Über die Berechnung des Rauminhalts I - Solvej Balle - E-Book

Über die Berechnung des Rauminhalts I E-Book

Solvej Balle

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Beschreibung

Nach einer Geschäftsreise zu einer Antiquariatsmesse in Bordeaux beginnt für die Buchhändlerin Tara Selter, die mit ihrem Mann Thomas in einem Haus in Nordfrankreich lebt, die Zeit stillzustehen. Gefangen in einer Wiederholung, durchlebt sie stets von Neuem jenen 18. November, während es für Thomas und alle anderen Menschen, denen sie begegnet, ein immer neuer Anfang ist. Sie erinnern sich an nichts, was »gestern« war, erwachen stets zu ihrem ersten 18. November des Jahres. Genießt Tara diese Zeit des »Schwindels« im doppelten Sinne die ersten sechzig Tage noch, offenbart sich langsam ein Problem: Sie wird älter, Thomas nicht. Die beiden, die sich zuvor so nahegestanden haben, entfernen sich voneinander – und Tara versucht versessen, aus dem 18. November herauszufinden. Über die Berechnung des Rauminhalts I ist der erste Band eines groß angelegten Romanprojekts, in dem Solvej Balle die Fiktion von der Wirklichkeit befreit, ohne jedoch Science-Fiction zu schreiben. Mit einem präzisen, stets aufmerksam lauschenden Stil schildert Balle die Mechanik und Monotonie der Zeitschleife, in die ihre Protagonistin gerät, sowie die ungewöhnliche Liebesbeziehung, die sich daraus ergibt. Eindringlich führt sie uns vor Augen, wie jeder in seiner eigenen Blase lebt, und lehrt uns – wie es große Literatur oft tut –, die Welt mit neuen Augen zu sehen.

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Seitenzahl: 235

Veröffentlichungsjahr: 2023

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SOLVEJ BALLE

ÜBER DIE BERECHNUNG DES RAUMINHALTS I

Aus dem Dänischenvon Peter Urban-Halle

Inhalt

# 121

# 122

# 123

# 124

# 129

# 136

# 146

# 151

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# 164

# 176

# 179

# 180

# 181

# 185

# 186

# 199

# 204

# 207

# 219

# 223

# 224

# 225

# 226

# 227

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# 229

# 230

# 232

# 233

# 234

# 245

# 246

# 251

# 256

# 259

# 262

# 274

# 276

# 279

# 281

# 288

# 298

# 317

# 339

# 340

# 348

# 349

# 350

# 354

# 355

# 356

# 361

# 362

# 365

# 366

# 121

Es ist ein Mensch im Haus. Man hört es, wenn er sich oben im Zimmer bewegt. Wenn er aus dem Bett steigt oder die Treppe herunterkommt und in die Küche geht. Es summt in den Rohren, wenn er einen Kessel mit Wasser füllt. Das Geräusch von Metall, wenn er den Kessel auf den Herd stellt, und das schwache Klicken des Gasanzünders, wenn er ihn an den Brenner hält. Dann eine Pause, bis das Wasser den Siedepunkt erreicht. Ein Knistern von Teeblättern und Papier, wenn erst ein und dann noch ein Löffel Tee aus einer Tüte geholt und in die Kanne getan wird, und das Geräusch von Wasser, das über den Tee gegossen wird, aber das sind Geräusche, die nur in der Küche gehört werden können. Ich kann hören, dass der Kühlschrank aufgemacht wird, weil die Kühlschranktür an eine Ecke des Küchentischs stößt. Dann wieder eine Pause, während der Tee zieht, und gleich höre ich das Geräusch einer Tasse und einer Untertasse, die aus dem Küchenschrank geholt werden. Ich höre nicht den Tee, der in die Tasse geschenkt wird, aber die Schritte zwischen Küche und Wohnzimmer, wenn er die Tasse mit Tee durchs Haus trägt. Er heißt Thomas Selter. Das Haus ist aus Stein, hat zwei Stockwerke und liegt am Rande des Städtchens Clairon-sous-Bois im Norden Frankreichs. Ins hinterste Zimmer, das auf den Garten und einen Brennholzstapel hinausgeht, kommt nie jemand.

