Trügerische Ufer - Christian Humberg - E-Book

Trügerische Ufer E-Book

Christian Humberg

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  • Herausgeber: Lübbe
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Die See tobt wild an der Ufern der Ostsee

Nach ihrem stürmischen Neustart an der Lübecker Bucht hat sich die junge Pastorin Clara Clüver gut in Travemünde eingelebt. Doch es nahen neue Wolken. Als Clemens Dröscher, Profisportler und geliebter Enkel einer treuen Kirchgängerin, zum Opfer eines medialen Skandales wird, bittet die Familie die Pastorin um Hilfe. Nach anfänglicher Skepsis gibt Clara nach - und stolpert bei Recherchen prompt in ihren zweiten Mordfall. Jan Abel, ein Unternehmer aus Scharbeutz, wird tot aufgefunden. Offenbar leitete er eine sehr erfolgreiche Alibi-Agentur, und plötzlich ist die Liste der möglichen Verdächtigen mindestens so umfangreich wie Abels hochbrisante Kundenkartei. Just als Clara der Wahrheit auf die Schliche kommt, gerät sie in tödliche Gefahr. Denn der Täter ist ihr längst auf der Spur ...

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Seitenzahl: 364

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Inhalt

Cover

Inhalt

Über das Buch

Über den Autor

Titel

Impressum

Widmung

Motto

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Über das Buch

Die See tobt wild an den Ufern der Ostsee

Nach ihrem stürmischen Neustart an der Lübecker Bucht hat sich die junge Pastorin Clara Clüver gut in Travemünde eingelebt. Doch es nahen neue Wolken. Als Clemens Dröscher, Profisportler und geliebter Enkel einer treuen Kirchgängerin, zum Opfer eines medialen Skandales wird, bittet die Familie die Pastorin um Hilfe. Nach anfänglicher Skepsis gibt Clara nach – und stolpert bei Recherchen prompt in ihren zweiten Mordfall. Jan Abel, ein Unternehmer aus Scharbeutz, wird tot aufgefunden. Offenbar leitete er eine sehr erfolgreiche Alibi-Agentur, und plötzlich ist die Liste der möglichen Verdächtigen mindestens so umfangreich wie Abels hochbrisante Kundenkartei. Just als Clara der Wahrheit auf die Schliche kommt, gerät sie in tödliche Gefahr. Denn der Täter ist ihr längst auf der Spur …

Über den Autor

Christian Humberg verfasst Romane, Comics, Theaterstücke und Sachbücher für Kinder und Erwachsene. Er schrieb unter anderem bereits für Star Trek und Perry Rhodan Neo, und seine Werke wurden in mehr als ein halbes Dutzend Sprachen übersetzt und vielfach für die Bühne adaptiert. Seine Kolumnen und Artikel erscheinen bundesweit in der Presse. Christian Humberg ist häufig auf Conventions zu finden. Noch häufiger zu finden ist er vor seinem PC-Monitor, der ihm die Sicht auf den Mainzer Dom versperrt. Anlässlich der Frankfurter Buchmesse erhielt er 2015 den Deutschen Phantastik-Preis.

Weitere Titel des Autors:

Mörderische Brise

CHRISTIAN HUMBERG

TRÜGERISCHE UFER

EIN FALL FÜR CLARA CLÜVER

KÜSTENKRIMI

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover Copyright © 2023 by Bastei Lübbe AG, Köln Textredaktion: Dorothee Cabras, Grevenbroich Titelillustration: © shutterstock.com: Ugis Riba | Sonja Filitz | Ivonne Wierink Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München Satz: GGP Media GmbH, Pößneck E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-7517-2851-5

Sie finden uns im Internet unter luebbe.de Bitte beachten Sie auch: lesejury.de

Abermals für Ani, Hafen in all dem Sturm

»Jeder Mensch lügt.«

Dr. Gregory House

Kapitel 1

Das Blut schien überall zu sein. Es bedeckte die Steinplatten am Boden, tropfte von dem gusseisernen Geländer und klebte an Clara Clüvers Händen, als wollte es durch ihre Fingerkuppen sickern und sie auch von innen besudeln. Es roch.

»Was …« Die Pastorin keuchte. Fassungslos sah sie an sich hinab, auf den Toten und auf das rote Meer mit dem metallischen Geruch. Auf das Grauen, das direkt vor ihren Augen lag. »Was … Nein!«

Das Blut musste weg. Reflexartig begann sie, die Hände zu reiben – erst gegeneinander, dann gegen ihre Kleidung. Sie wischte sie an den Hosenbeinen ab, an den Ärmeln ihrer dünnen Jacke und begriff erst viel zu spät, dass sie dem Rot damit nur mehr Bühne bot. Es wurde nicht weniger, wenn man es verteilte. Im Gegenteil: Es wirkte dann noch mächtiger, noch mehr wie eine unaufhaltsame Flut.

Jetzt kamen die Schritte. Es raschelte plötzlich in den Büschen jenseits des gusseisernen Geländers. Schnelle Laute, wie von einem ganzen Dutzend Füßen gleichzeitig und mindestens so hektisch wie Claras eigene Bewegungen.

Der Ruf, der wie ein Messer durch das Geraschel schnitt, war fordernd und laut. »Keine Bewegung! Hier spricht die Polizei, nehmen Sie sofort die Hände hoch!«

Im ersten, noch immer vom Schock betäubten Moment wusste Clara nicht, wen die strenge Männerstimme überhaupt meinte. Fragend blinzelte die Pastorin ins Licht der Nachmittagssonne, vollkommen überfordert von der gesamten Situation, und rieb einfach weiter ihre blutverschmierten Hände gegen die blutverschmierten Hosenbeine.

Doch die Stimme kannte keine Rücksicht. »Die Hände hoch!«, wiederholte sie streng. »Ganz langsam, verstanden? Gehen Sie zwei Schritte von dem Mann weg, und heben Sie die Hände. Sofort!«

Das genügte. Mit derselben Reflexhaftigkeit, mit der Clara sich das Blut hatte abwischen wollen, gehorchte sie nun dem Befehl. Ihr Körper lief nahezu auf Autopilot, und ihr Verstand hatte das Steuer längst aus der Hand gegeben. Sie wusste nicht länger, was um sie herum und auch mit ihr geschah. Der Schock saß einfach zu tief.

Die Schritte kamen näher. Auf einmal sah sie Menschen, die die Trittgeräusche verursachten. Männer und Frauen in Uniform und mit wachsamen Mienen. Sie eilten auf Clara zu, mattschwarze Schusswaffen in den Händen, und ließen sie nicht aus den Augen.

»H… Hallo«, grüßte Claras Autopilot sie schwach.

Dann war der Erste bei ihr, packte sie grob und drehte ihr den Arm auf den Rücken.

»Sie sind vorläufig festgenommen«, sagte der Mann. Er stand nun so dicht hinter ihr, dass Clara sein Rasierwasser bemerkte. »Wegen versuchten Mordes.«

»Das war kein Versuch«, widersprach seine Kollegin. Sie kniete vor Clara, direkt neben dem Mann im Blut, und schüttelte den Kopf. »Verflucht, wir brauchen mehr Leute hier oben. Mehr!«

»Na dann«, erwiderte der Uniformierte brummend. Inzwischen hatte er Clara Handschellen um beide Handgelenke gelegt und nahm sie nun an den Oberarmen. »Wegen Mordes. Kommen Sie, wir fahren jetzt zur Wache.«

Langsam kehrte ihr Verstand zurück. Einzelne Wortfetzen hatten es durch den dichten Dunst geschafft, der in ihrem Schädel Einzug gehalten hatte, und verfingen dort. Sie wurde … abgeführt?

