Tupac is back - Tobias Steinfeld - E-Book

Tupac is back E-Book

Tobias Steinfeld

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Beschreibung

2Pac ist Kult! Ein Jugendroman über Rap, Freundschaft und soziale Ungleichheit.

Tupac ist weg! Cem und Eddy sind entsetzt – das Graffiti ihres großen Vorbilds wurde übermalt. Aber auf der Bank vor der leeren Mauer sitzt ein Typ, der dem Gangsterrapper verblüffend ähnlich sieht. Tupac lebt! Und das ausgerechnet in ihrem rentnerlastigen Spießerviertel. Doch das Dasein auf der Mauer hat Spuren hinterlassen. Schießereien, Mädchen, fette Karren? Fehlanzeige! Tupac löst lieber Sudoku und fährt Omas in der Rikscha herum. Cem und Eddy müssen ihn unbedingt wieder in die Spur bringen. Doch dabei geraten sie selbst auf die schiefe Bahn ...

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Das Buch

Cem und Eddy sind geschockt – das Graffiti ihres großen Vorbilds wurde übermalt. Aber auf der Bank vor der leeren Mauer sitzt ein Typ, der dem Gangsterrapper verblüffend ähnlich sieht. Tupac lebt! Echt jetzt? Hier in ihrem Spießerviertel? Das wird Tupac aber so was von aufmischen! Doch von wegen Thug Life! Tupac schaut lieber »Bebende Herzen« und wird höchstens dem Bonsai gefährlich, den er beschneidet. Cem und Eddy müssen ihn unbedingt wieder in die Spur bringen. Doch dabei legen sie sich mit den Falschen an und geraten selbst in Gefahr ...

Dieser originelle Roman mit eingestreuten Rap-Texten hat das Zeug zum Kultbuch!

Der Autor

© Ulrich Köller

Tobias Steinfeld wurde 1983 in Osnabrück geboren. Er lernte einen handfesten Beruf, studierte und jobbte als Inklusionshelfer an einer Förderschule. Heute leitet er Schreibwerkstätten und schreibt Jugendromane. Sein Debüt »Scheiße bauen: sehr gut« wurde unter anderem mit dem Mannheimer Feuergriffel-Stipendium ausgezeichnet. Er lebt in Düsseldorf.

Tobias Steinfeld auf Facebook:https://www.facebook.com/Tobias-Steinfeld-2136220416403666/

Der Verlag

Du liebst Geschichten? Wir bei Thienemann auch!Wir wählen unsere Geschichten sorgfältig aus, überarbeiten sie gründlich mit Autor*innen und Übersetzer*innen, gestalten sie gemeinsam mit Illustrator*innen und produzieren sie als Bücher in bester Qualität für euch.

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Viel Spaß beim Lesen!

Tupac ist weg

Wie konnte ich so dumm sein und mir aussuchen, hier zu wohnen? Jetzt gerade klinge ich sogar wie Herr Klumpe. Das ist einer der meckernden Rentner.

»Aufhören!«, brülle ich. »Sofort aufhören!« Mit erhobenem Arm und ausgestrecktem Zeigefinger renne ich auf das Mädchen zu. Ich sehe also auch aus wie Herr Klumpe.

Sie macht einfach weiter, dreht sich nicht mal zu mir in ihrem grauen Riesenkittel. Auf ihrem Kopf wachsen ziemlich viele braune Locken.

»Stopp!«, rufe ich. »Stopp! Stopp! Stopp!« Ich stampfe erst mit einem, dann mit beiden Füßen auf die Pflastersteine. So was würde nicht mal Herr Klumpe machen.

Sie stoppt nicht. Rollt die Farbrolle über die Mauer. Von oben nach unten, von links nach rechts. Sein Mund, die Nase und die Ohren sind schon weg, das rechte Auge auch, nur das linke ist noch da. Und sein Kopftuch. Völlig außer Atem rüttle ich an der Metallleiter.

»Geht’s noch?« Sie nimmt ihre Kopfhörer ab. »Hör auf zu schütteln, du Opfer!«

Immerhin hat sie »Opfer« gesagt und nicht »Opa«. Den Rentnerslang werde ich trotzdem nicht los. »Wie bitte?«, frage ich.

»Zisch ab!«, sagt sie. Und: »Wer bist du überhaupt?«

Ich werde ihr sicher nicht sagen, dass ich Cem bin, 14 Jahre alt. Und alles andere auch nicht. Zum Beispiel, dass die vom Jugendamt gefragt haben: »Wo willst du lieber wohnen? Bei deinem Vater oder deiner Mutter?« Ich hab »bei nene« gesagt. Nachdem ich erklärt hatte, dass »nene« auf Türkisch »Oma« heißt, waren alle einverstanden, was irgendwie scheiße war, aber irgendwie auch gut. Und jetzt wohne ich am wahrscheinlich spießigsten Stock-im-Arsch-Ort auf der Welt. Wie man sieht, färbt der langsam, aber sicher auf mich ab.

Ein Klecks landet neben meinem rechten Sneaker.

