Kalte Blüten - Julie Dubois - E-Book
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Kalte Blüten E-Book

Julie Dubois

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Beschreibung

Julie Dubois entführt mit ihrem zweiten Roman um die deutsch-französische Kommissarin Marie Mercier in das zauberhafte Périgord, Frankreichs Feinschmeckerparadies

Vier Schwestern und ein Todesfall auf einem geheimnisvollen Bauernhof

Es ist Frühling in Saint-André-du-Périgord, die Natur ringsum ein Blütenparadies. Vor kurzem hat Kommissarin Marie Mercier die Leitung des Kommissariats der Region übernommen und Paris Lebwohl gesagt. Sie liebt ihr neues Leben auf einem selbst renovierten Hof und genießt die Kochkünste ihrer rüstigen Großtante Léonie, die gleich nebenan wohnt. Da erhält Marie Nachricht von einem rätselhaften Fund - ein menschlicher Schädel, der bei Ausgrabungen für den Bau einer Ölmühle freigelegt wurde. Das Gelände mit den alten Walnussbäumen gehört zum Hof der vier Barthes-Schwestern, die der Kommissarin zunächst mit schroffer Zurückhaltung begegnen. Dafür gibt es gute Gründe, wie Marie bald herausfindet. Ist einer davon der geheimnisvolle Charmeur Romain Dubosc, der mit seinem besonderen Geschäftsmodell große Pläne für die Gegend hat?

Farbenprächtige Atmosphäre, lebensechte Figuren, köstliche regionale Kulinarik und ein frischer Erzählton mit originellen Betrachtungen zum französischen Savoir-vivre - stimmungsvolle Spannung bis zur letzten Seite

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Seitenzahl: 451

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhalt

CoverÜber das BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungMottoPrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33

Über das Buch

Julie Dubois entführt mit ihrem zweiten Roman um die deutsch-französische Kommissarin Marie Mercier in das zauberhafte Périgord, Frankreichs Feinschmeckerparadies Vier Schwestern und ein Todesfall auf einem geheimnisvollen Bauernhof. Es ist Frühling in Saint-André-du-Périgord, die Natur ringsum ein Blütenparadies. Vor kurzem hat Kommissarin Marie Mercier die Leitung des Kommissariats der Region übernommen und Paris Lebwohl gesagt. Sie liebt ihr neues Leben auf einem selbst renovierten Hof und genießt die Kochkünste ihrer rüstigen Großtante Léonie, die gleich nebenan wohnt. Da erhält Marie Nachricht von einem rätselhaften Fund – ein menschlicher Schädel, der bei Ausgrabungen für den Bau einer Ölmühle freigelegt wurde. Das Gelände mit den alten Walnussbäumen gehört zum Hof der vier Barthes-Schwestern, die der Kommissarin zunächst mit schroffer Zurückhaltung begegnen. Dafür gibt es gute Gründe, wie Marie bald herausfindet. Ist einer davon der geheimnisvolle Charmeur Romain Dubosc, der mit seinem besonderen Geschäftsmodell große Pläne für die Gegend hat? Farbenprächtige Atmosphäre, lebensechte Figuren, köstliche regionale Kulinarik und ein frischer Erzählton mit originellen Betrachtungen zum französischen Savoir-vivre – eine temperamentvolle Lektüre, die einen von der ersten Seite an in Urlaubsstimmung versetzt …

Über die Autorin

Julie Dubois ist eine deutsche Autorin mit französischen Wurzeln, die viele Jahre in Berlin zuhause war. Heute lebt sie zwischen Deutschland und dem Périgord, das sie zu dem stimmungsvollen Romansetting Saint André inspiriert hat. TRÜFFELGOLD ist der Auftakt einer Krimiserie um die deutsch-französische Kommissarin Marie Mercier.

Julie Dubois

KALTEBLÜTEN

EIN PÉRIGORD-KRIMI

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Dies ist ein Roman. Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig und unbeabsichtigt.

Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen

Originalausgabe

  

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

  

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Einband-/Umschlagmotiv: © www.buerosued.de

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

  

ISBN 978-3-7517-2077-9

www.luebbe.de

www.lesejury.de

 

Für Georges R., der sich sehnlich gewünschthatte, dass wir sein geliebtes Périgord nievergessen.

 

»Il n’est si pas facile de se taire,

quand le silence est mensonge.«

»Es ist nicht so leicht zu schweigen,

wenn das Schweigen eine Lüge ist.«

Victor Hugo, »Les Misérables«

»Chaque pétale est comme une

paupière mauve

Que la clarté pénètre et réchauffe

en tremblant.«

»Jedes Blütenblatt ist wie ein

malvenfarbenes Augenlid,

durch das das Licht dringt und

es bebend wieder erwärmt.«

Émile Verhaeren, »Autour de ma maison«

Prolog

Voller Wehmut dachte Pedro Martinez an die ausgedehnten Wälder seiner Heimat im Norden Portugals, als er die drei riesigen Walnussbäume betrachtete, die nun zersägt am Rande des Grundstücks lagen. Er schüttelte kurz den Kopf. Was soll’s? Menschen waren nun mal wichtiger als Bäume, und die hochmoderne Ölmühle, die an dieser Stelle errichtet werden sollte, würde vielen ein gutes Auskommen sichern.

Er steuerte seinen Bagger auf die letzte Baumwurzel zu, die er gleich mit der großen Schaufel aus dem Erdreich hieven würde. Alle anderen lagen bereits auf dem gigantischen Haufen aus Walnussholz. Früher hatte man die Stämme zu hohen Preisen als Material für Möbel verkauft, aber heute würden sie nur noch als Brennholz dienen.

Diese letzte Wurzel war die kleinste von allen. Das fiel ihm gleich auf, als die Schaufel seines Baggers sich langsam wieder hob. Auf einmal stutzte er. Da war etwas Helles im Erdreich, das die Baggerschaufel mit erfasst hatte. Sofort hielt er sie an und sprang von seinem Sitz.

Er trat vor den Bagger und betrachtete das blasse Objekt. Auf den ersten Blick sah es wie eine kleine, runde Schale aus. Aber dann entdeckte er etwas daran: zwei Reihen von Zähnen und einen blanken Unterkieferknochen.

»Meu Deus! Mein Gott, das ist ein Schädel, ein menschlicher Schädel!« Er riss sich seine Baseballkappe vom Kopf und taumelte entsetzt mehrere Schritte rückwärts.

Kapitel 1

Saint-André-du-Périgord, Montag, 22. März

Die Glocken von Saint-André-du-Périgord läuteten, aber noch lag das Dreihundertseelendorf im Tal der Vézère vollkommen still da. Kommissarin Marie Mercier schaute auf die Küchenuhr. Sieben in der Früh. Michel war schon vor einer Stunde losgefahren, denn er musste pünktlich im Polizeipräsidium von Bordeaux eintreffen, wo er das Rauschgiftdezernat leitete.

Michel Leblanc war der Mann, mit dem sie inzwischen eine Wochenendbeziehung führte. Marie hatte ihn im Lauf der Ermittlungen zu einem doppelten Kriminalfall kennengelernt. Er war der zuständige Kommissar, und sie hatte aus persönlichem Interesse Nachforschungen angestellt, obwohl sie das eigentlich gar nicht gedurft hätte.

Unwillkürlich legte sie eine Hand an ihren Hals. Narben hatte sie keine zurückbehalten, obwohl sie ihren Alleingang beinahe mit dem Leben bezahlt hätte. Während dieser Ermittlungen hatte sie sich in Michel verliebt. Und er sich in sie. Das war vor einem halben Jahr gewesen, sie befanden sich also noch am Anfang ihrer Beziehung und entdeckten einander jedes Wochenende ein Stückchen mehr.

So hatten sie auch die letzten zwei Tage genossen, lange Spaziergänge unternommen, in einem idyllisch gelegenen Landgasthof köstliches Wildschwein am Spieß gegessen und viel Zeit im Bett verbracht – wunderbare Momente der Zärtlichkeit …

Aber jetzt war nicht die Zeit, in wohligen Erinnerungen zu schwelgen. Schließlich stand eine neue Arbeitswoche an, und in zwanzig Minuten würde sie zum Präsidium aufbrechen müssen. Doch vorher wollte sie draußen in der Frühlingssonne noch einen Kaffee genießen. Sie goss den letzten Rest aus der Kanne in ihre Bol und schaute sich zufrieden in ihrer Küche um. Die Umbauarbeiten hatten sich gelohnt, auch wenn alles länger gedauert hatte als vorgesehen und zudem teurer geworden war. Sie hatte die Wand zwischen der ehemaligen Küche und dem Esszimmer einreißen lassen und stand jetzt in der geräumigen, hellen Wohnküche, von der sie immer geträumt hatte. Ein großer Holztisch mit bequemen Korbsesseln beherrschte die Mitte des Raumes, und eine mit grünem Samt bezogene Récamiere, neben der eine Designerstehlampe stand, bot einen gemütlichen Leseplatz. Das Licht, das durch die beiden Fenster fiel, spiegelte sich in einem großen, barock anmutenden Spiegel wider. Die helle Küchenzeile war schlicht und funktional, so wie Marie es mochte, aber ergänzt durch einen gusseisernen Herd mit Kupfergriffen, den sie im Internet gefunden hatte. Er sah uralt aus und vermittelte den Eindruck, als hätte er von Anfang an in diesem Haus gestanden. »Was für eine Schnapsidee, so ein altes Ding zu kaufen!«, hatte ihre Großtante Léonie angemerkt, die ebenfalls in einem Haus auf diesem Anwesen wohnte. Und Marie hatte entgegnet: »Von so einem Ofen habe ich schon immer geträumt. Außerdem finde ich diesen Mix aus Alt und Neu irgendwie belebend. Ein bisschen wie bei uns, oder?« Die Antwort hatte Léonie gefallen.