Es ist der achtzehnte November. Ich habe mich an den Gedanken gewöhnt. Ich habe mich an die Geräusche gewöhnt, das graue Morgenlicht und den Regen, der gleich im Garten fallen wird. Ich habe mich an Schritte auf dem Boden gewöhnt und an Türen, die auf- und zugehen. Ich höre, dass Thomas vom Wohnzimmer in die Küche geht und die Tasse auf den Tisch stellt, und bald kann ich ihn im Entree hören. Ich höre, dass er seinen Mantel vom Haken nimmt, dass ihm sein Regenschirm auf den Boden fällt und er ihn wieder aufhebt.

Wenn Thomas in den Novemberregen hinausgeht, wird es still im Haus. Dann gibt es nur noch meine Geräusche und ein schwaches Prasseln des Regens draußen. Das Geräusch des Bleistifts auf dem Papier und des Stuhls auf dem Boden, wenn ich ihn nach hinten schiebe und aufstehe. Meine Schritte auf den Dielen und ein leichtes Knarren im Türgriff, wenn ich die Tür zum Flur öffne.

Während Thomas weg ist, gehe ich durchs Haus. Ich geh auf die Toilette und hole Wasser in der Küche, kehre aber schnell wieder ins Zimmer zurück. Ich schließe die Tür und setze mich aufs Bett oder auf den Stuhl in der Ecke, damit ich vom Gartenweg aus nicht gesehen werden kann.

Wenn Thomas mit zwei Tüten aus dünnem Plastik nach Hause kommt, fangen die Geräusche wieder an. Der Schlüssel in der Tür und die Schuhe, die auf der Matte abgestreift werden. Das Knistern der Tüten, wenn er seine Einkäufe auf den Boden stellt. Der Regenschirm, den er zusammenfaltet und auf den Stuhl im Eingang legt, und einen Augenblick später höre ich das Geräusch des Mantels, der am Kleiderhakenbrett an der Tür aufgehängt wird. Ich höre das andauernde Knistern von Plastik, wenn er seine Einkaufstüten auf den Tisch in der Küche stellt und die Sachen auspackt. Der Käse kommt in den Kühlschrank, zwei Dosen mit Tomaten in einen Schrank, und auf den Küchentisch legt er eine Tafel Schokolade. Wenn die Tüten leer sind, knüllt er sie zusammen und verstaut sie im Schrank unter der Spüle. Dann schließt er die Schranktür und lässt sie dahinter weiterknistern.

Im Laufe des Tages höre ich ihn oben im Büro. Ich höre einen Bürostuhl, der über den Boden schabt, und den Drucker, der Adressen und Briefe ausdruckt. Ich höre Schritte auf der Treppe und ein schwaches »bums« auf den Dielen, wenn Thomas Päckchen und Briefe auf dem Boden im Flur ablegt. Ich höre ihn in der Küche und im Wohnzimmer. Ich höre eine Hand oder einen Ärmel, die an der Wand entlangstreifen, wenn er die Treppe wieder hinaufsteigt, ich höre ihn im Badezimmer, und ich höre ein Geräusch von der Toilettenschüssel, das nur von einem stehenden, urinierenden Mann stammen kann.

Bald höre ich ihn wieder auf der Treppe und im Entree, und gleich darauf geht er ins Wohnzimmer und setzt sich in einen Sessel an das Fenster zur Straße. Die Wartezeit verbringt er mit Lesen oder dem Betrachten des Novemberregens.

Ich bin es, auf die er wartet. Ich heiße Tara Selter. Ich sitze im hintersten Zimmer, das auf den Garten und einen Brennholzstapel hinausgeht. Es ist der achtzehnte November. Jeden Abend, wenn ich mich in dem Zimmer im Gästebett schlafen lege, ist der achtzehnte November, und jeden Morgen, wenn ich aufwache, ist der achtzehnte November. Ich erwarte nicht mehr, am neunzehnten November aufzuwachen, und ich erinnere mich nicht mehr an den siebzehnten November, als wäre es gestern gewesen.

Ich öffne das Fenster und werfe den Vögeln, die sich gleich im Garten versammeln werden, ein paar Brotkrumen hin. Sie kommen, wenn der Regen eine Pause macht. Erst die Amseln, die anfangen, in den restlichen Äpfeln am Apfelbaum oder im Brot herumzupicken, das ich hinausgeworfen habe, und etwas später auch ein einzelnes Rotkehlchen. Kurz darauf schaut eine Schwanzmeise vorbei und dann noch einige Kohlmeisen, die von den Amseln sofort verjagt werden. Kurze Zeit später regnet es wieder. Die Amseln picken noch ein bisschen weiter, aber wenn der Regen zunimmt, flattern sie zur Hecke, um dort Schutz zu suchen.

