U-Turn - Irgendwann kommt jeder an - Jo Schuttwolf - E-Book

U-Turn - Irgendwann kommt jeder an E-Book

Jo Schuttwolf

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Beschreibung

Was wäre, wenn was wäre, wenn das Leben plötzlich aus den Fugen gerät? Wenn eine alltägliche Einkaufsfahrt mit dem Vespa-Roller zu einem turbulenten Roadrip nach Andalusien wird? Das ist die Geschichte von Tom. Dann ist da noch Andy, der sexbesessene Werbetexter, und Juana, die spanische Biologiestudentin. Alle drei werden gehörig vom Schicksal herausgefordert. Und am Ende treffen sie in der Wüste von Tabernas aufeinander. Dort naht die Katastrophe aber wie so oft im Leben kann man das auch ganz anders sehen.

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20. Le Secret de St. Paul
21. Schatten
22. Another Story
23. Jetzt oder nie
24. Time for Take Off
25. An einem Meer von weißen Tupfern
26. Die Bouillabaisse
27. Hippie-Liebe
28. Die Toccata und der Apache
29. Die Haarnadel
30. Ein Berg Autoreifen
31. Zeit für einen Burger und eine kalte Cola
32. Der Druckkessel und die Tussie
33. And Action
34. Good to be Home
35. Chaka-ooo
36. Anette – Flashback –
Jo Schuttwolf

Jo Schuttwolf

U-TURN

Irgendwann

kommt jeder an!

Ein Roadtrip

Die Handlung und alle in diesem Buch auftretenden Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit noch lebenden oder bereits verstorbenen Menschen sind rein zufällig. Bezüge zu tatsächlichen, bedeutenden staats- oder weltpolitischen Ereignissen dienen lediglich der zeitlichen Einordnung der Handlung.

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die über die Grenzen des Urheberrechtsgesetzes hinausgeht, ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen sowie die Speicherung in elektronischen Systemen.

1. Auflage Überarbeitete Neuausgabe 2021 Copyright © 2019 by Jo Schuttwolf Copyright © dieser Ausgabe 2021 Early-Bird-Books, Hauptstraße 156, 68799 Reilingen. (Erstveröffentlichung im Südwestbuch Verlag, Waiblingen, Januar 2019, Originaltitel »U-Turn Welcome«) Titelgestaltung und Satz: CreativeCommunications, Reilingen. Titelbild: iStock by Getty Images ISBN (eBook) 978-3-98576-007-7

www.early-bird-books.de

1. Tom

Acht Tomaten, ein Bund Petersilie, zehn Bio-Eier, zwei große Joghurt natur und drei Lagen Ardennenschinken. So stand es auf dem kleinen gelben Zettel. Thomas guckte aus dem Fenster in einen grauen Morgenhimmel. Der Kaffee war lauwarm. Anette war schon seit sieben aus dem Haus und hatte ihm den Rest in die Thermoskanne geschüttet. Ja, und er? Er stand jeden Morgen gegen neun Uhr auf. Seit er von seiner Firma vor knapp einem Jahr entlassen wurde, hatte er jede Menge Zeit. Er dachte viel nach, trank ebenso viel Kaffee und erledigte all die Sachen, die Anette ihm aufschrieb. Sie war viel weg. War vor Kurzem zu einer Top-Agentin in einem Immobilienbüro aufgestiegen. Sie war etwas! Thomas wusste nicht genau, ob er dies bewunderte oder hasste, wahrscheinlich beides. Früher unternahmen sie viel zusammen, heute gingen sie meist getrennte Wege. Sie hatte ihre Kollegen und er den Haushalt. Sex gab es schon lange nicht mehr. Thomas hatte unruhig geschlafen und irgendetwas von Bea geträumt. Es war ein unheimlicher Traum, aber er wusste nichts Konkretes mehr. Er steckte Anettes gelben Einkaufszettel in die Hosentasche und machte sich langsam auf den Weg, wie fast jeden Vormittag. Diesmal wollte er einen kleinen Ausflug daraus machen. Von Mannheim bis Schifferstadt war es gar nicht so weit. Ungefähr fünfundzwanzig Kilometer mit der Vespa. Da konnte er an der B9 entlangfahren und in Schifferstadt gab es diesen besonders großen Mediamarkt. Der neue 42-Zoll-FullHD-Fernseher von Toshiba – ja, das wär´ doch mal was. Und er brauchte die vierte Staffel von »Broadway Hights«. Überhaupt TV-Serien … sie waren in letzter Zeit seine engsten Freunde geworden, faszinierende Welten, in die er eintauchte. Thomas steckte siebenhundert Euro ein, falls er sich doch mal so ein Gerät gönnen wollte. Es war sein eigenes Geld, das er gespart hatte und das nicht Anette gehörte. Nachdem seine Abfindung aufgebraucht war, lebten sie beide quasi von ihrem Einkommen. Das ließ sie ihn auch manchmal indirekt, aber doch deutlich spüren. Thomas startete seine alte, dunkelgrüne Fünfziger-Vespa, Baujahr 1986, eine Erinnerung an seine Jugendzeit. Sie fuhr noch einwandfrei, wenn auch ziemlich laut.