Insgesamt wirkt die Wohnküche nicht überdekoriert – und genau so muss es sein, dachte sie nun, nahm ihre Bol und ging zur Küchentür, die auf den Hof hinausführte. Ihr Blick fiel auf das gerahmte Foto neben dem Türrahmen. Darauf waren Maries Vater, Harald Keller, und ihre beiden Cousins Viktor und Moritz in Karnevalskostümen zu sehen, wie sie lachend vor dem Kölner Dom posierten. Sie lebten alle drei in unterschiedlichen Vierteln der Domstadt und trafen sich gern und regelmäßig. Die Söhne seiner Schwester waren für ihren Vater eine Art Kindersatz, da seine einzige Tochter so weit entfernt lebte. Als Marie das letzte Mal Karneval mit ihnen gefeiert hatte, war sie als Fliegenpilz mit einem riesigen roten Hut mit weißen Punkten durch die quirlige Kölner Altstadt gelaufen, was ihre Cousins dazu veranlasst hatte, sie als »Imi« zu bezeichnen, also als Zugereiste. »Echte« Kölsche Jecke gingen als Clowns, insbesondere wie sie als Lappenclowns oder in rot-weiß geringelten Hemden und Strümpfen mit einem schwarzen Sakko. Karneval sei nun mal eine ernste Angelegenheit. Maries Mutter, die ihrem Vater ins Rheinland gefolgt war, hatte sich nicht damit anfreunden können. Sie war lange nach der Trennung von Maries Vater vor ein paar Jahren von Paris nach Nizza gezogen. Auch in Nizza wurde Karneval gefeiert, doch dem bunten Treiben dort stand sie deutlich offener gegenüber – weil es an der Côte d’Azur, wie sie gern betonte, »viel stilvoller« zuginge. Allein aus diesem Grund würden ihre Eltern sich wohl niemals richtig versöhnen können …

Ihre Cousins hatten Marie die Karnevalsaufnahme kurz vor Weihnachten geschickt, nachdem sie erfahren hatten, dass Marie ihre Familie im Rheinland wegen der Probezeit in ihrem neuen Job für längere Zeit nicht würde besuchen können. Jetzt blieb sie vor dem Bild stehen und hob ihre Bol. »Tach, Jungs!« Dabei fiel ihr ein, dass ihr Vater heute Geburtstag hatte – sie durfte nicht vergessen, ihm später zu gratulieren.

Draußen hatte Gaston, der rot getigerte Kater, den besten Platz auf der Bank bereits in Beschlag genommen und ignorierte den Mischlingshund César, der an ihm herumschnupperte. Marie setzte sich zu den beiden Tieren, blinzelte in die frühe Morgensonne und dachte wieder an Michel, der inzwischen wohl den größten Teil der Strecke nach Bordeaux geschafft haben dürfte – es waren knapp zwei Stunden Autofahrt. Die Vögel, für die gerade die Paarungszeit begonnen hatte, zwitscherten wild durcheinander. Marie machte sich abermals bewusst, was für ein Glück sie hatte, in einer solch idyllischen Umgebung leben zu dürfen. Von der schweren Eichenbank, die seit vielen Jahrzehnten an genau dieser Stelle stand, blickte sie auf das Anwesen der Merciers, ihrer Familie mütterlicherseits. Ihr Zuhause! Die Pflastersteine des Hofes waren vermutlich so alt wie die Gebäude, die 1870 errichtet worden waren, wie das über die Eingangstür gemeißelte Datum bezeugte. Die ockerfarbenen Sandsteinmauern leuchteten im Licht der Sonne. Und gestern hatten die Rosenstöcke der Pergola, die ihre Eingangstür umrahmten, erste grüne Spitzen gezeigt.

Vor einem Dreivierteljahr war Marie aus Paris, wo sie bei der Brigade Criminelle gearbeitet hatte, ins südwestliche Périgord gezogen, nachdem sie das Haus von Mamie, ihrer geliebten Großmutter, geerbt hatte. Inzwischen fühlte es sich so an, als wäre seither eine halbe Ewigkeit vergangen. So viel war passiert, sie hätte sich nicht träumen lassen, dass das Leben auf dem Land so aufregend sein würde. Dabei hatte sie gedacht, von Paris einiges gewohnt zu sein. Ursprünglich hatte sie nur ein Sabbatical in Saint-André verbringen wollen. Aber nach reiflicher Überlegung hatte sie sich letzten Herbst auf die Stelle von Michel in Périgueux beworben, nachdem dieser nach Bordeaux befördert worden war. Sein frei gewordener Posten hatte sie vor eine Frage gestellt, die sie irgendwann nicht mehr ignorieren konnte: Wollte sie sich wirklich von ihrem Pariser Leben, von ihren Kollegen dort ganz verabschieden und ihre Wohnung auflösen, nach der sie einst so lange gesucht hatte? Wenn sie sich tatsächlich um die Stelle in Périgueux bewarb und sie auch erhielt, konnte sie keine halben Sachen machen. Aber das war ohnehin nicht ihre Art.

Eines Morgens beim Aufwachen war ihr ganz plötzlich bewusst geworden, dass sie das Leben in Saint-André und vor allem die Menschen hier, die ihr so sehr am Herzen lagen, nicht mehr missen wollte. Hier inmitten dieser malerischen Landschaft war ihre Heimat. Noch vor dem ersten Schluck Kaffee hatte sie den Computer eingeschaltet und ihre Bewerbung losgeschickt. Michel und ihre quirlige Großtante Léonie, die Schwester ihrer verstorbenen Großmutter, hatten sicherlich gehofft, dass sie die Stelle bekäme und sich im Périgord niederlassen würde. Ihre Pariser Kollegin und beste Freundin Pauline wünschte sich hingegen, dass ein anderer Kandidat bevorzugt und Marie endlich in die Hauptstadt zurückkehren würde. Wie auch immer, Marie wurde zur Kommissarin in Périgueux ernannt.

Die Nachricht hatte sie mit einem lachenden und einem weinenden Auge aufgenommen. Sie liebte Paris, und diese Metropole würde für sie immer die schönste Stadt der Welt bleiben. Und Pauline, die ihr mit reichlich viel Dramatik »Verrat« vorgeworfen hatte, war auch nur schwer zu besänftigen gewesen. Aber mittlerweile hatte sie sich damit abgefunden, und sie beide hielten nach wie vor intensiven Kontakt. Marie hatte ihre Wohnung in Paris aufgelöst, ihr Sabbatical abgekürzt und vor ein paar Wochen den Dienst aufgenommen. Jetzt war sie wieder offiziell »Madame la Commissaire«. Und das gefiel ihr, wie sie sich eingestehen musste.

Eine vertraute Stimme schreckte sie aus ihren Gedanken auf.

»Schau mal, was ich gerade unter den Apfelbäumen gefunden habe«, rief ihre Großtante, die mit ihren dünnen Beinchen aufgeregt den gemeinsamen Hof durchquerte. So wie sie strahlte, musste es etwas Essbares sein. Léonie war eine leidenschaftliche und begnadete Köchin.

»Was findet man Ende März unter Obstbäumen?«, entgegnete Marie verwundert.

»Ja, was denn wohl? Morcheln! Fünf schöne, feste Morcheln!« Stolz streckte die zierliche alte Dame Marie ihre geblümte Schürze wie ein improvisiertes Körbchen entgegen, um ihr die hellen Schlauchpilze mit den wabenartigen Köpfen darin zu zeigen.

»Die sind ja prächtig. Hmmm! Am liebsten esse ich sie mit Nudeln und einer Sahnesauce«, meinte Marie, die sich immer für gutes Essen begeistern konnte.

