Turnaround - Fritjof Karnani - E-Book

Turnaround E-Book

Fritjof Karnani

4,5

Beschreibung

Latika Bachmann, Berlinerin mit indischen Wurzeln, steht kurz davor, die jüngste Partnerin der Unternehmensberatung DAI zu werden. Doch dann wird sie plötzlich entlassen. Vor den Scherben ihre Karriere stehend, nimmt sie das Angebot an, ein erfolgloses Unternehmen zu sanieren. Ein lukrativer Auftrag, an dem auch ihre ehemalige Firma großes Interesse hatte. Als sich erste Erfolge einstellen, fällt ihr Vater einem Bombenattentat zum Opfer. Latika ist sich sicher, dass DAI dahinter steckt. Auf der Suche nach den Mördern verstrickt sie sich immer mehr in einem internationalen Geflecht aus Bestechung, manipulierten Aktienkursen und Industriespionage.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 302

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,5 (36 Bewertungen)
25
3
8
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Titel

Fritjof Karnani

Turnaround

Kriminalroman

Impressum

Alle Personen und Namen sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig

und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2007 Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 07575/2095-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2007

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

Unter Verwendung eines Fotos von www.photocase.com

Gesetzt aus der 9,5/13,8 Punkt GV Garamond

ISBN 13: 978-3-8392-3316-0

Bibliografische Information

der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Widmung

Für Kerstin und für meinen Vater,

den wir zum Ganges gebracht haben.

Weil dort alles endet und wieder von Neuem beginnt.

Prolog

Latika Bachmann war als Gast in die Talkshow Die besten Köpfe Deutschlands eingeladen. Seit einigen Wochen interviewte die bekannte Journalistin Beatrice von Zöllern jeden Sonntag zur besten Sendezeit die wichtigsten Unternehmerpersönlichkeiten.

»Guten Abend, meine Damen und Herren, herzlich willkommen bei unserer Sendung Die besten Köpfe Deutschlands. Wir stellen Ihnen hier die innovativsten Köpfe unseres Landes vor. Köpfe, die uns dabei helfen können, Deutschland erfolgreich in das dritte Jahrtausend zu führen. Mein Gast heute Abend ist die Unternehmerin Latika Bachmann, und das ist in mehrfacher Hinsicht eine Premiere. Frau Bachmann ist die erste Frau, die wir in dieser Sendung vorstellen, und mit gerade einmal 36 Jahren ist sie zudem die jüngste Persönlichkeit.«

»Frau Bachmann, Sie stammen aus einer deutsch-indischen Familie, sind in Berlin aufgewachsen und haben in den USA Wirtschaft studiert. Sie kontrollieren heute ein Unternehmenskonglomerat, für das an die 25.000 Menschen arbeiten. Sie sind unter anderem Geschäftsführerin einer Fluggesellschaft und Managerin einer der größten europäischen Supermarktketten. Man nennt Sie gerne auch die deutsche Mittal, mit Anspielung auf den indischen Stahl-Mogul Lakshmi Mittal, einen der reichsten Männer der Welt. Als wir bei der Planung zu dieser Serie in der Redaktion diskutierten, wer die 20 wichtigsten Unternehmerpersönlichkeiten in Deutschland sind, wurde Ihr Name sofort einstimmig aufgenommen. Ich könnte diese Aufzählung noch fortführen, aber ich will den Abend heute etwas anders beginnen. Bevor wir zu unserem Interview kommen, möchte ich gerne noch etwas über den Menschen Latika Bachmann erfahren. Abgesehen von Ihren unternehmerischen Erfolgen, wissen wir so gut wie nichts über Sie. Ich habe in unserer Datenbank recherchiert und dort eine sehr interessante Geschichte über Sie gefunden. Frau Bachmann, Sie wurden vor zwei Jahren auch einmal unter die zehn erotischsten Frauen Deutschlands gewählt. Angeblich soll Ihnen daraufhin der Playboy 50.000 Euro geboten haben, wenn Sie sich nackt fotografieren lassen würden. Dieses Ansinnen hat Sie empört und beleidigt und Sie haben kurz entschlossen den Verlag des Playboys gekauft und der Redaktion gedroht, alle auf die Straße zu setzen.«

»Das ist nur eine Legende, Frau von Zöllern, zwar eine lustige, aber eben nur eine Legende.«

»Frau Bachmann, es gibt aber eine Playboyausgabe mit einem Foto von Ihnen auf dem Titelblatt und überraschenderweise sind Sie vollständig bekleidet. Die Ausgabe ging in die Geschichte des Playboys ein, weil keine nackte Frau auf dem Cover zu sehen war. Dafür ist auf Seite 5 derselben Ausgabe die gesamte Redaktion nur mit Unterhose bekleidet abgebildet.«

Frau von Zöllern hielt eine Ausgabe der Zeitschrift in die Kamera. Auf dem Titelbild war Latika Bachmann im Businesskostüm zu sehen.

»Weder Sie noch der Playboy haben die Geschichte bisher kommentiert. Frau Bachmann, haben Sie tatsächlich die Redaktion des Playboys in die Knie gezwungen?«

»Ich will und werde solche Geschichten nicht kommentieren. Erlauben Sie mir stattdessen eine Gegenfrage: Wie würden Sie reagieren, wenn Ihnen der Playboy anbieten würde, sich nackt fotografieren zu lassen?«

»Ich würde die Kerle zum Teufen jagen.«

»Und genau das würde ich auch tun.«

»Ich werde nicht so leicht aufgeben, mehr über Sie zu erfahren.«

»Frau von Zöllern, wir sollten es dabei belassen. Sehen Sie, ich könnte sonst auf den Gedanken kommen, den Sender zu kaufen und Ihnen den Stuhl auf die Straße zu stellen.«

Frau von Zöllern war einen Moment sprachlos.

