Trust me - reine Vertrauenssache - L.A. Witt - E-Book

Trust me - reine Vertrauenssache E-Book

L.A. Witt

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Beschreibung

Die Grausamkeit der aktuellen Mordserie erschüttert selbst die altgedienten Detectives des Morddezernats. Brian Clifton ist entsetzt, als eines der Opfer eine unheimliche Ähnlichkeit zu seinem Freund James aufweist. Und es verdichten sich die Beweise, die auf James als Mörder hindeuten Schon seit Langem verhält sich James ausweichend. Und da ist noch dieses unbedeutende Detail, das er vor Brian verschweigt: Er ist ein spielsüchtiger Drogendealer. James ist wahrscheinlich nicht der beste Freund der Welt, aber er bittet Brian, ihm zu glauben, dass er kein Mörder ist. Wer allerdings auch immer den Abzug betätigt hat, will die Sache zweifellos zu Ende bringen, und Brian ist der Einzige, dem James zutraut, ihn zu beschützen. Aber wie viel ist Brian bereit zu riskieren, um einen Mann zu schützen, den er anscheinend nicht einmal kennt?

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L. A. Witt

Trust me – reine Vertrauenssache

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2018

http://www.deadsoft.de

© the author

Titel der Originalausgabe: Trust me

Übersetzung: Lena Seidel

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte:

© rdgraphe – fotolia.de

© VladOrlov – shutterstock.com

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-183-3

ISBN 978-3-96089-184-0 (epub)

Inhalt:

Die Grausamkeit der aktuellen Mordserie erschüttert selbst die altgedienten Detectives des Morddezernats.

Brian Clifton ist entsetzt, als eines der Opfer eine unheimliche Ähnlichkeit zu seinem Freund James aufweist. Und es verdichten sich die Beweise, die auf James als Mörder hindeuten

Schon seit Langem verhält sich James ausweichend. Und da ist noch dieses unbedeutende Detail, das er vor Brian verschweigt: Er ist ein spielsüchtiger Drogendealer.

James ist wahrscheinlich nicht der beste Freund der Welt, aber er bittet Brian, ihm zu glauben, dass er kein Mörder ist. Wer allerdings auch immer den Abzug betätigt hat, will die Sache zweifellos zu Ende bringen, und Brian ist der Einzige, dem James zutraut, ihn zu beschützen.

Kapitel 1

„Hier ist James. Sorry, ich kann gerade nicht ans Telefon gehen, aber hinterlass mir eine Nachricht und ich rufe dich zurück.“ Piep.

Ich fluchte unterdrückt und warf mein Handy in den Getränkehalter. Am Morgen hatte er mir eine Voicemail aufgesprochen, in der er fragte, ob wir abends ausgehen wollten, und mich bat, ihn zurückzurufen. Und nun ging er schon den ganzen verdammten Tag nicht an sein Telefon.

Seufzend ließ ich meinen Kopf gegen die Nackenstütze fallen. Ich hätte gerne behauptet, dass ihm das nicht ähnlich sah, aber in letzter Zeit tat es das. Die ersten paar Monate, in denen wir uns getroffen hatten, war alles prima gewesen. Doch während der vergangenen drei Monate hatte sich das geändert. Es gab lange Abschnitte, in denen sein Handy zu den seltsamsten Zeiten abgeschaltet war, egal ob tagsüber oder nachts. Anrufe oder SMS kamen erst nach Stunden, besonders dann, wenn er gebeten wurde, mich sofort anzurufen. Bei Plänen kam unweigerlich etwas dazwischen. Bei Voicemails hatte er dummerweise keine Gelegenheit, sie zu beantworten, bis ich anrief, was ganz zufällig immer dann passierte, wenn er gerade mich anrufen wollte.

Ich rieb mir über die Augen. Es war ja nicht so, dass ich ein Mann mit hohen Erwartungen war. Ich verlangte nicht, dass er nach meiner Pfeife tanzte. Aber irgendetwas an seinem Schweigen und den kryptischen Erklärungen passte nicht zusammen. Ich fragte mich, ob mein Verdacht daher kam, dass ich ein gebranntes Kind war, oder war es einfach die Gewohnheit eines Detectives des Morddezernats, dessen ganzer Job sich darum drehte, die kleinen Geschichten und Details herauszupicken, die zeigten, dass jemand log?

Was auch immer der Fall war, mit leerem Magen auf dem Parkplatz des Diners zu sitzen brachte mich nicht weiter, die Verfehlungen meiner anderen Hälfte zu begreifen. Vor mich hin fluchend stieg ich aus dem Auto und ging hinein.

Mein Partner, Max Kessler, hatte sich bereits auf einen Barhocker gesetzt und Kaffee bestellt.

Er schob eine der drei Tassen zu mir. „Schon wieder Probleme mit deinem Freund?“

„Ja.“ Ich setzte mich, zog ein paar Zuckerpäckchen aus dem Keramikhalter neben dem Serviettenspender. „Woher weißt du das?“

Er lachte. „Wer sonst kotzt dich so an, dass du bereit bist, dein Handy durch ein Fenster zu werfen, obwohl wir eigentlich ein entspanntes Abendessen haben wollten?“

„Punkt für dich.“ Ich presste meine Kiefer aufeinander. „Ja, ich habe immer noch Probleme mit ihm.“ Max war einer der wenigen Typen in der Einheit, die wussten, dass ich schwul war, und es störte ihn nicht im Geringsten. Er hatte mich zu unzähligen Grillpartys mit seiner Familie eingeladen, und wen auch immer ich zu der Zeit traf, war stets willkommen gewesen. Noch ein Grund, warum wir schon so lange so gut zusammenarbeiteten.

„Wann wirst du ihm endlich einen Arschtritt geben?“ Max beäugte mich über den Rand seiner Tasse. „Wenn er dich so unglücklich macht …“

„Wenn er nicht mit einer verdammt guten Entschuldigung kommt“, sagte ich, während ich Sahne in meinen Kaffee rührte, „ist er heute Abend Geschichte. Ich bin damit fertig.“

Max hob eine Augenbraue, entgegnete aber nichts. Ich konnte ihm seine Skepsis nicht verübeln. Wie oft hatte ich das in den letzten Wochen gesagt? Sogar ich selbst glaubte mir nicht mehr.

Die Lokaltür ging auf und Max schaute hoch.

„Ach, da ist er ja.“ Er winkte, und ich musste mich nicht umdrehen, um zu wissen, wer sich uns angeschlossen hatte.

Eine Sekunde später glitt Andrew Carmichael auf den Hocker neben mir. „Die Verspätung tut mir leid. Die Krankengymnastik hat länger gedauert. Schon wieder.“

„Mach dir deswegen keine Gedanken“, sagte ich. „Wir sind selber gerade erst angekommen. Wie geht’s dem Arm?“

Er warf einen finsteren Blick auf seinen Arm, der in einer Schlinge lag. „Wird langsam besser. Mit der Betonung auf ‚langsam‘, nicht auf ‚besser‘.“

„Könnte schlimmer sein.“ Max schob Andrew die dritte Tasse Kaffee zu.

„Könnte es“, erwiderte Andrew.

„Obwohl ich noch immer nicht glauben kann, dass du nach der ganzen Zeit nach wie vor die Schlinge tragen musst“, meinte Max.

„Ach, das kommt von den Chirurgen letzte Woche. Sie mussten ihn ein weiteres Mal aufschneiden und …“

„Das will ich vor dem Essen gar nicht wissen“, stieß Max hervor und hob die Hand.

Andrew lachte. „Du willst die blutigen Details nicht hören?“

„Nein, danke.“

„Du hast für deinen Job einen reichlich empfindlichen Magen, findest du nicht?“

„Ich kann damit umgehen, es ist nur kein ausgesprochen appetitanregendes Thema vor dem Essen, vielen Dank auch.“ Max deutete auf Andrews verletzten Arm. „Weißt du schon, wann du wieder voll einsatzbereit bist?“

Andrew zuckte mit einer Schulter. „Sechs Monate? Ein Jahr? Wer weiß? Es ist jetzt zwar besser, weil sie etwas von dem Narbengewebe herausschneiden konnten, aber …“

Max erschauderte. „Ugh, Mann, ich beneide dich nicht.“

„Tust du nicht?“ Andrew grinste. „Komm schon, jeder will eine beschissene Kriegsverletzung.“

„Kriegsverletzungen sind schön und gut“, sagte Max. „Aber dafür den Arm nicht mehr benutzen können? Nein, danke.“

„Du kennst nicht mal die Hälfte“, murmelte Andrew in seinen Kaffee, während er Zucker hineinschüttete. Er wurde mehr und mehr Experte darin, seine linke Hand für solche Aufgaben zu benutzen, aber noch war es für ihn nicht natürlich. Er legte den Löffel neben die Tasse und fragte: „So, was gibt es Neues auf den Straßen?“

„Gleiche Scheiße, anderer Tag“, antwortete ich.