Mir fällt nichts Besseres ein als: »Ich ruf die Polizei.«

»Schöne Grüße!«, sagt sie, taucht die Rolle in den Eimer und klatscht eine Ladung weiße Farbe auf sein linkes Auge. Jetzt ist nur noch das Kopftuch da. Jetzt ist gar nichts mehr da. Tupac ist weg.

Sie lässt den Eimer nach unten plumpsen. Er schwappt über.

Ich spring zur Seite.

Die Hände in den Hüften begutachtet sie von unten ihr Kunstwerk: weißer Fleck auf weißer Mauer.

Natürlich werde ich nicht die Polizei rufen. Was soll ich denen sagen? Ein Mädchen hat gerade unser Lieblingsgraffiti gecovert? Das würden die nicht verstehen. Also müsste ich »übergepinselt« sagen. Der Polizei würde das bloß gefallen. Recht und Ordnung und so. Aber dieses Mädchen hier sieht überhaupt nicht nach Recht und Ordnung aus, sondern eher nach »und so« und nach Unordnung. Das ist ja nicht schlimm, es passt bloß nicht zu dem, was sie gerade getan hat.

Sie schaut mir mitten ins Gesicht. Braun sind ihre Augen. Dunkelbraun. Ihre Haut ist etwas heller. Aber dunkler als meine. Vielleicht sieht das auch nur so aus, wegen der ultraweißen Wand dahinter.

Sie bückt sich nach dem Eimer und wirft dann die Leiter über ihre Schulter. »Jetzt weiß ich, wer du bist«, sagt sie mit großen Augen. »Der Otto von . . . «

Otto ist etwas besser als Opfer, denke ich, während sie das Schild über dem Eingang des Wohnquartiers liest. »Der Otto von Bonn wie Wand!«, sagt sie.

»Bonvivant«, sage ich. »Das ist französisch. Und wird auch französisch ausgesprochen. Bowiwo. Das heißt –«

»Ich weiß, was das heißt, du Otto.«

»Ich heiße Cem«, sage ich, weil mich »Otto« jetzt doch nervt.

»Weißt du, woher ich komme?«, fragt sie.

Vielleicht auch aus der Türkei, denke ich zuerst, aber dann glaube ich, dass es darum gar nicht geht, sondern eher darum, dass sie wahrscheinlich aus den Hochhäusern kommt.

»Offensichtlich nicht aus unserem Quartier«, sage ich. Es geht rapide bergab mit mir: Ich klinge jetzt nicht mal mehr wie Herr Klumpe, sondern wie eine von den Nobelomas, die in pinken Poloshirts Aperol auf der Seeterrasse trinken.

»Ich komm aus Guinea«, sagt das Mädchen. »Da spricht man Französisch. Aber ›Bonvivant‹ sagt keiner. Muss ’ne Otto-Erfindung sein.«

Wahrscheinlich hat sie recht. Spielt aber keine Rolle. Sie hat Tupac gekillt. Oder wie Eddy sagt: »Den Quell unserer Inspiration.« Und damit vielleicht sogar unsere Karriere. Wer weiß das schon? Auf jeden Fall den Ort, an dem wir so sind, wie wir sein wollen.

Ich meine, man braucht sich hier nur mal umgucken: ein Hundefriseur, der Rikschaverleih, ein Hallenbad ohne Rutsche und Sprungturm, dafür mit Niveafilm auf der Wasseroberfläche. Eine Eisdiele mit vier Sorten: Schokolade, Vanille, Amarenakirsch und Malaga, und alle essen immer Amarenakirsch und Malaga, wobei eigentlich immer alle Aperol trinken.

Und natürlich heißen alle Müller, Meyer, Fiedler, Schmidt, Sandkamp und Klumpe. Niemand so wie nene und ich. Manche haben immerhin ein »ski« hinten. Kaczerowski und Willutski. Die sind aber komischerweise trotzdem keine Polen.

Eine nicht eröffnete Kita gibt es noch. Nene sagt zu mir: »Erst wenn du Kinder hast, wird die gebraucht.« Aber dann bin ich hoffentlich weg. Weg von den weißen Würfeln hier. Manche höher, andere flacher, ein paar Doppelhaushälften sind auch dabei.

Und dann ist da noch unsere Mauer, die einfach so im Gestrüpp steht. Drei Meter breit, vier Meter hoch. Wurde wahrscheinlich vergessen abzureißen. Angeblich war hier vorher ein Ghetto. Messerstechereien. Drogen. Ausländer. Nene und ich wären gar nicht aufgefallen. Und das Mädchen sowieso nicht.

Vor der Mauer steht jedenfalls unsere Bank. Eddy und ich sitzen da jeden Tag, trinken Energy und schauen Tupac Shakur an. Künstlername 2Pac. Gangsterrapper. Erschossen im Jahr 1996 mit 25 Jahren. Und jetzt ist 2Pac weg, weil diese blöde . . . wäre das einer unserer Texte, würde ich »Bitch« sagen. Eddy würde auch sonst »Bitch« sagen. Wenn ich ihm das erzähle . . . Wenn der das sieht . . . Der wird durchdrehen. Der bringt die um.