»Ein klassisches Gericht des Périgord wäre, sie mit Kalbsbries in Blätterteig zuzubereiten«, gab Léonie zu bedenken. »Aber ganz einfach mit Nudeln ist auch keine schlechte Idee.«

»Wie wäre es, wenn wir sie heute Abend gemeinsam in meiner Küche zubereiten?«, schlug Marie vor. Sie wusste, dass sie sich damit auf heikles Terrain begab. Für Léonie war es nicht einfach, sich darauf einzulassen, dass auf dem Hof der Merciers anderswo als in ihrer Küche gekocht werden sollte. Das hatte es früher nie gegeben. Aber wie so oft hatte sie genügend Herz und Verstand, um sich spontan auf Maries Bitte einzulassen.

»Natürlich. Dann können wir gleich ausprobieren, ob dein alter Herd auch was taugt!«

»Super, aber jetzt muss ich mich sputen. Ich will um halb neun im Büro sein. In der Mittagspause versuche ich, in Périgueux frische Nudeln zu finden.« Marie eilte ins Haus und winkte Léonie zum Abschied. »Bis heute Abend.«

»Ja, dir einen schönen Tag, ma chérie.«

Marie nahm ihre Tasche, die Autoschlüssel und verließ rasch das Haus. Draußen stolperte sie fast über die Schubkarre, die Georges vor sich herschob. Der eigenbrötlerische ehemalige Hofknecht lebte seit seiner Jugend in einem Nebengebäude des Anwesens und gehörte längst zur Familie. Er und Léonie waren ein besonderes und rührendes Gespann: Immer spielten sie ein bisschen Katz und Maus miteinander, waren dabei aber stets um das Wohlergehen des anderen bemüht.

»Upps!«

»Ach, Madame la Parisienne hat es wieder mal eilig«, stellte er lakonisch fest.

Der hagere Georges trug seine obligatorische Cordhose, in die er dreimal hineingepasst hätte, und einen Pullover mit kariertem Muster. Ein Zigarettenstummel hing in seinem linken Mundwinkel. Marie war sich nicht sicher, ob er ihn heute schon angezündet hatte. Hauptsache, die Zigarette steckte im Mund.

»Und wo spazierst du mit deiner Schubkarre hin?«, fragte sie und musste schmunzeln.

Er zeigte auf den Schuppen mit den Holzvorräten.

»Von irgendwas muss Léonies Ofen ja brennen.« Er glättete mit einer Hand eine widerspenstige weiße Haarsträhne und ging dann auf den Schuppen zu. Marie hörte ihn irgendetwas vor sich hin brummeln – Georges pflegte seine kauzige Art.

Marie eilte weiter. Doch gerade als sie den Hof durch das schwere Holztor verlassen wollte, sah sie die Nachbarin Rose schon erwartungsvoll an der gemeinsamen Mauer der beiden Grundstücke stehen. Rose war zwei Jahre jünger als Léonie, womit sie gern kokettierte, und die beiden Frauen hatten ihr Leben Tür an Tür verbracht. Die rüstige Rentnerin war in eine rosafarbene Strickjacke gehüllt. So weit war also alles normal. Rose trug stets rosafarbene Kleidung – um ihrem Namen Ehre zu machen. Nun, um einen kurzen Plausch würde Marie nicht herumkommen, wenn sie nicht unfreundlich erscheinen wollte.

»Bonjour, Rose.«

»Bonjour, Marie. Schau mal!« Die Begeisterung stand Rose ins Gesicht geschrieben, als sie auf einige eher unauffällige Pflänzchen in einem ihrer kunstvoll arrangierten Blumenbeete deutete. »Das sind meine Pfingstrosen! Mit Pferdemist gedüngt, die werden dieses Jahr besonders prächtig. Du wirst schon sehen!«

»Es werden mit Sicherheit die großartigsten Pfingstrosen im ganzen Périgord, ach, was sage ich, im gesamten Département Dordogne.« Das meinte Marie ehrlich. Ihre Nachbarin war eine ebenso begnadete wie ehrgeizige Gärtnerin und nahm mit Recht für sich in Anspruch, zumindest den schönsten Garten von Saint-André zu haben. Nun ja, Léonie, die ihren Garten ebenfalls liebte und pflegte, sah das ein bisschen anders. Die beiden alten Damen standen da, wenn auch unausgesprochen, etwas in Konkurrenz.

Rose nickte eifrig voller Vorfreude. Ihr Bilderbuchgarten war eine ihrer großen Leidenschaften. Die anderen waren Tratschen und TV-Serien.

»Sag mal, gestern hab ich im Fernsehen einen Krimi gesehen. Da hat einer gleich drei Männer auf einmal ermordet, und frag nicht, wie … Und da wollte ich wissen, wie ihr das so macht. Also da war …«

Marie wusste, wie gern Rose, die seit dem Tod ihrer Eltern vor vielen Jahren allein lebte, sich unterhielt, aber sie hatte jetzt wirklich keine Zeit.

»Tut mir leid, Rose, aber ich muss dringend ins Büro. Wir reden ein anderes Mal drüber.«

Sie übersah geflissentlich, wie sich der Mund ihrer Nachbarin zu einem Schmollen verzog, und rief noch »Versprochen!«, während sie in ihren zerbeulten orangefarbenen R5 stieg.

Sie startete den Motor und fuhr von ihrer kleinen, gepflasterten Gasse auf die Hauptstraße von Saint-André zu. An der Kreuzung hielt sie kurz an und schaute zunächst nach links: In dieser Richtung befanden sich das Café de la Place mit seiner einladenden Terrasse und die romanische Dorfkirche mit dem imposanten Steindach, und etwas weiter, am Ortseingang, standen die beiden jahrhundertealten, majestätischen Zedern. Dann blickte sie geradeaus, wo sich direkt vor ihr kleine verwinkelte Gassen auftaten, die viel zum pittoresken Charme des Dorfes beitrugen und durch die man schließlich zur alten Schlossruine gelangte. Jetzt aber bog Marie nach rechts ab, vorbei am Bürgermeisteramt mit der über dem Eingangsportal eingravierten Devise Liberté, Egalité, Fraternité – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit –, die aus der Zeit der Französischen Revolution stammte, und der flatternden Nationalflagge. Gleich danach tauchte die Grundschule auf, deren um diese frühe Uhrzeit noch unbelebter Hof von einer großen, schattenspendenden Linde beherrscht wurde.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich der Tante-Emma-Laden, neben dem Marie anhielt, weil sie sich noch eine Kleinigkeit zum Essen kaufen wollte. Das Geschäft wurde mit viel Liebe von Odile geführt, die bereits um sieben in der Früh öffnete. Ihr üppig mit kulinarischen Köstlichkeiten gefüllter Laden trug erheblich zur Dynamik und Lebensqualität des Dorfes bei, und dessen war Odile sich durchaus bewusst. Wie immer tummelten sich jetzt vor dem Schaufenster, auf dem mit geschwungener weißer Schrift groß Épicerie zu lesen war, schon ein paar Dorfbewohner, die einen Einkaufskorb oder bereits ein frisches Baguette mit sich führten. Unter ihnen waren einige Senioren, die sich wie Léonie an den alten Volksspruch hielten: La journée appartient à ceux qui se lèvent tôt – das französische Pendant zu »Morgenstund hat Gold im Mund«.

Marie grüßte die Runde durch das geöffnete Fahrerfenster.

»Bonjour, tout le monde!«

Sie erntete ein gemeinsames »Salut, Marie«. Im nächsten Augenblick sah sie ihren Jugendfreund Philippe, der mit einem Croissant in der Hand gerade den Laden verließ.

»Zweites Frühstück?«, fragte sie ihn.

»Ja, ich muss heute die langen Hecken hinter dem Friedhof schneiden, das geht ganz schön auf die Kondition.« Philippe war bei der Gemeinde angestellt und hatte immer alle Hände voll zu tun. Er hatte eine wichtige Rolle bei den Ermittlungen im letzten Jahr gespielt, aber daran wollte Marie jetzt nicht denken.

In Anbetracht der vielen Leute vor dem Laden entschied sie, dass sie hier zu lange würde warten müssen, und fuhr weiter. Nach kurzer Zeit erreichte sie das Dorfausgangsschild, auf dem der Name Saint-André-du-Périgord rot durchgestrichen war und eine kleine À-bientôt-Tafel darunter zum baldigen Wiedersehen einlud. Danach kam sie an großen Feldern und Weiden mit gemächlich grasenden Kühen vorbei. Alles wirkte so friedlich. Die Welt hier ist in Ordnung, dachte Marie mit einem zufriedenen Lächeln und schaltete den lokalen Radiosender France Bleu Périgord ein. Gerade lief ein alter, melodischer Gute-Laune-Ohrwurm: Le Sud von Nino Ferrer. Sie sang laut mit – ziemlich schief zwar, aber das bekam ja niemand mit:

On dirait le Sud

Le temps dure longtemps

Et la vie sûrement

Plus d’un million d’années

Et toujours en été

Es ist, als wäre man im Süden

Die Zeit dauert lange

und das Leben bestimmt

länger als eine Million Jahre

Und immer ist es Sommer

Kapitel 2

Saint-André, Montag, 22. März

Nachdem Léonie sich von Marie verabschiedet hatte, ging sie langsam über den Hof zu ihrem Haus zurück. Im Hintergrund startete ihre Großnichte gerade ihr Auto – die alte Knatterkiste war wirklich nicht zu überhören. Ihre Schwester Madeleine war eine Ewigkeit damit gefahren, bevor Marie den Wagen geerbt hatte. Er war bestimmt fast dreißig Jahre alt.