Thomas hat den Kamin im Wohnzimmer angemacht. Er hat Brennholz im Gartenschuppen geholt, und bald merke ich, dass es im Haus wärmer wird. Ich habe die Geräusche aus dem Entree und dem Wohnzimmer gehört, aber nun, da er sich hingesetzt hat und liest, höre ich nur meinen Bleistift auf dem Papier, ein Wispern, das im Rauschen des Regens fast untergeht.

Ich habe die Tage gezählt, und wenn ich mich nicht vertan habe, ist heute der achtzehnte November #121. Ich verfolge die Tage. Ich folge den Geräuschen im Haus. Wenn es still ist, tue ich nichts. Ich ruhe mich aus und lege mich aufs Bett oder lese ein Buch, mache aber keine Geräusche. Oder fast keine. Ich atme. Ich erhebe mich und gehe behutsam im Zimmer umher. Es sind die Geräusche, die mich herumtragen. Ich setze mich aufs Bett oder ziehe vorsichtig den Stuhl unter dem Tisch am Fenster heraus.

Am Nachmittag macht Thomas im Wohnzimmer Musik an. Erst höre ich ihn im Flur und in der Küche. Ich höre, wie er einen Wasserkessel auf die Gasflamme setzt, und ich höre seine Schritte, wenn er zum Wohnzimmer zurückgeht und Musik anmacht. Dann weiß ich, dass es bald aufklart. Die Wolken verziehen sich, und ein bisschen lässt sich die Sonne blicken.

Sobald die Musik anfängt, mache ich mich fertig, um aus dem Haus zu gehen. Ich stehe auf und ziehe meinen Mantel und meine Stiefel an. Ich warte an der Tür, und kurz darauf wird die Musik so laut, dass ich unbemerkt das Haus verlassen kann, denn die Klänge aus dem Wohnzimmer übertönen das Geräusch von Türen, die geöffnet werden, von Schritten auf dem Fußboden und Türen, die wieder geschlossen werden.

Ich verlasse das Haus durch die Tür zum Garten. Ich hänge meine Tasche über die Schulter, mache vorsichtig die Zimmertür auf, gehe ins Entree und mache die Tür wieder zu. Auf dem Boden liegen drei halbgroße Umschläge und vier Päckchen aus braunem Karton mit unseren Namen: T. & T. Selter. Das sind wir. Wir handeln mit antiquarischen Büchern, vor allem illustrierten Werken aus dem achtzehnten Jahrhundert. Wir kaufen auf Auktionen ein, bei privaten Sammlern oder anderen Buchhändlern, wir verkaufen die Bücher weiter und versenden sie in braunen Päckchen mit unseren Namen darauf. Geräuschlos gehe ich an den Päckchen vorbei, öffne die Tür und gehe hinaus. Ich brauche keinen Schirm. Es regnet noch ein wenig, aber nicht mehr lange und es hört ganz auf. Ich nehme nicht den Gartenweg, der zur Pforte nach draußen führt, sondern gehe links am Haus entlang, am Schuppen vorbei und weiter zu einer Ecke des Gartens, die man vom Haus aus nicht sieht. Wenn ich an einem Beet mit Porree und zwei Reihen Mangold vorübergegangen bin, komme ich an eine Öffnung in der Hecke und schlüpfe hindurch und auf die Straße. Einen Moment lang schaue ich mich um. Ich sehe ein bisschen Rauch, der sich über dem Schornstein nach oben kringelt. Ich höre leise Musik, eile aber weiter, und ein paar Schritte später höre ich weder Musik noch Regen, der Regen hat aufgehört, die Musik ist hinter mir verschwunden, ich höre nur noch meine Schritte auf dem Bürgersteig, das Geräusch einiger weniger Autos und die fernen Kinderstimmen von einer Schule mehrere Straßen weiter weg.