Der Mann bugsierte sie drei Stufen hinab, von der Terrasse runter ins satte Grün des Gartens. Clara wehrte sich nicht. Überall sah sie nun Polizisten herumeilen. Sie liefen auf die Terrasse der weißen Villa zu, beäugten den Kiesweg, der von dieser zur nahen Straße führte, und wirkten ganz und gar in ihrem Element – ernst und konzentriert.

Auf den Kiesweg folgte ein gusseisernes Tor, das offen stand und von mannshohen Hecken flankiert wurde. Dahinter parkte eine mittlere Armada aus Dienst- und Peterwagen am Straßenrand. Blinkendes Blaulicht und weit geöffnete Autotüren, durch die quäkende Wortfetzen aus Funkgeräten ins Freie drangen.

»E… Entschuldigung?«, sagte Clara. Der Dunst hinter ihrer Stirn war fast fort, und allmählich gehorchte ihr Mund ihr wieder. »Entschuldigung, aber das muss ein Missverständnis sein. Ich bin nicht …«

»Erzählen Sie’s ’ner Parkuhr, Gnädigste«, fuhr der Mann, der sie abführte, sie schroff an. »Die interessiert’s deutlich mehr als mich.«

»Aber …«

»Ich weiß, was ich gesehen habe, verstanden?«, brummte er ihr ins Ohr, und der Druck seiner Hände an ihren wehrlosen Oberarmen nahm sogar noch zu. »Das allein zählt. Nicht das, was Sie sagen.«

Sie passierten gerade den zweiten Wagen der parkenden Armada. Es war ein weinroter Ford, und erst auf den zweiten Blick erkannte Clara, dass da ein Mann auf dem Beifahrersitz saß und sie mit weit offen stehendem Mund anstarrte.

Sören?

»Moment!«, rief Clara. »Das ist Sören Haberkamp. Er kennt mich. Er wird Ihnen bestätigen, dass das alles ein bedauernswerter Irrtum …«

»Clara?«, fragte Kommissar Haberkamp ungläubig. Er stieg aus dem offenen Wagen, das Gesicht ein einziges Fragezeichen. »Bist du das?«

»Kennen Sie die Dame etwa, Herr Kommissar?«, fragte der Uniformierte in Claras Rücken.

Sören nickte. »Und ob. Das ist Clara Clüver, die beste Freundin meiner Frau.« Er korrigierte sich sofort. »Ex-Frau.«

»Na ja«, meinte der Uniformierte. Es klang unbeeindruckt. »Ab heute nicht mehr, darauf wette ich.«

»Hören Sie«, begann Clara. »Das ist alles nicht so, wie es aussieht. Ich bin Pastorin drüben in Travemünde. Ich habe niemanden getötet.«

»Und ich«, meinte der Polizist knurrend, »habe schon Hunderte wie Sie abgeführt. Und wissen Sie, was denen allen gemein war? Das Lügen.«

Sie waren nun an einem Einsatzwagen angekommen. Der Mann drehte Clara um und schob sie unsanft auf den freien Rücksitz. Hinter ihm konnte Clara noch immer Sören Haberkamp sehen, blass wie eine Wand und vollkommen ungläubig.

Der sieht so aus, wie ich mich fühle, dachte die Pastorin, und aus irgendeinem absurden Grund kam ihr das lustig vor.

»Jeder Mensch lügt«, fuhr der Polizist fort. »Hören Sie auf meine Worte. Die gelten nämlich auch für Pastorinnen. Erst recht für solche mit Blut an den Händen.«

Mit einem lauten Rums schlug er die Wagentür zu, und plötzlich war Clara wieder allein. Allein mit ihren Fragen, mit dem Schrecken in ihren Gliedern … und mit dem metallisch-klebrigen Blut, das noch immer an ihren Fingern haftete wie ein unumstößlicher Beweis.

Das Blut schien überall zu sein. Und nun, da sie mit Handschellen gefesselt im Fond eines Einsatzwagens warten musste, begriff Clara, dass es sie tatsächlich von innen besudelt hatte. Nichts und niemand hielt das Meer auf.

Kapitel 2

Wenige Stunden zuvor

»… und in diesem Sinne dann auch von meiner Seite die herzliche Einladung«, sagte Clara Clüver. Langsam breitete sie die Arme aus. »Besuchen Sie unseren Basar drüben im Gemeindezentrum und unterstützen Sie Menschen in Not. Dafür segne und behüte uns der Herr, und er gebe uns Frieden! Amen.«

Die Orgel setzte ein. Nun danket alle Gott, laut und feierlich tönte es aus den silbernen Pfeifen. Clara ließ die Arme sinken und trat hinter dem Altar hervor. In den dicht gefüllten Sitzreihen der alten Kirche zog prompt wieder Bewegung ein. Überall griffen die Menschen plötzlich nach ihren Habseligkeiten, den Hüten oder Handtaschen, Regenschirmen oder Gehstöcken, während sie gleichzeitig die ersten Verse des Kirchenliedes anstimmten. Überall bereitete man sich auf den Aufbruch vor.

»Nun danket alle Gott, mit Herzen, Mund und Händen«, sang auch Clara. »Der große Dinge tut, an uns und allen Enden.«

Zielsicher bahnte sich die Pastorin einen Weg durch den breiten Mittelgang. Es stimmte, was das Lied sagte, oder etwa nicht? Es waren große Dinge geschehen, und sie selbst war der lebende Beweis dafür.

Die Kirche im Herzen der Travemünder Altstadt stand noch nicht lange unter der Leitung der Enddreißigerin, und doch fühlte Clara sich unter ihrem gewölbten Dach inzwischen so heimisch wie an fast keinem anderen Ort der Welt. Die weiß gestrichenen Wände, das Kreuz aus Eichenholz über dem schlichten Altar und die oben rund zulaufenden Fenster aus Butzenglas waren ihr absolut vertraut geworden, genau wie die tönernen Steinplatten unter ihren Sohlen und die Kerzenständer rechts und links der kleinen Kanzel.

Auch viele der Gesichter, die sie in den Sitzbänken sah, erkannte sie schon mühelos wieder. Die Gemeinde, die Clara vor Monaten – und mit einigen Turbulenzen – übernommen hatte, war nicht allzu klein, doch Clara hatte sich vom ersten Tag an alle Mühe gegeben, sie kennenzulernen. Eine gute Seelsorgerin kannte ihre Schäfchen eben; das gehörte zwingend dazu, wenn man den Beruf ernst nahm. Zumindest war es Claras eigener, unumstößlicher Anspruch an sich selbst.