Der Wind rauschte in seinem Helm und die Felder mit dem hellen Grün links und rechts der B9 glitten an ihm vorbei. Er war in Bewegung, er fühlte sich gut. Beim Fahren dachte er oft über vieles nach. Wäre seine Ehe glücklicher geworden, wenn sie Kinder gehabt hätten? Aber Anette wollte keine, wollte es zu etwas bringen, wie sie sagte. Und er? Er sagte dazu nichts und fügte sich. Als er an einem alten VW-Bus vorbeifuhr, musste er wieder an Bea denken. Bea, seine ältere Schwester, war nach dem Tod der Eltern auf und davon mit so einem Bus. Sie hatte sich noch nicht mal verabschiedet von ihm. Der heftige Streit um das Erbe hatte sie beide zu Fremden werden lassen. Dabei ging es nur um dieses verdammte, runtergekommene Ferienhaus seiner Eltern in Südspanien, das er sowieso bloß als Belastung empfand. Aber die fünfunddreißigtausend Mark, die Bea ihm damals für die Hälfte geben wollte, waren einfach lächerlich. Sie hatten sich dann letztendlich auf achtunddreißigtausend geeinigt. Er hatte davon Anette einen schicken Sportwagen gekauft, aber seine Schwester seitdem nie mehr gesehen. Beas chaotische Art, mit dem Leben umzugehen konnte ihn früher echt wahnsinnig machen. Sie war künstlerisch sehr begabt, der Star der Familie, und so benahm sie sich auch. Ihm wurde dadurch sehr früh klar, dass seine Stärke woanders liegen musste. Aber wo … das hatte er nie so richtig herausbekommen. Er spielte zwar ziemlich gut Keyboard und unterstützte den Organisten in der Gemeinde, aber das war letztlich der Wunsch seiner Eltern. Thomas setzte auf Sicherheit. Eine Banklehre, eine solide Festanstellung und eine solide Frau, nicht so wie Bea. Dass dieser Weg der Sicherheit ihn letztlich doch in Arbeitslosigkeit brachte, dafür konnte er nun wirklich nichts.

Die Sonne kam langsam hinter der sich immer mehr zurückziehenden Wolkendecke hervor und brachte die Wildblumen auf den Feldern zum Leuchten. Für Anfang Juni war es schon sehr warm. Seine Vespa knatterte und jaulte wie ein kleiner Hund – als würde auch ihr der spontane Ausflug gefallen. Jetzt fiel ihm plötzlich ein, dass dieses fast antike Motorrad ursprünglich mal seiner Schwester gehörte. Aber sie kam früher nie mit der Kupplung klar und dann fuhr er damit – bis heute.

Die Landstraße wurde langsam etwas belebter. Es war nicht mehr sehr weit bis Schifferstadt. Vielleicht noch acht Kilometer. Er freute sich auf den Zweiundvierzigzöller. Immer mehr wurde ihm klar, dass er das Teil unbedingt wollte. Es wartete auf ihn.