Etwas später, wenn Thomas sieht, dass der Regen aufgehört hat, schaltet er die Musik aus. Er zieht seinen Mantel an und hebt den Stoß Briefe und die Päckchen vom Boden auf. Um 15.24 Uhr verlässt er das Haus. Er hat die Briefe und Päckchen dabei. T. & T. Selter. Das sind wir. Aber die Zeit hat sich zwischen uns geschoben. Wir gehen auf den kleinen Wegen in die Stadt oder zurück zum Haus. Wir sind draußen, wir gehen spazieren, wenn der Regen eine Pause macht, aber wir nehmen nicht denselben Weg. Er erwartet nicht, mich zu treffen, und er trifft mich nicht. Ich kenne eine andere Strecke, und wenn er zum Haus zurückkehrt, sitze ich wieder in dem Zimmer, das auf den Garten hinausgeht.

Wenn ich etwas brauche, kaufe ich in dem kleinen Supermarkt ein paar Straßen weiter ein. Ich nehme mir Zeit und mache, wenn ich zurückgehe, in der Regel einen Umweg. Ich gehe durch die Pforte und folge dem Gartenweg zur Hintertür, die ich aufschließe. Im Haus ist es still. Thomas ist nicht da, und es hat aufgehört zu regnen. Er ist auf dem Weg in die Stadt, und wenn er seine Päckchen abgeliefert hat, ist die Sonne durchgebrochen. Er durchquert den Wald zum Fluss hinunter und kommt erst am späten Nachmittag zurück, wenn der Regen wieder eingesetzt hat, denn es gibt keinen, der im Haus auf ihn wartet, und es gibt nichts, was er erledigen muss.

Nach meiner Rückkehr pflege ich meine Besorgungen im Zimmer abzustellen. Ich hänge meinen Mantel über den Stuhl, ich ziehe meine Stiefel aus und gehe in die Küche. An der Spüle steht eine Tasse, und der Kessel auf dem Herd ist noch etwas warm. Ich kann Thomas’ Spuren durchs Haus verfolgen. Ich steige die Treppe hoch und gehe ins Büro. Auf dem Tisch sind Bücherstapel und überall Papierstöße. Bücher stehen auf den Regalen und liegen in Kisten auf dem Boden. Eine der Kisten ist offen, weil Thomas etwas darin gesucht und sie nicht wieder zugemacht hat. Im Schlafzimmer neben dem Büro sieht es aus, als wäre gerade jemand aufgestanden, aber es ist nur die eine Seite des Bettes, die benutzt wurde.

Mir bleiben anderthalb Stunden im Haus, bevor Thomas zurückkommt. Ich habe Zeit, um zu duschen oder ein paar Kleidungsstücke im Waschbecken zu waschen, ich habe Zeit, mir ein Buch aus dem Regal zu nehmen und mich in einen der Sessel am Fenster zu setzen.

Wenn ich meine Zeit im Wohnzimmer verbringe, höre ich normalerweise Musik oder lese, bis es dunkel wird, aber heute bin ich hiergeblieben, in dem Zimmer, das auf den Garten und einen Brennholzstapel hinausgeht. Ich habe gehört, dass Thomas seinen Mantel vom Haken nahm und das Haus verließ. Ich habe die Tür zum Entree geöffnet, die Päckchen liegen nicht mehr auf dem Boden, und ich habe mich an meinen Tisch am Fenster gesetzt. Es ist der achtzehnte November. Ich habe angefangen, mich an den Gedanken zu gewöhnen.

Am frühen Morgen des siebzehnten Novembers hatte ich mich an der Haustür von Thomas verabschiedet. Es war viertel vor acht, das Taxi wartete auf der Straße vor dem Haus, und ich nahm den Zug, der um 8.17 Uhr von Clairon-sous-Bois abfährt. Ich war auf dem Weg nach Bordeaux, zur alljährlichen Versteigerung illustrierter Werke aus dem achtzehnten Jahrhundert. Der Himmel war gräulich, die Luft feucht, aber es regnete nicht.

Von Clairon fuhr ich bis zur Endstation Lille-Flandres, wechselte dort zum Bahnhof Lille-Europe und reiste nach Paris weiter, wo ich in einen Zug nach Bordeaux umstieg. Kurz vor zwei erreichte ich Bordeaux, und nach einem Augenblick der Verwirrung wegen Straßenarbeiten vor dem Bahnhof, Barrieren, Hinweisschildern und gesperrten Durchgängen fand ich den Weg zu den Ausstellungshallen, wo die Auktion stattfinden sollte und wo ich wenige Minuten später ankam. Ich ließ mich registrieren, erhielt ein Programm sowie ein Schildchen mit der Aufschrift 7ème Salon Lumières, meinem Namen und darunter dem Firmennamen T. & T. Selter.