»Der uns von Mutterleib und Kindesbeinen an«, hallte der Gesang aus Dutzenden von Kehlen durch das Kirchenrund, »unzählig viel zu gut bis hierher hat getan.«

Auch das, fand Clara, traf voll ins Schwarze. Es war gut, dass sie hier war. Alles hatte dagegengesprochen, eigentlich. Sie war in Rheinhessen aufgewachsen, bei ihrer vom Leben enttäuschten Mutter und im Schatten von Weinbergen und alten Burgen. Auf eine ereignislose Schulzeit war ein Theologiestudium in Mainz gefolgt und mit ihm erstmals ein Leben außerhalb des Einflusses ihrer Mutter. Es hatte Frau Clüver nicht gefallen, als Clara sich das Zimmer im Studentenwohnheim nahm, und noch weniger gefiel es ihr damals, als sich ihr einziges Kind in einen jungen Juristen verguckte.

Immerhin, Mama, dachte Clara nun und sprach im Geiste mit der Toten. In dem Punkt hattest du recht. Aber nur in dem einen.

Nach dem Studium war ihr Jurist nach Wiesbaden gezogen, und Clara hatte ihn begleitet. Fast wie selbstverständlich, und vielleicht nicht einmal fast. In Biebrich hatte sie sich als Gemeindearbeiterin verdingt, während Stefan so richtig Karriere machte. Sie hatte die Zeit bei der Lorenz-Kirche auch wirklich genossen, und doch …

Das Gefühl, dass es da noch mehr geben musste, hatte Clara stets begleitet. An jedem einzelnen Tag und vor allem in den Stunden ohne Stefan. Wenn sie allein gewesen war, in ihrer eigenen Welt und bei ihren eigenen Aufgaben, hatte sie immer gewusst, dass sie noch nicht fertig war – trotz des abgeschlossenen Studiums und der erfüllenden Aufgaben in der Gemeindeassistenz.

Jetzt schon, hier am Ufer der Trave. Unter dem gewölbten Dach ihrer neuen, eigenen Kirche, war sie angekommen – als Pastorin und nicht als Assistentin. Wer hätte das je gedacht? Sie selbst ganz sicher nicht.

»… wie es am Anfang war«, riss der Gesang der Gemeinde sie wieder aus ihren Gedanken, »und ist und bleiben wird, so jetzt und immerdar.«

Clara hatte inzwischen die breite Pforte des Gotteshauses erreicht und öffnete sie. Wie an jedem Sonntag ließ sie es sich nicht nehmen, die Kirchgänger persönlich zu verabschieden. Während die Orgel ein letztes Mal in die Vollen ging und aus dem Schlussakkord des alten Liedes ein mehrminütiges Crescendo machte, bezog die Pastorin ihre Position auf den steinernen Stufen der Kirchentreppe, die von der Pforte hinab auf den nicht minder alten Marktplatz von Travemünde führten, über dem an diesem Vormittag dunkle Wolken hingen.

Im Grunde stand die Kirche auf einer Art ovaler Insel, die mit alten Kopfsteinen gepflastert war. Ringsherum verliefen die schmalen Straßen des einstigen Ortskerns, und die malerischen Fassaden von maximal zweigeschossigen Backstein- und Fachwerkhäusern flankierten sie. Claras Blick fiel auf rotes, oft schon leicht windschief wirkendes Mauerwerk, auf gebogene Schindeldächer und auf Fenster, deren Gardinen älter wirkten, als sie selbst es war. So, das wusste sie, hatte Travemünde schon ausgesehen, als es noch wenig mehr als ein reines Fischerdorf gewesen war – eine letzte und winzige Bastion der Menschen vor der Weite der unerbittlichen Ostsee.

Der spitze Turm der Kirche ragte über die alten Dächer, wie er es damals schon getan hatte, und es gehörte keine große Fantasie dazu, sich vorzustellen, dass jeden Moment ein paar Netzflicker oder Bootsbauer mit ihren Werkzeugen und ihren Anno-dazumal-Kleidern um die Ecke der Torstraße gebogen kamen und auf den nahen Hafen zuhielten. Dieser Teil von »Lübecks schönster Tochter«, wie Travemünde oft genannt wurde, hatte sich seit ihren Tagen ja schließlich kaum verändert.

»So jetzt und immerdar«, dachte Clara und spürte, wie ihre Mundwinkel amüsiert zuckten. In der Tat.

Dann verstummte die Orgel. Die letzten Klänge hallten im Kirchenrund nach, wehten durch die offene Pforte ins Freie und brachten die Gemeindemitglieder gleich mit.

»Wieder ein sehr schöner Gottesdienst, Frau Clüver«, hörte Clara eine alte Dame sagen. »Nein, wirklich. Vielen Dank!«

»Ich danke Ihnen, Fräulein Willenbrock«, erwiderte sie und half der Rentnerin mit den aschgrauen Locken die drei Stufen hinunter. »Bis nächsten Sonntag, ja?«

»Worauf Sie sich verlassen können«, meinte die ältere Dame, stutzte dann aber und lächelte wissend. »So Gott will, heißt das natürlich.«

Clara lachte. »Na, jetzt malen Sie den Teufel mal nicht an die Wand. Sie sind doch noch jung.« Sie kehrte zurück an die Pforte und reichte weiteren Kirchgängern die Hand zum Abschiedsgruß.

»Das war eine interessante Predigt«, sprach ein Mann sie an. Er hatte rotes Haar, einen sorgsam gestutzten Vollbart und trug einen eng anliegenden Rollkragenpullover zu einer dunklen Jeans. An seiner Hand folgte ein ebenfalls rothaariger Junge von vielleicht vier Jahren. »Findest du nicht auch, Liam? Wir haben heute viel gelernt.«

Amüsiert hob Clara eine Braue. »Ach ja?«

Sie hatte über den Epheser-Brief gesprochen, nicht gerade die spannendste Stelle der Heiligen Schrift. Entsprechend verblüfft war sie nun, dass sie für einen Vierjährigen nennenswert bedeutsam sein sollte.

»Und ob«, fuhr sein Vater fort. Sie kam einfach nicht auf den Namen des Mannes. Beckmann? Becker? »Denn was stand da, Liam? Weißt du noch? Man soll nicht lügen!«

Ah, dachte Clara. Daher weht der Wind.

»›Darum legt die Lüge ab und sagt die Wahrheit‹«, zitierte der vermutliche Herr Beckmann erstaunlich wortgetreu. »›Weil wir alle Freunde sind.‹ So ist das, Liam. Unter Freunden lügt man nicht, das wussten schon die alten Apostel. Und auch sonst gehört es sich nie, die Unwahrheit zu sagen.« Er hob den Kopf und sah wieder zu Clara. »Es gab da kürzlich einen unschönen Vorfall im Kindergarten, Frau Clüver. Aber wir haben darüber gesprochen, und Liam will sich gleich morgen früh bei den anderen Kindern für sein Benehmen entschuldigen. Richtig, Liam?«

Der Junge sah aus, als wollte er lieber vom Oberdeck eines Dänemarkfrachters in die eiskalte Ostsee springen. Doch er schien seine Lektion gelernt zu haben und nickte artig. »Das macht man nicht.«

»Ganz genau.« Stolz floss über die Züge des jungen Vaters wie Honig über gebratenen Chicorée. Wieder wandte er sich an Clara. »Sie hatten echt ein perfektes Timing mit Ihrer Predigt heute. Nochmals danke.«

»Immer gern«, erwiderte sie lächelnd. »Zum Helfen sind wir ja da. Bis nächsten Sonntag, ja?«

»Bis nächsten Sonntag«, bestätigte der vermutliche Herr Beckmann – oder war es Breckermann? – und ging mit seinem Filius weiter.