Marie sollte sich endlich mal ein vernünftiges Auto anschaffen, dachte Léonie. Aber sie war noch nicht so weit, um sich davon zu trennen – da war zu viel Trauer im Spiel. Es war das Auto ihrer über alles geliebten Großmutter, und das machte es zu etwas ganz Besonderem. Doch das würde sich mit der Zeit sicherlich ändern – das Leben ging ja schließlich weiter. Léonie hatte festgestellt, dass zumindest sie selbst den Tod ihrer älteren Schwester allmählich besser annehmen konnte. Madeleine hatte ein langes und erfülltes Leben gehabt. Was wollte man mehr?!

Léonie konnte immer noch nicht richtig glauben, dass Marie wirklich hier eingezogen war. Sie musste sich an diesen neuen Rhythmus gewöhnen, denn das hatte es hier auf dem Hof noch nie gegeben, dass jemand am Morgen zu festen Zeiten das Haus verließ und abends einigermaßen pünktlich Feierabend hatte. Madeleine und sie hatten – wie ihre Eltern zuvor – jahrein, jahraus, tagein, tagaus auf dem Hof gearbeitet und waren dem Rhythmus der Natur und der Jahreszeiten gefolgt. Sie hielt es allerdings für eine Fügung des Schicksals, dass für ihre Nichte eine Stelle in Périgueux frei geworden war. Nur schade, dass es die von dem so sympathischen Michel Leblanc gewesen war und er jetzt nur noch am Wochenende ins Périgord kam. Marie war sehr diskret, was ihre Beziehung zu dem Kommissar anbelangte, den sie letzten Sommer unter dramatischen Umständen kennengelernt hatte. Aber da ist eindeutig etwas zwischen ihnen, dachte Léonie – es sei denn, er schläft im Gästezimmer, wenn er über Nacht bleibt.

Auch an diesem Morgen hatte sie gehört, wie er um sechs Uhr losfuhr. Aufgrund ihrer Lebensumstände hatte Léonie nicht heiraten können, aber das bedeutete ja nicht, dass sie keine Ahnung von der Liebe hatte. Zum Glück! Wie auch immer, ihren Segen hatten die beiden jedenfalls. Allerdings hätte es sie beruhigt, wenn Michel, den sie als besonnen einschätzte, in Maries Nähe geblieben wäre. Ihre Großnichte hatte sich in ihrer Berufslaufbahn schon mehrmals in Gefahr gebracht, und beim letzten Mal war sie dem Tod erst in letzter Sekunde von der Schippe gesprungen. Léonie erschauerte bei dem Gedanken. Doch eines hatte sie inzwischen begriffen: Marie ertrug es nicht, wenn man nachfragte – da machte sie gleich die Schotten dicht. Léonie erkannte darin einen »Wehret den Anfängen«-Reflex, und das konnte sie im Grunde gut verstehen. Mit ihren fünfunddreißig Jahren wollte Marie ihre Privatsphäre wahren, auch wenn sie beide Tür an Tür wohnten – oder gerade deshalb. Die jungen Menschen von heute waren da viel klüger, als sie selbst es einst gewesen war. Léonie hatte sich als junge Frau dem Willen und den strengen Vorstellungen ihrer Mutter gebeugt, die letztendlich über den Verlauf ihres Lebens entschieden hatte. Wären Georges und sie in der heutigen Zeit jung, hätten sie beide ein anderes Leben miteinander führen können.

Léonie kehrte ins Hier und Jetzt zurück und dachte kurz darüber nach, was sie als Nächstes tun würde. Genau – sie wollte in der Kühltruhe nach einer selbst gemachten Hühnerbrühe suchen. Ein Fond konnte für die Sahnesauce heute Abend nicht schaden, und Geflügel passte zu Morcheln fast so gut wie Kalb.

Als sie an Augustines Stall vorbeilief, kam das Hängebauchschwein sofort zum Gatter und quiekte. Georges hatte es vollkommen verzogen, und das Schwein ertrug es immer weniger, allein zu sein. Marie hatte schon vorgeschlagen, einen Artgenossen für Augustine herbeizuschaffen. Georges hatte heftig dagegen protestiert und erklärt, dass er ein weiteres Schwein »nicht so wie Augustine lieben könne«. Das musste man sich mal vorstellen: Georges, der in Sachen Gefühle sein bisheriges Leben lang ein Stockfisch gewesen war, sprach jetzt davon, ein Hängebauchschwein zu lieben! Zum Glück war Léonie nicht allzu empfindlich und hatte im Laufe der Jahrzehnte gelernt, mit seinen Eigenheiten umzugehen. Sie wusste, was sie ihm bedeutete, obgleich er selbst es ihr niemals gesagt hatte.

Als Marie ihren Vorschlag geäußert hatte, war Léonie in Georges’ Augen allerdings ein gewisses Leuchten aufgefallen, das ihr gar nicht gefiel. Ihr konnte er nichts vormachen. Auch wenn er vehement das Gegenteil behauptete, reizte ihn die Idee, ein weiteres Schwein anzuschaffen. Aber er war doch schon völlig gaga mit Augustine! Wie sollte das erst werden, wenn er zwei Hängebauchschweine in seiner Obhut hätte? Oder sogar … Nein, daran wollte sie gar nicht erst denken! Dann würde sich für Georges die ganze Welt nur noch um diese Viecher drehen, da war sie sicher.

»Ist ja gut! Dein Herrchen kommt gleich«, sagte sie dennoch beinahe mütterlich zu Augustine und bog dann zu ihrem Haus ab. Das Schwein gab ein leises Grunzen von sich, als hätte es sie verstanden. Léonie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen – die zentnerschwere Sau war auch ihr ans Herz gewachsen. Hinter ihrem Rücken hörte Léonie das Geräusch einer schwer beladenen Schubkarre, die über die Pflastersteine rollte, und gleich danach auch Georges, der mit sanfter Stimme auf Augustine einredete.

»Bin wieder da, mein schönes Mädchen. Gleich gehen wir zwei fein spazieren und erzählen uns etwas. Außerdem muss ich dir eine Stelle mit wilden Narzissen zeigen – du wirst begeistert sein.«

Jetzt entwickelt er sich auch noch zum Romantiker, dachte Léonie und seufzte leise.

*

Nach fünfundvierzig Minuten war Marie in der Stadtmitte von Périgueux angekommen und parkte am Präsidium, einem ehemals weiß gestrichenen Gebäude aus den Siebzigerjahren, das inzwischen grau und schmutzig aussah. In Paris hatte sie für die Fahrt von ihrer Wohnung zum Büro in etwa die gleiche Zeit benötigt, nur dass sie dort entweder in der überfüllten Métro oder im Stau gestanden hatte. Dennoch musste sie zugeben, dass ihr die Stadt manchmal schon ein bisschen fehlte: das besondere Flair, die vertraute Hektik, die Cafés, der Blick über die Dächer von ihrer Wohnung aus … einfach das Lebensgefühl dort. Ihren Umzug hatte sie bislang jedoch keine Sekunde lang bereut. Leben hieß ja, Entscheidungen zu treffen. Außerdem war allein schon die Fahrt zu ihrem Arbeitsplatz hier um ein Vielfaches angenehmer als in Paris. Unterwegs hatte sie mehrere gut erhaltene Dörfer durchquert – jedes hatte für sich seine besonderen Architekturmerkmale vorzuweisen: einen alten Brunnen, eine kleine Kapelle, eine Markthalle mit eindrucksvollem Gewölbe, ein herrschaftliches Haus oder ein liebevoll restauriertes Gehöft … Und in den sanften Tälern hatte sie üppig blühende Fliederbüsche gesehen. Da ging ihr immer das Herz auf. Auf der Heimfahrt würde sie einen großen Strauß weißen Flieder für ihren Küchentisch abschneiden.