Bis zur Hauptauktion für die illustrierten Bücher, die um drei Uhr beginnen sollte, blieb mir noch reichlich Zeit. Es hatte schon ein paar andere Versteigerungen gegeben, und ich sah im Programm, dass auch in diesem Jahr wieder Vorträge und Podiumsdiskussionen angekündigt waren, aber ich hatte nicht die Absicht, daran teilzunehmen.

Ich zögerte ein wenig und verlor schon wieder den Überblick, als ich mitten in diese Konferenzstimmung geriet mit verschlossenen Türen und stehengelassenen Kaffeetassen, bis ich dann die Schilder und Pfeile fand, die zur Auktionshalle und zu der angrenzenden Halle wiesen, in der wie gewöhnlich eine lange Reihe von Antiquariaten ihre Stände mit Büchern und wissenschaftlichen Illustrationen hatten. Mir war schon ziemlich klar, bei welchen Werken ich mitbieten wollte, und als ich die wichtigsten durchgesehen hatte, ging ich durch die Halle mit den antiquarischen Büchern. Ich begrüßte mehrere Händler, die ich von früheren Gelegenheiten kannte, und kurz vor drei setzte ich mich ins Auktionslokal, das sich bald darauf mit Menschen füllte, die aus den Tagungsräumen herbeigeströmt kamen.

Bei der Auktion konnte ich zwölf Werke ersteigern. Fünf, für die wir bereits Nachfragen gehabt hatten, und sieben andere, von denen ich annahm, sie für einen guten Preis veräußern zu können. Im großen Ganzen handeln wir mit Büchern der mittleren Preislage und verkaufen an eine bunte Schar von Sammlern, die meisten in Europa, vereinzelt aber auch in anderen Teilen der Erde. In der Regel bin ich es, die zu den Versteigerungen fährt oder Antiquare besucht, während Thomas für die Registrierung und Versendung der Bücher verantwortlich ist. Anfangs haben wir beides zusammen gemacht, aber mittlerweile sind die Aufgaben zwischen uns aufgeteilt. Warum ich diejenige bin, die reist, ist mir nicht ganz klar. Vielleicht weil mich das Reisen nicht stört und vielleicht weil ich ziemlich schnell einen gewissen Sinn für die Bücher entwickelt habe, ein Gefühl für Papier, einen Blick für die Druckqualität, für eine gelungene Bindung. Ich weiß nicht, was es ist, aber es ist beinahe physisch, wie eine Spannerraupe, die überprüft, ob ein Blatt es wert ist, darauf herumzukriechen, oder ein Vogel, der auf die Bewegung der Insekten in der Rinde eines Baums lauscht. Es kann eine Kleinigkeit sein: das Geräusch des Papiers, wenn man die Seiten durchblättert, das Relief der Buchstaben, die Tiefe des Drucks, die Sättigung der Farbtöne einer Illustration, die Präzision in den Details einer Tafel, die Färbung des Schnitts, keine Ahnung, was ausschlaggebend ist, denn obwohl ich normalerweise weiß, an welchen Werken ich interessiert bin, wird mir in der Regel erst dann, wenn ich das Buch in Händen halte, klar, ob ich es wirklich kaufen möchte.

Nach der Auktion ging ich wieder in die Halle der Antiquariate, bezahlte für die Titel, die ich mir hatte zurücklegen lassen, und fand noch weitere sechs Werke, nach denen ich auf der Suche gewesen war, sowie einige wenige, die ich vorher nicht gekannt hatte. Die schwersten und kostbarsten Bücher lasse ich in der Regel direkt nach Clairon-sous-Bois schicken, oft nehme ich aber auch die eine oder andere Anschaffung gleich mit, diesmal war es ein mir unbekanntes Taschenlexikon über Vogelstimmen, geordnet nach Tonarten, dann die zweite Auflage von Harcards tieranatomischem Nachschlagewerk und schließlich ein gut erhaltenes Exemplar von Boisots berühmtem Spinnenbuch Atlas des araignées, das einer unserer Stammkunden als Geschenk für eine Freundin vorgesehen hatte und nach dem Ausschau zu halten wir ihm versprochen hatten.