Die nächsten zehn Minuten verbrachte Clara mit Verabschiedungen und dem ein oder anderen freundlichen Wort. Sie dankte ihren Kirchgängern, half den Älteren die steinernen Stufen hinunter und zwinkerte den Jüngsten zu, wenn sie sich hinter den elterlichen Hosenbeinen verkrochen, um sie von dort aus neugierig zu beäugen. Es stimmte, was im Epheserbrief stand: Ohne Lug und Trug war die Welt ein besserer Ort, und die Gemeinschaft der Menschen war ebenfalls besser.

Wäre, korrigierte sie sich aber sofort und mit einem inneren Seufzen. Konjunktiv, Frau Pastorin. Ein frommer Wunsch macht nämlich noch lange keine Wirklichkeit.

»Entschuldigung, Frau Clüver?«

Die Stimme war gleich neben Clara erklungen. Dennoch bemerkte die Pastorin erst jetzt, wer da neben ihr stehen geblieben war. Eine alte Frau mit schwarzgrauem, streng zurückgekämmtem Haar und einem Dutt stand neben ihr. Sie war einen halben Kopf kleiner als Clara, hatte ein faltiges Gesicht und tiefgrüne Augen. Ihr gebeugter Leib steckte in feiner Sonntagsgarderobe, die aussah, als nähme sie sie schon seit Jahrzehnten einzig zum Besuch des Gottesdienstes aus dem Kleiderschrank.

»Ja?« Clara runzelte die Stirn und kramte in ihrem Namensgedächtnis. »Frau … Drescher?«

»Dröscher«, korrigierte die alte Dame sanft. »Helga Dröscher. Drüben aus der Jahrmarktstraße. Das kleine Haus gleich neben dem Seebadmuseum.«

Clara nickte. Sie kannte das Haus, das fraglos zu den ältesten Gebäuden der gesamten Altstadt gehören musste, und sie hatte auch die Dame selbst schon oft gesehen. Fast an jedem Sonntag.

»Natürlich. Frau Dröscher.« Sie lächelte. »Kann ich etwas für Sie tun?«

Hinter der alten Frau verließen letzte Kirchgänger das Gotteshaus. Auch Bjarne Hinrichs, der Organist und Frührentner aus dem Rügenweg, hatte seine Zelte inzwischen abgebrochen. Sie waren so gut wie allein.

»Nun«, begann Helga Dröscher. Sie zögerte merklich, und es kam Clara so vor, als wäre es ihr unangenehm, sie überhaupt zu behelligen. »Ich weiß nicht. Vielleicht können Sie das. Aber ich will Sie auf gar keinen Fall damit überfallen. Es ist nur …«

Abermals verstummte die alte Dame. Ihre Hände spielten nervös mit dem Saum ihrer dunklen Jacke, und ihr gesenkter Blick schien irgendwo auf den Treppenstufen zu verharren.

»Wie wäre das?«, schlug Clara vor. »Wir haben die Kirche für uns, Frau Dröscher. Was halten Sie davon, wenn wir sie nutzen? Begleiten Sie mich in die Sakristei? Da haben wir bequeme Stühle und sogar einen Wasserkocher. Ich brühe uns einen schönen Tee auf, und dann erzählen Sie mir einfach frei von der Leber weg, wie ich Ihnen helfen …«

Sie kam nicht dazu, den Satz zu beenden. Denn irgendetwas an ihrem rechten Oberschenkel hatte soeben wie verrückt zu zittern begonnen. »Nanu?«, murmelte Clara. Erst nach einer verwirrten Schrecksekunde begriff sie, dass das Mobiltelefon in ihrer Hosentasche vibrierte. Stummer Alarm. »Kleinen Moment, bitte. Ich muss das nur kurz abstellen.«

Unter Helga Dröschers fragenden Blicken wühlte sie sich durch die Falten ihres weiten Priestertalars. Das schwarze Ding mit dem kleinen weißen Kragen hatte mehrere Öffnungen, die in den Seitenfalten versteckt lagen und dazu dienten, dass die Geistlichen stets an ihre Taschentücher und Ähnliches gelangen konnten. Doch es war mitunter schwer, sie gleich zu finden.

Na endlich, dachte Clara, als sie das flache Handy aus der Falte zog. Es klingelte noch immer stumm vor sich hin.

Fragend studierte sie den Namen, der auf dem Display stand. Jule Haberkamp war ihre beste Freundin hier oben. Jule wusste genau, dass sie gerade arbeitete. Und trotzdem rief sie an?

»Warten Sie kurz?«, bat Clara die alte Dame. »Ich höre nur schnell nach, ob etwas passiert ist.«

»Natürlich«, erwiderte Frau Dröscher freundlich. »Machen Sie ruhig.«

Clara dankte ihr und hob das Handy ans Ohr. »Jule?«

»Gott sei Dank, du gehst ran!«, erklang die Stimme ihrer Freundin. Jule sprach so schnell, dass die einzelnen Worte fast wie ein einziges Wort klangen. Sie hörte sich gehetzt an – und ganz schön erleichtert. »Ich hatte die Hoffnung schon beinahe aufgegeben.«

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Clara. Ein ungutes Gefühl breitete sich in ihrer Magengegend aus. War etwas mit der »Rasselbande«, Jules zwei bezaubernden Kindern? »Du klingst furchtbar.«

»Es … Es ist furchtbar«, bestätigte die Freundin stockend. »Kannst du bitte herkommen, Clara? Ganz schnell? Es geht um Leben und Tod!«

Das Meer und die gemächlich gen Osten fließende Trave waren in Travemünde allgegenwärtig. Nirgendwo spürte man dies deutlicher als auf der Vorderreihe. Die berühmte Flaniermeile des Ortes mit ihren zahlreichen Boutiquen, Eiscafés, Restaurants und schlichten Fischbuden lag direkt am Flussufer und verband den alten Hafen, wo vor Jahrhunderten noch die Katen und Boote der Fischer vertäut gewesen waren, mit der sandigen Strandpromenade, die vom historischen Leuchtturm bis hinaus auf die Nordermole führte. Als Clara Clüver die Vorderreihe erreichte, setzte dort bereits der Mittagstrubel ein.

Überall herrschte reger Betrieb. Die Terrassen und Außentische der gastronomischen Betriebe waren proppenvoll mit Touristen. An den Souvenirständen wechselten Ansichtskarten, Miniatur-Strandkörbe und allerlei sonstiger Nippes den Besitzer, und drüben am Skandinavienkai machte sich die LÜBECK, Travemündes treue Autofähre, gerade wieder für die Überfahrt bereit. Sie transportierte Passanten, Pkw und andere Fahrzeuge regelmäßig hinüber zum Priwall, der etwa drei Kilometer langen Halbinsel auf der anderen Flussseite. Und auch sie schien sich trotz des noch immer wolkigen Himmels vor Andrang kaum retten zu können.