Latika lachte. »Das war nur ein Witz.«

»Nun, gut zu wissen.«

»Wissen Sie, ich kontrolliere bereits fast 30% der Aktien dieses Senders. Aber lassen wir das doch, kein Mensch interessiert sich für mein Privatleben. Lassen Sie uns zum Thema kommen. Wie findet Deutschland wieder den Anschluss an die Weltspitze?«

Latika Bachmann gab in den nächsten 20 Minuten eine ausführliche Antwort auf diese Frage. Sie schilderte, was aus ihrer Sicht getan werden musste, um im globalen Wettbewerb bestehen zu können. Sie wurde nur selten von Frau von Zöllern unterbrochen.

»Frau Bachmann, ich danke Ihnen für das Gespräch. Meine Damen und Herren, wir haben die Meinung einer der bedeutendsten Frauen des deutschen Wirtschaftslebens gehört. Ich denke und hoffe, dass einiges von dem, was wir heute vernommen haben, von den Politikern aufgegriffen wird. Aber lassen Sie mich das noch hinzufügen: Leider ist es mir heute nicht gelungen, uns den Menschen Latika Bachmann näher zu bringen. Sie werden sicherlich verstehen, auch ich hänge an meinem Arbeitsplatz, und so werden wir alle wohl auf Ihre Memoiren warten müssen, Frau Bachmann.«

Meine Memoiren wird es nie geben, dachte Latika. Wenn man mir vor acht Jahren gesagt hätte, dass ich einmal hier sitzen würde, hätte ich es nicht geglaubt. Und wenn ich vor acht Jahren gewusst hätte, was es mich kosten würde – ich hätte mich für einen anderen Weg entschieden. Das war es nicht wert.

»Zum Abschluss unseres Interviews, wie in dieser Sendung üblich, die letzte Frage an Sie, Frau Bachmann: Was war Ihr größter Erfolg?«

»Eine einfache Frage, die ich gerne beantworte: die Geburt meiner Tochter.«

1

Acht Jahre vorher

Latika war schon um 5.30 Uhr hellwach. Vergeblich hatte sie versucht, noch einmal einzuschlafen. Schließlich war sie aufgestanden und genoss die morgendliche Ruhe. Sie liebte die Sommermorgen in der Stadt, es war schon warm, sie saß nur mit einem T-Shirt bekleidet und einem Kaffee am offenen Fenster. Die riesige Fensterfront war einer der Gründe gewesen, warum sie sich für die Dachgeschosswohnung entschieden hatte. Die Wohnung lag im vierten Stock eines alten Mietshauses in Berlin-Kreuzberg. Ihre Wohnung war mit dem ehemaligen Dachboden zusammengelegt worden. Die so entstandene Maisonette-Wohnung wurde bestimmt von der riesigen, zwei Stockwerke umfassenden Fensterfront. Sie hatte die unteren Fensterflügel geöffnet, hielt ihre Kaffeetasse mit zwei Händen fest umschlossen und genoss den ersten Schluck Kaffee.

Gestern Abend war es spät geworden und sie hatte sich vorgenommen, heute später ins Büro zu gehen, wenn überhaupt. In den letzten Monaten hatte sie fast ständig sieben Tage in der Woche gearbeitet, aber gestern war das ›Supply-Chain-Management-Projekt‹endlich abgeschlossen worden. Es war ihr erstes eigenes großes Projekt gewesen und ein voller Erfolg. Nach dem formellen Projektabschluss gab es die Feier im Büro. Erstaunlich viele Kollegen waren gekommen, fast die ganze Führungsriege hatte sich sehen lassen und ihr gratuliert. Es war jetzt fast sicher, dass sie im Herbst Partner bei ›Duran Armelang International‹ werden würde. Damit war sie dann nicht nur eine der wenigen Frauen, die es bis zum Partner gebracht hatten, mit 28 war sie, zumindest in Europa, der jüngste Partner bei ›DAI‹. Auf diesen Erfolg hatte Latika die letzten fünf Jahre hingearbeitet. Sie war selten zufrieden mit sich, aber heute war sie es. Sie genoss den Morgen, den duftenden Kaffee und den Gedanken, es geschafft zu haben. Die Stadt roch im Sommer anders. Jetzt fehlt eigentlich nur noch Sex, dachte sie und musste über sich selbst lachen. Sie nahm sich vor, zukünftig etwas kürzer zu treten und sich wieder mehr um ihr Privatleben zu kümmern.

Das Telefon riss sie aus den angenehmen Gedanken. Es war Saskia, die Teamassistentin im Berliner Büro. »Hallo, Latika, ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt?« Latika sah auf die Uhr, es war kurz nach 8.00 Uhr.

»Nein, trotz allem guten Vorsatz bin ich schon eine Weile auf. Was gibt es so früh?«

»Tut mir leid, aber«, Saskia zögerte, »ich denke, du solltest herkommen, hier braut sich etwas zusammen.«

»Was meinst du? Werde ich heute schon Partner?«

»Latika, im Ernst, ich kann nicht lange sprechen. Es sieht nicht gut aus, es ist besser, du kommst. Sofort.« Bevor Latika etwas erwidern konnte, hatte Saskia aufgelegt.

Latika war unschlüssig. Saskia war ihr in den Jahren so etwas wie eine gute Freundin geworden und es machte Spaß, mit ihr zusammenzuarbeiten. Sobald sie Partner war, wollte sie ihr anbieten, ihre persönliche Assistentin zu werden. Saskia war lange genug in der Firma und wenn sie sagte, dass etwas nicht in Ordnung war, dann war etwas dran. Latika seufzte, auf jeden Fall war es sinnvoll hinzugehen.

»Super«, dachte sie, »mein erster ruhiger Tag seit drei Monaten und ich hatte vor auszuschlafen.« Eine halbe Stunde später war sie auf dem Weg ins Büro.