Auf dem Weg zu ihrem Büro, das sie sich mit dem freundlichen Inspektor Richard Martin teilte, traf sie auf einem der langen, neonbeleuchteten Flure ein paar Kollegen, die sie fröhlich begrüßten. Sie war hier von allen herzlich aufgenommen worden, abgesehen von Maurice Champion, einem weiteren Kommissar. Der hatte darauf spekuliert, dass Michels Posten gestrichen würde – Périgueux war ein überschaubares Städtchen – und er die Leitung des Dezernats übernehmen würde. Nun war Champion Marie unterstellt. Martin hatte ihr anvertraut, dass die anderen hier zunächst etwas besorgt gewesen waren, eine Vorgesetzte aus der Hauptstadt zu bekommen, denn in der Provinz hatten die Pariser den Ruf, überheblich zu sein. Aber Marie war es gelungen, in kürzester Zeit ein kollegiales Verhältnis aufzubauen. Die Menschen im Périgord waren tatsächlich auffallend umgänglich, und das galt, besagten Stinkstiefel von Champion außer Acht gelassen, auch für die hiesigen Polizisten. Außerdem mochte Marie den Akzent, der hier im Südwesten Frankreichs verbreitet war. Bis vor gar nicht so langer Zeit stand er für Urlaub bei Mamie in Saint-André, und als Kind hatte sie immer versucht, ihn sich anzueignen. Wenn sie aber nach den Sommerferien wieder in Paris bei ihrer Mutter Loren war, trieb diese ihr die begeistert nachgeahmte Sprachmelodie regelmäßig schnell aus. »Ich bin doch nicht vom Land weggezogen, damit meine Tochter wie ein Landei spricht«, meinte sie dann. Na ja, nun würde dieser Akzent Maries Alltag begleiten. Bei Michel, der ein echter Périgourdiner war, hatte sie ihn gleich registriert – und auch das hatte ihr an ihm gefallen.

Als sie fast ihr Büro erreicht hatte, wurde die Tür des Nachbarzimmers aufgerissen. Champion tauchte im Türrahmen auf und blieb mit versteinerter Miene stehen, als er sie sah.

»Bonjour«, grüßte Marie betont höflich. »Ich wünsche Ihnen eine angenehme Arbeitswoche.«

Keine Antwort. Er grummelte nur etwas, das Marie nicht verstand, abgesehen von dem Satzfetzen »Blumen! … lächerlicher Lakai«.

Eine gequälte Seele, dachte sie und erinnerte sich an das, was Martin ihr erzählt hatte, der vor acht Jahren seine Stelle in Périgueux zeitgleich mit Michel angetreten hatte. Schon damals hatte Maurice Champion, der seit dem Beginn seines Berufslebens in Périgueux arbeitete und etwas älter war als Michel, auf dessen Stelle spekuliert, und jetzt war sie ihm ein weiteres Mal vor der Nase weggeschnappt worden. Marie beschloss, ihn fürs Erste seinem Schicksal zu überlassen, und schritt zu ihrem Büro.

Als sie die Tür öffnete, schlug ihr ein ungewohnter Geruch entgegen. Eine Mischung aus frisch geröstetem Kaffee, Desinfektionsmittel und … Flieder. Der rundliche Inspektor Martin strahlte sie an und zeigte auf einen prächtigen, riesigen Strauß, der den Großteil ihres Schreibtischs einnahm und ihren Computerbildschirm verdeckte.

»Bonjour, Madame la Commissaire, den habe ich vor einer halben Stunde mit meiner Mutter in unserem Garten geschnitten – und da wir nicht wussten, ob Sie lieber weißen oder lila Flieder mögen, haben wir beide Farben gemischt«, sagte er stolz und hielt dabei die Arme über seinem Bäuchlein gekreuzt. Marie war gerührt von Martins aufmerksamer Geste. Irgendwie passte sie zu seinen Gesichtszügen, die immer noch kindlich anmuteten, obwohl ihr Kollege die Vierzig schon hinter sich hatte.

»Merci, Inspecteur. Das ist … wirklich sehr nett!«, antwortete Marie verlegen. Jetzt verstand sie, worauf dieser Champion angespielt hatte.

Aber sie fand Martins Aufmerksamkeit auch ein wenig irritierend, denn der Raum hier war ein Büro im Polizeipräsidium und kein Wohnzimmer – und auch kein Blumenladen. Dann fiel ihr auf, dass die Vase – ja, es war tatsächlich eine richtige Vase! – auf einem Platzdeckchen stand. Von Michel, der sich die letzten Jahre das Büro mit Martin geteilt hatte, wusste sie, dass der Inspektor noch bei seiner Mutter lebte. Daher wohl der gemeinsam gepflückte Strauß am frühen Morgen. Michel hatte ihr auch erzählt, dass der Inspektor ein Nerd mit einem ausgeprägten Putzfimmel und erstaunlich häuslich war. Marie selbst hatte in den wenigen Wochen der Zusammenarbeit mit ihm festgestellt, dass er ein sehr angenehmer Kollege war. Und ihr war aufgefallen, dass er anders dachte als sie – er hatte seine eigene Logik und liebte Zahlen. Außerdem arbeitete er präzise und hatte Witz: zwei Eigenschaften, die Marie besonders schätzte. Sie ahnte, dass sie sich gut ergänzen würden. Aber seine Häuslichkeit im Büro machte sie ratlos, vielleicht sogar etwas nervös. Dafür hatte man doch ein Zuhause. Irgendwann würde er noch mit einem Plätscherbrunnen ankommen! Marie holte sich einen Kaffee und überlegte, wie sie das Thema ansprechen könnte, ohne ihren Kollegen zu kränken.

Inspektor Martin nestelte an seinem nicht wirklich vorteilhaften, handgestrickten ockerfarbenen Pullover und lächelte sie erwartungsvoll an.

»Das ist wirklich ein prächtiger Strauß, Martin, aber er nimmt schon viel Platz weg auf meinem Schreibtisch«, wagte sie einzuwenden.

»Ach so, ja!« Er eilte zu ihrem Schreibtisch und stellte den Strauß auf eine Ablage.

»Merci!« Sie erwiderte sein Lächeln, mit dem er seine Enttäuschung tapfer zu verbergen versuchte – und da hatte ihr Telefon Erbarmen. Es klingelte. Sie schaute auf das Display. Michel. Marie gab dem Inspektor ein kurzes Zeichen.

»Geht früh los heute Morgen«, meinte er nun aufgeräumt.

Marie verließ das Büro in Richtung einer abgeschiedenen Ecke im Flur, um dort ungestört telefonieren zu können.

»Und, gut durch die Staus gekommen?«

»Ja, aber ich vermisse dich jetzt schon«, antwortete Michel. »Ich bin jetzt auf dem Weg zu einem Großeinsatz in den Docks. Der Tag wird bestimmt heftig.«

»Gefährlich?«

»Ich hoffe nicht. Und wie ist es bei dir?«

»Abwechslungsreich. Eine pampige Begrüßung von Champion und ein überdimensionierter Strauß Flieder auf meinem Schreibtisch«, erzählte sie.

»Von einem Verehrer?«, fragte Michel.

War er etwa eifersüchtig?

»Nein«, antwortete Marie etwas gequält.

»Ah, ich weiß. Von Martin!« Michel klang amüsiert.

»Wie? Hat er dir auch Blumen mitgebracht?« Marie war entgeistert. Sie malte sich aus, wie Martin seinem früheren Chef einen Strauß überreichte, und musste schmunzeln.

»Er war immer sehr fürsorglich. Kirschen aus seinem Garten, von seiner Mutter selbst gekochte Marmelade – köstlich, übrigens, besonders ihr Johannisbeergelee! –, aber Blumen, nein. Dass er dir Blumen schenkt, spricht allerdings für ihn.«

»Ich konnte aber vor lauter Blumen meinen Bildschirm nicht mehr sehen.«

Er lachte. »Hoffen wir, dass es das Schlimmste ist, was dir heute widerfährt.« Marie hörte jetzt Außengeräusche. »Mist, ich muss los. Je t’embrasse«, rief er eilig.

»Ich küsse dich auch.« Sie wollte noch »Pass auf dich auf!« rufen, aber er hatte schon aufgelegt.

Marie ging mit einem Lächeln auf den Lippen zum Büro zurück. So viel Aufmerksamkeit war sie nicht gewohnt. Als sie mit ihrem damaligen Freund in Paris gelebt hatte, war tagsüber jeder seiner Wege gegangen, und irgendwann am Abend traf man sich in der gemeinsamen Wohnung. Oder auch nicht. Aber gerade deshalb war ihre Beziehung wohl eingeschlafen. Auf jeden Fall hatte Michel recht: Wieso regte sie sich über einen schönen Blumenstrauß auf, zumal ihr Assistent alles andere als ein Chauvi war? Hier herrschen nun mal andere Sitten als in Paris, dachte sie, und auch deswegen hatte sie beschlossen, dauerhaft im Périgord zu leben.

Als sie das Büro wieder betrat, saß der Inspektor an seinem perfekt aufgeräumten und makellos glänzenden Schreibtisch. Er hatte sich den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt und machte sich konzentriert Notizen. Seine sehr regelmäßige Schrift war ihr schon aufgefallen, denn für so etwas hatte Marie ein Faible. Doch erst jetzt bemerkte sie, dass er Linkshänder war. Während sie seine für sie verdreht anmutende Handhaltung beim Schreiben beobachtete, erinnerte sie sich an einen Beitrag, den sie kürzlich gelesen hatte. Rechtshänder beurteilten mit der rechten und Linkshänder mit der linken Gehirnhälfte. Prima, das Zusammenkommen von zwei Gehirnhälften konnte in ihrem Beruf, je nach Situation, nicht schaden.