„Er fragte nach den Straßen, nicht nach deinem Liebesleben“, erwiderte Max.

Andrew hob den Kopf. „Himmel, Brian, sag mir nicht, dass du immer noch Probleme mit James hast.“

„Ich habe noch Probleme mit James.“

Andrews Augenbrauen zogen sich in einem mitfühlenden Ausdruck zusammen. „Du weißt, dass ich denke, dass er dich in irgendwas mit reinzieht. Ich meine, bei allem, was du mir erzählt hast, würde es mich wundern, wenn er niemanden nebenbei hätte.“

„Ich weiß, ja“, sagte ich leise.

„Glaubst du wirklich, dass er einen anderen Kerl fickt?“, fragte Max.

Ich zuckte zusammen. „Vielleicht. Entweder das oder eine Frau.“

„Ich wusste nicht, dass er zweigleisig fährt“, entgegnete Max.

„Ich bin ziemlich sicher, dass es nicht so ist, aber ganz ehrlich, ich weiß gar nichts mehr.“ Ich seufzte. „Aber wenn es so ist und er das als Ausrede benutzt, um mich zu betrügen …“

Andrew schnaubte. „Falls er die Karte ausspielt, setze ich Nick auf ihn an. Nichts pisst ihn mehr als Betrüger, die sich auf eine bisexuelle Entschuldigung rausreden. Im Ernst.“

Andrews Freund war so bisexuell wie der Tag lang war, aber es gab keinen Mann und keine Frau, die seine Aufmerksamkeit von Andrew ablenken konnte. Trotz der Spannungen zwischen ihnen seit ihren jeweiligen Verletzungen beneidete ich die beiden. Ich wusste nicht, ob sie einfach so verliebt waren oder sich schlicht und ergreifend nur weigerten, irgendetwas als normal anzusehen, nachdem sie sich beinahe verloren hatten. Aber obwohl sie sich ständig in den Haaren hatten, war ihre Beziehung das, wonach ich mich sehnte, ob nun mit James oder sonst wem. Sie hatten bereits zuvor ihre Leben füreinander riskiert und würden es ohne Zögern wieder tun.

„Nun“, sagte ich, „ich weiß doch gar nicht, ob er mich betrügt oder nicht. Vielleicht tut er es nicht. Der Teufel weiß, was er treibt.“

Andrew schüttelte den Kopf. „Ich scherze nicht, Mann, und wenn er dir solche Kopfschmerzen verursacht, solltest du ihn loswerden.“

„Er hat recht, Brian“, warf Max ein. „Du hast schon genug Stress. Von allen Menschen brauchst gerade du diese Scheiße nicht, besonders zurzeit.“

Abwesend rührte ich meinen Kaffee um, sagte aber nichts. Sie hatten Recht. Ich wusste, dass sie Recht hatten. Gott wusste, warum ich an James festhielt. Nachdem ich das Thema mit den beiden in den letzten Monaten ein dutzend Mal durchgekaut hatte, gingen mir allmählich die Rechtfertigungen aus. Die Tatsache, dass er meine beiden besten Freunde nach all dieser Zeit nicht einmal getroffen hatte – keiner von uns hatte die Freunde oder Familie des anderen kennengelernt – war eine der vielen Schwachstellen in der Rüstung unserer Beziehung. Ich hatte Treffen vorgeschlafen, er hatte gezögert, und jedes Mal, wenn er genug nachgegeben hatte, hatte er in letzter Minute einen Grund gefunden abzusagen.

Oh, nein, ich wurde nicht verarscht.

Der einzige Grund, warum ich noch bei ihm war, war dieser irre Sex, und selbst der wurde weniger und weniger. Zumindest für mich. Wahrscheinlich hatte er viel davon.

„Es würde schon helfen, wenn ich ihn erreichen könnte.“ Ich legte den Löffel neben meine Kaffeetasse. „Es ist schwer, dem Kerl in den Arsch zu treten, wenn ich nicht einmal mit ihm reden kann.“

Andrew zuckte die Schultern. „Dann hör auf, ihn anzurufen. Hör auf, seine Anrufe anzunehmen, blockier seine Nummer und so weiter.“

„Genau.“ Max neigte den Kopf. „Okay, ich bin nicht gerade Dr. Phil, und du weißt, dass ich mich normalerweise nicht in dein Privatleben einmische, aber die Spielereien dieses Mistkerls beeinflussen deine Fähigkeiten im Job. Er muss weg.“

Ich schürzte die Lippen und fuhr mir über die Stirn. „Gott, ich brauche diese Scheiße nicht.“

„Nein, tust du nicht“, erwiderte Andrew.

Das war eine Untertreibung. In der Stadt gab es seit Monaten eine grausige, eskalierende Welle von Verbrechen, und das Letzte, das ein Detective des Morddezernats brauchte, um diese verdammten Fälle zu lösen, war die Ablenkung durch einen schürzenjagenden Freund.

Ich stieß den Atem aus und schüttelte den Kopf. „Na, ich gehe nach der Arbeit zu ihm. Aber jetzt brauche ich etwas zu Essen, bevor ich meine Faust durch irgendetwas ramme.“ Es war beinahe sechs Uhr abends, und wir hatten erst jetzt ein paar Minuten Zeit gefunden, um einen Bissen zu essen.

Max lachte. „Wir haben das Frühstück wieder ausfallen lassen, stimmt’s?“

„Ich hatte es eilig.“

„Uh-huh.“ Er sah mich an, dann lachte er. „Muss ich Anna bitten, sich um dich zu kümmern, wie sie sich um mich kümmert?“

„Oh, nein, das ist dein Ding, nicht meines.“ Ich gluckste. „Du bist derjenige, der eine Frau mit einer eisernen Faust geheiratet hat.“

„Komm schon, so schlimm ist sie nicht.“

„Natürlich ist sie das nicht.“ Ich sah Andrew an. „Übrigens, wie geht’s dir mit deiner besseren Hälfte?“

Er lachte halbherzig. „Gleiche Scheiße, anderer Tag.“

Ich zog eine Braue hoch. „Alles in Ordnung?“

Mit einer abweisenden Geste sagte er: „Wir sind dabei, Probleme auszubügeln. So ist es schon eine Weile.“

„Guter Gott“, sagte Max mit schiefem Grinsen. „Jedes Mal, wenn ich mir sage, dass es Schwule leicht haben, weil sie nicht mit Frauen klarkommen müssen, muss ich gerade euch beiden zuhören.“

Andrew lachte. „Sagt der Mann, der mit einem Pitbull verheiratet ist.“

„Einem Schmusepitbull“, warf ich ein.

Max gluckste. Er wollte noch etwas sagen, doch das Klingeln seines Handys unterbrach ihn und er nahm ab. „Kessler.“ Pause. Er versteifte sich und ich kannte diese Änderung seiner Haltung gut. Er sah mich an und nickte leicht.

Ich stöhnte. Ich würde heute nichts zu essen bekommen, verdammt noch mal. Zu Andrew sagte ich: „Sieht aus, als müssten wir verschwinden.“

„Mach dir keine Gedanken. Ich bezahle den Kaffee.“

„Super. Wenn wir uns das nächste Mal sehen, zahle ich es dir zurück.“

„Stress dich nicht. Wir sehen uns auf dem Revier.“

Auf dem Weg zu meinem Auto hämmerte mein Herz. Adrenalin schoss durch meinen Körper, wie immer, wenn wir zu einem Tatort fuhren. Ich war in meiner Karriere zu unzähligen Morden gerufen worden, aber ich wusste nie, was mich erwartete. Es konnte alles sein, von einem Haus mit einem erstochenen Opfer bis hin zu einem mit verstümmelten Leichen gefüllten Schließfach. Ich konnte nicht sagen, dass es in diesem Job nie einen langweiligen Moment gab – allein die unendliche Menge an Schreibkram stellte sicher, dass solche zur Genüge vorkamen – aber es mangelte auch nicht an Chaos.

„Wir sind etwa zehn Minuten vom Tatort entfernt“, sagte Max zu der Stimme am anderen Ende der Leitung. „Wir sind auf dem Weg.“ Er schob sein Handy in die Tasche. „Mehrfacher Mord in Masontown. Ein Club an der Jackson und Sechsten.“

„Natürlich ist es Masontown.“ Ich fuhr aus dem Parkplatz und wendete. Dieses Gebiet, der etwa eine Meile lange „schlechte“ Teil der Stadt, war der Mittelpunkt massiver Drogenprobleme. In den letzten drei Monaten hatte es dort mehr Blutvergießen gegeben als im Rest der Stadt im gesamten vergangenen Jahr. Vor einem knappen Jahr hatte sich ein größerer Drogenring eingenistet und nun gab es Revierkämpfe zwischen den drei restlichen Banden. Obwohl mich Rauschgiftdelikte nichts angingen, war ich in letzter Zeit wegen der Mordfälle immer öfter in dem Viertel.