Clara war nicht überrascht. An der Küste änderte sich das Wetter meist schnell, und erfahrene Ostsee-Touristen ließen sich von grauen Vormittagswolken daher noch lange nicht die Tagesplanung vermiesen. Wer Travemünde kannte, der wusste eben, dass auf jeden Regen schnell wieder Sonnenschein folgen konnte.

Hoffentlich gilt das auch für Jule, dachte die Pastorin.

Sie wusste noch immer nicht, worum es überhaupt ging. Jule Haberkamp war am Telefon viel zu hektisch und kurz angebunden gewesen, um ihr Details zu verraten. Doch sie hatte ernst geklungen, also nahm Clara ihren Hilferuf auch ernst. Mit wenigen, aber sehr freundlichen Worten hatte sie Frau Dröscher um einen späteren Gesprächstermin gebeten, und die reizende alte Dame hatte sofort Verständnis gezeigt.

»Aber sicher«, hatte sie gesagt. »Gehen Sie nur. Clemens und ich laufen Ihnen schon nicht weg, Frau Pastorin.«

Stattdessen war Clara gelaufen. Von der Altstadtkirche bis zum Anfang der Vorderreihe war es zum Glück nur ein größerer Katzensprung, und obwohl sie es besser wusste, suchte die Pastorin nun im Gewühl der zumeist ortsfremden Passanten nach dem vertrauten Gesicht ihrer Freundin.

Stattdessen fand sie nur Urlauber. Sie waren quasi überall, schlenderten an den Schaufenstern der Modeboutiquen vorbei, standen Schlange vor den Ticketschaltern der Ausflugsschiffe und machten Fotos von der Nils Holgersson, einem der gewaltigen Frachter, die regelmäßig die Trave hinab gen Meer fuhren. Der weiße Koloss auf dem Wasser war abermals auf großer Fahrt. Er ließ sein Horn zum Gruß erklingen, bevor er in die weite See hinübersetzte. Gleich mehrere Kinder, die dicht am Ufer des in der Sonne funkelnden Flusses standen, zuckten ob des lauten Klangs zusammen – nur um schon im nächsten Augenblick über die eigene Schreckhaftigkeit zu lachen.

Dann wandte Clara sich um und betrat die Buchhandlung. FriekesSchmökerhafen lag direkt an der Vorderreihe und zählte zu den alteingesessenen Geschäften der Nachbarschaft. Eigentümerin Frieke Kroon, eine patente Frau von Anfang siebzig, gehörte ebenfalls zu Claras hiesigem Freundeskreis und war zudem ihre Vermieterin. Als passionierte Überzeugungstäterin ließ Frieke sich auch vom Rentenalter nicht davon abbringen, allmorgendlich ihren Laden aufzusperren. Dafür liebte sie die Vorderreihe schlicht zu sehr – und die tolle Lektüre, die sie ihren Kunden im Schmökerhafen anbot. Manchmal glaubte Clara, die mütterliche Freundin mit den weißblonden Haaren würde bis ans Ende ihrer Tage hinter der Kasse ihrer Buchhandlung stehen, umgeben von Neuerscheinungen, Klassikern und interessierten Besuchern. In Friekes Augen gab es vermutlich keinen schöneren Lebensabend.

Und ausgerechnet hierhin hat Jule mich bestellt, dachte Clara. Das ungute Gefühl in ihrem Magen wuchs sekündlich mehr. Weil es um Leben und Tod geht. Oje.

Zu ihrer Erleichterung – und Überraschung – sah sie keine Leiche am Boden des Schmökerhafens. Im Gegenteil: Im Inneren des lang gezogenen Verkaufsraums herrschte Leben pur! Vor den deckenhohen Regalen, an den Tischen mit den Novitäten und sogar in der kleinen Kinderabteilung im hinteren Bereich tummelten sich wahre Scharen von Sonntagsausflüglern. Ein junges Paar blätterte durch das Zeitschriftenregal; ein älterer Herr mit Hornbrille und Schlapphut prüfte kritisch den Einband einer Thomas-Mann-Gesamtausgabe. Zwei Kinder fläzten sich auf den Sitzkissen im hinteren Winkel der Buchhandlung, und Jule höchstpersönlich stand an der kleinen Kasse.

»Da bist du ja endlich«, sagte die Achtunddreißigjährige. Das kastanienbraune Haar klebte ihr an der schweißfeuchten Stirn. Sie sah müde aus, aber das war nichts Neues. »Gott sei Dank, Clara. Ich brauch dich – dringend!«

»Was ist denn passiert?« Fragend sah Clara sich um. »Leben und Tod?«

»Hier ist der Teufel los«, klagte Jule. Dabei kassierte sie eine junge Frau ab, die mit zwei Bernd-Perplies-Romanen vor ihr stand. »Ich hatte anfangs noch gedacht, ich schaffe das. Frieke ist ja schließlich auch immer allein, und die wuppt den Laden mit links. Aber ich fürchte, da habe ich den Sonntag unterschätzt. Irgendwie ist heute viel mehr los als sonst. Und wenn du mir helfen könntest, wäre das echt fantastisch, Clara. Es muss auch gar nicht lange sein – nur für ein paar Stunden, bis der ärgste Ansturm durch ist und ich wieder Land sehe. Ginge das?«

»Moment, Moment«, bat Clara. Verständnislos schüttelte sie den Kopf. »Du brauchst Hilfe im Schmökerhafen? Das ist das Problem? Nur das?«

Jule schnaubte. »›Nur‹ ist gut! Ich hatte hier vorhin eine Schlange an der Kasse, die ging gefühlt bis hoch nach Warnsdorf.«

Der kleine Nachbarort lag etwa vier Kilometer entfernt. Clara verstand, was ihre Freundin meinte. Allerdings bereitete das Warum ihr nach wie vor Schwierigkeiten.

»›Leben und Tod‹ hast du gesagt. Deswegen?«

Die Frau hinter der Kasse nickte. »Und ob. Ehrlich, Clara: Wenn ich das hier weiter allein meistern muss, breche ich zusammen. Ich schaff’s vor lauter Andrang nicht einmal zur Toilette. Und du hast den Gottesdienst doch jetzt hinter dir. Also? Kannst du mir unter die Arme greifen? Ein, zwei Stunden wären schon eine Riesenhilfe, echt.«

Jule Haberkamp neigte nicht zu Übertreibungen. Die geschiedene Mutter zweier Achtjähriger packte an, wo immer es nötig war, und machte weder sich noch anderen etwas vor. Ihr gehörte das alte Haus an der Vorderreihe, in dessen Erdgeschoss der Schmökerhafen lag, und sie vermietete die beiden oberen Etagen als Ferienwohnungen. Als Buchhändlerin hatte Clara sie allerdings noch nie erlebt.

»Wo ist denn Frieke?«, wunderte sich die Pastorin. »Drüben im Lager?«

»Das ist es ja!«, meinte Jule. Sie suchte gerade nach Wechselgeld für den Herrn mit der Thomas-Mann-Gesamtausgabe, und selbiger schien langsam die Geduld zu verlieren. »Frieke liegt flach. Deshalb stehe ich hier. Ah, da haben wir es ja. Bitte sehr, der Herr: zwölf zwanzig retour. Viel Vergnügen mit der Lektüre, ja?«

»›Vergnügen‹ ist gut«, brummte der Angesprochene. »Für Ihre Kasse braucht man ja noch mehr Geduld als für Tod in Venedig.«

Damit – und mit seinem schweren Neuerwerb – verließ er die Buchhandlung. Zufriedene Kunden sahen anders aus, das stand fest.