Als er nach weiteren zwanzig Minuten Fahrt in das Industriegebiet einbog und das Mediamarkt-Logo erkannte, war es wie ein Schlag ins Gesicht: kein Auto auf dem Parkplatz, der Mediamarkt war geschlossen. »Wegen Umbaumaßnahmen geschlossen!«, las er schließlich an der Eingangstür. Bis wann stand da nicht. Thomas sah sich und seine Vespa in der Türscheibe. Im Hintergrund der große, leere Parkplatz. Die Sonne war nicht mehr da. Eigentlich wäre das ja alles nicht besonders schlimm gewesen, aber es fühlte sich in diesem Moment so an, als wäre er ganz alleine auf der Welt. Als stünde er plötzlich in einem grauen Nichts. Da fiel ihm der Traum von letzter Nacht ein: Er war klein, acht Jahre alt, und hörte jemanden schreien. Er hatte Angst und suchte seine Schwester in einem merkwürdigen weißen Nebeldunst, konnte sie aber nicht finden. Und dieses Gefühl hatte er jetzt wieder, es war die schreckliche Ohnmacht, nicht mehr weiter zu wissen. Irgendetwas ist doch nicht in Ordnung mit mir, dachte er, denn wer steht schon drei Minuten wie gelähmt vor dem geschlossenen Mediamarkt. TV-Geräte gab es schließlich überall.

Ihm wurde kalt, er musste unbedingt wieder in Bewegung kommen … oder bei diesem McDonald´s da um die Ecke einen heißen Kaffee trinken. Gute Idee. Mit jedem heißen Schluck kamen langsam die Lebensgeister wieder zurück in seinen Körper. Thomas sah nach draußen. Trostlos: diese Straßen, Bürohäuser und Großmärkte, nur Beton und Glas. Das konnte doch einfach nicht sein, dass er mit seinen fünfundvierzig so eine erbärmliche Figur geworden war. Dass das Highlight seines Lebens ein zweiundvierzig Zoll großer Bildschirm war und dass er ansonsten nur das tat, was Anette und der Alltag verlangten. Langsam stieg Wut in ihm hoch. Er hatte Lust, den Kaffeebecher einfach an die Wand zu werfen. Aber das wäre auch ziemlich erbärmlich. Er müsste mal etwas Unerhörtes anstellen, etwas selber entscheiden, etwas Großes! Er müsste einfach mal abhauen aus seinem bisherigen Leben. Einfach weg. Leck´ mich am Arsch!

Als er seinen Kaffee ausgetrunken hatte, wurde ihm klar, dass er weder Lust hatte, sich nach einem anderen Elektromarkt umzuschauen, noch nach Hause zu fahren. Etwas in ihm musste weiter, einfach weiterfahren, irgendwohin, wo es hell, lebendig und wärmer war. Beim Gedanken an Wärme fiel ihm Spanien ein, das Ferienhaus.

Die vielen schönen Momente ganz früher, mit seinen Eltern und seiner Schwester. Sie hatten einen Swimmingpool mit einer riesengroßen Rutsche, man konnte sogar auf der Luftmatratze darauf runterrutschen, einfach genial! Bea wohnte da wohl jetzt für immer, wie er von seinem Cousin Dirk vor einiger Zeit gehört hatte.

Thomas war schon aufgestanden, um das McDonald´s-Restaurant zu verlassen, aber er holte sich stattdessen einen zweiten Kaffee und setzte sich wieder.

Was wäre wenn? Er hatte Herzklopfen, denn er spürte, dass gerade etwas in ihm passierte. Was wäre, wenn er wirklich weiterführe? Wer wartete denn zu Hause auf ihn? Anette? Ja, aber sie brauchte ihn nicht. Wer brauchte ihn überhaupt? Vielleicht Bea, mit der er im Streit auseinandergegangen war? Wohl kaum. Vielleicht doch? Egal. Thomas holte sein Smartphone aus der Tasche und ging auf Google Maps. Also wenn er nach Spanien fahren würde, dann müsste er erst mal nur weiter die B9 runter. Nach Freiburg, dann irgendwie rechts an den Alpen vorbei Richtung Lyon und dann zur Küste. Nach Montpellier und über die Grenze, da immer nur am Meer entlang bis Almería. Verrückt. Mit der alten Vespa und siebenhundert Euro in bar. Er brauchte jetzt noch einen dritten Kaffee.