Wenn ich jeden Tatort einordnen müsste, den ich während meiner Dienstzeit betreten hatte, befanden sich die meisten der Top Ten der grausigsten in dieser Gegend. Drei dieser Morde geschahen in den vergangenen Monaten und die Tatortreiniger in ihren Schutzanzügen waren noch immer damit beschäftigt, bei einem davon die Wände und Böden zu putzen. Zwei Detectives und drei Streifenbeamte waren zurückgetreten oder versetzt worden. Ein Undercover war ermordet worden. Ein anderer befand sich immer noch auf Reha nach einer fast tödlichen Verwundung. Der Chief hatte beinahe alle Knöpfe gedrückt, um die Undercover-Leute aus der Schusslinie zu bekommen, aber die, deren Tarnung noch funktionierte, hatten darauf bestanden, weiterzumachen. Trotz des Risikos waren sie nahe daran, die Drogenringe zu sprengen.

Um ihretwillen hoffte ich, dass sie Recht behielten.

Einige Straßen vom Tatort entfernt kam uns ein Rettungswagen mit schreiender Sirene entgegen.  Einen Block weiter schoss der nächste an uns vorbei, die blinkenden Lichter wurden von unzähligen „Zu Verkaufen“ und „Zu Vermieten“-Schildern in den Fenstern von Geschäfts- und Wohnhäusern reflektiert. Ich konnte es den Geschäftsleuten und Bewohnern nicht verübeln, dass sie das Viertel lieber im Möbelwagen statt im Krankenwagen hinter sich lassen werden wollten.

„Ich habe das Gefühl, das wird übel“, sagte Max.

„Es geht schließlich um Masontown.“ Ich sah in den Rückspiegel. „Damit ist das wohl eine sichere Wette.“

Es brauchte nicht viel, um festzustellen, dass wir den richtigen Club gefunden hatten. Nach Einbruch der Dunkelheit wäre diese Lichtshow der Wahnsinn gewesen. Vor dem Club hatten sich mindestens ein Dutzend Blinklichter versammelt, einige blau, die meisten rot.

Das Bisschen von der Straße, das nicht von Notfallfahrzeugen besetzt war, wurde von Nachrichtenwagen eingenommen. Verdammte Geier. Ich hatte sie nie gemocht, aber ich hatte eine regelrechte Allergie gegen die Medien entwickelt, seit ihr unersättliches Bedürfnis nach sensationellen Schlagzeilen Andrews Freund lange genug im Scheinwerferlicht gehalten hatte, damit ein Stalker sie beide finden und beinahe töten konnte.

Ich parkte neben einem der Nachrichtenwagen, wir stiegen aus und kämpften uns unseren Weg durch die versammelte Menge. Wir waren in Zivil unterwegs, sodass einige Zuschauer uns davon abzuhalten versuchten, ihnen die Sicht auf das Blutbad zu versperren. Ein kurzer Blick auf unsere Dienstmarken reichte jedoch, um sie aus dem Weg zu bekommen.

Barrikaden und gelbes Polizeiband trennten den unheimlich normal wirkenden Gehweg von den Zuschauern. Mehrere Streifenbeamte hielten die Leute zurück und vergewisserten sich, dass niemand die Grenze übertrat, der nicht das Recht hatte, in diesen Club zu gehen.

Beim Anblick unserer Marken hob ein uniformierter Beamter das gelbe Band hoch, um uns darunter hindurch zu lassen. Als wir auf der anderen Seite standen und sicher vor den neugierigen Ohren der unbeteiligten Beobachter waren, streckte er eine Hand aus. „Officer Rowland.“

„Detectives Kessler und Clifton“, stellte Max uns knapp vor. „Was wissen wir bis jetzt?“

„Sieht aus, als wäre eine verdeckte Operation schief gegangen“, erklärte Rowland. „Dealer und Undercovcers. War nicht schön.“

Max und ich tauschten Blicke.

„Opfer?“, fragte ich.

Der Officer atmete durch. „Zwei verletzte Polizisten, ein toter. Vier tote Zivilisten und einige mit verschiedenen Verletzungen.“

Mein Magen drehte sich um. „Himmel.“ Wir waren in letzter Zeit zu einigen blutigen Tatorten gerufen worden, aber das hier war eine andere Nummer.

Max senkte die Stimme, als er fragte: „Die Cops, haben Sie ihre Namen?“

Der Officer schürzte die Lippen, dann atmete er durch die Nase aus. „Alles Undercover Detectives.“ Er blätterte das Notizbuch durch, das er in der Hand hielt. „Rick Paulson hatte einige geringfügige Verletzungen, und John Kellys Zustand ist ernst. Vince Gray war bereits tot, als wir ankamen.“

Max zuckte zusammen. Ich drückte seine Schulter sanft und sah ihn mitfühlend an. Er und Gray waren länger befreundet gewesen als ich und Max es waren.

Nach einem Augenblick atmete er durch und wir sahen uns an. Er nickte leicht, die klassische Max Kessler Ich bin okay-Geste, und ich ließ seine Schulter los.

„Was ist mit Zeugen?“, wollte er von Rowland wissen.

„Keine überlebenden Augenzeugen“, entgegnete dieser. „Der Schusswechsel fand in der VIP-Lounge statt. Anscheinend gab es eine Art Meeting und irgendetwas ging schief. Als ein Schütze jemanden durch den Küchenbereich verfolgte, wurden einige Unbeteiligte getroffen. Was bedeutet, dass jeder, der etwas gesehen haben könnte, weg, verwundet oder tot ist. Einige der Detectives waren nicht in der Lounge, als es losging. Sie kamen aber gerade rechtzeitig, um ein paar Schüsse abzubekommen und den Schützen mit einem Zeugen aus der Hintertür rennen zu sehen.“

„Wir sehen uns das an“, sagte Max.

Ohne ein Wort folgte ich ihm hinein.

Kapitel 2

Der Club war hochwertiger als die meisten anderen Lokale in der Gegend, und er war ein bekannter Treffpunkt für Dealer, Zuhälter und jeden anderen, der sich in dieser brutalen Gesellschaft eine Nacht hinter Samtseilen leisten konnte. Hochprozentiger Schnaps floss über den Tischen, darunter wechselten Geldstapel und weißes Pulver die Besitzer. Mit der richtigen Kombination aus Bargeld und einem Zwinkern konnten die Kellnerinnen gezwungen werden, einen Kunden in der Toilette oder in der Gasse hinter dem Club zu treffen. Der Ort erschien schick und hübsch, aber diese Illusion war nur oberflächlich.

Die VIP-Lounge wurde durch einen schmalen Gang vom Rest des Clubs abgetrennt. Auf der anderen Seite befand sich ein weiterer Gang, der zur Küche führte. Der Raum bekam durch gedimmte Beleuchtung eine intime Atmosphäre, die wenigen Sessel und Hocker waren mit dunkelrotem Leder bezogen. Ich hatte von den verdeckten Ermittlern bereits gehört, was hier alles ablief. Ein ehemaliger Detective hatte mir bei einem Bier erzählt, dass er innerhalb einer Stunde Zeuge eines Heiratsantrags und einer Verhandlung für einen Auftragsmord geworden war.

Und jetzt? Die Lounge sah wie ein verdammtes Schlachtfeld aus. Entweder hatte hier eine Schießerei oder ein beschissenes Massaker stattgefunden. Aber nachdem sich an jeder Wand Einschusslöcher und Blutflecken befanden und zerbrochenes Glas im ganzen Raum verteilt lag, war es wohl das Erstere.

Der metallische, allzu vertraute Geruch von Blut – einer ganzen Menge Blut – biss in der Nase und überlagerte die verblassenden Aromen von Fett, Brot und Gewürzen, die durch die offenstehende Tür zwischen der Lounge und der Küche drangen, ebenso wie den Geruch nach Schießpulver und Blei.

Drei forensische Fotografen krochen im Raum herum und dokumentierten jedes noch so kleine Detail, das sich als bedeutsam erweisen konnte. Nummerierte Plastikschilder standen neben Nussschalen, Blutspritzern, zerbrochenem Glas und umgekippten Möbeln. Die Leichen blieben, wo sie hingefallen waren, und schufen makabre Formen unter blutigen Laken, während sie auf den Leichenbeschauer warteten. Eine Pistole lag unter einem Laken neben einer toten Hand. Neben einem Hocker, nur Zentimeter von einer Leiche entfernt, befand sich ein fallengelassenes Magazin, bei der sich mir die Nackenhaare sträubten. Was auch immer hier geschehen war, jemandem war die Munition ausgegangen und er hatte die Zeit gebraucht – und gehabt – um nachzuladen.