Es war ein verhexter Morgen, auch ihr Auto war wieder mal nicht da. Sie hatte es gestern Nacht im Parkverbot abgestellt, weil sie zu müde war, noch einen anderen Parkplatz zu suchen. Und es war wohl wieder mal abgeschleppt worden. Sie hatte keinen Nerv, sich auf die Suche zu machen, beschloss, das Problem auf später zu verschieben und mit der U-Bahn zu fahren.

2

›DAI‹ hatte sich am Potsdamer Platz, in der neuen Mitte Berlins und in der Nähe des Regierungsviertels, niedergelassen. Am Anfang wurden vom Berliner Büro aus vor allem Beratungsprojekte für Bundesministerien koordiniert, aber mit dem Wiedererwachen der Stadt Berlin kamen immer mehr Projekte für Wirtschaftsunternehmen hinzu.

Wie es sich für ein internationales Beratungsunternehmen gehörte, hatte ›DAI‹ sich in einem repräsentativen Büroturm mit viel Glas eingerichtet und die oberen drei Etagen vollständig angemietet. Ein ungeschriebenes Gesetz bei ›DAI‹ besagte, je höher die Etage mit dem eigenen Büro lag, desto weiter war man auch in der Hierarchie nach oben geklettert. Latika hatte, wie alle Junior-Berater, im 21. Stockwerk angefangen, heute stand ihr Schreibtisch im 22. und sie freute sich auf den 23. Stock. Diese oberste Etage war alleine den Partnern vorbehalten. Und neben allem anderen liebte es Latika, sich im obersten Stockwerk eines Gebäudes aufzuhalten und keinen zu haben, der ihr ›auf dem Kopf herumtrampelte‹. Auf dem Weg zum Fahrstuhl traf sie zwei Kollegen.

»Hi Latika, schon so früh auf den Beinen?«, fragte Max mit einem Lächeln. »Du kannst es nicht lassen, nicht? Nach deinem letzten Erfolg dachte ich, du machst mal ein paar Tage halblang, aber nein. Du willst unbedingt noch Europachefin werden, bevor du 30 bist, stimmts?«

Max lächelte immer noch. Es war einer der netten Kollegen und einer der wenigen, die sich über ihren Erfolg ehrlich freuten und ihn ihr gönnten. Max hatte drei Kinder und war nicht bereit, seiner Karriere alles unterzuordnen. Seine Familie kam für ihn an erster Stelle. Wenn ein Projekt zu stressig wurde, ließ er sich einfach nicht darauf ein und sah zu, dass er woanders unterkam. Mit 32 war er immer noch Junior-Berater, aber er schien kein Problem damit zu haben. Latika hatte ihn oft beneidet. Er war im Job weniger erfolgreich als sie, aber er wirkte glücklich und ausgeglichen. Neben Max fuhr Dominik im Fahrstuhl mit nach oben. Dominik hatte bisher kein Wort gesagt. Er vertrat die andere und weitaus größere Fraktion von Kollegen, die ihr ihren Erfolg neideten und die ihr sofort ein Messer in den Rücken rammen würden, wenn es sie selbst weiterbringen würde.

Beide Männer stiegen im 21. Stock aus und Latika fuhr alleine weiter in den 22. Saskia saß hinter dem Empfangs-tresen gegenüber den Fahrstühlen. Als sie Latika aussteigen sah, veränderte sich sofort ihr Gesichtsausdruck. »Ist das Panik, was ich da sehe?«, fragte sich Latika.

»Guten Morgen, Latika, du sollst gleich zu Frank Hochheim kommen.«

»Okay, ich mache mich auf den Weg zu ihm, ich gehe nur meine Tasche ablegen und einen Blick auf meine Mails werfen.« Latika ging zu ihrem Schreibtisch.

»Jetzt, Latika! Frank hat ausdrücklich sofort gesagt.«

Latika war verwundert stehen geblieben, sie registrierte ein Ziehen im Bauch, das untrügliche Zeichen, dass hier etwas nicht stimmte.

»Du meinst mit Tasche?«, fragte Latika, weil sie nicht wusste, was sie sonst fragen sollte.

Saskia nickte.

Die Sekretärin am Empfang im 23. Stock griff augenblicklich zum Telefonhörer, als Latika aus dem Fahrstuhl trat.

»Frau Bachmann ist gerade eingetroffen, Herr Hochheim«, hörte Latika sie sagen.

»Bitte gehen Sie gleich durch, Frau Bachmann, Herr Hochheim erwartet Sie schon.«

Latika, der das Ganze immer merkwürdiger vorkam, klopfte an und trat in das Büro des Deutschlandchefs von ›DAI‹.

Sie war etwas verwundert, nicht nur Frank zu sehen, sondern auch Uwe und Hilmar.

Das gesamte Führungstrio, dachte Latika. Uwe Grünwald war Büroleiter in Berlin und Hilmar Lessing der älteste Senior-Partner in Deutschland.

»Guten Morgen, Latika, schön, dass du gleich gekommen bist.«

Alle drei gaben ihr die Hand und begrüßten sie. Ihr fiel sofort auf, wie kalt und unpersönlich die Stimmung war. Die Situation verunsicherte sie. Es war keine zwölf Stunden her, da hatte sie mit allen dreien rumgealbert und auf ihren Projekterfolg angestoßen. Uwe und Hilmar hatten, schon etwas angetrunken, rumgeflachst, welches Zimmer Latika im 23. Stock bekommen sollte. Es waren zwei Räume jeweils gegenüber ihrer Büros frei, und beide wollten sie sich gegenüber sitzen haben, um regelmäßig einen Blick auf ihre Beine werfen zu können. Latika hatte schon lange aufgehört, solche ungefährlichen Blödheiten der Kollegen schlimm zu finden, und hatte beiden ihren Spaß gelassen.

Und jetzt standen sie ihr kalt und unerbittlich gegenüber.