Also, wenn er das jetzt wirklich machen würde, ja dann müsste er … ja einfach nur losfahren. Er konnte nicht zurück nach Hause und das Ganze ordentlich planen und ein Flugticket buchen. Dann gäbe es endlose Diskussionen und er käme nie los. Er nahm einen großen Schluck Kaffee. Er merkte, dass er gerade eine Schwelle überschritten hatte, es ging jetzt alles nur nach vorne, nicht mehr zurück.

Thomas zog seine Jacke an und ging nach draußen zu seiner Vespa. Er hatte ein eigentümliches Gefühl im Magen, wie Flöhe in einem zu kleinen Raum. Er setzte seinen Helm auf, ließ den Motor an und fuhr los!

2. Andy

Staubiger Wüstenwind. Die Farm liegt mitten im Niemandsland, nur umrandet von den glatten Felsen eines Canyons im Osten. Es ist heiß. Ein Mann in Schwarz geht langsam und höchst konzentriert auf einen imaginären Punkt zu. Dann kommt das konzentrierte Gesicht eines zweiten Mannes ins Bild. Direkt vor die Kamera. Die Musik von Ennio Morricone entfaltet mit einem eindrucksvollen E-Gitarren-Schlag die schaurig schöne Schicksalsmelodie. Eine Hymne des Todes. Zwei Männer. Lauernde Augen in Großaufnahme. Sekunden zu einer ganzen Ewigkeit gedehnt. Die Vergangenheit wird lebendig. Jetzt erfahren wir, wer der Junge mit der Mundharmonika war und wer sein Peiniger. Schließlich der erlösende Schuss: Henry Fonda fällt auf die Knie, Claudia Cardinale zuckt hinter der Fenstergardine zusammen und Jason Robarts neben ihr hat sich gerade beim Rasieren geschnitten.

Andy drückte auf Pause und guckte mit glasigem Blick auf das Standbild seines Computerscreens. Regungslos. Bestimmt fünf Minuten. Dabei hatte er diese Szene, ja den ganzen Film, früher schon oft gesehen. Ja, das war es! So etwas bräuchte er jetzt. So eine Farm in genau dieser Gegend. Er hatte mal gehört, dass Filmcrews dort öfter drehten und die alten Westerngebäude und Requisiten nutzten. Er wollte es gerade googeln, als Nicole in sein Zimmer kam. Sie setzte sich mit ihrem knappen Rock direkt neben seinen Laptop und beugte sich zu ihm runter. »Hey Cowboy, lass uns raus, was essen gehen.« Ihre Stimme war betont rauchig.

Die Königsallee zeigte sich von ihrer besten Seite. Die Märzsonne hatte die letzten Dunstschwaden vertrieben und beschien nun die vielen schicken Menschen, meist Touristen. Düsseldorf, das war seine Stadt. Andy liebte diese Mischung aus Coolness, Style und Altbier. Nicole hatte sich bei ihm eingehakt, wie sie es immer tat, und redete nonstop über die neuen Werbe-Etats, wie sie es immer tat. So schlenderten sie an den Schaufenstern vorbei, bis sie ihr Bistro erreichten. Warum reden diese Frauen nur immer so viel? Er hatte keine Ahnung. Hörte Nicole aber gerne zu, weil sie zwischendurch immer so einen süßen Schmollmund machte. Sie hatte überhaupt einen tollen Mund, und er fragte sich, ob sie den Schmollmund gezielt einsetzte oder ob das automatisch so passierte. Das viele Reden ging ihm zwar manchmal auf die Nerven, aber eigentlich war es ja auch ein wahrer Segen, dass Frauen so ein großes Redebedürfnis hatten. Sein Job hing davon ab, das wurde ihm gerade jetzt bei Nicoles Geplapper klar. Wie sonst würde er herausbekommen, was Frauen wollen, was sie bewegt und wie folglich die richtige Werbeansprache sein musste. Das war sein Job. Er war Werbetexter und sein Weg ging gerade sehr steil bergauf. Mit einunddreißig Jahren war er vor zwei Wochen zum Creative Director ernannt worden. Er war einer der »Götter im Olymp«.

Nicole redete weiter auf ihn ein, während der Kellner die beiden Salate mit Filetstücken brachte.

»Hörst du mir überhaupt zu?« Nicole sah ihn misstrauisch an.