Blut bedeckte ein halbgegessenes Sandwich und ein verlassenes Bierglas neben einem zusammengesackten, leichentuchbedeckten Körper. Das war etwas, das mich immer durchdrehen ließ – Essen an Tatorten. Es war eine dieser unheimlichen Erinnerungen daran, dass das Leben etwas fast Normales gewesen war, bevor die Hölle losgebrach. Für die gekrümmte Person unter dem blutbefleckten Laken hatte dieser Tag wahrscheinlich wie jeder andere begonnen. Die meisten Leute bestellten kein Sandwich, wenn sie wussten, dass sie ermordet werden sollten.

Max kniete sich neben einen der Körper, um ihn sich näher ansehen zu können. Ich folgte dem Klang von Stimmen aus der Lounge, wobei ich auf einen Zeugen hoffte, der mir die Ereignisse erklären konnte, die die Lounge in ein Blutbad verwandelt hatten. 

Mein Partner und ich teilten uns oft an Mordschauplätzen auf. Einer von uns kontrollierte den unmittelbaren Tatort, während der Andere die weniger offensichtlichen Stellen nach Spuren untersuchte: weggeworfene Waffen, blutige Kleidung, die in Schränke gestopft worden war, Blutspritzer in Badewannen und Waschbeckenabflüssen.

In der Küche traf ich auf Andrews Freund, Nick Swain. Er arbeitete als Sanitäter, und da die Feuerwache, in der er stationiert war, beklagenswert unterbesetzt war, war es nie eine Überraschung für mich, auf ihn zu treffen, wenn es an einem Tatort noch Überlebende gab. Mit einem Klemmbrett in der Hand lehnte er an der Tür. Die Augenbrauen hochgezogen, schrieb er abwechselnd auf das Brett und warf einen Blick auf seinen Partner, der jemanden mit einer kleinen Verletzung versorgte.

„Hey“, sprach ich ihn an.

Er schaute auf. „Oh, hey, Brian.“

„Es könnte sein, dass ich ihn brauche, wenn ihr fertig seid.“ Ich nickte zu dem Patienten. „Klingt nicht so, als bekämen wir viele Zeugen.“

„Er wird nicht sehr hilfreich sein. Er ist in zerbrochenes Glas gefallen, als ein Cop den Schützen durch die Küche verfolgte. Er hat nicht viel gesehen oder gehört.“

„Ich brauche trotzdem alles, was ich bekommen kann“, entgegnete ich. „Selbst wenn es nur die Anzahl von Schüssen ist, die er gehört hat.“

Nick nickte. „Leon ist fast fertig mit ihm. Die Verletzungen sind nicht schlimm, wir werden ihn nicht mitnehmen.“

„Wie ernst waren die anderen Verletzungen? Konntest du ein paar davon sehen?“

„Paulson war bei Bewusstsein und klar. Die Blutung war nicht wild und unter Kontrolle, aber er zeigte einige Anzeichen eines Schocks. Trotzdem sollte er wieder auf die Beine kommen.“

„Also habe ich zumindest einen weiteren zuverlässigen Zeugen, der noch lebt.“

„Zwei, wenn Kelly durchkommt“, sagte Nick leise. „Und ich meine wenn.“ Er verzog das Gesicht. „Er ist in wirklich schlechter Verfassung.“

Ich bedeutete ihm, einen Schritt von Leon und dem Patienten weg zu machen, damit wir außer Hörweite waren. „Wie schlimm ist es?“

„Massive Brustverletzung. Ich konnte nur einen Blick auf ihn werfen, während ich die Verletzten selektierte, also kenne ich das wirkliche Ausmaß nicht, aber …“ Er schüttelte erneut den Kopf. „Wenn ich von dem Blutverlust und den Vitalwerten ausgehe, steht es nicht gut um ihn.“

„Himmel. Trug er keine Weste?“

„Die hätte ihm auch nicht geholfen.“

„Panzerbrechende Munition?“

Nick nickte. „Trotzdem lebte er noch, als sie gingen. Also ist alles möglich.“

„Gut zu wissen.“ Meine eigene Weste ließ meine Haut kribbeln. Manchmal waren diese Dinger entnervend nutzlos. „Ich lasse dich wieder an die Arbeit gehen.“

„Ja, ebenfalls.“

Ich klopfte ihm auf die Schultern und untersuchte den Club weiter. Während ich meine Runde machte, traf ich Detective Kent Avery, der an einer verlassenen Bar lehnte. In den vergangenen Monaten hatte er als verdeckter Ermittler gearbeitet, aber ich hatte ihn schon ein paar Mal im Revier gesehen. Allerdings sah er jetzt reichlich anders aus, vor allem mit dem ganzen Blut auf seinem Hemd.

Während er mit dem Daumen über sein Handydisplay strich, waren seine Hände bemerkenswert ruhig und er atmete langsam und gleichmäßig. Äußerlich schien er völlig entspannt, aber ich bezweifelte nicht, dass er durch den Wind war und es nur nicht zeigte. Ich war überrascht, dass niemand bei ihm war, um ihm Fragen zu stellen oder sich zu vergewissern, dass er in Ordnung war.

Ich näherte mich vorsichtig. „Avery?“

Er sah mich an und nickte vage, als er mich erkannte. „Clifton. Lange nicht gesehen.“

„Wäre mir unter anderen Umständen auch lieber gewesen.“ Ich streckte meine Hand aus. „Wie geht’s dir?“

„Ich hatte schon bessere Tage.“ Er ignorierte mein Angebot zu einem Händedruck und stieß sich von der Bar ab. „Wenn du Fragen hast, ich habe bereits alles beantwortet.“

Ich ließ meine Hand sinken. „Hey, ich wollte nur sehen, wie es dir geht.“

„Mein Partner ist mit drei Kugeln im Leib auf dem Weg ins Krankenhaus. Wie denkst du, geht es mir?“ Damit drehte er sich um und stolzierte davon. Als ich ihn beobachtete, wie er den Flur entlangging und in die Gasse hinter dem Club verschwand, war ich gleichzeitig verdutzt über die Feindseligkeit und fühlte mit ihm mit. Er und sein Partner waren sich so nahe wie ich und Max. Wenn man kurz davor stand, jemanden zu verlieren, der einem den Rücken gedeckt hatte, sollte jemand dafür bezahlen.

Was mich dazu brachte, mich zu fragen, warum er noch immer hier war. Aber es gab nichts, was er für Johnny tun konnte. Vielleicht brauchte er die Ablenkung der Arbeit. Wir waren alle bekannt dafür, uns in unsere Arbeit zu stürzen, um dem Stress und dem Trauma zu entkommen, obwohl ich mir nicht sicher war, ob ich an seiner Stelle tatsächlich hier geblieben wäre.

Ich erschauderte und ging in die Lounge zurück. Für einen Moment nahm ich die Szene in mich auf und versuchte mir vorzustellen, was passiert war.

Ein Einschussloch, verspritztes Blut und eine lange Schliere an der Wand führten meinen Blick zu einem der Körper. Ein anderer Körper lag über einem Hocker. Etwa einen Meter entfernt befand sich ein weiterer, der zwischen einem Sessel und einer Seitentür zusammengebrochen war. Darüber hing ein Johnny Walker Spiegel, der zwei blutige Spinnennetzsprünge um Schusslöcher herum aufwies, etwa dreißig Zentimeter auseinander.

Die Kugeln waren offensichtlich aus verschiedenen Richtungen gekommen, sodass ich auf die Ballistik warten musste, die ein Diagramm der Flugbahnen erstellte, damit ich die Puzzleteile zusammensetzen konnte. Zeugenaussagen würden helfen. Bisher hatten wir nur einen potenziell zuverlässigen Zeugen. Nachdem Averys Partner erschossen worden war, standen die Chancen gut, dass Avery in der Nähe, wenn nicht sogar im Raum gewesen war. Wie er es geschafft hatte, sich keine Kugel einzufangen, wusste ich nicht, aber Gott sei Dank war wenigstens jemand unverletzt entkommen.