»Ich will nicht lange herumreden, wir haben ein Problem mit deinem Auftrag bei der Deutschen Fahrzeug AG«, begann Frank das Gespräch.

»Hey, was soll das? Wir alle haben gestern die große Feier gehabt und gemeinsam auf den Erfolg angestoßen.«

»Bitte unterbrich mich nicht, Latika«, fiel Frank ihr rüde ins Wort.

Latika verstummte sofort. Sie konnte sich nicht erinnern, dass Frank jemals in diesem Ton mit ihr gesprochen hatte.

»Deine Stundenabrechnungen stimmen nicht, du hast mehr Stunden abgerechnet, als du gearbeitet hast.«

»Was? Und deshalb macht ihr solche Gesichter? Wenn es Unstimmigkeiten zwischen meiner Stundenaufstellung und der Rechnung gibt, klären wir das auf, es war ein stressiges Projekt, natürlich kann …«

»Wir glauben nicht, dass es ein Versehen war«, fiel ihr Frank erneut ins Wort.

Und dann änderte er augenblicklich seine Stimme und wurde versöhnlich.

»Du hast recht, bestimmt lässt sich das aufklären, aber wir müssen hier etwas aufpassen. Die Deutsche Fahrzeug AG ist ein wichtiger Kunde, ein sehr wichtiger. Wir können uns da nichts erlauben. Es ist bestimmt nicht schlecht, wenn du dir erst mal ein paar Tage freinimmst, bis wir das alles auf die Reihe gebracht haben. Du hast dir nach den letzten Monaten durchaus einige freie Tage verdient.«

Sie kannte diese Taktik von Frank gut. Er hatte Kreide gefressen, wollte sie beruhigen und in Sicherheit wiegen. Tatsächlich hatte er jedoch etwas ganz anderes im Hinterkopf. Während einiger Konfliktsituationen in Projekten hatte sie ihn schon öfter mal so erlebt. Mit Erschrecken wurde ihr klar: Frank wollte ihren Kopf.

»Was soll das heißen: ein paar Tage freinehmen? Warum sagst du mir nicht, um was es konkret geht, und ich kläre es sofort auf?«

»Nun, wie du willst, Latika.« Frank holte ein Papier aus seinem Schreibtisch. »Du bist ab sofort freigestellt und hast Hausverbot.« Er überreichte ihr das Papier.

Latika verstand die Welt nicht mehr.

»Sag mal, spinnst du jetzt völlig?«, platzte sie heraus.

»Also die ganz harte Tour? Wie du willst.«

Frank griff zum Telefon. »Bitte schicken Sie die Herren jetzt herein.« Fast augenblicklich kamen zwei Männer vom Wachschutz in den Raum.

»Du kannst deine persönlichen Sachen aus deiner Schreibtischschublade mitnehmen, und dann verlass bitte unverzüglich unsere Räume«, sagte Uwe und nickte in Richtung der beiden Männer.

»Deine Zugangskarte und deinen Firmenausweis händige bitte auch den beiden Herren aus.«

Latika war schwindelig und sie brachte kein Wort heraus. Sie blickte hilfesuchend Uwe an, der sie aber ebenfalls nur kalt anstarrte, lediglich Hilmar schien peinlich berührt zu sein, denn er wich ihrem Blick aus und sah demonstrativ nach unten.

»Hilmar, das hier ist nicht fair«, sprach sie ihn direkt an.

Hilmar schwieg und vermied weiterhin jeden Blickkontakt.

»Kommen Sie«, sagte einer der Wachmänner und schob sie am Ellbogen leicht zur Tür.

Latika ging, an beiden Seiten von den Wachmänner eskortiert, zum Fahrstuhl. Ein Kollege, den Latika nur entfernt kannte, kam ihnen entgegen und machte sofort Platz. Die beiden Männer waren über 1,90 und überragten die junge Frau. Sie stiegen in den Fahrstuhl und fuhren in den 22. Stock. Latikas Schreibtisch war in der hintersten Ecke eines Großraumbüros. Genau vor dem Eckfester. Auch hier gab es ungeschriebene Gesetze, je näher am Fenster der eigene Schreibtisch stand, desto weiter oben war man angekommen. Latika hatte den besten Platz im Raum, hiernach kam normalerweise der Aufstieg in den 23. Stock. Das Büro war schon voll, es waren bestimmt ein Dutzend Kollegen im Raum, als sie zu ihrem Schreibtisch eskortiert wurde. Die Gespräche verstummten augenblicklich und alle Blicke gingen in ihre Richtung. Sobald sie jedoch jemanden ansah, schauten alle weg. Sie hatte das Ganze schon zwei Mal miterleben müssen, allerdings bisher nur als Zuschauerin. Das übliche Verfahren mit Kollegen, die in Ungnade gefallen waren. Man wählte diesen Weg, um Schaden von der Firma abzuwenden, und vor allem um zu verhindern, dass der Geschasste noch Informationen mitnehmen oder sonstigen Schaden anrichten konnte. Eine Überrumplungstaktik, noch bevor jemand den Rauswurf ahnen konnte, Hausverbot und Eskorte durch die Wachleute. Es war Latika immer schon wie eine öffentliche Hinrichtung vorgekommen. Und heute war sie selbst das Opfer. Es war totenstill im Raum und keiner rührte sich. Sobald sie aus dem Büro war, würden sich alle ans Telefon hängen und Mails verfassen. Der Flurfunk funktionierte in solchen Situationen hervorragend und in Windeseile würde jeder im Unternehmen wissen, dass Latika Bachmann heute gegangen worden war. Einige vermuteten, dass das Ganze genau so beabsichtigt war. Jedenfalls war es sicher, dass kein ehemaliger Kollege mehr mit ihr sprechen oder sich gar mit ihr treffen wollte. Sie war gerade dabei, zu jemandem zu werden, von dem man sich fernhielt, wenn man bei ›DAI‹ noch Karriere machen wollte. Und das wollten alle. Die meisten Kollegen würden es mit Schadenfreude aufnehmen, einige mit Dankbarkeit, dass es diesmal nicht sie selbst getroffen hatte, und nur die wenigsten würden es vielleicht bedauern. So waren eben die Spielregeln, die Latika nur allzu gut kannte.