»Ja klar. Ich hör dir immer zu.«

»Was war das denn für ein Westernfilm, den

du da eben geguckt hast?«

»Ach nix ...«

»Oh, sag doch mal …« Nicole machte den schönsten Schmollmund seit Minuten.

»Ja ok, das hat mit Corman zu tun.«

»Corman Beans … diese Dosensuppe?«

»Ja.«

»Ein Werbespot mit Cowboys und Indianern?« Nicole fing an, langsam ironisch zu werden. Sie zog eine Augenbraue nach oben, nippte an ihrem Glas Apfelschorle und lächelte verschmitzt, sagte aber nichts mehr. Gut so, dachte Andy.

Nach einem Espresso verließen sie das Bistro und eilten in die Schadowstraße, denn da war das Marktforschungs- institut. Sie hatten dort eigentlich seit fünfzehn Minuten einen Termin. Es ging um die Befragung von Hausfrauen zum Thema Flecken in der Wäsche. Andy und Nicole sollten als Werbeexperten dabei sein, wenn Frauen mittleren Alters sich über die Waschprobleme der täglichen Wäsche ausließen. Diese Frauen waren letztlich die Zielgruppe der neuen Waschmittel-TV-Kampagne, die es in den nächsten Monaten zu entwickeln galt. In der dritten Etage wurden beide von einer attraktiven Blondine begrüßt und sofort in einen abgedunkelten Raum geführt, der aussah wie ein kleiner Kinosaal. Sie nahmen Platz in einer weich gepolsterten Sitzreihe. Vor ihnen das Hausfrauen- Spektakel: Ein leinwandgroßer, einseitig durchsehbarer Spiegel, der ihnen den Blick auf zwölf Frauen freigab, die mit einer Psychologin an einem Tisch saßen, Plätzchen aßen, Kaffee tranken und über Matsch-, Pippi- und andere Flecken in der Wäsche klagten. Dabei ging es dann irgendwann auch um Männer und das Leben und die Benachteiligung der Frau in der Gesellschaft und überhaupt. Alles kam heraus, alles wurde besprochen und bestimmt wurden alle Plätzchen gegessen. Andy, der hier eigentlich zuhören sollte, um von seiner Zielgruppe zu lernen und Impulse zu bekommen, war heute überhaupt nicht in Stimmung, sich dieses Gequassel anzutun. Nicole ging es wohl ähnlich. Sie rutschte ungeduldig auf ihrem Sitz hin und her und guckte ihn hin und wieder schmollend an. Da gab es für ihn nur noch eins: Er holte ein Fläschchen mit ein paar kleinen, weißen Pillen aus seiner Innentasche und grinste Nicole an. Dann legte er seine Arme um ihre Schultern, steckte sich zwei Pillen in den Mund und ließ eine davon bei einem langen Kuss in ihren Mund wandern, so wie sie beide es schon oft gemacht hatten. Die Wirkung ließ nicht lange auf sich warten und ab da machte ihr Job wieder richtig Spaß. Nicole stand auf und stellte sich direkt vor die Trennscheibe, auf deren anderer Seite nur zwei Meter entfernt die Frauen emsig diskutierten. Nicole hob ihren Rock und beugte sich vor, sodass Andy nur noch in sie einzudringen brauchte. Er dachte kurz daran, ob die Hausfrauen nicht nur den großen Spiegel, sondern durch ihn hindurch irgendwie etwas sehen konnten, weil Nicoles Kopf jetzt rhythmisch fast im Sekundentakt der Scheibe immer näher kam und einmal sogar dagegen schlug. Egal … er war Andy, er war ein Genie. Millionen Hausfrauen mittleren Alters würden schließlich von seinen Ideen profitieren.

Etwa neunzig Minuten später kam die Blondine vom Empfang in den kleinen Kinosaal und sah Andy und Nicole völlig weggetreten in den Polstersesseln liegen. Sie war nicht überrascht. Wie eine Stewardess ihre Fluggäste auf die bevorstehende Landung dezent aufmerksam macht, weckte sie die beiden und begleitete sie mit einem strahlenden Lächeln zur Tür. Der Kunde ist König.