Am Ende des Nachmittags des siebzehnten Novembers nahm ich den Zug nach Paris, und am späten Abend betrat ich das Hôtel du Lison, wo wir bei unseren Aufenthalten in der Stadt abzusteigen pflegen. Das Hotel liegt gleich um die Ecke der Rue Almageste, in der mehrere Antiquare, mit denen wir in geschäftlicher Verbindung stehen, ihre Buchhandlungen haben und unser guter Freund Philip Maurel seinen Laden mit antiken Münzen betreibt. Außer Bücher für die Firma einzukaufen und Philip zu treffen, hatte ich mir in diesen kommenden zwei Tagen vorgenommen, die wissenschaftliche Bibliothèque 18 in Clichy aufzusuchen, wo ich am neunzehnten November einen Termin mit einer Fachbibliothekarin namens Nami Charet ausgemacht hatte, die ein paar bis dato übersehene Variationen grafischer Techniken des achtzehnten Jahrhunderts beschrieben hatte. Ihre Entdeckung, dass sich damals einige Werkzeuge und Arbeitsmethoden der Graveure geändert hatten, ermöglichte die präzise Datierung diverser Illustrationen vom Ende dieser Periode, wodurch Nichtübereinstimmungen zwischen der Entstehung der Abbildungen und dem Erscheinungsjahr der Bücher erkannt werden konnten.

Nachdem ich im Hotel angekommen war, rief ich Thomas an. Es war kein langes Gespräch. Ich berichtete ihm von meinen heutigen Funden und fragte, ob er meiner Liste der Bucheinkäufe, die ich am nächsten Tag erledigen wollte, noch ein paar Titel hinzuzufügen habe. Er hatte tatsächlich an einige Werke gedacht, nach denen man seiner Meinung nach stöbern könnte, außerdem hatte er im Laufe des Tages bei zwei von unseren Kollegen in der Rue Renart, einer Nebenstraße der Rue Almageste, einige Bücher zurücklegen lassen, die er mich bat, zu inspizieren und zu kaufen, wenn sie sich in vernünftigem Zustand befanden. Ich schrieb die Titel auf meine Liste und versprach, sie am nächsten Tag unter die Lupe zu nehmen. Sicher sprachen wir noch ein bisschen mehr über die Auktion und am Rande auch über das Novemberwetter, bevor wir zwei-, dreimal Gute Nacht sagten und das Telefonat beendeten.

Wir versuchen immer, lange Telefongespräche zu vermeiden, wenn wir voneinander getrennt sind. Nicht nur, weil wir sonst anfingen, detailreiche Dialoge über Zustand, Erscheinungsjahr, Illustrationen und Festlegung der Preise zu führen, sondern auch, weil die Gespräche den Abstand zwischen uns noch vergrößern würden. Sobald wir uns von einfachen und praktischen Themen entfernen, verwandelt sich das Gespräch in eine Art Lautverbindung, ein gedämpftes Liebesgemurmel. Unsere Kommunikation, die im Übrigen sinnvoll und zusammenhängend begonnen hatte, schlägt in einen Austausch diffuser Sequenzen um, die weder Sätze noch Informationen enthalten: kleine Wörter und Laute, die doch eigentlich die Verbindung zwischen uns offenhalten sollen, stattdessen aber nur allzu deutlich machen, dass wir weit voneinander entfernt sind. Mittlerweile haben wir gelernt, die Aufgaben zwischen uns aufzuteilen, uns an praktische Themen zu halten und nur miteinander zu sprechen, wenn es nötig ist.

Ich selber habe nun viele Einzelheiten unserer Unterhaltung vergessen, aber Thomas, der sich an den siebzehnten November erinnert, als wäre es gestern gewesen, hat mir erzählt, dass ich mich begeistert zu meinen Funden geäußert und überlegt hätte, ob T. & T. Selter seine geschäftlichen Aktivitäten nicht erweitern und auch mit wissenschaftlichen Tafeln und Illustrationen handeln solle. Wir erörterten vor allem die praktischen Probleme, die mit meinem Vorschlag verbunden waren, besonders die der Versendung, die ja Thomas’ Aufgabe sein würde. Es sei jedenfalls eine Überlegung wert, meinte ich, doch Thomas war da skeptischer.

An den Rest des Gesprächs erinnere ich mich nicht mehr, allerdings weiß ich noch, dass ich kurz darauf ein Bad nahm und mich dann in meinem Hotelzimmer aufs Bett setzte und einen Blick auf meine Liste warf. Ich weiß auch, dass ich nach der Reise etwas müde war, dass ich den Wecker in meinem Telefon einstellte, mich auszog und schlafen legte.