Sie waren jetzt an ihrem Schreibtisch angekommen.

Latika griff instinktiv nach ihrem Laptop. Der Wachmann legt seine riesige Hand auf das Gerät.

»Nee, nur Ihre eigenen Sachen.«

Latika zog die Augenbrauen hoch und wollte nach ihrem Notizbuch greifen, aber wieder kam die fette Hand ihr zuvor.

Latika hatte genug und langsam kam sie wieder zu sich.

»Hör zu, du Muskelpaket mit Spatzenhirn, das ist mein Buch und ich werde es mitnehmen, klar?«

»Wirst du nicht, Schätzchen.«

Dieses Arschloch. Bis vor kurzem hatte er ihr noch die Tür aufgehalten und dabei automatisch eine kleine Verbeugung gemacht. Und jetzt sprach er sie mit ›Schätzchen‹ an. Sie hatte das Arschloch mal dabei erwischt, wie er sie von hinten anstarrte, als sie nachts am Kopierer stand. Er hatte sich damals hundertmal entschuldigt und etwas von Problemen zu Hause gefaselt. Er hatte ihr versprochen, dass es nie wieder vorkommen würde und sie es bitte einfach vergessen sollte. Sie hatte es dann auf sich beruhen lassen. Das war wohl eindeutig ein Fehler gewesen.

»Hör zu, Schätzchen, es ist besser, du gehst jetzt oder soll ich dich raustragen?«

»Wage es nicht noch mal, mich mit Schätzchen anzureden, Spatzenhirn.«

»Oder wat?«

»Komm, lassen Sie es gut sein«, mischte sich sein Kollege ein.

»Es ist für uns alle besser, wenn Sie jetzt einfach gehen, Frau Bachmann. Wenn hier noch persönliche Sachen von Ihnen sind, wird das Sekretariat dafür sorgen, dass es Ihnen zugeschickt wird.«

Latika sah den Mann dankbar an, denn sie war gerade dabei, ihre Fassung zu verlieren. Nicht alle Muskelmänner sind Arschlöcher, dachte sie.

»Sie haben recht, bringen wir es hinter uns, lassen Sie uns gehen.«

Die Eskorte brachte sie zurück zum Fahrstuhl. Am Tresen vor den Aufzügen wartete eine große Kiste mit Büchern, obenauf lag ihre private Kaffeetasse.

»Das haben wir aus dem Projektraum«, sagte Saskia mit hochrotem Kopf, »alles persönliche Bücher von dir und so.«

Latika hatte es fast vergessen, bei größeren Projekten gab es immer einen eigenen Raum für das Projektteam. Als Projektleiterin hatte sie viel von ihren Sachen in den Raum verlegt. Saskia drückte ihr die Kiste in die Arme.

»Eine Anweisung von Herrn Hochheim«, sagte Saskia in Richtung des fragend dreinschauenden Wachmanns und dann leise zu Latika: »Ich rufe dich heute Abend an, es tut mir so leid.«

Sie fuhren nach unten, der nette Muskelprotz fragte, ob er die Kiste tragen soll, aber Latika lehnte trotzig ab.

Am Empfang im Erdgeschoss gab sie ihre Kennkarte und den Firmenausweis ab, die Männer begleiteten sie bis zur Drehtür.

Und dann stand sie plötzlich im hellen Sonnenlicht vor dem Gebäude auf der Straße. Sie ging bis zu einer Beton-Blumenschale am Straßenrand, stellte die Kiste ab und setzte sich.

Sie war kurz davor zu heulen.

»Reiß dich zusammen«, sagte sie zu sich selbst, »den Gefallen tust du denen nicht. Niemals!«

Keiner sollte sehen, wie sie hier heulend auf der Straße zusammenbrach. Sie wollte nur noch nach Hause, dann würde sie weitersehen.

3

Mit der blöden Kiste konnte sie schlecht die U-Bahn nehmen, also stand sie auf und wartete einige Minuten am Straßenrand, bis sie ein Taxi heranwinken konnte.

Das Taxi hielt direkt neben ihr am Bordstein. Sie nahm den Karton, der Fahrer öffnete den Kofferraum.

»Hallo, so trifft man sich wieder.«

Sie blickte auf, bisher hatte sie den Mann nicht wirklich wahrgenommen

»Nein, das nicht auch noch. Heute bleibt mir wirklich nichts erspart. Von allen Taxis Berlins muss jetzt der hier vorbeifahren. Aber was soll es, die paar Meter bis zu mir nach Hause wirds gehen.«

Sie ließ den Fahrer demonstrativ am offenen Kofferraum stehen, öffnete mit einer Hand umständlich die hintere Tür, warf den Karton auf die Rücksitzbank und setzte sich selbst nach vorne auf den Beifahrersitz.

Der Fahrer war etwas verdutzt, schloss dann aber den Kofferraum und stieg ins Auto.

»Ich will nach Hause, meinst du, du findest den Weg?«

»Ich denke schon, werde mich zumindest bemühen.«

Ausgerechnet ihr verhasster Nachbar musste dieses Taxi fahren. Heute war definitiv der schwärzeste Tag ihres Lebens.