»Siehst du, was ich meine?« Jule seufzte. »Mir steht hier das Wasser bis zum Hals, dabei wollte ich Frieke einfach nur helfen. Sie hat mich heute Morgen angerufen, da warst du schon unterwegs. Ob ich für sie einspringen könnte, ausnahmsweise. Du weißt ja, wie ungern sie den Laden geschlossen lässt – erst recht während der Saison. Und da Sören sich heute endlich mal wieder dazu herabgelassen hat, seine Kinder zu bespaßen, hatte ich tatsächlich Zeit. Also hab ich Ja gesagt. Tja, und jetzt stehe ich hier und bin angeblich langatmiger als Tod in Venedig. Ehrlich, Clara: Wenn du mir nicht helfen kannst, muss ich den Schmökerhafen dichtmachen. Wenigstens für heute.«

Die Pastorin kannte Kommissar Sören Haberkamp und wusste, wie häufig sich Jule über ihren Ex beschwerte. Sörens Beruf ließ ihm selten die Zeit, sich um die gemeinsamen Kinder zu kümmern. Zumindest schob er das gern als Entschuldigung vor. Clara musste daher nicht lange nachdenken. »Na sicher helfe ich dir. Gib mir nur zwei Minuten, um den Talar loszuwerden. Okay?« Dabei deutete sie an sich hinab. »Ich bin gekommen, so schnell ich konnte. Es ging ja um Leben und Tod, habe ich gehört.«

Jule lächelte schuldbewusst. »Du bist die Beste, Frau Pastorin.«

»Schließ nicht immer von dir auf andere.«

Clara zwinkerte der Freundin zu und verschwand dann im hinteren Bereich des Ladens. Dort befanden sich das winzig kleine Lager mit seinen Kartons voller Deko-Artikel und der Durchgang zum nicht minder winzigen Garten, durch den ein schmaler Trampelpfad bis ins Hinterhaus des Gebäudes führte. In Letzterem befand sich das Büro des Travemünder Boten, eines kleinen Anzeigenblättchens, das Jule von ihrer seligen Mutter geerbt hatte und bis heute mit mehr Leidenschaft betreute, als es menschenmöglich – und finanziell sinnvoll – schien.

Nachdem Clara sich aus dem schwarzen Talar geschält hatte, kehrte sie in normaler Kleidung zurück in den Laden. Jule war schon wieder im Stress, musste sie doch gleichzeitig das junge Paar mit den Zeitschriften abkassieren und sich um eine pingelig wirkende Dame kümmern, die partout nicht warten wollte.

»Na, nun hören Sie mal«, schimpfte diese soeben. »Sie wollen doch, dass man die Bücher kauft. Also müssen Sie auch mit potenziellen Interessenten sprechen!«

»Vielleicht kann ich das übernehmen«, schlug Clara vor. Eilig trat sie zwischen Jule und die aufgebrachte Dame und schenkte dieser ein herzliches Lächeln. »Wie darf ich Ihnen helfen, Frau …?«

»Schneider-Seelbrecht«, erwiderte sie mit erhobener Nase und abschätzigem Blick. Beides passte zu ihrem Aufzug, der Clara an eine pensionierte Oberstudienrätin erinnerte – allerdings eine der besonders gnadenlosen Sorte. »Amalie Schneider-Seelbrecht. Ich interessiere mich für die Werke Schopenhauers. Können Sie mich da beraten?«

Das konnte Clara leider nicht, doch mit warmen Worten und pastoraler Engelsgeduld gelang es ihr, die schwierige Kundin dennoch gut zu betreuen. Am Ende verließ Amalie den Schmökerhafen mit besänftigter Wut und einer kommentierten Auswahl von Schopenhauers wichtigsten Texten, die Clara im Ramschkörbchen gefunden hatte.

»Puh«, meinte Jule und rollte mit den Augen. »Manche Leute wollen stänkern, egal, ob mit oder ohne Grund.«

Gemeinsam arbeiteten die Freundinnen weiter. Während Jule die Kasse im Auge behielt, eilte Clara durch den Verkaufsraum, räumte achtlos zur Seite gelegte Bücher zurück ins Regal und beantwortete Fragen. Zwar war ihre buchhändlerische Fachkenntnis mehr als begrenzt, aber für die meisten Kundengespräche genügte es, freundlich zu lächeln und auf das entsprechende Regal zu verweisen – auf die Klassiker, die Thriller, die Sachbücher und immer so weiter.

Dann kam Sören. Der Kommissar war ein paar Jahre älter als Jule und stand im Wörterbuch unter dem Begriff »langweilig«. Zumindest kam Letzteres Clara manchmal so vor. Wo Jule lebendig und ideenreich wirkte, war der schlaksige Brillenträger die personifizierte Routine. Kein schlechter Mensch und auch kein schlechter Vater – zumindest an den Tagen, an denen er tatsächlich mal einer war –, aber ganz fraglos nicht der passende Deckel für Jule Haberkamps Topf.

»So, da wären wir«, sagte er, während Lea und Timo bereits begeistert in Richtung Kinderbuchabteilung liefen. »Übernimmst du sie wieder, Jule?«

Fragend sah die Angesprochene zu ihrer Rasselbande und dann zu ihm. »Was in aller Welt macht ihr denn hier?«

»Na ja, es sind auch deine Kinder.«

»Das ist mein Spruch«, warnte sie ihren Ex. »Und, nein, jetzt um diese Uhrzeit sind sie das keineswegs. Du hast gesagt, du nimmst sie mit nach Scharbeutz. Ins Schwimmbad. Hatten die zu, oder wo lag das Problem?«

Clara trat einen Schritt zur Seite und gewährte den beiden Eltern ein wenig Privatsphäre. Sie wusste, wie hässlich Streitereien werden konnten, und zumindest Jule klang, als schlösse sie eine solche nicht aus. Betont unbeteiligt studierte die Pastorin die Titelseiten im Zeitschriftenregal.

»Nein, die hatten nicht zu«, wehrte sich Sören gerade. »Doch ich verstehe auch nicht, was dieses Verhör hier soll. Kann ich dir nicht einfach die Kinder zurückbringen?«

»Schon«, antwortete Jule. »Aber nicht zwei Stunden zu früh. Da ist doch irgendwas faul.«

»Ich bitte dich, was soll da denn faul sein? Mach dich nicht lächerlich, Jule!«

Clara sah noch intensiver auf die Titelseiten der Zeitschriften. Der SPIEGEL berichtete über das Geschehen in Berlin, schau an. Und da drüben auf der 11FREUNDE stand etwas von einem Skandal in der Bundesliga? Die Pastorin wollte gerade weiterschauen, da blieb ihr Blick an einem Namen hängen, der sie stutzen ließ: Dröscher.

Skandal um Dröscher, las sie. Der Rest des Teasers lag hinter weiteren Zeitschriften verborgen.