Ich sehe Eddy, wie er vor der weißen Wand zusammenbricht, reglos im Gestrüpp liegt. Und irgendwann springt er auf und rennt los, in Zeitlupe. Tränen rennen wütend seine Backen runter. Dann zieht er seine Knarre. Natürlich hat Eddy keine Knarre. Auch kein Messer oder so. Und er würde dem Mädchen auch nichts tun. Aber beschimpfen würde er sie. Das ist sicher.

Ich denke: Solange Eddy nichts davon weiß, ist es irgendwie gar nicht passiert. Ich drehe mich um, schiebe meine Brille vor und zurück. Die Wand ist weiß. Es ist passiert.

Vielleicht könnten wir irgendeinen Künstler engagieren, denke ich. Wie beim Sommerfest. Da kam ein Typ. Mit Schal und Mütze und Cordjackett. Die Bilder von dem hängen jetzt in der Eisdiele. Die gehört übrigens Eddys Vater, und der findet die Bilder scheiße, traut sich aber nicht, das zu sagen.

Wir bräuchten natürlich einen Street-Artist, einen richtig illegalen Graffitikünstler. Nur der könnte Tupac hinkriegen. Am besten kommt der, der es damals gemalt hat. Eddy und ich nennen ihn unbekannterweise »King of Style«. Sein Tag ist »1010«. Das stand bis vor fünf Minuten noch unten rechts in der Ecke. Wir vermuten, er war nicht von hier, sondern dass die Postleitzahl seiner Hood mit 1010 endet.

Eddy meint: »Eins Null Eins Null ist die Postleitzahl von Wien!«

Wer weiß? Vielleicht bedeutet es auch was ganz anderes. Wahrscheinlich werden wir es nie erfahren, weil der King of Style nie wieder herkommen wird.

Ich male übrigens auch. Zum Beispiel das Cover für unser Album »078«. Wie das Ende unserer Postleitzahl. Tupac Shakur hab ich zigmal in mein Blackbook gemalt. Aber auf unsere Wand? Das trau ich mir nicht zu. Tupac muss perfekt sein. Und perfekt ist er so, wie er war.

Das Mädchen redet ununterbrochen und wird immer lauter. »Ihr hinter eurem Scheißzaun hier wisst überhaupt gar nix davon. Der Witz ist doch, dass jemand wie du, der null Check hat, sich bei jemandem wie mir . . .«

Die rastet gerade richtig aus. Was soll das überhaupt heißen? Jemand wie ich.

»Ich meine, was juckt dich das?«, fragt sie. »Und für Tupac ist es sowieso besser, nicht mehr hier zu sein.«

Dann hat sie es also gemacht, um uns Tupac wegzunehmen!

»Und froh kannst du sein, dankbar, dass eine Künstlerin wie ich, überhaupt jemals etwas auf eure Wand –«

»Streichen ist keine Kunst!«, unterbreche ich sie.

Sie schaut mich an, als wäre ich der Oberidiot, wobei sie das eigentlich die ganze Zeit schon macht, und für Sätze wie »Streichen ist keine Kunst!« habe ich das auch verdient, finde ich.

»Du checkst echt gar nichts. Und glaub mal nicht, dass ich freiwillig –« Sie atmet kopfschüttelnd durch. »Ich hab’s weggemacht, weil ich Sozialstunden machen muss!«

»Warum das denn?«, frage ich.

»Weil ich ’nem vierzehnjährigen Otto aufs Maul gehauen habe.«

Ich gehe einen Schritt zurück.

Sie einen auf mich zu, dann Richtung Ausgang. Als sie durch den Torbogen spaziert, ratscht sie mit der Leiter an der Betondecke entlang.

Eddy redet viel, wenn der Tag lang ist. Einmal meinte er: »Zusammen sind wir wie Tupac.« Er wäre eher so der Gangster und ich eher so der Nachdenker. Ich denke noch darüber nach, ob das stimmt. Klar ist: Eddy ist laut, trägt immer Kappe, Bauchtasche und einen ganz leichten Schnurrbart. Ich bin ruhiger, hab ’ne Brille auf, manchmal auch ’ne Bauchtasche um und rasiere mich sicherheitshalber einmal die Woche.

Auf jeden Fall sind Eddy und ich so was wie Brüder. Zumindest sagt Eddy meist »Bruder« zu mir. Ich sage immer »Eddy« zu ihm.

Eddys Vater ist nicht meiner und meine Oma ist nicht Eddys. Eddy nennt sie trotzdem »nene«. Ich nenne Eddys Vater »Klaus«, auch wenn ich mich an keinen Moment erinnere, in dem ich das wirklich schon mal zu ihm gesagt habe.

Nene sagt: »Wir vier gehören auf jeden Fall zu den Coolen in der Mühle hier.«

Eddy und ich denken, dass sie recht hat, auch wenn das hier überhaupt keine Mühle ist.

Eddys Augen leuchten. Er steht auf seiner Seite vom Loch, das neuerdings unsere Wohnungen verbindet, und ich auf meiner. »Bruder«, sagt er. »Pass auf!«

»Nicht hier.«

»Wieso?«

»Wegen nene!«, sage ich, und weil ich gerade überlege, wie ich es ihm schonend beibringen kann. Wenn das überhaupt geht.

»Nene!«, ruft er durchs Loch.