An diesem Nachmittag wollte Andy nicht mehr in die Agentur zurück. Er verabschiedete sich von Nicole mit seinem typischen ‚Ich-kenn-dein-Geheimnis-Blick‘, küsste noch einmal ihren Schmollmund und fuhr sofort nach Hause. Als er seine karg eingerichtete, fast nur aus weißen Wänden bestehende Penthouse-Wohnung betrat, fiel er Sekunden später auf sein überdimensional großes Bett. Er fühlte sich leer, so leer wie seine Wohnung, die einem Limbus, einem undefinierten weißen Raum glich, lediglich durch einige wenige schwarze Designermöbel akzentuiert.

Sein Schlaf war tief und traumlos. Gegen neunzehn Uhr wurde er wach. Was sollte er mit dem restlichen Abend anfangen? Er wusste nur eines, er hatte Hunger. Und … er wollte Malu sehen. Er musste sie jetzt sehen! Ohne lange nachzudenken ging er ins Bad, wusch sich schnell durchs Gesicht, kämmte die langen, braunen Haare nach hinten und schwang sich noch einmal in seinen schwarzen Ford Mustang.

Die Straßen in Meerbusch waren leer. Er fuhr mit offenem Fenster durch die Nobelgegend, in der es abends keine Menschen gab. Die Luft war angenehm kühl und er dachte an die staubige Canyonlandschaft, in der Charles Bronson und Henry Fonda sich duellierten. Bis Niederkassel, wo Malu wohnte, waren es noch drei Kilometer.

Fünf Minuten später parkte er seinen Wagen hinter der großen Hecke, wie immer. Es war unsagbar still um ihn herum. Nur ein Hund bellte in der Ferne und der Wind wehte leise durch das Geäst der großen Kastanien. Wie jedes Mal, wenn er Malu besuchte, hatte er das Gefühl, er führe in eine komplett andere Welt, wenige Kilometer von zu Hause entfernt. Und wie jedes Mal hatte er Herzklopfen, als er durch das Schrebergartentor ging und an der Tür des kleinen Häuschens anklopfte.

»Komm rein, Andreas. Hast du Hunger?«

Kaum hatte Malu, eigentlich Marie-Luise, aufgemacht, da drehte sie sich schon um und ging eilig an ihren Gasherd, auf dem etwas Deftiges, Wohlriechendes köchelte. Andy setzte sich an den kleinen Holztisch mit der Plastiktischdecke und sah diese zweiundsechzigjährige, Pfeife rauchende Frau, die mit ihren langen, grauen Haaren und dem bunten Kopftuch fast wie eine Indianerin aussah. Wie lange kannte er sie schon? Mehr als zwanzig Jahre bestimmt.

»Du bist so ruhig, Junge. Alles gut?«

»Ja, geht so.«

»Sag schon, was ist los?«

»Ja … die Arbeit«, Andy wusste nicht so recht, was er sagen sollte.

»Die Arbeit oder die Frauen?«

»Tja … irgendwie beides. Alles nicht so einfach im Moment.«

»Weißt du, Andreas, man muss die Sachen mögen, die man macht. Wenn man etwas mag, läuft es gut. Gilt auch bei Frauen. Was macht die Werbung?«

»Ja, da ist mir was Gutes eingefallen«, Andy blühte leicht auf, »eine Art Western, es geht da um ein Dosenprodukt, eine Bohnensuppe von einer bestimmten Firma.«

»Aha. Ein Western«, Malu stand die ganze Zeit mit dem Rücken zu ihm gewandt und war mit der Zubereitung des Abendessens beschäftigt.

»Das soll richtig echt wirken. Nicht im Studio so billig gedreht. Richtig echt.«

»Fliegst du nach Amerika?«

»Nein, wir drehen in Europa. Bei Almería. Das ist in Südspanien. Da wurden diese ganzen Italowestern damals gemacht!«

»Ah, Almería kenn´ ich …«

»Echt?«

»Ach, ist schon lange her, das war vor deiner Zeit.« Malu holte tief Luft und hob einen heißen, schweren Topf vom Herd. »Mach mal Platz auf dem Tisch und leg das Holzbrettchen in die Mitte. Es gibt Bohnensuppe. Aber eine echte!«

3. Der Pilger