»Leute?«, rief Jule in ihrem Rücken. »War’s schön im OstseeBeach?«

»Superschön«, erklang Leas Antwort aus dem hinteren Ladenbereich. Die Achtjährige strahlte über das ganze Gesicht, als Clara ihr einen schnellen Seitenblick zuwarf. »Ich war die ganze Zeit im Wasser, Mama. Bis Timo geblutet hat.«

»Was?«

Nun drehte Clara sich wieder um. Jule kam um den Kassentresen geeilt, und der Blick, den sie Sören dabei zuwarf, hätte waffenscheinpflichtig sein müssen.

»Er hat sich nur gestoßen«, wiegelte der Kommissar ab. »Am Knie. Das haben wir schnell verarztet und …«

»Da ist sogar der Bademeister gekommen«, warf Timo selbst ein. Der Zwilling klang regelrecht stolz. »Mit einem Verbandskasten. Und das Desinfektionsmittel hat vielleicht gebrannt, Mama! Brr!«

»Was in aller Welt …«, schimpfte Jule.

Sie war nun bei dem Jungen und krempelte ihm das Hosenbein hoch. Timo protestierte vergebens.

»Das war ein besserer Kratzer, weiter nichts«, rechtfertigte sich Sören währenddessen. »Ich wollte es gar nicht erst ansprechen, weil du sonst wieder so durchdrehst. Timo ist zu schnell am Becken entlanggelaufen und hat sich an einer Mauerkante das Knie aufgestoßen. Der Rest war völlig übertrieben und …«

»Hau ab!«, unterbrach Jule ihn schroff. Sie hatte das Knie inzwischen freigelegt, und Timo präsentierte ihr mit sichtlicher Begeisterung das große Mullpflaster, das auf diesem klebte. »Hau ab, Sören. Für heute hab ich dich lange genug gesehen.«

»Was? Komm schon, Jule. Jetzt sei nicht albern. Du …«

Abermals blickte sie zu ihm. Ihre Miene war streng, ihr Tonfall eine einzige Drohung. »Raus«, sagte sie knurrend. »Sofort.«

»Kinder tun sich auch mal weh«, versuchte Sören eine letzte, beleidigte Rechtfertigung. »Das passiert. Dafür kann ich nichts.«

»Aber dafür, dass du mich für dumm verkaufen wolltest«, gab sie zurück. »Ich bin ihre Mutter, Sören. Das geht mich etwas an. Und ich übertreibe nicht, kapiert? Nie!«

Sören öffnete erneut den Mund, schien dann jedoch zu begreifen, dass Protest seine Lage nur noch verschlimmerte. »Ach, mach doch, was du willst«, brummte er stattdessen und verließ den Schmökerhafen. Er verabschiedete sich nicht einmal von der Rasselbande.

»Hier ist ja vielleicht was los«, murmelte eine Kundin. Sie gehörte zu den Letzten im Laden, denn der Mittagsansturm war merklich vorüber. Sie hatte graue Locken und trug einen gestreiften Pullover. In ihrer Hand ruhte das Fußballmagazin von vorhin, das sie Clara nun auffordernd auf den Tresen legte. »Lügen, wo man nur hinschaut.«

Die Pastorin riss sich von Jule und den Kindern los und konzentrierte sich wieder auf die Arbeit, die unmittelbar vor ihr anstand. »Verzeihung, was meinten Sie?«

»Na, die ständige Lügerei«, sagte die Kundin. Geduldig nahm sie das Kleingeld aus dem Portemonnaie, das Claras Kasse anzeigte. »Hier im Laden, da im Fußball … Dieser verkappte Vater des Monats heißt nicht zufällig auch Dröscher, oder? Das würde einiges erklären, he, he.«

»Nein«, antwortete Clara. »Heißt er nicht.«

Eine kleine Weile später brach auch sie wieder auf, unterwegs zu einer Erklärung.

Kapitel 3

In der Jahrmarktstraße war vom Trubel der Ufermeile wenig zu spüren. Wie immer, wenn Clara durch den alten Ortskern von Travemünde schlenderte, kam sie nicht umhin, dessen Atmosphäre zu bewundern. Die alten Häuser mit ihren Fachwerkmauern und den fast omnipräsenten roten Ziegeln, die kleinen Dächer und die mit Kopfstein gepflasterten Gässchen, die versteckten Hinterhöfe … Sie allesamt kündeten von einer Zeit, die lange zurücklag und hier oben an der Küste dennoch irgendwie lebendig blieb. In den schmalen Gassen rund um die evangelische Kirche schien sich seit den Tagen der Fischerkaten und Handwerkerstuben wenig verändert zu haben. Anders als im Rest des Ortes.

Das Seebadmuseum war das perfekte Beispiel dafür: Clara hatte es vor einiger Zeit mal mit Frieke besucht, an einem regnerischen Nachmittag voller Wind und Nässe, und über die Exponate gestaunt – über all die Relikte aus einer Vergangenheit, in der Travemünde noch kein Sehnsuchtsziel für die nach Sommerfrische lechzenden Reichen und Schönen der Zwanzigerjahre gewesen war.

Irgendwie, so dachte die Pastorin, schien sich dieser Teil der Ortsgeschichte gerade zu wiederholen, oder etwa nicht? All die Luxushotels und – feriensiedlungen, die in den vergangenen paar Jahren rings um die Trave errichtet worden waren, bewiesen es doch: Das verschlafene Travemünde mit seinen familienbetriebenen Pensionen und seiner seligen Ruhe mutierte einmal mehr zu einem dicht bevölkerten Hafen für die deutsche High Society, genau wie im vorigen Jahrhundert. Das bewährte Alte wurde vom lukrativeren Neuen überrollt.

Selbst Jule schimpfte hinter vorgehaltener Hand über die zahlreichen Investoren von außerhalb, die derzeit Geld in hiesige Neubauten steckten und dabei nicht merkten, dass sie dem Grund ihrer Investition – der unberührten Schönheit des Fischerdorfes am Meer – damit gehörig das Wasser abgruben. An einem Strand voller Luxushotels und Markennamen war eben nur sehr wenig noch malerisch. Ein hanseatisches Fischerdorf sah anders aus.

Nämlich so wie die Häuser hier im Schatten meiner Kirche, dachte Clara und klopfte an Helga Dröschers Haustür.

Die Frau, die sie nach dem Gottesdienst angesprochen hatte, öffnete ihr sofort. Frau Dröscher hatte den Sonntagszwirn noch nicht abgelegt und seufzte erleichtert, als sie Clara vor ihrer Schwelle entdeckte. »Frau Clüver! Na, das ist ja eine Überraschung.«

Clara schmunzelte reumütig. »Warum? Ich bin Ihnen den Besuch doch mehr als schuldig. Bitte verzeihen Sie meinen schnellen Aufbruch von vorhin. Passt es jetzt? Andernfalls komme ich auch gern ein anderm…«

»Nein, nein. Jetzt ist es perfekt. Bitte, kommen Sie.«

Helga Dröscher bat die Pastorin hinein. Das Innere ihres Häuschens erwies sich als kleine Kopie des benachbarten Museums. Wo Clara auch hinsah, fand sie weitere Relikte des alten Travemünde – von der Kapitänsmütze am Kleiderständer bis hin zur legendären Viermastbark PASSAT, die als kleines Flaschenschiff auf der Wohnzimmerfensterbank ruhte.