Keine Reaktion. Meine Oma scheint zu schlafen. Vielleicht sitzt sie auch auf dem Klo. Da führt selbst für sie kein Weg dran vorbei.

Eddy zieht einen zerknitterten Zettel aus seiner zu weiten Jeans. »Gib mir mal ’nen Beat, Bruder!«, sagt er.

Ich reagiere nicht.

»Ach, scheiß drauf«, sagt Eddy und fängt an zu rappen.

078

Wir cruisen durch die Nacht

Lassen Schüsse in die Luft

Überall der Duft

Von Gras

Das ist krass

Die Bitches voller Hass

In der Karre geb ich Gas

Rappe hier wie Nas

»Was denkst du?«

Ich sage: »Nice.« Habe ich in der Schule gelernt. Bei Kritik immer mit dem Positiven anfangen.

Eddy weiß das auch und fragt: »Was denkst du wirklich, Bruder?«

Egal, denke ich. Es muss raus. Ich schau ihm in die Augen und dann sage ich es: »Tupac ist weg.«

Eddy runzelt die Stirn. »Wieso Tupac? Ich hab doch wie Nas gerappt.«

Kurz überlege ich, ob Nas und Tupac Beef hatten. Ich glaube, das war mal so, mal so. Auf jeden Fall ist es krass, dass Nas heute noch rappt, während Tupac schon ewig tot ist.

»Komm mit!«, sage ich dann und wir gehen aus separaten Haustüren nach draußen.

Eddy bricht nicht vor der weißen Wand zusammen. Er liegt nicht reglos im Gestrüpp. Er rennt nicht los, er sagt nicht »Bruder« und nicht »Bitch«. Er weint auch nicht.

»Du verarschst mich, Cem!« Eddy wittert überall einen »Bluff«, wie er zu sagen pflegt. »Bluff mal nicht, Bruder!«, schiebt er hinterher.

»Kein Bluff«, sage ich. »Hier war so ein Mädchen . . . « Ich erzähle alles und Eddy nickt die ganze Zeit. Seine Augenlider öffnen und schließen sich. Ich sehe, wie er sich auf die Backenzähne beißt. Die Muskeln seiner Wangen bilden kleine Krater.

Bevor er jetzt doch ausrastet, fällt mir etwas ein. Was ist, wenn die Farbe wasserlöslich ist? »Eddy«, sage ich. »Wir putzen das einfach ab. Und alles ist wieder gut.«

Eddy schluckt. Eddy schluckt noch mal. Er sagt etwas, aber es kommt keine Stimme aus seinem Mund. Dann räuspert er sich so lange, bis doch eine Stimme rauskommt, auch wenn die ziemlich kratzig ist. »Ne, lass!«

»Wir könnten’s versuchen.«

Eddy versucht weiter, den Frosch in seinem Hals zu verjagen. Klappt nicht. »Das wird eh nix. Is jetzt halt so«, sagt er. Und: »Vielleicht ist es gut so, wie es ist.«

Ich kauf ihm das nicht ab. »Wieso sollte das gut sein?«

Er klatscht in die Hände und macht sich ein bisschen größer, als er ist. Seine Stimme klingt wieder fester. »Als junge Künstler müssen wir uns langsam, aber sicher emanzipieren.«

Was labert der?

»Wir müssen unseren eigenen Weg gehen. Raus aus dem Schatten. Ich hatte in letzter Zeit sowieso ein bisschen das Gefühl, dass Tupac uns blockieren würde, weißt du? Künstlerisch, meine ich. Also mich jetzt nicht so, aber dich vielleicht!«

»Dein Ernst?«, frage ich.

»Ne«, sagt Eddy. »War geblufft.«

Na immerhin, denke ich.

Er redet weiter. »Überleg mal, viel schlimmer wär, wenn er nie hier aufgetaucht wäre.« Eddy stellt sich von einem Bein aufs andere. »Vielleicht hätten wir dann nie angefangen zu rappen, weißte?«

Man merkt, dass Eddy nene kennt. Die sagt immer: »Wenn etwas ganz besonders schlimm ist, dann stell dir etwas vor, dass noch schlimmer ist!«

»Wie du meinst«, sage ich und bin mir nicht sicher, ob für Eddy gerade eine Welt zusammengebrochen ist oder nicht.

»Endlich ist das Geschmiere weg! Wurde auch Zeit.« Die Stimme gehört Frau Klumpe.

Ich weiß nicht, warum, aber ich muss immer an Frikadellen denken, wenn ich sie höre – mit zu großen Zwiebelstücken drin.

Sie steigt von ihrem Elektro-Klapprad und bindet den Pudel vom Lenker. Wer von den beiden wohl auf die bescheuerte Idee gekommen ist, ihn »Spike« zu nennen? Besser unwissend sein, als den Klumpes eine Frage stellen.

Eddy sagt, Frau Klumpe ist ein Folterknecht. Sie foltert aber nicht mit kitzelnden Federn oder peitschendem Ledergürtel. Frau Klumpe foltert mit ihren Worten. Sie fängt an zu reden. Von sich selbst. Dann hört sie nicht mehr auf und killt einen ganz langsam und extrem qualvoll.