»In Auberoches also? Beim Bauernhof der Barthes? Gut, Madame Barthes, in einer Stunde sind wir bei Ihnen.« Er legte auf und schaute Marie an.

»Auberoches bei Saint-André-du-Périgord?«, fragte sie überrascht. »Dann ist das gleich bei mir um die Ecke. Die Familie Barthes kenne ich sogar. Was ist da los?«

»Dort wurde ein menschlicher Schädel gefunden. Bei Ausgrabungen an einer Baustelle.«

»Und welche Madame Barthes hat angerufen?«

Martin schaute auf seinen Zettel. »Eine Agnès. Wie viele Madames Barthes gibt es denn?«

Marie überlegte kurz. »Fünf. Aber warum rufen die hier an? Im Périgord wimmelt es nur so von prähistorischen Funden. Vielleicht sollten sie erst das archäologische Museum in Les Eyzies anrufen.«

Michel, der sich für prähistorische Kunst begeisterte, hatte ihr erzählt, dass es immer wieder neue Fundstellen gab. Er glaubte zum Beispiel fest daran, dass man eines Tages eine zweite Lascaux-Höhle finden würde. Und damit war er wohl nicht allein.

»So alt wird der Schädel nicht sein. Da sind anscheinend noch Haarreste dran«, sagte Martin mit angewidert verzogenem Mund.

Kapitel 3

Polizeipräsidium Périgueux, Montag, 22. März

Inspektor Martin hatte sich mit Marie Mercier vor ihrem ersten gemeinsamen Einsatz kurz besprochen, und sie war sehr klar in ihren Ansagen und der Aufgabenverteilung gewesen. Das mochte er. Überhaupt war ihm seine neue Chefin sympathisch, was für ein Glück! Das Einzige, was ihm ein bisschen Sorge machte, war ihr Tempo. Er hatte bei ihr oft das Gefühl, dass sie an drei Sachen gleichzeitig dachte. Hoffentlich konnte er da mithalten. Immerhin hatte er entsprechend ihren Anweisungen Punkt für Punkt alles Nötige für die Sicherung des Fundorts organisiert und den Gerichtsmediziner angerufen, bevor er mit der Kommissarin in Richtung Vézère-Tal aufgebrochen war, in dem das Dorf Auberoches lag.

Sie hatten soeben Périgueux hinter sich gelassen, und Marie Mercier saß am Steuer. Der Inspektor schaute sich verwundert in dem R5 um, der aus einer längst vergangenen Zeit stammte und alles andere als gepflegt wirkte. Im Fußbereich entdeckte er Hundehaare, und das Auto roch wie ein Viehtransporter. Das war gar nicht seins. Er legte seine Hände fest auf die Knie, um nur ja nichts zufällig zu berühren. Zum Glück hatte er sein Desinfektionsgel dabei. Wie konnte es sein, dass eine so attraktive, gepflegte Frau ein derart heruntergekommenes Auto fuhr? Schade, dass ihre deutschen Wurzeln nicht mehr durchschlugen, was den Zustand ihres Gefährts anbelangte – eine deutsche Kommissarin würde sicherlich nicht in einem so vorsintflutlichen Fahrzeug zu einem Tatort fahren.

»Was ist eigentlich mit Ihrem Dienstwagen? Der steht doch längst für Sie bereit, oder nicht?«, fragte er möglichst beiläufig.

»Ja, ich weiß. Ich muss mich irgendwann darum kümmern, aber das eilt ja nicht.«

»Na ja … Ich glaube, bei Dienstfahrten würde es den Vorschriften entsprechen. Soll ich den Wagen für Sie abholen?« Das hätte er liebend gern getan, um nicht noch einmal in dieser Bakterienschleuder sitzen zu müssen.

»Nein, nein, danke. Das mach ich schon.« Wirklich überzeugend klang das leider nicht, und die Kommissarin wechselte auch schnell das Thema. »Wie heißt noch mal der Gerichtsmediziner, der gleich kommt?«

»Fred Blanquer. Er kann manchmal etwas sehr direkt oder sogar grob sein, aber er ist eine Koryphäe.«

»Das trifft sich gut – und mit Grobianen kann ich umgehen.« Sie schwieg eine Weile und murmelte dann eher an sich selbst gewandt: »Ein Schädel mit Haarresten … Wieso liegt denn ein Schädel auf dem Grundstück der Barthes?«

»Kennen Sie diese Leute gut?«, wollte Martin wissen.

»Der Hof der Barthes ist nur sechs Kilometer von Saint-André entfernt, und unsere Familien kennen sich seit einer Ewigkeit. Die Barthes haben vier Töchter, die so in unserem Alter sind, und es gibt noch einen jüngeren Sohn, der ausgewandert ist.«

»Wohin denn?«

»Keine Ahnung. Das ist eine ganze Weile her, und ich hab die Familie schon länger nicht mehr gesehen. Nur eine der Schwestern treffe ich ab und zu auf dem Markt.«

Die Kommissarin verstummte und schien während der weiteren Fahrt ihren Gedanken nachzuhängen.

Martin ließ seinen Blick über die Landschaft schweifen. Überall zeigte sich jetzt der Frühling. Die Bäume hatten zarte Blätter in unterschiedlichen Grüntönen, und auf den Wiesen sprossen die ersten Blumen. Man sah schon den ersten Klatschmohn und leuchtend gelbe Rapsfelder – und immer wieder Flieder. Er war sich nicht sicher, ob die Kommissarin sich über seinen Fliederstrauß gefreut hatte. So richtig gezeigt hatte sie es jedenfalls nicht. Dabei war sie sonst doch sehr herzlich. Vielleicht mochte sie keinen Flieder. Aber wie konnte man keinen Flieder mögen? Nun ja, Menschen sind eben verschieden, dachte Martin.

»Wir sind gleich da«, kündigte Marie Mercier unvermittelt an, als sie einen Walnusshain erreichten.

Gleich daneben lag ein großes, altes Gehöft aus Sandstein mit mehreren Nebengebäuden. Ein paar Hundert Meter weiter im angrenzenden Feld entdeckte Martin einen gelben Raupenbagger. Einige Polizisten riegelten gerade die Stelle großräumig mit Absperrband ab. Kurz vor dem Anwesen standen zwei Polizeiwagen am rechten Straßenrand. Prima, die Kollegen sind da, die Organisation funktioniert, freute sich Martin im Stillen. Er hatte wie immer gleich in Excel eine To-do-Liste für den Einsatz angelegt, um sicherzugehen, dass er nichts vergaß. Der Kommissarin hatte er die Tabelle allerdings nicht gezeigt, sie sollte ihn ja nicht für einen Pedanten halten. Martin war sehr daran gelegen, dass der erste Einsatz mit seiner neuen Chefin absolut planmäßig ablief.

Seine Vorgesetzte fuhr zügig an den Einsatzwagen vorbei und bog in eine imposante Hofeinfahrt. Sie parkte mitten im Innenhof unter einer alten Linde, deren Äste noch kahl waren. Ein paar Hühner liefen frei herum und gackerten empört ob der Eindringlinge. Irgendwo muhte eine Kuh. Martin fand, dass es auf dem Hof sehr streng nach Kuhmist roch, und versuchte, flach zu atmen. Hier war ihm entschieden zu viel Natur. Er tastete automatisch in seiner Jackentasche nach dem Desinfektionsgel.

Die Eingangstür des Wohnhauses wurde geöffnet, und eine alterslos aussehende Frau mit olivgrünem Arbeiteroverall und Gummistiefeln schaute mit verschlossener Miene auf die Neuankömmlinge. Sie schien den Wagen zu erkennen und kam mit energischem Schritt auf sie zu. Mit der ist bestimmt nicht gut Kirschen essen, dachte Martin.

»So, los geht’s«, sagte die Kommissarin. »Agnès Barthes ist meistens nur bedingt freundlich. Nicht persönlich nehmen.« Als sie ausstiegen, zwinkerte sie ihm zu. Charme hatte die Kommissarin ja!

*

»Bonjour, Agnès«, rief Marie.

Agnès, die älteste der vier Barthes-Schwestern, kniff die Augen zusammen, um ihr Gegenüber besser zu identifizieren. Marie hatte sie seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Inzwischen musste Agnès Anfang vierzig sein, aber sie sah älter aus. Sie war etwas stämmig geworden, und man sah ihr die schwere körperliche Arbeit an. Ihre gleichförmigen Gesichtszüge hatten sich verhärtet, was durch das streng zusammengebundene Haar betont wurde.

»Marie! Was machst du denn hier?«, fragte sie barsch.