Ich weiß immer noch nicht, ob es eine gute Idee ist, dass T. & T. Selter wissenschaftliche Tafeln und Illustrationen ins Programm aufnehmen soll, aber ich weiß, dass derlei Überlegungen keinen Sinn mehr ergeben. Ich weiß auch, dass Thomas seine Päckchen längst zur Post gebracht hat, dass er unten am Fluss gewesen und an der alten Wassermühle vorbeigekommen ist, dass er den Wald durchquert hat und bald wieder zurück sein wird.

Die Regenwolken behalte ich im Auge. Die Wolken erzählen, dass die Zeit vergangen ist. Das Licht verschwindet, und ich sehe, wie der Himmel ins Dunkelgrau wechselt. Wenn ich mit einem Buch im Wohnzimmer sitze, wird es allmählich zu finster zum Lesen, und ich bereite mich darauf vor, mich ins Gästezimmer zurückzuziehen. Einen Augenblick lang lausche ich dem Regen, und wenn er an Stärke zunimmt, weiß ich, dass Thomas bald da ist. Ich erhebe mich aus dem Sessel am Fenster. Ich gehe in die Küche, spüle meine Tasse, trockne sie sorgfältig mit einem Geschirrtuch ab, stelle sie an ihren Platz im Schrank und gehe in mein Zimmer. Gewöhnlich denke ich daran, die Heizung aufzudrehen, ehe ich das Wohnzimmer verlasse. Die Glut im Kamin ist längst erkaltet, und wenn Thomas zurückkommt, ist er vom Regen durchnässt.

Heute aber sitze ich nicht im Wohnzimmer. Ich sitze an dem Tisch im Gästezimmer, und jetzt verdichten sich die Regenwolken noch einmal. Ich schaue auf den Garten und den Apfelbaum. Ein paar Äpfel sind ins Gras gefallen, ein leichter Wind hat die Herbstblätter beinahe trocken geschüttelt, während ich hier gesessen habe, aber gleich wird der Baum wieder regennass sein. Ich kann noch immer die Vögel sehen, wenn sie sich im schwachen Licht bewegen. Sie spüren, dass Regen aufzieht, aber Unterschlupf in der Hecke haben sie noch nicht gesucht.

Es dunkelt, während ich darauf warte, dass Thomas draußen vorbeigeht. Die Buchstaben auf dem Papier vor mir werden undeutlich. Ich habe die Tür zum Flur geschlossen und mich vom Fenster zurückgezogen. Ich pflege mich aufs Bett zu setzen, während ich darauf warte, dass Thomas zurückkehrt, und ich weiß, dass auf der Straße am Ende des Gartens zunächst ein, dann noch ein anderer dunkler Schatten entlanggehen wird. Der erste Schatten ist unser Nachbar. Der zweite ist Thomas auf seinem Weg durch den Regen. Das ist der einzige Zeitpunkt, an dem ich ihn sehe: ein nasser Schatten am Zaun. Den Rest des Tages ist er ein Geräusch in den Zimmern des Hauses.

Erst wenn Thomas wieder ein Geräusch in den Zimmern des Hauses geworden ist, schalte ich das Licht an. Ich habe seine Schritte auf dem Gartenweg gehört, den Schlüssel im Schloss und die Tür, die auf- und wieder zugeht. Ich habe gehört, wie er die Schuhe auf der Fußmatte abstreicht, und ich habe das schwache Klick des Schalters gehört, wenn er im Entree das Licht anmacht. Ich sehe Licht, das durch den Spalt unter der Tür hereindringt, und ich habe eine Lampe auf dem Tisch angeschaltet. Mein Licht erfüllt den Raum und dringt unter der Tür hinaus, aber das sieht man im Entree nicht, weil es sich bis zur Unsichtbarkeit mit dem Licht dort vermischt.