So kommt sie jetzt von dem »Geschmiere« darauf, dass sie eine Enkelin hat. »Ich hab ja auch eine Enkelin«, sagt sie, und ich frage mich, wer hier denn sonst noch eine Enkelin hat. Eddy und ich jedenfalls nicht und Herrn Klumpe wird sie wahrscheinlich nicht meinen, wobei ihr alles zuzutrauen ist. »Die ist jetzt im Turnverein angemeldet«, sagt sie. Und ich denke, dass ich die Enkelin noch nie hier gesehen habe und dass die wahrscheinlich auch keine Lust auf die Folternummer hat.

Spike hüpft durchs Gestrüpp. Hebt sein Bein an der weißen Mauer.

Eddy guckt weg.

Gut, dass Tupac das nicht mehr erleben muss.

Frau Klumpe sagt, Herr Klumpe braucht ein neues Hüftgelenk.

Eddy und ich gucken uns an. Wir haben beide Schiss, dass gleich die Geschichte mit dem Eiter kommt.

»Jungs, es gibt Essen.« Nene rettet uns davor.

»Ah, Frau Karmann, wissense –«

Eigentlich heißen wir Karaman, aber nene scheint das nicht zu jucken, also juckt es mich auch nicht. Sie tickt auf ihr nacktes Handgelenk. »Keine Zeit«, sagt sie freundlich kopfschüttelnd. »Essen wird kalt.« Dann runzelt nene die Stirn und schaut erst mich und dann Eddy an. »Wo ist Tupac?«, fragt sie.

»Weg«, sage ich.

Zu Hause gehen nene und ich in die eine Doppelhaushälfte und Eddy geht in die andere. Zusammen haben wir eine Doppeldoppelhaushälfte und mittlerweile sind wir so was wie eine Patchworkfamilie oder zumindest eine WG. Das liegt daran, dass nene Eddys Vater gefragt hat, ob er nicht einen Durchbruch machen könnte, weil Eddy und ich sowieso ständig zusammen rumhängen. Dann hätten wir kürzere Wege, meinte sie. Als Scherz natürlich. Eddys Vater versteht keine Scherze. Deshalb ist Eddys Mutter auch abgehauen, sagt er. Auf jeden Fall hat er einen Durchbruch gemacht. Mit so ’nem Riesenhammer hat der einfach die Wand zwischen unseren beiden Doppelhaushälften eingeschlagen. Und jetzt ist da ein Loch. Nicht ganz so groß wie eine Tür, eher wie ein etwas zu tiefes Fenster. Eddy und ich benutzen das. Nene und Eddys Vater nicht. Sonst weiß keiner davon.

Um acht gibt es Essen, zwei Stunden, nachdem nene uns vor Frau Folter-Klumpe gerettet hat.

»Wo ist Eddy?«, frage ich.

Sein Vater zuckt mit den Schultern. Er ist eher so der Schweiger. Wie jeden Abend ist er durch den Vordereingang gekommen.

Ich laufe zum Loch. »Eddy«, rufe ich. »Nene hat Menemen gemacht!«

Keine Antwort.

Eigentlich isst man Menemen zum Frühstück. Aber wir sehen das nicht so eng. Und Menemen ohne Eddy kann ich mir gar nicht mehr vorstellen. Ich schaufle einen zweiten Teller voll. Rührei, Paprika, Sucuk, Fladenbrot.

Nene schaut mich schräg von der Seite an.

»Ist für Eddy«, sage ich.

Jetzt gucken Klaus und nene sich an, so wie Eltern das machen. Als müssten sie sich die Good-Cop-Bad-Cop-Nummer aufteilen – sagst du ihm, dass er das nicht machen soll, oder muss ich?

Klaus schüttelt den Kopf. »Das ist lieb, aber wenn Eddy nicht kommt, dann kriegt er nichts.« Wenn Eddys Vater nicht schweigt, dann flüstert er. Zumindest redet er sehr leise. Und so viele leise Wörter hintereinander wie gerade hat er noch nie zu mir gesagt.

Er mag mich, glaube ich, trotzdem. So ist das umgekehrt auch: Ich rede kaum mit ihm und finde auch gut, wenn er mit seiner Glatze, seinen etwas traurigen Augen und seinem Ohrring an nenes Tisch sitzt.

Was Eddy wohl Besseres zu tun hat, als mit uns Menemen zu essen?

Vorhin in meinem Zimmer hatte ich mir nichts dabei gedacht, dass er nicht zurückgeklopft hat. Das machen wir normalerweise zwischendurch. Ich dachte: Vielleicht hat er Kopfhörer auf. Oder er hat mit dem Deutschprojekt angefangen. Manchmal hat er so Streberphasen.

Und zwischen den romantischen Naturgedichten von Joseph von Eichendorff kann man schon mal den Verstand verlieren. Aber in den Sommerferien?