Das konnte seine Feindseligkeit auch erklären. Die Schuld des Überlebenden war etwas Seltsames und wahrscheinlich wollte er verhindern, dass ihn jemand darum bat, die Augenblicke, in denen sein Partner angeschossen worden war, während er unverletzt blieb, noch einmal zu durchleben. Ich musste ihm trotzdem einige Fragen stellen und er wusste das auch, aber es gab keinen Grund, warum ich ihm nicht erst Zeit geben sollte, durchzuschnaufen. Vielleicht konnte ich es versuchen, nachdem er ein paar Zigaretten geraucht hatte und Max und ich ihn irgendwohin gebracht hatten, wo nicht Detective Kellys Blut auf dem ganzen Boden verteilt war.

Jetzt war es erst an der Zeit, den Tatort selbst zu untersuchen.

„Hast du was gefunden?“, fragte Max und schaute von einem der zwei Körper neben dem Hocker auf, als ich die Lounge betrat.

„Bisher nicht.“ Ich zog mir ein Paar Handschuhe an. „Avery ist ganz schön mitgenommen. Er ist nach draußen gegangen und ich glaube, ich werde ein wenig später nochmal mit ihm reden.“

„Gute Idee.“

„Was ist mit dir? Irgendetwas Interessantes?“

Er schüttelte den Kopf. „Wenn man von der Anzahl der Waffen und Leichen ausgeht, scheint fast jeder, der im Raum war, entweder in der Notaufnahme zu sein oder …“ Sein Blick wanderte hoch und traf meinen. „Immer noch hier.“

Ich grunzte zustimmend, sagte aber nichts.

Ich hockte mich neben einen der Körper. Neben ihm befand sich eine lange Blutschliere, als hätte er versucht, sich hier zu verstecken, nachdem er angeschossen worden war, nur um hier zu sterben. Was für eine fürchterliche Art aus dem Leben zu scheiden. Ich erschauerte und hob das Laken an.

Mein Herz setzte für einen Schlag aus.

„Heilige …“ Ich starrte die Leiche an, die Augen aufgerissen und mit angehaltenem Atem.

„Was ist los?“, fragte Max.

Ich senkte das Laken, aber das Gesicht stand mir immer noch vor meinem geistigen Auge. Die Welt drehte sich um mich, wurde grau und schwarz und weiß, und ich griff nach einem Tisch, um den Halt nicht zu verlieren.

Eine Hand legte sich auf meine Schulter. „Ruhig, Mann.“ Max hielt seine Stimme tief und sanft. „Atme.“

Mit beträchtlicher Mühe schnaufte ich durch. Allmählich verblasste meine Vision, aber mein Herz pumpte noch immer eiskaltes Blut durch meine Adern.

„Brian? Was ist los?“ Er betrachtete den Körper. „Kennst du ihn, oder was?“

„Ich …“ Ich schluckte schwer. Nachdem das Laken wieder über das Gesicht gezogen war, bezweifelte ich, dass ich richtig gesehen hatte. War er es? Hatte ich ihn erkannt?

War das wirklich mein Freund, der in einer Blutlache lag?

Ich hielt die Luft an, um die Übelkeit im Zaum zu halten und zog das Tuch noch einmal zurück. Leichen waren Teil des Jobs, aber das traf mich wirklich.

Nun konzentrierte ich mich auf sein Gesicht statt auf das blutgetränkte Hemd und die zerfetzte Kehle – das musste die Wunde gewesen sein, wegen der er sich in Sicherheit gebracht hatte. Ich sog die nur allzu vertrauten Merkmale in mich auf. Dunkles, welliges Haar. Scharfe Kieferlinie. Sanfte, aber betonte Wangenknochen. Zum Glück waren seine Augen geschlossen. Ich war nicht so sicher, dass ich sie mir ansehen könnte, wenn kein Leben mehr darin funkelte.

Und dann fielen mir nach und nach die subtilen Unterschiede auf. Eine schwache Narbe über seiner Augenbraue. Ein Piercing im linken Ohr, obwohl jetzt kein Ohrring darin steckte. Eine Uhr am rechten Handgelenk statt am linken.

Die Ähnlichkeit war unheimlich, aber er war es nicht. Gott sei Dank, er war es nicht.

Außerstande, meinen Blick von James’ Doppelgänger zu nehmen, sagte ich: „Er ist es nicht.“

„Nicht wer?“

Ich sah ihn an. „James.“

Max klappte der Mund auf. „Er … ernsthaft? Er sieht aus wie der?“

Ich nickte.

„Haben wir diesen Kerl schon identifiziert?“, rief Max einem Officer zu.

Der Officer kam auf uns zu und blätterte dabei durch seine Notizen. „Auf dem Führerschein steht Stephen Merrill. Einer der Merrill-Brüder, die den Crack- und Heroinring führen, glaube ich.“

„Waren andere Brüder auch hier?“, wollte Max wissen.

„Einer von ihnen.“ Der Officer nickte zur Küche. „Was wir bis jetzt herausgefunden haben, entkam James durch die Hintertür.“

Mein Herz blieb erneut stehen. „James?“

„Ja. James Merrill.“

Ich schluckte.

Max sah mich an. „Wie lautet James’ Nachname?“

„Lawson.“ Die Nachnamen waren verschieden, aber die Vornamen und die Ähnlichkeit … das konnte kein Zufall sein.

„Meinst du, sie sind verwandt?“, fragte James.

Ich holte mein Handy heraus und rief ein Foto auf, dann gab ich Max das Telefon. „Was meinst du?“

Max klappte der Kiefer nach unten. Sein Blick huschte wild über das Bild. Dann gab er das Telefon zurück. Leise und diskret sagte er: „Ruf ihn nochmal an. Schau, ob du ihn erreichen kannst.“

Ich nickte. „Hast du hier alles unter Kontrolle?“

„Ich glaube nicht, dass irgendjemand irgendwohin geht, der es nicht schon getan hat.“ Er stand auf. „Eigentlich wollte ich sehen, was ich aus Avery herausbekommen kann. Du sagtest, er ist hinten raus, richtig?“

„Ja, ich glaube, er ist in der Gasse.“ Ich erhob mich ebenfalls. „Vielleicht raucht er eine.“

„Verständlich.“

„Nun gut. Ich bin in einer Minute bei dir.“ Schuld nagte an mir, weil ich das Persönliche über das Berufliche stellte, aber im Hinterkopf begriff ich, dass das für diese Untersuchung sogar notwendig war. James war ein potenzieller Zeuge. Oder jemand, der die Leichen identifizieren konnte.

Ich verarschte mich doch nur selber. Im Moment beschäftigte mich weniger, dass er ein möglicher Zeuge war, vielmehr machte ich mir darüber Sorgen, dass er ein mögliches Opfer war. Oder, dachte ich mit sinkendem Herzen, ein Verdächtiger. Auf jeden Fall war er in einer Weise involviert, die ihn entweder in Gefahr oder ins Gefängnis bringen konnte. Zumindest musste ich wissen, dass er in Ordnung war. Alles andere konnten wir danach klären.

An der Bar stehend, nicht weit entfernt von uniformierten Officers, die ihre Notizen verglichen, drückte ich auf die Kurzwahltaste für James’ Nummer.

Wie bereits den ganzen Tag wurde der Anruf sofort an die Voicemail weitergeleitet.

„Hier ist James. Sorry, ich kann gerade nicht ans Telefon gehen, aber hinterlass mir eine Nachricht und ich rufe dich zurück.“ Beep.

„Hey, hier ist Brian“, sagte ich beinahe flüsternd. „Ruf mich bitte sofort zurück. Es ist echt wichtig.“ Ich schob mein Telefon in meine Tasche zurück, behielt aber die Hand daran, darauf vorbereitet, es beim ersten Klingeln augenblicklich zu zücken. Mein Magen verdrehte und verknotete sich. Es war mir egal, ob er mich betrogen und zum Narren gehalten hatte. Oder in etwas Illegales verstrickt war. Ich musste nur wissen, dass es ihm gut ging.

Gott, bitte, James. Ruf an.

Vermisster Freund oder nicht, möglicher Zeuge oder Opfer oder nicht, ich hatte hier noch einen Job zu erledigen, also straffte ich meine Schultern und …

Bang! Bang!

Zwei Schüsse donnerten von hinten und auf der Stelle brach das Chaos aus. Draußen schrien Menschen und die im Club gingen in Deckung. Ich zog meine eigene Waffe und rannte hastig geduckt den Gang entlang Richtung Hintergasse, flankiert von den anderen beiden Officers. Von der Gasse her ertönten mehr Stimmen:

„Wir brauchen einen Krankenwagen! Schnell!“

„Der Schütze ist auf der Flucht!“

„In welcher Richtung?“, rief ich.

„Die Gasse runter!“, schrie jemand.