»Gefällt sie Ihnen?«, fragte Frau Dröscher. »Die hat mein Heinrich noch selbst gebastelt. Er ist immer gern zur See gefahren, auch wenn die See ihn irgendwann nicht mehr brauchte.«

Clara kannte diese Art von Geschichten, denn der Ort war voll davon. Zwar war sie dem verstorbenen Heinrich Dröscher nie begegnet, der ihr von gleich mehreren Fotografien neben dem Sofa entgegenblickte, doch seine Vita glich der vieler Männer seiner Generation. Irgendwann hatte der vermeintliche Fortschritt den kleinen Küstenort gepackt und dafür gesorgt, dass all die Heinrichs und übrigen Meerarbeiter von Travemünde keine Arbeit mehr bekamen. Neue, modernere Häfen waren andernorts entstanden, neue Fischereigebiete ausgeschrieben worden, und zusammen hatten diese Veränderungen dem alten Travemünde kurzerhand den Rang abgelaufen. Es hatte sich schlicht nicht mehr rentiert, so als Fischer an der Trave. Heinrichs alte Eisen waren ausgemustert worden und heute wenig mehr als eine verrostete Erinnerung. Ein Exponat im Museum und ein vergessenes Buddelschiff im Fenster.

»So ging es vielen hier oben, hm?«, sagte die Pastorin.

Dankbar folgte sie Helga Dröschers stummer Aufforderung und setzte sich auf das kleine, mit Stickdeckchen belegte Sofa. Ihre Gastgeberin hantierte derweil mit der Teekanne, die auf dem Beistelltisch auf einem Stövchen ruhte, und nahm eine weitere Porzellantasse aus dem wuchtigen Schrank neben der Standuhr.

»Ja, so war das«, bestätigte Frau Dröscher. »Die See hat meinen Mann nicht mehr gewollt. Und all die anderen aus Travemünde auch nicht. Manche sind damals nach Lübeck gegangen, um in den neuen Frachthäfen als Handlanger zu arbeiten. Andere haben auf irgendwelchen Touristenkuttern angeheuert und fortan Urlauber bei Kaffee und Kuchen über die Trave gefahren. Aber dazu war Heinrich zu stolz. Er war kein Handlanger und auch kein Pausenclown oder Museumsstück. Das war nie seine Art.«

Clara nickte. Erneut sah sie zu den Fotografien. Der Mann auf ihnen schien viel mit ihrem Vater Fritz Behrendt gemeinsam gehabt zu haben. Auch Fritz war ein Mann der Trave gewesen, ein Relikt aus vergangenen Zeiten.

Schnell verscheuchte sie die Erinnerung wieder. Dies war nicht der Moment, um an Fritz zu denken, zumal mit ihm stets unangenehme Erinnerungen auftauchen wollten. Sie war beruflich hier, verdammt noch mal. Helga Dröscher verdiente ihre Aufmerksamkeit, nicht der Vater, an den sie ohnehin nicht gern zurückdachte.

»Milch und Zucker?«, fragte die alte Dame gerade. Die Kräutermischung roch intensiv.

»Nur Milch, danke.« Clara griff nach der angebotenen Tasse und kam zum Thema. »Frau Dröscher, weshalb wollten Sie mit mir sprechen? Geht es etwa um Clemens?«

Der Schuss ins Blaue, geboren aus der Schlagzeile von vorhin, erwies sich als Volltreffer. Die alte Dame setzte sich mit einem weiteren Seufzer und legte die knotigen Hände in den Schoß. »Um den Jungen, ja. Den armen Jungen.«

Stockend begann sie zu erzählen. Ihr Enkel war ihr Augenstern, so kam es Clara vor, und sein Schicksal, das die Schlagzeile drüben im Schmökerhafen schon angedeutet hatte, traf sie schwer.

»Er ist bei uns aufgewachsen, Frau Clüver. Seit dem Tod seiner Eltern war er hier bei Heinrich und mir. Und selbstverständlich lebte er da schon für seinen Sport.«

Fußballtraining, von klein auf. Vereinsmitgliedschaft, schließlich erste Erfolge in der A-Jugend. Doch dabei blieb es nicht. Jeder Jugendtrainer, der Clemens Dröschers Weg damals kreuzte, sagte dem Jungen laut seiner Großmutter eine große Karriere voraus. Eine Chance im »richtigen« Fußball, in der Bundesliga.

Clara nickte schweigend und hörte weiter zu.

»Heinrich und ich wussten gar nicht, wie uns geschah«, gestand die Großmutter nun. »Wir hatten ein Wunderkind im Haus? Ausgerechnet wir? Ach, es ging alles so schnell, so geradlinig. Clemens wollte einfach nur spielen, und allem Anschein nach hatte er Talent. Mehr als die anderen Jungs, Frau Clüver. So viel Talent, dass die Entscheider einer nach dem anderen ein Auge auf ihn warfen. Er bekam Chancen, verstehen Sie? Immer wieder neue Chancen. Und er musste sich gar nicht erst anstrengen, um sie zu nutzen. Das flog ihm quasi zu, wie von allein.«

Irgendwann, so um seinen zwölften Geburtstag herum, habe der Wunderenkel dann beschlossen, auf die Trainer zu hören. Er wolle Profifußballer werden, ließ er seine Familie wissen, und den Sport zum Beruf machen. Helga Dröscher erinnerte sich noch gut an den Moment.

»Gleich da vorn im Türrahmen hat er gestanden«, sagte sie und deutete auf die Verbindungstür zum schmalen Hausflur, durch die Clara eben erst getreten war. »Die Hände an der Hüfte und diesen festen Blick im Gesicht, den er von seinem seligen Vater hatte. Er hat uns gesagt, dass er den Fußball zum Beruf machen will.«

Sie schwieg einen Moment, verloren in der Erinnerung. Dann fuhr sie fort. »Heinrich und ich dachten uns nichts dabei. Kinder haben nun einmal Flausen im Kopf, richtig? Sie wechseln ihre Träume mitunter häufiger als die Unterwäsche, leider. Aber nein, der Junge blieb dabei. Eisern und hochkonzentriert, so wie immer. Dass das ein Problem werden konnte, begriffen wir alle erst viel, viel später.«

Sie sprach wenig von dem »Problem«. Auch das, so schien es Clara, war etwas gewesen, von dem Helga Dröscher nicht ganz wusste, wie ihr geschah. Clemens habe von klein auf lieber mit Mädchen gespielt, sagte sie. Dann erzählte sie von einem längst verstorbenen Onkel, der nach Amerika ausgewandert sei und ebenfalls »ein Junggeselle« hatte bleiben wollen. Sie hatte ihn stets gemocht, und auch dem Jungen hatte sie immer nur das Allerbeste gewünscht.

»Aber Wünsche allein reichen nicht, wissen Sie?« Leise stellte sie ihre Teetasse zurück auf den Unterteller. »Die Welt schert sich nicht um unsere Wünsche.«

Clara schlug ein Bein über das andere und lehnte sich in ihrem Sitz zurück. Die Standuhr tickte. »Wie kann ich Ihnen helfen, Frau Dröscher?«