Vor knapp einem Jahr war Latika in ihre neue Wohnung eingezogen, kurz danach hatte sie sich mit ihrem Nachbarn Julian Reichenbach verkracht. Sie war gerade zwei Tage im Haus, als sie hörte, wie sich der Idiot, der jetzt neben ihr das Taxi fuhr, mit Frau Wöhnlich im Treppenhaus unterhielt. Die alte Dame wohnte im Hochparterre. Latika hatte sich während des Einzugs vorgestellt. Sie hatte ein wenig Smalltalk gemacht und dabei gefragt, wie lange sie denn schon hier in diesem Haus wohne. Die 94-Jährige hatte entrüstet entgegnet, dass sie in der Wohnung geboren sei! Einen Tag später, sie kam gerade die Treppe herunter, sah sie ihren Nachbarn an der Wohnungstür von Frau Wöhnlich stehen.

»Wissen Sie, Herr Reichenbach, mein Wasserhahn in der Küche ist seit drei Wochen defekt, ich habe schon zweimal bei der Hausverwaltung angerufen, aber die rühren sich einfach nicht.«

»Tja, daran werden wir uns wohl gewöhnen müssen, uns will man hier als Mieter nicht mehr haben. Man will uns nur noch loswerden, danach wird modernisiert und die Wohnungen dreimal so teuer weitervermietet oder sogar verkauft. Das ausgebaute Dachgeschoss ist da erst der Anfang, wir haben sechs Monate den Lärm und den Dreck aushalten müssen und jetzt diese Yuppie-Zicke in ihrer 180-Quadratmeter-Luxuswohnung im Haus.«

Genau in diesem Moment stand Latika neben ihm.

»Ich gehe mal davon aus, mit Yuppie-Zicke meinen Sie mich, oder?«

Julian fuhr erschreckt rum und wurde sofort hochrot.

»Sorry, ich wusste nicht, dass Sie zuhören.«

»Klar dachten Sie das nicht, da Sie immer warten, bis der weg ist, den Sie mit Dreck beschmeißen wollen. Ich dachte, solche dusseligen Kampfparolen wären schon vor Jahrzehnten aus der Mode gekommen. Dämlicher Sprücheklopfer! – Haben Sie eine Rohrzange, Frau Wöhnlich? Während der Loser hier Sprüche klopft, sehe ich mir Ihren Wasserhahn gerne mal an.«

Das Problem ließ sich dann schneller lösen als gedacht, Latika stand nach wenigen Minuten wieder im Hausflur und die Nachbarin war tief beeindruckt.

»Ach ihr jungen Mädchen heute, was ihr alles könnt, und ich hätte mich nie getraut, mit so einem kurzen Rock auf die Straße zu gehen.« Frau Wöhnlich warf einen Blick auf Latikas Beine und ging kichernd zurück in ihre Wohnung.

Julian stand noch im Hausflur und versuchte etwas zu sagen, aber Latika ließ ihn einfach stehen. Von diesem Tag an bekam sie regelmäßig selbstgebackenen Kuchen. Aber Latika und Julian grüßten sich nicht mal mehr.

Sobald sich das Taxi in Bewegung gesetzt hatte, fühlte Latika sich etwas besser, bloß weg von hier.

»Du siehst ziemlich fertig aus, alles okay?«

»Also, ich bin eben gefeuert worden, durfte mich von zwei Gorillas aus dem Büro schmeißen lassen, das erste Taxi, das vorbeikommt, um mich und meine Habseligkeiten wegzubringen, wird von dem einzigen Taxifahrer in Berlin gesteuert, mit dem ich nicht fahren will. Und jetzt frage mich bitte noch einmal, ob alles okay ist.«

»Es tut mir leid.«

»Es tut dir leid, dass ich gefeuert wurde oder dass du das Taxi fährst?«

»Beides, aber ich meine eigentlich das damals im Hausflur. Das wollte ich dir schon lange mal sagen. Du hast mir nur nie eine Chance gegeben.«

»Oh Mann, lass es gut sein. Wirklich, mir reicht es für heute.«

Sie standen an einer roten Ampel, als sie bemerkte, dass ihr Tränen die Wangen runterliefen. Sie konnte im Spiegel sehen, dass er sie beobachtete.

»Vorhin, auf der Straße, habe ich da auch schon geheult?«

Er schüttelte den Kopf.

»Die erste gute Nachricht heute.«

»Kann ich etwas tun?«

»Bring mich nur nach Hause und lass mich einfach in Ruhe.«

Sie fuhren schweigend bis vor die Haustür.

Er bot noch an, ihr die Kiste nach oben zu tragen, aber sie winkte nur müde ab.

Erst als sie im zweiten Stock angekommen war, fiel ihr auf, dass sie vergessen hatte zu zahlen. Sie fluchte und ging wieder nach unten, aber das Taxi war schon weg.

4

Endlich in ihrer Wohnung fühlte sie sich einigermaßen sicher. Sie warf die Kiste in die Ecke, zog sich bequeme Sachen an und machte sich einen Tee. Aber bevor das Wasser kochte, war sie vor dem Küchenschrank zusammengesunken und heulte hemmungslos.

Irgendwann war sie einfach ins Bett gegangen und hatte bis zum Nachmittag geschlafen. Sie war wieder einmal dankbar dafür, dass sie praktisch in jeder Situation einschlafen konnte, und ausgeschlafen sah die Welt auch gleich etwas besser aus.

Es musste ein Missverständnis sein, das sich bald aufklären wird, versuchte sie sich selbst zu beruhigen. Aber dann fielen ihr wieder die harten Gesichter von Frank und Uwe ein. Das Ganze machte einfach keinen Sinn. Die Begründung für ihren Rauswurf war schlicht und einfach Blödsinn. Und dann wurde ihr plötzlich alles klar. Natürlich war die Begründung nur vorgeschoben, es war auch kein Missverständnis, man wollte sie schlicht und einfach loswerden. Sie war zu schnell zu weit nach oben gekommen. Ihr Aufstieg war zu problemlos verlaufen, das musste früher oder später passieren. Sie hatte keine Ahnung, was sie jetzt tun sollte, aber auf das Aufklären eines Missverständnisses zu warten war naiv. ›DAI‹ war Vergangenheit. Je eher sie das akzeptierte, desto besser.