Die Officers und ich rannten durch den Hintereingang. Wackelige Eisenzäune und Backsteinmauern wischten an beiden Seiten an mir vorbei. Vor mir kam Avery schlitternd zum Stehen und verschwand um eine Ecke. Ich rannte genau rechtzeitig um diese Ecke, um zu sehen, wie Avery einen Zaun zu einer anderen Gasse hochkletterte. Er befand sich ein gutes Stück vor uns und Max musste sogar noch weiter vorn sein, also lief ich mit den Officers eine Abkürzung entlang, damit wir dem Schützen auf der Straße den Weg abschneiden konnten.

Wir kletterten auf einen Abfallcontainer und sprangen über einen weiteren Zaun. Ich landete schwer auf der Fahrbahn und stolperte kurz. Meine Knöchel litten bei dem Aufprall, aber ich rannte weiter und die beiden Officers mit mir. Der Weg führte uns zur Straße zurück, wo sich die Medien und Zuschauer versammelt hatten.

Die Leute gaben ein Geräusch von sich wie ein Schwarm aufgescheuchter Tauben und schubsten sich gegenseitig aus dem Weg, um drei Cops mit gezogenen Waffen Platz zu machen.

Als wir es durch die Menge geschafft hatten, überkam mich Panik, weil wir Max, Avery und den Schützen nicht entdeckten, doch dann bemerkte ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung: Avery verschwand in einer weiteren Gasse.

„Da lang!“ Ich bedeutete den Officers, mir zu folgen und wir rannten hinter Avery her.

Am Ende dieser Gasse blieb Avery stehen. Schwer atmend, die Waffe immer noch in der Hand, sah er sich um, sein Kopf flog nach links, nach recht, wieder nach links.

„Fuck.“ Er ließ die Schultern hängen. „Ich habe ihn verloren.“ Er stieß seine Waffe zurück ins Holster und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. „Der Scheißkerl ist weg.“

„Verdammt.“ Ich steckte meine eigene Waffe ein und sah mich um. „Warte, wo ist Max? War er nicht bei dir?“

Avery zuckte zusammen.

Zum zweiten Mal an diesem Tag wurde mein Blut kalt. „Kent …“

Er kaute auf der Innenseite seiner Wange, seine Augenbrauen zogen sich zusammen und seine Augen mieden meinen Blick.

„Wir brauchen einen Sanitäter! Sofort!“

„Oh nein …“ Mit brennenden Muskeln in den Beinen und Lungen, die nach Luft schrien, rannte ich die Gasse entlang, zurück zur Straße. Vor dem Club boxte ich mir meinen Weg durch die Menge, bis ich vor der Tür stand.

„Max!“, rief ich in den Gang. „Max, bist du in Ordnung?“

Nick kam durch den Hintereingang herein und ich wusste Bescheid.

Auf seiner Uniform befand sich mehr Blut als zuvor. Sein Ausdruck war angespannt, die Brauen zusammengezogen und die Lippen zu einem dünnen Strich aufeinander gepresst. Als er auf mich zukam, hob er die Hände in einer Bleib-stehen-Geste.

Oh Gott.

„Nick, wo ist er?“

Er berührte meine Schulter. „Du willst da nicht raus gehen.“ Er versuchte, mich nach hinten zu schieben, aber ich stemmte mich dagegen.

„Wie geht es ihm?“ Mein Herz hämmerte und das hatte nichts mit der Rennerei von eben zu tun. Ich versuchte, mich gegen ihn zu drücken, aber er gab nicht nach.

„Komm, lass uns …“

„Nick, bitte.“

Er atmete durch. „Es tut mir leid, Brian, ich …“

„Nein, bitte, sag mir, dass er …“ Mir blieb die Luft weg und ich konnte nicht mehr atmen.

Seine Augen drückten nichts außer Mitgefühl aus. „Es tut mir leid.“

Mir wurde der Boden unter den Füßen weggezogen. Nick stützte mich, als ich auf die Knie sank.

Über die Jahre hatte ich unzählige Leute in dem Moment gesehen, in dem sie erfuhren, dass ein geliebter Mensch tot war. Die Reaktionen erstreckten sich von unkontrollierbarer Wut über Schluchzen bis hin zur Katatonie. Und ich kniete neben Nick auf dem Boden bei einem der blutigsten Tatorte, den ich je gesehen hatte. Mein Partner wurde nur wenige Meter von mir entfernt kalt. Und unter einem der Laken lag jemand, der meinem Freund zum Verwechseln ähnlich sah. Ich konnte mich nicht bewegen. Ich konnte nicht atmen. Ich wusste, dass Nick seinen Arm um meine Schultern gelegt hatte, aber ich fühlte es nicht.

Ich fühlte gar nichts.

Kapitel 3

Nachdem einige Zeit vergangen war – ein paar Minuten, schätzte ich – half mir Nick auf die Beine und brachte mich auf die andere Seite des Clubs. Mir war schwindelig und ich ließ mich auf einen Barhocker fallen. Vielleicht war es gut, dass ich zuvor keine Gelegenheit gehabt hatte, etwas zu essen. Obwohl ich meinen Magen nicht spürte, wusste ich, dass mir unter Garantie übel geworden wäre.

Vielleicht. Ich hatte vergessen, wie es war, etwas zu fühlen, und vielleicht hatte mein Körper vergessen, wie es war, zu kotzen.

Nick legte seinen Arm um meine Schultern. „Bist du in Ordnung?“

Ich sagte nichts. Es gab keine Worte. Es gab verdammt noch mal keine verfickten Worte.

„Es tut mir so, so leid, Brian“, wisperte er. „Ich weiß, dass es in diesem Augenblick kein Trost ist, aber es ging schnell. Er musste nicht leiden. Wahrscheinlich wusste er nicht einmal, was passiert.“

Ich nickte, um ihn wissen zu lassen, dass ich ihn gehört hatte. Ich war nicht einmal sicher, ob ich die Bedeutung der Wörter auf der Stelle erfasste. Mein Verstand steckte sie irgendwo hin und alles, woran ich denken konnte, war: Max ist tot. Max ist tot. Mein Partner ist tot. Und mein Gott, ich wünschte, ein Barkeeper wäre hier, weil ich einen Drink brauchte. Dringend.

Nick blieb bei mir, während die Forensiker den frischen Tatort dokumentierten. Keiner von uns sprach. Keiner von uns bewegte sich. Wahrscheinlich vergaß ich einige Male auch zu atmen.

Ich hörte nicht, dass Avery zurückkam, aber als ich nach einer Weile aufsah, lehnte er am Türrahmen und starrte ausdruckslos in Richtung der Gasse, in der Max getötet worden war.

Vorsichtshalber biss ich die Zähne zusammen, nur für den Fall, dass ich mich plötzlich doch daran erinnerte, wie man kotzt. „Was ist passiert?“

„Ich weiß es nicht.“ Avery rieb sich über die Augen. „Ich weiß es verdammt noch mal nicht, Mann.“ Scharf stieß er den Atem aus. „In einer Minute reden wir miteinander und in der nächsten kam jemand von hinten und schoss auf uns. Kessler ging zu Boden und der Typ verschwand.“

„Konntest du ihn erkennen?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein.“

„Wie zur Hölle kam er hier rein?“ Mit zitternder Hand strich ich mir durch die Haare. „Wartete er irgendwo, bis er freies Schussfeld hatte? Hatte er sich im Club versteckt?“

„Ich weiß es nicht.“ Avery verlagerte sein Gewicht von einem Bein auf das andere. „Wir haben den Club zweimal durchsucht.“

„Wie gründlich?“

Er verengte die Augen. „Fragst du mich, ob ich meinen Job richtig gemacht habe?“

„Ich frage, wie zum Teufel jemand einen bewaffneten Schützen an einem Tatort übersehen kann.“ Ich ballte eine Faust, nicht sicher, ob ich sie durch eine Mauer oder einen Schädel schlagen sollte. „Jede verdammte Nussschale wurde notiert, aber jemand übersieht einen bewaffneten gottverdammten Verdächtigen?“

„Hey, beruhige dich, verdammt noch mal“, schnappte Avery. „Ich sagte dir, dass wir alles durchsucht hatten. Wie zum Teufel dieser Typ an uns vorbeikam, weiß ich nicht.“

„Also was?“, grollte ich. „Kam er gerade rechtzeitig zurück, um einen Cop zu erschießen? Aus dem Blauen heraus?“

„Woher zur Hölle soll ich das wissen?“, knurrte Avery.

„Du warst dabei, Kent, nicht ich.“

„Tja, vielleicht hättest du etwas gesehen, wenn du dabei gewesen wärst.“

Ich sprang auf die Füße und stürzte mich mit erhobener Faust auf Avery, aber Nick blockte meinen Arm und schob mich gegen die Bar.