Sommerferien. Das heißt nicht nur keine Schule. Auch die abwechselnden Wochenenden bei meiner Mutter und meinem Vater fallen ins Wasser, weil beide mit ihren neuen Crushes samt Anhang einen auf Love-Holidays machen. Und das ganz ohne Anrufe. Dafür gibt es jetzt ein paar Fotos mehr: Sonnenuntergänge am Strand. Seltsame Tiere hinter Gittern. Überfüllte Teller auf Touristenmeilen. Solche Sachen halt. Sie lieben mich, bestätigen sie mir ständig. Mehr gibt’s dazu auch nicht zu sagen. Ich fotografiere den Teller mit Menemen und schicke das Bild einzeln an meine Eltern. »Schönen Abend noch!«, schreibe ich drunter. So kann es die nächsten Wochen gerne weitergehen.

Jetzt denke ich über etwas ganz anderes nach. Nämlich, dass es gar nicht Tupac war, der mich zum Rap gebracht hat, sondern Eddy. Und Eddy hätte ich nie kennengelernt ohne nene. Also hat eigentlich nene mich zum Rap gebracht. Was ich nene außerdem hoch anrechne: Sie sagt seinen Namen sehr selten, aber wenn, dann spricht sie »Pac« immer richtig aus. Wie »Packesel« oder »Pack die Badehose ein«. Nie wie Päckchen.

Wir essen Baklava. Oder wie Eddy sonst sagt: »Extrem süßen Nachtisch.«

Nene erzählt Klaus die aktuelle Folge von Bebende Herzen nach: Maximilian ist zum Sternekoch geworden und Laura hatte einen Unfall und sitzt jetzt im Rollstuhl. Außerdem sind Laura und Maximilian doch keine Geschwister und ihre Liebe hat damit eine Chance.

Nene ergänzt: »Wobei Maximilian ein Schmierlappen ist.«

Klaus nickt mit etwas Baklava an der Unterlippe.

Dann passiert alles auf einmal:

Es klingelt an der Haustür: Ding Dong.

Das Handy von Eddys Vater klingelt: »Düm-düm-dede-düm-düm-de-de-düm-düm . . .« – Mission-Impossible-Agentenfilmsoundtrack aus den 90ern.

Mein Handy klingelt: »It was a clear black night, a clear white moon . . .« Dank Warren G und Nate Dogg krieg ich jedes Mal Gänsehaut, wenn mich jemand anruft.

Nenes Haustelefon klingelt: »Rrrriiinng, Rrrriiinng.«

Wir sitzen alle da wie gelähmt, weil so was ja eigentlich nicht passiert.

Die Erste, die sich bewegt, ist nene. Auf dem Weg zur Tür nimmt sie im Vorbeigehen den Hörer ab und sagt: »Ich ruf gleich zurück.« Legt dann wieder auf.

Klaus zückt sein Klapphandy aus der Brusttasche seines Hemds. »Hallo.«

Er steht auf und dreht sich um, damit ich nicht mithöre. Erfolglos, vor meinen Augen erscheinen Frikadellen mit großen Zwiebelstücken. Frau Klumpe. Wahrscheinlich ist irgendwas kaputt. Eddys Vater ist nämlich auch so was wie der Hausmeister hier. Jedenfalls wird er gerufen, wenn irgendwo Stromausfall ist oder das Internet weg oder ein Wasserhahn tropft. Ich glaube, er wird dafür nicht mal bezahlt. Zumindest hat nene neulich gesagt: »Du musst das nicht machen, oğul!« Oğul heißt Sohn.

Und er hat geflüstert: »Teyze«, das so was Ähnliches wie Tante bedeutet. »Ich mach das gern.«

Ich glaube, er macht es, weil er ein schlechtes Gewissen hat, wegen der durchbrochenen Wand.

Ehrlich gesagt wundere ich mich jeden Tag darüber, dass Klaus Eisverkäufer ist. Das passt nicht zu ihm. Wobei: Wenn ich mir ein Thermometer vorstelle, auf dem wir vier abgebildet wären, dann wäre Klaus null Grad und das würde wiederum doch zum Eis passen. Ich wäre Durchschnittstemperatur, nene hat angenehm warme Badewannentemperatur und Eddy ist der heiße Kaffeesatz unten in nenes Tasse. Der muss erst abkühlen, bevor man die Zukunft daraus lesen kann.

Mein Handy hat aufgehört zu klingeln.

Nene kommt wieder in die Küche. »Auflegen«, flüstert sie.

Klaus drückt mit dem Zeigefinger auf sein Smartphone und stoppt die Frikadellenstimme von hundert auf null.

Es klingelt noch mal an der Tür.

»Das ist Herr Klumpe für dich drüben!«, sagt nene. »Wir müssen uns mal um unterschiedliche Klingeln kümmern.«

Eddys Vater sieht verstört aus, hat gerade mindestens zehn Falten auf der Stirn und ich glaube, das liegt nicht daran, dass Herr Klumpe vor seiner Tür steht, sondern an dem, was Frau Klumpe von ihm wollte. Ist aber nur so ein Gefühl.

Während ich mich frage, was nene wohl zu Herrn Klumpe gesagt hat, als sie öffnete und ihn eine Tür weiter traf, klettere ich Klaus bei seiner Premierenlochdurchsteigung hinterher und lausche aus sicherer Distanz.

»Da sitzt ’n Schwatter auf unserer Bank!«

Hä?, denke ich. »It was a clear black . . .« Warren G rappt aus meiner Tasche. Der Song ist uralt. Aber mir ging er nach dem ersten Hören nicht mehr aus dem Kopf.