Marie nahm es, so wie sie es ihrem Kollegen geraten hatte, nicht persönlich. Agnès war eher kernig in ihrer Art.

»Ich bin im Dienst.« Sie zeigte ihre Marke. »Commissaire Mercier.«

»Wie? Bist du nicht mehr in Paris?«

»Nein, seit Kurzem arbeite ich in Périgueux.« Sie wies auf ihren Kollegen, der neben ihr stand: »Inspecteur Martin hat euren Anruf entgegengenommen. Warst du es, die wegen dem Schädel angerufen hat?« Als sie es sagte, fiel ihr auf, wie sonderbar diese Formulierung klang.

Agnès nickte. Sie wirkte angespannt, und Marie entschied spontan, erst einmal allein mit ihr zu sprechen. So würde sie auch gleich erfahren, was aus den anderen Barthes-Schwestern geworden war.

»Inspecteur, könnten Sie schon mal zum Fundort gehen?«, bat sie Martin. »Vielleicht ist der Gerichtsmediziner schon da. Ich unterhalte mich kurz mit Madame Barthes und komme gleich nach.«

»Bien sûr, Madame la Commissaire.« Er verabschiedete sich mit einem freundlichen Lächeln und schlenderte auf die anderen Polizisten zu.

Ein Mann mit einem ausgeprägten Hang zur Gemütlichkeit in seinen Bewegungen, befand Marie. Daran würde sie sich noch gewöhnen müssen.

»Können wir reingehen? Dann sind wir ungestört«, schlug sie Agnès vor.

»Von mir aus.«

Die beiden Frauen gingen zum Wohnhaus, und Agnès öffnete die Tür mit einem festen Schulterstoß. Sie ist wirklich robust, stellte Marie amüsiert fest.

Sie betraten die geräumige Wohnküche, in der sich über die Jahrzehnte hinweg kaum etwas verändert hatte. Es war ein funktionaler, schmuckloser und eher dunkler Raum mit kleinen Fenstern. Immerhin strahlte der Bollerofen in dem überdimensionierten Kamin eine angenehme Wärme aus. Auf dem langen Küchentisch stand ein veralteter Laptop, umringt von jeder Menge Rechnungen.

»Ich mache gerade Buchhaltung«, sagte Agnès, »meine Lieblingsbeschäftigung.« Sie bedeutete Marie, sich ans Kopfende des Tisches zu setzen. »Kaffee?«

»Gern.«

Agnès ging zum Ofen, auf dem eine alte Kaffeekanne stand. »Ohne Zucker, nehme ich an. Städterinnen achten ja auf ihre Linie.«

»Genau.« War da ein bissiger Unterton?, überlegte Marie kurz. Egal. »Jetzt erzähl mal, was heute Morgen passiert ist.«

»Ach, hier läuft seit Wochen alles schief. Als hätte sich die ganze Welt darauf geeinigt, mir auf die Nerven zu gehen. Und dann auch noch dieser Schädel im Feld. Ich hab auch so schon genug am Hals.«

»Hast du ihn gefunden?«

»Nee, das war der Baggerfahrer. Der hat ihn mir gezeigt. Dass da noch Haarreste dran sind, kam mir verdächtig vor, deshalb hab ich es gleich in Périgueux gemeldet.«

»Das hast du genau richtig gemacht.«

»Die Haarreste bedeuten doch, dass der Kopf noch nicht allzu lange da liegt, oder?«

»Abwarten. Der Gerichtsmediziner wird sich schnell dazu äußern. Aber sag mal, was läuft denn schief?«

»Ach, es ist wie immer. Miese auf der Bank, ein kaputter Traktor, der Nachtfrost, der der Aprikosen- und Kirschernte den Garaus gemacht hat, ein undichtes Dach … Also eigentlich nichts weiter Ungewöhnliches.«

Marie beobachtete Agnès und hatte das Gefühl, dass da noch etwas war, das sie belastete. Also bohrte sie nach.

»Und deiner Familie geht’s gut?«

»Na ja, ›gut‹ ist ein dehnbarer Begriff. Aber immerhin ist niemand krank.«

»Deine Eltern habe ich seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen.«

»Seitdem Antoine abgehauen ist, verlassen sie kaum noch das Grundstück. Sie sind in ein Nebengebäude hinter dem Hof gezogen. Mein Vater kümmert sich nur noch um seinen Blumengarten, und meine Mutter hockt den Großteil der Zeit in der Bude.«

Ja genau – Antoine, so hieß der Bruder. Marie hatte während der Fahrt versucht, sich an seinen Vornamen zu erinnern.

»Und hört ihr ab und zu was von Antoine?«

»Nee, der ist irgendwo in Australien und hat uns aus seinem Gedächtnis gestrichen. Anfangs hat er noch Postkarten aus Sydney geschickt, aber seit langer Zeit ist Sendepause. Weiß der Henker, warum.«

»Wieso Australien?«

»Da wollte er schon als Kind hin. Soll mir recht sein, wenn es ihm da besser gefällt. Aber die Eltern haben sich nie davon erholt, dass er nicht mehr hier ist.«

Marie erinnerte sich, dass Lucienne und Marcel Barthes nicht zu Mamies Beerdigung gekommen waren, obwohl sie sich so gut kannten. Léonie hatte ihr erzählt, dass sie sich seit Jahren komplett abgekapselt hatten.

»Nathalie sehe ich manchmal auf dem Markt«, sagte Marie, um das Gespräch in Gang zu halten. Nathalie war die zweitälteste der Barthes-Schwestern und bei Weitem die Sympathischste von den vieren. Sie stand schon immer auf der sonnigen Seite des Lebens – war hübsch, fröhlich und voller Energie. Sie hatte einen netten Mann aus dem Nachbardorf geheiratet: Olivier Gaillard, der sie und ihren gemeinsamen Sohn Léon auf Händen trug. Auch das wusste Marie von Léonie.

»Ja, ja«, erwiderte Agnès abweisend.

Das war seltsam. Soweit Marie wusste, verstanden sich die beiden Schwestern gut und arbeiteten eng zusammen. Früher waren sie gemeinsam auf die Wochenmärkte in der Gegend gefahren, um die Produkte des Hofes zu verkaufen. An ihrem Stand hatte immer gute Stimmung geherrscht.

»Was meinst du mit ›ja, ja‹?«

»Nichts«, antwortete Agnès knapp und entfernte imaginäre Krümel vom Tisch.

Marie schaute sie fragend an. Da war was im Busch.

Agnès bemerkte ihren Blick und fügte hinzu: »Ach, keine Ahnung, irgendwie zickt sie im Moment rum.«

»Das ist doch gar nicht ihre Art. Was hat sie denn?«

Agnès reichte ihr eine Tasse und setzte sich Marie gegenüber.

»Keine Ahnung. Olivier wollte ihr eine Überraschung bereiten, und das ist irgendwie danebengegangen.«

»Was für eine Überraschung?« Marie trank einen Schluck Kaffee und hätte fast eine Grimasse gezogen. Er schmeckte furchtbar bitter. Wahrscheinlich stand er schon den ganzen Morgen auf dem Ofen und war zu heiß geworden. Wie auf den meisten Bauernhöfen wurde sicherlich auch hier akribisch darauf geachtet, nichts zu verschwenden.

»Olivier hat mir zusammen mit einem Geschäftspartner heimlich ein Grundstück abgekauft, um darauf eine Walnussöl-Mühle zu bauen. Das könnte ein richtig gutes Geschäft werden.« Zum ersten Mal huschte ein Lächeln über Agnès’ müdes Gesicht. »Die zwei haben alles super geplant. Als wir vom Notar zurückkamen, hat Olivier eine Flasche Schampus aufgemacht und Nathalie stolz von dem Projekt erzählt. Madame ist aber ausgerastet und seitdem stinksauer – auch auf mich. Keine Ahnung, warum.«

Agnès war offenbar gekränkt. Marie wollte mehr darüber wissen.

»Was gefiel ihr denn nicht an dem Projekt?«

»Hab ich doch gerade gesagt: keine Ahnung!«, entgegnete Agnès gereizt.

»Hat sie was gegen Oliviers Partner?«

»Nee. Außerdem finanziert der alles.«

»Um welches Grundstück geht es?«, hakte Marie nach.

»Das, auf dem gerade der Schädel gefunden wurde. Da haben etliche Nussbäume gestanden, aber vor allem fließt dort ein Bach. Das Gelände ist ideal für eine Walnussöl-Mühle.«

»Wieso gehörte dir das Grundstück? Sind die Ländereien um den Hof nicht alle in Familienbesitz?«

»Eigentlich ja, aber dieses Stück Land habe ich den Eltern vor Jahren abgekauft.«

Seltsam, dachte Marie. Was kann Nathalie dann an dem Projekt stören? Am besten, sie fragte sie selbst.