„Ruhig, Brian. Bleib ruhig.“ Er schaute über seine Schulter zu Avery, der bereit war, in der Sekunde auf mich loszugehen, in der Nick aus dem Weg ging. Etwas in Nicks Ausdruck musste ihn dazu gebracht haben, noch einmal darüber nachzudenken, denn seine Haltung entspannte sich leicht.

„Es gab niemanden, der draußen herumschlich und niemanden in diesem Gebäude“, sagte Avery. „Jeder, der noch gehen konnte, war lange vor meiner Ankunft weg. Wenn es nicht so gewesen wäre, hätte sich derjenige in einem Leichensack wiedergefunden, ehe er Max hätte umbringen können.“ Seinem wilden Blick nach zu urteilen war das wahrscheinlich keine Übertreibung.

Ich riss meinen Arm von Nick los und starrte Avery an. „Nun, entweder hast du …“

Ich brach ab, da Chief Warner im Eingang erschien.

„Das ist genug“, sagte der Chief. „Ich denke, ihr beide braucht den Rest der Nacht frei.“

„Chief, ich gehe nicht, solange der Kerl, der meinen Partner erschossen hat, draußen rumläuft“, sagte ich.

„Für heute Abend schon. Das ist ein Befehl und darüber wird nicht diskutiert.“

„Sie ziehen mich aber nicht von dem Fall ab, oder?“

Warner hob eine Hand. „Darüber reden wir heute nicht. Wir haben Leute, die rund um die Uhr Beweise sortieren und Zeugen aufspüren. Im Moment seid ihr beide für die Ermittlung nutzlos, also macht eine Pause und bekommt die Köpfe frei. Ihr müsst mit viel fertig werden.“

„Ja, Chief“, erwiderten Avery und ich leise.

„Gut. Dann sehe ich euch morgen.“ Er legte eine Pause ein. „Und wenn einer von euch noch mehr Zeit braucht, lasst es mich wissen.“

Wir nickten beide und murmelten etwas wie „Okay“.

„Sollen wir einen von euch nach Hause fahren?“, fragte er.

„Ich fahre mit einem Streifenwagen mit“, meinte Avery. „Ich will zum Krankenhaus und sehen, wie es John geht.“

Der Chief nickte. „Clifton? Was ist mit dir?“

„Ich komme schon klar“, antwortete ich.

Nick zog eine Augenbraue hoch. Wahrscheinlich wusste er haargenau, was ich tun würde, sobald ich nahe genug an eine Flasche kam.

Ich verengte die Augen und sagte: „Ich komme klar.“

Er schürzte seine Lippen, erwiderte aber nichts.

„Verschwindet jetzt“, wiederholte Warner. „Und haltet euch um Gottes Willen voneinander fern.“ Er warf Avery und mir einen strengen Blick zu, dann stürmte er in Richtung Lounge aus dem Raum.

Avery wollte zu der anderen Tür.

„Hey, Kent“, hielt ich ihn auf.

Er drehte sich um und sah mich scharf an.

„Halte mich auf dem Laufenden, ja?“, bat ich leise. „Über John.“

Seine Miene wurde weich. Er schluckte, dann nickte er. „Wenn ich irgendetwas höre, rufe ich dich an.“

„Danke.“

Einen Moment lang blieb er im Eingang stehen. „Es tut mir Leid wegen Max.“

„Ja“, wisperte ich. „Mir auch.“

Wir tauschten einen letzten Blick. Dann verließ er den Club, um nach seinem Partner zu sehen. Bisher hatte es keine Nachricht über Detective Kellys Tod gegeben, sodass ich an der schwachen Hoffnung festhielt, dass er durchkommen würde. Für Avery und mich. Für die ganze Gewalt.

Nachdem Avery gegangen war, blieb ich für eine Weile in der leeren Bar. Gott, ich brauchte so dringend einen Drink. Am liebsten in einer Bar, die nicht wegen mehrfachen Mordes, der gerade noch blutiger geworden war, geschlossen hatte. Sobald die Welt aufhörte, unter mir zu schwanken, konnte ich von hier abhauen und mich in der nächstbesten Flasche ertränken.

Ich stützte meine Ellbogen auf meine Knie und rieb mir die Schläfen. Ein Teil von mir wollte Max sehen, um mir selbst zu bestätigen, was ich nicht glauben wollte, aber ich konnte es nicht. Und genauso wenig konnte ich von hier verschwinden, ehe man ihn nicht weggebracht hatte.

Entfernt nahm ich Schritte wahr, Stimmen, vielleicht sogar meinen eigenen Herzschlag. Nick war noch immer im Raum, nahe bei mir, aber schweigend. Zur Hölle, vielleicht hatte er etwas gesagt, aber ich war so verdammt verwirrt, dass ich seine Stimme nicht von dem Tappen meiner Finger auf der Bar unterscheiden konnte. Der Hauptteil meiner ohnehin kaum noch vorhandenen Aufmerksamkeit lag bei den Geräuschen außerhalb meiner Sicht, am Ende des Flurs und auf der anderen Seite der offenen Tür zur Gasse.

Der Reißverschluss. Das Quietschen von Vinyl und das gedämpfte Klingeln von Metall , das unter Gewicht nachgab. Das Klicken und Rasseln der Höhenverstellung der Bahre. Das Schnarren der Riemen, die festgezogen wurden, um den Leichnam sicher an Ort und Stelle zu halten.

Es war das Klappern der Räder, das einen Schauer über meine ansonsten gefühllose Wirbelsäule schickte. Ich sah auf und wünschte, ich hätte es nicht getan.

Mit breiten gelben Riemen auf einer Bahre festgeschnallt, drehte mir der schwarze Leichensack den Magen um. Leon und ein weiterer Sanitäter rollten die Bahre durch den Raum. Er sah Nick an, eine stumme Aufforderung.

Nick drückte meinen Arm. „Ich muss gehen. Wirst du klarkommen?“

Ich nickte. Wahrscheinlich wusste er ebenso gut wie ich, dass ich log, aber er sagte nichts. Wir alle mussten mit Scheißsituationen im Job umgehen. Ich musste mit dieser umgehen. Irgendwie. Aber ob ich damit klar kam oder nicht, Nick musste seine Arbeit machen.

Nick und Leon manövrierten die Bahre aus dem Club. Ich schaute weg und schauderte, als die Räder einen improvisierten Trauermarsch spielten.

Es hatte etwas irrational Tröstendes, zu wissen, dass Max bei Nick war. Nicht dass ich dachte, der Leichenbeschauer oder irgendein anderer Mediziner wäre ihm gegenüber unachtsam, oder es könnte etwas passieren, dass ihn noch toter werden ließ, aber Kummer und logisches Denken schlossen sich gegenseitig aus. Es musste keine Bedeutung haben. Im Moment suchte ich mir Trost, wo immer ich ihn bekommen konnte.

Sobald die klappernden Räder schwiegen und der Dieselmotor des Krankenwagens in der Nacht verstummt war, lehnte ich mich gegen die Bar und versuchte, mir meinen nächsten Zug zu überlegen. Ich wollte unbedingt irgendeine Art Gerechtigkeit für meinen gefallenen Partner, aber ich hatte meine Befehle. Außerdem forderten Kummer und Erschöpfung ihren Tribut, sodass ich nachgab. Der Chief hatte gesprochen, Geist und Körper waren erschöpft und es gab für mich hier nichts mehr zu tun. Der Club kam mir wie ein Mausoleum mit Tanzfläche vor.

Nachdem ich ein paar Minuten später meine Gedanken gesammelt und den Anschein von Gleichgewicht zurückgewonnen hatte, ging ich. Allerdings würde ich nicht geradewegs nach Hause fahren. Zuerst hatte ich noch einen Zwischenstopp zu erledigen.

Unterwegs rief ich James noch einmal an.

„Hier ist James. Sorry, ich kann …“

Ich ließ das Telefon in den Getränkehalter fallen und fluchte.

Ich trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad, um etwas von der Anspannung abzubauen, die unter der dicken Decke aus Taubheit und Erschöpfung hervorkroch. Unter dieser Decke waren sämtliche Emotionen lebendig, wenn auch unerreichbar. Ich kannte diesen Schmerz. Ich wusste, dass ich wütend war und mich fürchtete. Es war alles da, ich konnte nur nichts davon fühlen.

Nichts, was ich in meiner Karriere gesehen, gelernt oder erfahren hatte, hatte mich auf das hier vorbereitet. Auf nichts davon. Ich bezweifelte, dass es überhaupt einen Weg gab, jemanden auf etwas wie das vorzubereiten. Es war einfach nichts, was in einem Lehrbuch stand oder man als Anekdote bei ein paar Gläsern Bier erfuhr. Und es war mir nach wie vor völlig unbegreiflich.