Ich habe mich wieder an den Tisch am Fenster gesetzt, und bald höre ich Thomas’ Schritte auf der Treppe und im Flur. Ich höre ihn in der Küche und im Entree. Ich höre, wie er die Tür aufmacht und in den Garten hinausgeht, wo er eine Stange Porree und ein paar Zwiebeln aus dem Schuppen holt. Ich kann hören, dass er in die Gummistiefel schlüpft, die an der Tür stehen, und ich kann seine Schritte am Haus entlang hören, dann aber höre ich nichts mehr, ich höre ihn erst wieder, wenn er mit seinem Gemüse zurückkommt. Ich kann hören, wie er das Gemüse für eine Suppe klein schneidet. Ich kann den Topf auf dem Herd hören, und wenn die Suppe fertig ist, höre ich das Schaben des Stuhls auf dem Küchenboden. Kurz darauf höre ich das Geräusch in den Rohren, wenn Thomas seinen Teller in der Küchenspüle abwäscht, und ich höre, wie er den Teller in den Schrank stellt, bevor er ins Wohnzimmer geht. Er verbringt seinen Abend mit der Lektüre von Jocelyn Mirons Lucid Investigations, und es schlägt fast zwölf, wenn er das Licht im Entree löscht und hochgeht, aber so weit ist es noch nicht, denn der Abend hat eben erst angefangen. Thomas ist gerade dabei, sich oben im Schlafzimmer umzuziehen, und ich bin gerade dabei, mir eine lange Reihe von Novembertagen ins Gedächtnis zurückzurufen, die in meiner Erinnerung allmählich ineinanderfließen. Es sind 121 Tage, an die ich mich zu erinnern habe. Wenn ich kann.

Zunächst ist der achtzehnte November kein ungewöhnlicher Tag gewesen. Ich wachte gegen halb acht in meinem Hotelzimmer auf und ging eine halbe Stunde später hinunter, um zu frühstücken. Im Laufe des Tages besuchte ich verschiedene Antiquariate in der Gegend um die Rue Almageste, und auf dem Weg schaute ich bei Philip Maurels Laden in der Nummer 31 vorbei. Philips neue Mitarbeiterin, die ich jetzt zum ersten Mal sah, meinte, er sei am späten Nachmittag wieder zurück, und ich sagte ihr, ich würde gegen fünf Uhr noch einmal vorbeischauen. Bei den verschiedenen Händlern, mit denen wir in Paris zu tun haben, fand ich etliche Werke, nach denen ich auf der Suche war. In der Rue Renart sah ich mir das Exemplar der Histoire des eaux potables an, nach der ein Kunde mehrmals gefragt und von der Thomas herausgefunden hatte, dass sie hier zum Kauf angeboten wurde. Es war ein recht schönes Exemplar, und ich kaufte es sofort und legte es in meine Tasche, um es gleich am nächsten Tag nach Clairon-sous-Bois mitzunehmen, wo Thomas es an unseren ungeduldigen Kunden verschicken konnte. Beim selben Buchhändler erstand ich ein paar andere Werke, die ich ihn bat, nach Clairon zu schicken, und bei einem weiteren Händler fand ich ein Exemplar von Thorntons The Heavenly Bodies, in gutem Zustand und mit zwei Tafeln, die lediglich in dieser einen, 1767 in zwei kleineren Auflagen gedruckten Ausgabe vorhanden waren.

Kurz vor fünf ging ich wieder die Stufen zu Philip Maurels Laden hinunter. Ich hatte ihn schon lange nicht mehr gesehen, ein halbes Jahr, vielleicht mehr, und so saßen wir lange an dem großen Schreibtisch im vorderen Raum des Geschäfts und unterhielten uns, während er zwischendurch einen Kunden bediente oder einen Anruf erledigte. Ich erzählte ihm von unserem Haus in Clairon-sous-Bois, wo er uns noch nie besucht hatte, obwohl wir da jetzt schon seit einigen Jahren wohnten. Ich erzählte von der Liebe, von dem Apfelbaum im Garten, von Porree und Mangold. Ich erzählte von den herbstlichen Überschwemmungen, vom Fluss, der in regelmäßigen Abständen über seine Ufer trat, und ich erzählte von unserem Geschäft, von dem wir nach und nach leben konnten, von der wachsenden Nachfrage nach illustrierten Werken aus dem achtzehnten Jahrhundert, von der Auktion und meinen neuesten Funden. Philip erzählte vom Leben in der Rue Almageste, von seiner neuen Freundin Marie, der ich ja heute bei meinem ersten Besuch schon begegnet war, von den politischen Unruhen im Herbst und dem großen Interesse an mehr oder weniger seltenen Gegenständen aus alter Zeit, das sich auch in seinem Geschäft bemerkbar gemacht habe.

In erster Linie handelt Philip mit Münzen der römischen Kaiserzeit. Als er als ganz junger Mann seinen Laden eröffnete, hatten