»Und wo ist Nathalie jetzt?«

»Auf dem Markt. Seit dieser Woche gibt es wieder den Montagsmarkt in Les Eyzies.«

»Stimmt, Ostern steht vor der Tür. Die Touristensaison fängt bald an.«

»Zum Glück! Das wird das Geschäft ankurbeln. Können wir gut gebrauchen«, sagte Agnès, während sie missmutig auf die Stapel Quittungen blickte, die vor ihr lagen.

Marie trank tapfer ihren Kaffee aus und stand auf. »Danke für den Kaffee. Ich gehe jetzt mal schauen, wie der Stand der Dinge ist. Bis gleich, Agnès.«

»Ich komme mit.«

»Lass mal. Das könnte die Arbeit der Kollegen von der Spurensicherung stören. Ich bin gleich wieder zurück.«

»Wie du willst. Bring mir aber bloß keine Hiobsbotschaft!«, erwiderte Agnès.

»Ich bemühe mich. Auch, dass wir so schnell wie möglich hier fertig werden.« Aber Marie ahnte schon, dass sie länger am Fundort beschäftigt sein würden. Wo ein Schädel gefunden wurde, musste nach dem übrigen Skelett gesucht werden. Was bedeuten konnte, dass man das ganze Gelände von einem Bagger umpflügen lassen musste.

*

Richard Martin rang möglichst diskret nach Luft. Das war kein schöner Anblick. An dem Schädel, der wie auf einem Präsentierteller in der Riesenschaufel des Baggers lag, waren noch vereinzelte Hautfetzen und dunkle Haarbüschel erkennbar.

Inzwischen hatte er die Aussage des Baggerfahrers aufgenommen. Pedro Martinez, der freundliche Mann mit dem starken portugiesischen Akzent, hatte allerdings nur wenig zum Fall beizutragen. Er sollte, bevor mit dem eigentlichen Bau der Ölmühle begonnen werden konnte, das Grundstück glätten und die Wurzeln der bereits abgesägten Nussbäume entfernen. Dabei hatte er den Schädel freigelegt. Rasch hatte er Madame Barthes auf dem Hof informiert, die sofort mit ihrem Schwager, Monsieur Olivier Gaillard, zur Fundstelle geeilt war.

»Und wann kann ich weiterarbeiten?«, hatte Martinez nach dem Ende seiner Aussage wissen wollen.

»Das kann ich Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt leider nicht sagen«, hatte Martin geantwortet.

Daraufhin war der Baggerfahrer betrübt Richtung Dorf weggegangen.

Martin, der ihm gedankenverloren hinterhergeschaut hatte, wandte sich Gaillard zu. Der Mann mit der Holzfällerstatur war die ganze Zeit über an der Fundstelle stehen geblieben und vermochte offensichtlich nicht den Blick von dem Schädel zu lösen. Er stöhnte immer wieder laut vor sich hin: »Ich glaub’s nicht!«

»Was glauben Sie nicht, Monsieur Gaillard?«, fragte der Inspektor behutsam.

Offenbar war der Mann immer noch so entsetzt über den Fund, dass er nicht sofort etwas erwidern konnte.

Während Martin geduldig auf eine Antwort wartete, sah er Fred Blanquer auf sich zukommen. Groß, hager und blass wie immer. Wenn er den Gerichtsmediziner sah, musste Martin immer an den Leichenbestatter aus der Comic-Serie Lucky Luke denken, für die er sich auch als Erwachsener noch begeistern konnte. Selbst das lange Kinn und die große Nase hatten die beiden gemeinsam.

»Salut, Richard, alles fit im Schritt? Ich meine, du hättest etwas zugelegt, oder?«

Martin zog reflexartig den Bauch ein. Ja, er hatte ein bisschen zugenommen, aber eigentlich sah man sein Bäuchlein unter dem weiten Pullover doch gar nicht. Blanquer hatte einfach kein Benehmen. Deshalb war er auch von Bordeaux in die Provinz strafversetzt worden – was ihm allerdings völlig egal zu sein schien. Leichen sind überall schön, hatte er gesagt, als Martin ihn einmal fragte, ob er die Stadt nicht vermissen würde. Familie hatte er wohl keine – er war mit seinem Job verheiratet. Martin überlegte kurz, ob er in der Pathologie mit den Leichen sprach, verbannte diese makabere Vorstellung jedoch sofort wieder aus seinem Bewusstsein.

»Salut«, rang er sich stattdessen ab. Mehr fiel ihm nicht ein.

Der Mediziner hatte sich allerdings schon von ihm abgewandt, um seiner Arbeit nachzugehen. Der Inspektor beobachtete, wie er seine Latexhandschuhe überstreifte, sich dem Schädel näherte und ihn mit großer Konzentration betrachtete.

Martin entschuldigte sich bei Olivier Gaillard und bat ihn, etwas zurückzutreten, damit der Pathologe ungestört arbeiten konnte. Er würde gleich wieder auf ihn zukommen, um seine Aussage aufzunehmen. Gaillard schaute ihn mit leerem Blick an, tat aber wie geheißen. Der Inspektor wandte sich wieder Blanquer zu.

»Sehr hübsch«, stellte der Mediziner fest.

Was war denn daran bitte schön hübsch?

»Kannst du jetzt schon etwas sagen?«, fragte Martin.

»Auf jeden Fall ist es kein prähistorischer Fund.« Blanquer nahm etwas Erde aus der Baggerschaufel, zerrieb sie zwischen seinen langen, schmalen Fingern und roch daran. »Die Erde ist feucht und schwer, alles Organische zersetzt sich hier schnell. Der Schädel dürfte, grob gerechnet, seit zehn, fünfzehn Jahren begraben sein – vorausgesetzt, dass er immer an dieser Stelle gelegen hat.« Mit einem Finger drehte der Pathologe den Kopf, um ihm sozusagen ins Gesicht zu sehen, und näherte sich ihm bis auf zehn Zentimeter.

Ob der Schädel roch? Martin musste schlucken, blieb aber nach außen hin cool und meinte: »Also kein Cro-Magnon! Schade, das Vézère-Tal hätte um einen prähistorischen Schatz reicher werden können.«

Blanquer ignorierte seinen Kommentar – wahrscheinlich hörte er ihm in seiner morbiden Verzückung gar nicht zu. Seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Schädel.

»Den Zähnen nach zu urteilen … eher ein junger Mensch. Auffallend gute Zähne. Siehst du? So gerade, wie die sind, hat er bestimmt mal eine Klammer getragen.«

Automatisch fuhr sich Martin mit der Zunge über die eigenen Zähne, denn auch er hatte lange eine tragen müssen. Keine gute Erinnerung. Pummelig plus Zahnspange – da war man ein gefundenes Opfer auf dem Schulhof. Zum Glück hatte er keine Brille tragen müssen. Aber zurück in die Gegenwart, dachte er und fragte: »Mann oder Frau?«

Blanquer schien einen Moment nachzudenken und legte dabei den Kopf schräg.

»Hm, aufgrund der Größe des Schädels, speziell der Glabella«, er deutete auf den Bereich zwischen Nasenwurzel und Augenbrauen, »und aufgrund des breiten Kinns würde ich auf einen Mann tippen. Aber da kann man sich auch täuschen. Nicht alle Frauen sind zierliche Wesen …« Seiner Mimik nach zu urteilen schien er sich über seinen letzten Satz zu amüsieren.

Nicht mein Humor, dachte Martin.

»Ja, und wo ist der Rest?«, fragte der Mediziner plötzlich.

»Was meinst du damit?«

»In der Regel gehört zu einem Schädel auch ein Körper.«

»Den haben wir noch nicht gefunden«, erwiderte Martin etwas verlegen.

Vorsichtig nahm Blanquer den Schädel in die Hand und betrachtete ihn von allen Seiten.

»Aha! Sehr schöne Schramme. Schau mal.«

Der Inspektor näherte sich ihm widerwillig. Tatorte und Leichen waren einfach nichts für ihn. Seine Stärke lag mehr im Bereich des Organisatorischen, und er sehnte sich nach seinem gemütlichen Büro.

»Siehst du die Schramme da?«, fragte Fred und fuhr mit seinem blau behandschuhten Zeigefinger entlang des Schädels bis zum Nackenansatz. »Das muss ziemlich wehgetan haben – war vielleicht sogar tödlich«, mutmaßte er grinsend. Dann wurde er plötzlich ungeduldig. »Wo bleibt eigentlich die neue Kommissarin? Wir müssen hier weiterbuddeln, um die restlichen Knochen zu finden.«

Martin schaute in Richtung Bauernhof und sah am Ende des Feldes Marie Mercier auf sie zukommen. Sie blieb kurz stehen, steckte die Hände in die Taschen ihrer Windjacke und drehte den Kopf, als wolle sie das bestimmt zwei Hektar große Grundstück in seiner Gänze betrachten. Sie wirkte entspannt … Wie angenehm!