also seit knapp elf Stunden verschwunden. Wie alt ist sie genau?«
»Sie ist vor zwei Monaten sechzehn geworden.«
In dem Alter klammheimlich zu verschwinden und für einen Moment schlicht zu vergessen, dass Eltern sich Sorgen machten – das war eigentlich nichts Außergewöhnliches. Als Teenager hing man ja gern schon mal mit Freundinnen oder Freunden rum und ließ sich mitziehen.
»Sie haben also nicht bemerkt, wie oder mit wem Emma heute Morgen den Stand verlassen hat?«
»Nein. Ich war mit mehreren Kunden beschäftigt, und erst als ich die bedient hatte, fiel mir auf, dass sie weg war. Zuerst habe ich mir nichts weiter dabei gedacht. Ich habe angenommen, sie ist zur Toilette und kommt gleich wieder.«
»Ich nehme an, sie hat ein Handy?«
»Bien sûr! Ich hab bestimmt an die dreißig Mal versucht, sie zu erreichen. Aber da ging immer nur die Mailbox an – und bei den letzten Malen war gar nichts mehr. Wahrscheinlich ausgeschaltet.«
»War sie vielleicht mit Freunden verabredet und hat Ihnen nichts davon gesagt?«
»Sicher nicht. Sie würde mich niemals einfach so sitzen lassen mit all der Arbeit hier. So ist Emma nicht. Wirklich nicht.«
»Haben Sie schon mal versucht, bei Freunden nachzufragen, wo Ihre Tochter abgeblieben sein könnte?«
Die Mutter drehte ihr Gesicht nach vorn und legte die Hände aufs Lenkrad, als wolle sie gleich losfahren. Etwas an dieser Frage schien sie zu stören.
»Sie werden es vielleicht seltsam finden, aber Emma trifft sich nicht mit Freunden. Sie ist lieber zu Hause oder bei uns auf dem Grundstück und arbeitet mit mir auf dem Weingut.«
Das fand Marie tatsächlich etwas befremdlich für eine Sechzehnjährige und beschloss deshalb nachzuhaken.
»Wollen Sie damit andeuten, dass Emma eigentlich gar keine Freunde hat?«
Die Winzerin atmete tief durch und wandte ihr Gesicht wieder Marie zu. »Na ja, sie geht aufs Gymnasium in Sarlat und ist da natürlich mit Gleichaltrigen zusammen. Aber zu irgendwelchen Treffen außerhalb der Schule verabredet sie sich nicht mit denen.«
»Erwähnt sie manchmal Namen von Schülern, die man kontaktieren könnte? Jemanden, der vielleicht weiß, wo sie sein kann?«
Jeanne Laroussine schüttelte den Kopf.
»Und einen Freund hat sie auch nicht?«, fragte Marie und hatte dabei das Gefühl, die Antwort schon zu kennen.
»Nein!« Es klang, als sei das für die Winzerin ein völlig abwegiger Gedanke.
So kam sie nicht weiter. Marie versuchte es mit einem neuen Ansatz.
»Und was ist mit Emmas Vater?«
Die Frau kniff kurz die Lippen zusammen.
»Wir sind seit sechs Jahren geschieden, und er lebt mehr als tausend Kilometer weit weg. In Andalusien.«
»Hat Emma Kontakt zu ihm?« Marie ahnte wieder, wie die Antwort ausfallen würde.
»Kaum. Der meldet sich an ihrem Geburtstag und zu Weihnachten. Das war’s.« Ihr harter, energischer Tonfall ließ erkennen, dass sie nicht weiter über ihren Ex-Mann sprechen wollte.
Wahrscheinlich hatte sie, aus welchem Grund auch immer, die Trennung noch nicht richtig überwunden, dachte Marie und entschied, das Verhältnis zum Vater nicht weiter zu thematisieren. Sie würde sich seine Kontaktdaten später geben lassen.
»Demnach haben Sie das alleinige Sorgerecht für Emma?«
»Genauso ist es.«
»Haben Sie sich gestern oder heute Morgen mit ihr gestritten?«
Jeanne Laroussine schaute sie empört an, als wäre die Frage aufs Höchste unanständig.
»Wir streiten uns nie.«
»Na ja, das soll selbst in den besten Familien vorkommen«, sagte Marie spontan. Diesen Allerweltsspruch hatte sie sich nicht verkneifen können. Sie zum Beispiel stand ihrem Vater sehr nahe, aber sie stritten sich durchaus gelegentlich, auch wenn sie sich schnell wieder versöhnten.
»Aber nicht bei uns!«, erwiderte die Winzerin schroff. »Wir haben keine Zeit zu streiten.«
Der barsche Ton erstaunte Marie. Er verlieh der Frau etwas Hartes und Unnahbares. Das war wahrscheinlich der Sorge um ihre Tochter geschuldet, deshalb fuhr Marie etwas behutsamer fort.
»Madame Laroussine, ich versuche doch nur zu verstehen, warum Ihre Tochter verschwunden ist. Und ich bin da auf Ihre Hilfe angewiesen.«
Die Winzerin seufzte, und ihre Gesichtszüge wurden weicher.
»Verzeihen Sie bitte. Ich bin mit den Nerven am Ende und mache mir entsetzliche Sorgen.«
»Das verstehe ich. Lassen Sie uns einfach weiter überlegen. Soweit ich begriffen habe, hilft Ihre Tochter Ihnen regelmäßig bei der Arbeit. Sie beide sind also ein gutes Team, richtig?«
»Ja!« Jeanne Laroussine wies mit der Hand auf die weiße Seitenplane ihres Standes, wo mit übergroßen goldenen Buchstaben – was besonders edel aussah – der Name ihres Unternehmens aufgedruckt war: VIGNES EN FÊTE – Laroussine, Mère & Fille.
Marie, die zuvor nicht darauf geachtet hatte, sah erst jetzt, dass »Mutter & Tochter« dort stand – so wie »Vater & Sohn« bei Firmen, deren Führung in männlicher Hand lag. Dass die gerade erst sechzehn Jahre alte Tochter bereits im Unternehmensnamen auftauchte, zeigte deutlich, wie sehr Emma von ihrer Mutter geschätzt wurde. Und dass sie ihr trotz ihrer Jugend beruflich eine starke Stütze war.
»Ihre Tochter hat also keine Geschwister«, schlussfolgerte Marie.
»Nein.«
»Hat sie Cousins oder Cousinen, denen sie nahesteht? Oder Großeltern? Gibt es Verwandtschaft, die man befragen könnte?«
Die Winzerin schüttelte den Kopf.
»Ich bin Einzelkind – und Emmas Vater auch. Meine Eltern sind gestorben, und seine leben irgendwo auf Gran Canaria … Sie haben sich nie für Emma interessiert«, fügte sie nüchtern hinzu.
Mutter und Tochter lebten offenbar ziemlich isoliert, hatten außerhalb von Schule und Beruf so gut wie keine Kontakte. Und Jeanne Laroussine schien das nicht zu stören, wie Marie zunehmend bewusst wurde.
»Wie schafft Emma es, sich neben der Schule und den Hausaufgaben so auf dem Weingut zu engagieren?«