Sie überlegte lange, wen sie anrufen könnte, aber es fiel ihr niemand ein. Alle, mit denen sie in der letzten Zeit Kontakt hatte, hatten etwas mit ›DAI‹ zu tun. Und einen ehemaligen Kollegen konnte und wollte sie nicht anrufen. Nach dem Rauswurf von heute würden sie sie alle meiden wie die Pest, aus Angst, selbst auch noch in die Schusslinie zu geraten. Alle ihre anderen Freunde hatte sie in letzter Zeit ziemlich vernachlässigt. Einer der Tribute an den Job. Jetzt jemanden anzurufen, bei dem sie sich seit langem nicht mehr gemeldet hatte, nur um ihre Probleme erträglicher zu machen, erschien ihr nicht in Ordnung. Sie dachte an ihren Vater, aber sie hatte sich die letzten Monate auch bei ihm kaum gemeldet, ihn jetzt anzurufen, nur um sich auszuheulen, kam ihr ebenfalls nicht fair vor. Außerdem war sie achtundzwanzig Jahre alt und erwachsen. Ansonsten fiel ihr niemand mehr ein und sie kam sich alleine vor.

Die Türklingel riss sie aus ihren Gedanken.

Als Latika ihr die Tür öffnete, erschrak Saskia. Latika sah schrecklich aus, verheult und mit verlaufenem Make-up.

»Saskia, danke, dass du vorbeigekommen bist. Komm rein.« Latika nahm die junge Frau in die Arme und schob sie in die Wohnung.

»Ich wollte sehen, wie es dir geht, du siehst ziemlich fertig aus.«

»Es geht schon wieder. Willst du einen Kaffee?«

»Mach dir keine Umstände.«

»Sind keine Umstände, ich brauche auch einen, einen starken. Verstehst du, was das Ganze sollte?«

»Genau das frage ich mich auch schon den ganzen Tag und ich habe nicht die leiseste Ahnung, ehrlich. Ich habe heute Morgen einen Tipp von oben bekommen, dass sich was über dir zusammenbraut, und dich gleich angerufen. Ansonsten sind keine Gerüchte bei mir angekommen. Normalerweise höre ich ja alles, was bei uns so los ist. Aber was dich angeht, keine Gerüchte, nichts über den Flurfunk. Nachdem du heute draußen warst, gab es eine mehr oder weniger offizielle Stellungnahme von Frank Hochheim. Angeblich hast du bei den Stundenabrechnungen beschissen und wir hätten deshalb fast die Deutsche Fahrzeug AG als Mandanten verloren.«

»Das mit den Stundenabrechnungen ist natürlich nur vorgeschoben. Ich denke, die wollten mich einfach loswerden, weil ich zu erfolgreich war.«

»Kann gut sein. Du kennst den Laden ja, und dass du als Frau die jüngste Partnerin wirst, hat bestimmt viele gewurmt. Dabei hätte ich dir das so gegönnt.«

»Bleibt die Frage, warum so plötzlich und ohne jede Ankündigung? So richtig Sinn macht es für mich immer noch nicht.«

»Für mich auch nicht, aber einiges, was bei ›DAI‹ passiert, macht keinen Sinn. Aber sag mal, du hättest mich doch mit in den 23. Stock genommen, oder?«, lachte Saskia, um das Thema zu wechseln.

»Unbedingt, das war einer der Gründe, warum ich unbedingt Partner werden wollte.«

Sie saßen eine Weile schweigend beim Kaffee.

»Latika, ich lass dich ungern alleine, aber ich muss meine Kleine aus der Kita abholen, wollen wir nachher telefonieren?«

»Mach dir keine Gedanken, Saskia, gehe zu deinem Sonnenschein und lass uns in den nächsten Tagen telefonieren. Ich muss das alles erst mal verdauen. Aber mach dir keine Gedanken, zerbrechen werde ich daran bestimmt nicht. Es ist wirklich nett, dass du vorbeigekommen bist.«

Latika begleitete Saskia nach draußen. Als sie die Tür öffnete, stand plötzlich ihr Nachbar Julian Reichenbach davor und Latika war einen Moment genauso verwundert wie er.

»Ich wollte gerade klingeln.«

»Ich habe das Taxi nicht bezahlt!«

»Oh, Julian, ich wusste gar nicht, dass ihr beide euch kennt?«, rief Saskia freudig aus.

»Wir kennen uns nicht, sondern wir wohnen nur beide in diesem Haus«, widersprach Latika. »Und woher kennt ihr euch?«

»Du wohnst hier? Stark, Julian macht das Puppentheater, meine Kleine und mit ihr die ganze Kita sind hin und weg. Ich weiß gar nicht mehr, wie oft ich schon in deinen Vorstellungen war, Julian. Aber genug gequatscht, ich muss wirklich los. Freut mich, dich getroffen zu haben, wir werden am Sonntag mal wieder vorbeikommen.«

Nachdem Saskia weg war, stand Latika unschlüssig im Türrahmen. Plötzlich fiel ihr auf, dass sie nur ein T-Shirt anhatte, und sie stellte sich etwas hinter die geöffnete Tür.

»Ich hol dir das Geld!«

»Nein, lass gut sein. Wollte dir zwei Karten geben, für die Vorstellung heute Abend.«

»Du gibst mir Karten für eine Kindervorstellung?«

»Ich dachte nur, es bringt dich vielleicht auf andere Gedanken.«

Latika stand noch eine Weile mit den Karten in der Hand an der Tür, nachdem Julian schon gegangen war.

»Was für ein komischer Tag heute, träume ich oder was?«

Und sie musste lachen, das erste Mal an diesem Tag.

Statt Partnerschaft in einer der Topberatungen hatte sie nun zwei Freikarten für ein Puppentheater. Das Leben ist komisch, dachte Latika, aber Selbstmitleid hilft auch nicht. Nehmen wir das Leben eben so, wie es kommt, gehen wir heute also ins Kindertheater.