Eddy meint, ich bin ein Nerd, aber mittlerweile habe ich ihn auch davon überzeugt, dass Oldschoolrap Hammer ist. Auch wenn Eddy Wert drauf legt, kein Nerd zu sein, sondern Gangster.

Ich drück Warren G weg. Er fängt wieder an und ich steige zurück und setze mich zu nene an den Tisch. »Wer hat dich eigentlich angerufen?«, frage ich.

»Keine Ahnung«, sagt sie.

Wir lachen kurz.

Es klingelt an der Tür, es klingelt noch mal. Noch mal.

»Meine Güte!«, ruft nene. »Ist ja gut.«

War bloß Eddys Vater, der wieder den offiziellen Weg gewählt hat. Ob der immer schon so drauf war oder auch erst, seitdem er hier wohnt?

Die Einzige, die sich nicht verändert hat, ist wahrscheinlich nene. Die ist schon zwanzigmal umgezogen, hat sie neulich erzählt. Mit acht kam sie nach Deutschland. Und jetzt wollte sie mal sesshaft werden. Hatte sie sich wahrscheinlich auch anders vorgestellt. Wobei ich das, ehrlich gesagt, gar nicht weiß.

»Was wollte Klumpe?«, fragt sie Klaus.

Er zuckt mit den Schultern und es ziehen sich mittlerweile mindestens zwanzig Falten auf seiner Stirn. Eddys Vater atmet zweimal tief ein und aus und immer, wenn ich das Gefühl habe, er wird gleich etwas sagen, dann schüttelt er bloß ungläubig mit dem Kopf.

Irgendwann wird mir das zu anstrengend und mir fällt ein, dass ich noch gar nicht auf mein Handy geschaut habe.

Eddy: »Komm schnell, Bruder!«

Ich weiß nicht, wo Eddy steckt. Was ich aber sehe, ist, dass ein Licht die weiße Wand beflackert. Die Mauer sieht jetzt aus wie ein riesiger Grabstein. Je näher ich komme, umso sicherer werde ich mir: Das ist wirklich ein Grablicht – helle Kerze in roter Plastikhülle.

Menschen, deren Schubladen damit überquellen, wohnen hier genug. Aber warum vor unserer Wand? Vielleicht ist heute Nachmittag ein Dackel oder Spitz verunglückt, stranguliert von der Leine des Frauchens, die sich im Gestrüpp verheddert hatte.

Ich beschließe, mir das Ganze aus der Nähe anzusehen.

»n’Abend«, sagt eine tiefe Männerstimme, als ich an der Bank vorbeigehe. Kaum ist Tupac weg, stürzen sich die Opas auf unsere Sitzgelegenheit wie Fliegen auf einen Kackhaufen. »Guten Abend«, grüße ich zurück, ohne hinzusehen. Nene sagt: Immer schön freundlich bleiben, dann lebt man länger. Hauptsache, man lebt dann nicht länger hier, denke ich.

»Pscht!«

Ich drehe mich um. Woher kam das?

»Pscht!«

Was soll der Scheiß? Ich stehe mitten im Gestrüpp, vor mir ein Grablicht, es riecht nach Farbe und irgendjemand ruft: »Pscht«.

Dann klopft es. Mir wird schummrig. Das Klopfen kenne ich doch. Werde ich jetzt verrückt?

Jemand packt mich am Arm und zieht mich hinter die Mauer.

»Cem!«, flüstert Eddy.

»Eddy!«, rufe ich.

»Pscht!«, macht Eddy.

Ich nehme seine Hand von meinem Mund. »Spinnst du oder was?«

»Vielleicht«, flüstert er. »Sag du’s mir!«

»Okay«, sage ich. »Du spinnst.«

»Gut«, sagt Eddy. »Dann will ich jetzt wissen, ob du auch spinnst.«

»Ich glaub, ich spinne!«, ruft eine Stimme.

Eddy und ich biegen unsere Köpfe um die Mauer herum. Die Klumpes fahren mit ihren Fahrrädern den Weg entlang und schimpfen irgendwas vor sich hin.

»Und?«, flüstert Eddy.

»Was und?«, flüstere ich zurück.

»Siehst du, was ich sehe?«

»Was siehst du denn?«

»Nein, nein«, haucht er. »Ich will erst wissen, was du siehst!«

»Okay«, flüstere ich in die Dunkelheit. »Ich sehe ein Grablicht, Gestrüpp. Eine Laterne. Unsere Bank. Und auf der Bank sitzt jemand drauf.«

»Wer?«, fragt Eddy.

»Keine Ahnung. ’n Mann, glaube ich. Er sieht irgendwie dunkel aus.«

Jetzt fällt mir ein, was Herr Klumpe gesagt hat. »Ein Schwatter auf unserer Bank.« Dabei ist das auf gar keinen Fall die Bank der Klumpes. Und warum kommt er mit der Info zu Eddys Vater und seine Frau ruft den sogar an deswegen? Klar, Eddys Vater ist vieles hier, aber nicht der Wachmann. Vielleicht denken die Klumpes, dass er ein Nazi ist, weil er ’ne Glatze hat und sich dann darum kümmert, dass »der Schwatte« abhaut. Keine Ahnung, ob die Klumpes solche Rassisten sind. Wahrscheinlich bin ich ein Rassist, weil ich so was über die Klumpes denke. Ich wüsste jedenfalls nicht, dass es verboten ist, auf der Bank zu sitzen. Mal ganz abgesehen davon, dass es unsere ist.