Als ich in eine vertraute Sackgasse abbog, parkte der Wagen des Kaplans vor Max’ Haus. Das hatte ich erwartet, und ich war erleichtert. Ich wollte nicht derjenige sein, der Anna diese Nachricht überbrachte.

Ich stellte meinen Wagen neben dem des Kaplans ab. Mit geschlossenen Augen atmete ich tief durch. Dann stieg ich aus und marschierte den Steinweg entlang, den Max und ich letzten Sommer gelegt hatten. Ich zögerte, ehe ich die Veranda betrat und fragte mich, was zur Hölle ich ihr überhaupt sagen sollte. Ob meine Anwesenheit nicht alles noch schlimmer machte. Ob ich damit umgehen konnte. Aber schließlich machte ich die letzten paar Schritte und klopfte an die Haustür.

Deputy Chief Ross öffnete. Er trug seine Galauniform, folglich begleitete er den Kaplan. Der Chief war wahrscheinlich bei Detective Grays Familie. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann sie sich das letzte Mal aufteilen und in der gleichen Nacht mit zwei frischen Witwen sprechen mussten.

„Detective Clinton.“ Ross streckte mir die Hand entgegen, ehe er mich hereinbat. „Ich bin froh, dass Sie hier sind. Sie braucht ein vertrautes Gesicht.“

„Das dachte ich mir.“

Leise Stimmen aus dem anderen Zimmer – und nicht die von Anna oder dem Kaplan – drehten meine Eingeweide noch heftiger um. Ich konnte mir nicht einmal vorstellen, wie das für die Kinder sein musste.

„Wie geht es ihr?“

Ross seufzte. „Den Umständen entsprechend.“

Ich nickte. Ich hatte keine Ahnung, was ich ihr sagen sollte, was das Richtige war. Wenn ich schon nicht wusste, was ich fühlte, wie sollte ich mir dann vorstellen, was sie empfand?

Weiche Schritte sorgten dafür, dass wir die Köpfe drehten.

Als Anna ins Zimmer kam und mir in die Augen schaute, sah sie genau so aus, wie ich mich fühlte: verloren.

Ihr Gesicht war bleich, ihre Augen rot. Sonst war sie immer so pedantisch mit ihren Haaren gewesen, jetzt waren sie heillos durcheinander. Ebenso wie sie selbst. Wie wir beide. Von innen heraus zerzaust.

Einen Moment lang starrten wir uns an und je länger ich in das Spiegelbild meiner eigenen gefühllosen Verwirrung, meines eigenen Unglaubens sah, desto stärker traf mich die Realität.

Dies war real.

Max war tot.

Mein Partner war weg.

Ihr Ehemann, mein bester Freund, der Vater.

Weg.

Als sie sich die Hand vor den Mund legte und ihr frische Tränen in die Augen stiegen, durchquerte ich das Zimmer und nahm sie in die Arme. Sie packte meine Jacke und brach in Schluchzen aus, während ich sie gegen meine Brust drückte und ihr Haar streichelte.

Max hatte sie oft damit geneckt, dass sie so gemein wie klein wäre. Sie hatte immer geantwortet, dass kleine Hunde den bösesten Biss hätten, und Max hatte nichts dagegen gesagt. Sie war kratzbürstig genug, um einen Mann wie ihn im Zaum zu halten, und doch stark genug, um jedes Mal sein Anker zu sein, wenn der Job ihn fertig machte. Anna war eine geborene Polizistenfrau – stoisch, unerschrocken, unterstützend. Immer nachgebend, nie zerbrechend. In all den Jahren, in denen sie und Max verheiratet gewesen waren, war sie nie unter dem Stress zusammengebrochen. Wenn der Job bei ihm seinen Tribut gefordert hatte, war sie sein rettender Fels gewesen und nun, da er weg war, zerbrach sie.

Jetzt, in meinen Armen, als sie sich an meiner Jacke festhielt und zwischen den Schluchzern den Namen ihres Mannes wiederholte, wirkte sie kleiner und zerbrechlicher, als ich jemals für möglich gehalten hatte. Ich wollte unbedingt eine Stütze für sie sein, aber was konnte ich schon machen? Sie war ein menschliches Wesen. Wir beide waren das. Ich hielt sie einfach fest und zwinkerte so viele Tränen zurück, wie ich konnte.

„Was ist passiert?“, fragte sie, ihre Stimme von meiner Brust gedämpft.

„Ich bin nicht sicher. Ich war …“ Innerlich schauderte ich. Außerhalb des Clubs. Nicht bei Max. Mit etwas Persönlichem beschäftigt. Aber ein anderer Detective hatte sich bei ihm befunden. Der Club war sauber gewesen. Der nähere Umkreis hätte sicher sein sollen. Wie hätte ich ahnen sollen, dass es immer noch einen Amokschützen in der Nähe gab?

Sie sah zu mir auf, meine Jacke bauschte sich in ihren weißen Fingern. „Brian, sag mir, was du weißt. Bitte.“

„Ich war draußen. Man sagte mir, dass er zusammen mit einem anderen Detective in eine Seitengasse ging, wo er aus dem Hinterhalt überfallen wurde.“

„War der andere Detective … ist er …“ Ihr Blick huschte zu Deputy Chief Ross, dann zurück zu mir. Es gab nur einen Grund, warum der Chief nicht selbst den Kaplan begleitete, um eine Witwe vom Tod ihres Mannes zu informieren, und sie kannte diesen Grund ebenso gut wie ich.

„Er ist in Ordnung“, sagte ich.

Ein weiterer Blick zu Ross. „Dann …“

Ich schluckte hart. „Detective Gray wurde beim ersten Schusswechsel getötet.“

Sie schlug sich die Hand vor den Mund, während sich ein ersticktes Geräusch aus ihrer Kehle presste. „Oh, nein. Gott, Jeanine muss … oh, nein …“

„Der Chief ist jetzt bei ihr“, sagte ich leise.

Sie nickte. Für einen Moment verloren ihre Augen den Fokus. Dann sah sie zu mir auf. „Hat Max … hat er …“ In einer Gebetposition platzierte sie ihre Hände vor ihren Lippen, in ihren Augen glitzerten frische Tränen. Ich kannte die Frage, bevor sie flüsterte: „Hat er gelitten?“

„Nein.“ Endlich konnte ich ihr eine definitive Antwort geben. Danke, Nick. „Er hat nicht gelitten, Anna. Es ging schnell.“ Ich schluckte den Kloß hinunter, der in meiner Kehle wuchs. „Der Notarzt sagte, dass er wahrscheinlich nicht einmal mitbekommen hat, dass er getroffen wurde.“

Sie atmete aus und schloss die Augen. Ich zog sie wieder an mich und kämpfte um das, was von meiner Beherrschung noch übrig war. Sie hielt sich tapfer. Und ich versuchte das auch.

„Wie geht es den Kindern?“, wollte ich wissen.

Sie zog sich etwas zurück und fuhr sich mit einer zitternden Hand durch die Haare. „So gut wie möglich, vermute ich.“ Sie deutete zum Wohnzimmer. „Willst du … Kannst du sie für ein paar Minuten besuchen? Sie würden dich vermutlich gerne sehen.“

Es machte mir nichts aus, aber ich war mir nicht sicher, ob ich damit umgehen konnte. Trotzdem erwiderte ich: „Natürlich.“

Die Szene im Wohnzimmer war nichts als herzzerreißend. Der zweijährige Ricky saß neben dem Kaplan, umklammerte einen Teddybären, aufgerissene Augen mit verwirrtem Blick huschten von einem Gesicht zum verweinten anderen. Ich bezweifelte, dass er verstand, was los war, aber der ganze Kummer um ihn herum warf seine Welt aus den Angeln.

Jason, Max’ zehn Jahre alter Stiefsohn, saß in einem Ledersessel. Seine Augen waren rot, aber fast trocken und als er mich sah, presste er die Kiefer aufeinander und beobachtete stur, wie seine Finger Flusen von einem alten Quilt zupften. Sein Gleichmut hing an einem dünnen Faden und dieser Faden franste aus, als ich mich vor ihn kniete.

„Hey, Kiddo.“

Er schaute mich an, dann schnellte sein Blick zurück auf seine Finger.

„Ist alles okay?“ Gott, was für eine dumme Frage. Das arme Kind hatte den einzigen Vater verloren, den es gekannt hatte, aber ich wusste nicht, was ich sonst sagen sollte.

Er antwortete mit einem Achselzucken. Sein Kinn zitterte und er presste die Lippen noch fester zusammen.

„Hey.“ Ich legte eine Hand auf seine Schulter. Als er mich mit unendlicher Anstrengung anschaute, sagte ich: „Es ist in Ordnung, zu weinen, weißt du.“