5

Die ›Eierpampe‹ lag im Hinterhof eines alten Berliner Mietshauses, die ehemalige Remise war zu einem Puppentheater umgebaut worden. Als Latika eintraf, war der Hinterhof bereits voll mit kreischenden Kindern. Das Café aus dem Vorderhaus hatte einen Stand aufgebaut und bot heiße Getränke und Snacks an. Latika kam sich ziemlich fehl am Platz vor und bereute schon die blödsinnige Idee, sich heute ausgerechnet ein Kinderstück anzusehen. Anderseits war hier das tobende Leben – eine gute Abwechslung, und sie beschloss ein wenig zu bleiben. Sie würde sich aus Höflichkeit die erste halbe Stunde Puppentheater reinziehen und dann etwas essen gehen.

»Die Kids sind immer schrecklich aufgeregt vor der Vorstellung.«

Das sagte eine junge Frau, die versuchte alle Kinder einzusammeln und in den Vorstellungsraum zu treiben, was seine Zeit dauerte.

Latika setzte sich in die letzte Reihe und fragte sich zum wiederholten Mal, was sie hier eigentlich zu suchen hatte.

Die Vorstellung schien eine Art von Hänsel und Gretel zu sein, wobei das Ganze auf einer Marskolonie spielte. Es gab eigenartige Wesen mit fünf Armen und Puschelohren, böse Außerirdische, gute Sternenprinzessinnen und kreischende Kinder. Nach zehn Minuten hatte sie ihren Vorsatz, früh zu gehen, vergessen. Julian war verrückt, definitiv verrückt, dachte sie, aber das Ganze hatte wirklich Unterhaltungswert.

Als im letzten Akt das fünfarmige Wesen mit den Puschelohren bei dem Versuch, Gretels Vater aus der Gewalt eines bösen Astronauten zu befreien, starb, weinten die meisten Kinder bittere Tränen, und Latika merkte, wie ihre Augen feucht wurden. Gut so, dachte sie, ein wenig heulen hilft beim Verarbeiten. Kurz darauf freute sie sich und lachte zusammen mit den Kindern, als Gretel endlich ihren Vater wiederfand.

Am Ende der Vorstellung stand sie im hellen Sonnenschein und wusste nicht so recht, was ihr gerade passiert war.

Sie fand einen Tisch im Café im Vorderhaus vor dem Theater und setzte sich.

»Sie sehen etwas verwirrt aus, ging mir auch so nach der erste Vorstellung«, bemerkte die Bedienung, die plötzlich vor ihr stand. »Julian ist verrückt, wenn Sie mich fragen. Aber die Vorstellungen sind einmalig.«

Latika bestellte ein Bier.

Zumindest habe ich eine Stunde lang nicht an den Scheiß gedacht, dachte Latika, das Leben fing wieder an, ein wenig besser auszusehen. Sie suchte ihr Handy und rief ihren Vater an.

»Papa, ich bin heute gefeuert worden«, hörte sie sich sagen.

»Ich weiß, Latika, ich habe mir ziemliche Sorgen gemacht. Aber ich dachte mir, du meldest dich, wenn du mich brauchst.«

»Du weißt es?«, fiel sie ihm ins Wort.

»Sundarrajan hat mich angerufen.«

Die alte Indien-Connection, dachte Latika, Sundarrajan war der Europa-Chef von ›DAI‹ in London.

»Dann weißt du wahrscheinlich schon mehr als ich. Außer ein paar vorgeschobenen Gründen hab ich keine Ahnung, warum.«

»Sundarrajan wusste auch nichts, aber die Gesellschaften in den einzelnen Ländern sind bei ›DAI‹ja ziemlich selbständig. Ich bin mir sicher, er könnte es rausbekommen. Wenn du möchtest, bitte ich ihn, sich darum zu kümmern.«

»Papa, du weißt, dass ich nicht will, dass du deine Kontakte für mich nutzt. Und für Sundarrajan wäre es auch nicht gut, wenn er Persönliches und Business durcheinanderbringt.«

»Das habe ich ihm auch schon gesagt. Ich dachte mir, dass du so reagieren würdest. Und wahrscheinlich hast du damit auch völlig recht. Wie auch immer, kann dein alter Vater was für dich tun? Und was sind das für Kinder im Hintergrund, bist du auf einem Spielplatz?«

»Fast, ich bin in einem Puppentheater, namens ›Eierpampe‹.«

»In einem Puppentheater? Ist wirklich alles okay mit dir?«

»Ich fühle mich ziemlich alleine. Hast du Zeit, mich heute Abend zum Essen einzuladen, Papa?«

»Immer, das weißt du. Wir haben allerdings heute unser jährliches Sommerfest, ich muss mich da zumindest kurz sehen lassen. Was hältst du davon, wenn wir uns dort treffen und dann gemeinsam sehen, wie wir wegkommen?«

Natürlich, das Sommerfest, bisher hatte sie jedes Jahr ihrem Vater mit seinem Stand geholfen und dabei durchaus auch Spaß gehabt. Diesmal hatte sie es einfach vergessen. Sie verabredeten sich auf dem Sommerfest und Latika hatte ein ziemlich schlechtes Gewissen.

»Hallo, hat es dir ein wenig gefallen?«, fragte Julian, der plötzlich vor ihrem Tisch aufgetaucht war.

Latika lachte ihn an: »Ich weiß noch nicht, aber setz dich doch. Ich lade dich zum Bier ein. Ich schulde dir ja auch noch etwas für die Karten.«

»Schon okay, wenn du mir wegen der Yuppie-Zicke verzeihst, sind wir beide quitt.«

»Na ja, ich denke darüber nach. Wir beide hatten wohl keinen guten Start. Aber erzähle mir lieber, wo du das Puppenspielen gelernt hast.«