Was ich jetzt aber überhaupt nicht verstehe: Warum macht Eddy da so ein Ding draus?

»Dann siehst du also auch Gespenster«, höre ich ihn bedeutungsschwer hinter mir.

Ich sehe die Klumpes, die gerade noch eine Runde um den See gedreht haben und jetzt schon wieder hier vorbeifahren. Diesmal immerhin schweigend.

»Eddy, ich weiß überhaupt nicht, was du von mir willst. Was machst du überhaupt hier?«

Auch wenn er geschrieben hat, ich soll schnell kommen, fühlt es sich gerade eher so an, als hätte ich ihn bei irgendwas erwischt, finde ich.

Ich erwarte, dass er weiter rumdruckst, nicht rausrückt mit der Sprache. Aber genau das tut er jetzt.

»Ich weiß nicht, ob du’s gemerkt hast, aber es ist mir alles andere als egal, was passiert ist. Und ich hab überlegt, wie ich damit am besten umgehen soll. Also habe ich ein Licht angezündet, weil das ja schon ein herber Verlust ist. Für mich zumindest. Ich will mich der Sache stellen, weißt du, damit ich das verarbeiten kann.«

Ich frage mich, ob Eddys Gedenkaktion Richtung Seniorenstyle geht, oder ob ich sie für angemessen halte. Wobei, meine Einschätzung nach meiner Rentneraktion heute auch nicht besonders aussagekräftig ist. Auf jeden Fall kann ich ihm so weit folgen. Ein bisschen traurig bin ich, dass er mich nicht mitgenommen hat, aber vielleicht wollte er mit seiner Trauer allein sein.

Jetzt geht es weiter.

»Und als ich gerade die Kerze angezündet habe, da spüre ich plötzlich so eine Wärme in meinem Rücken, weißt du?«

»Nein«, sage ich.

Eddy ignoriert das. »Ich drehe mich also um. Und wer ist da? Tupac.«

Ich laufe sofort zur Vorderseite. Schau auf die von der Kerze beleuchtete Wand. Weiß. Nix Tupac.

»Okay«, sage ich. »Du spinnst.«

Er zieht mich zu sich und flüstert mir direkt ins Ohr. »Du hast ihn doch selbst gesehen. Unter der Laterne.«

»Hä!?« Soll ich jetzt lachen oder weinen? Das meint der doch nicht . . . »Eddy, ich . . . « Ich weiß nicht, warum ich mein Handy raushole, aber als ich es in der Hand halte, leuchte ich ihm damit ins Gesicht. Eddy hat Tränen in den Augen. Hat ihn mehr mitgenommen, als ich dachte. Viel mehr.

»Komm«, sage ich. »Wir gehen nach Hause. Es ist noch Baklava da.«

Eddy atmet tief durch. »Okay«, sagt er und nimmt mich an die Hand.

Wir waten wie die Störche durchs Gestrüpp, Eddy bückt sich kurz und nimmt sein Licht mit. Er pustet es aus. Mein Blick fliegt zu ihm, seiner zur Bank.

Weiter Hand in Hand, immer fester gedrückt, gehen wir darauf zu. Lassen den Mann nicht aus den Augen. Biegen direkt vor ihm ab. »Schönen Abend noch«, drücke ich mit zittriger Stimme und noch zittrigeren Knien heraus.

»Angenehme Ruh!«, sagt der Mann mit der gleichen tiefen Stimme wie vorhin.

Wir gehen Schritt für Schritt für Schritt, werden schneller und fangen beide gleichzeitig an zu rennen.

Wir sind auch Rapper

Eine halbe Stunde sitzen wir schon in nenes Küche, kriegen keinen Bissen runter, kein Wort durch unseren Hals. Eddy ist kreidebleich.

»Cem?«, fragt nene. »Was ist los? Habt ihr den Tod persönlich getroffen?«

Ich sage: »Wir müssen was für das Eichendorff-Projekt machen. Ist das okay, wenn Eddy noch mit hoch zu mir geht?«

Sein Vater nickt.

Und nene sagt: »Als ob.«

Wir gehen die Fakten durch, besser gesagt: Eddy.

»Die Bandana hast du gesehen?«, fragt er.

»Was für ’n Ding?«, frage ich.

»Das Kopftuch.«

Ich nicke.

»Das Piercing, linker Nasenflügel?«

Ich nicke wieder.

»Glatze?«

»Ja.«

»Den schwarzen Bart an Oberlippe und Kinn?«

»War der nicht eher gra–«

Eddy würgt mich ab. »Die Kreuzkette?«

». . .«

»Bruder, hast du die Kreuzkette gesehen?« Er macht Riesenaugen. »Bei uns in der Nachbarschaft sitzt . . . du weißt schon, wer da sitzt und du –«