Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Noch immer ist Tara Selter in einer Zeitschleife gefangen – doch sie ist nicht mehr allein. Der norwegische Soziologe Henry war auf einer Konferenz in Düsseldorf, als auch für ihn die Zeit stehen blieb. So unterschiedlich Tara und Henry die Wiederholungen und viele Dinge im Leben wahrnehmen, kommen sie doch in einem Bewusstsein für die Zeit und in der Wertschätzung des Augenblicks zusammen. Henry wird Tara zu einem dringend benötigten Freund und Gesprächspartner, sie scheinen die einzigen Menschen auf der Welt zu sein; zumindest in ihrer Welt, in der jeder andere ein Statist ist, der den ewig wiederkehrenden 18. November zum ersten Mal erlebt. Bald jedoch stellt sich heraus, dass auch noch andere Menschen in jenem Novembertag feststecken. Gemeinsam beziehen sie ein leerstehendes Haus in Bremen, von dem aus sie versuchen, die Risse in der Welt zu kitten, die ihnen die ständige Wiederholung vor Augen führt. In Über die Berechnung des Rauminhalts III schlägt Solvej Balle hoffnungsvollere Töne an und entwirft als Gegengewicht zu Taras bisheriger Angst, die Welt aufzubrauchen, die Idee eines positiven Fußabdrucks: Die lähmende Einsamkeit weicht der Dynamik eines Kollektivs, das entschlossen ist, der Zeitschleife zu entkommen – und bis dahin das Beste daraus zu machen. Ein origineller, radikal unideologischer Kommentar zum Verbrauch der Ressourcen und der Verantwortung des Einzelnen gegenüber der Menschheit.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 257
Veröffentlichungsjahr: 2024
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
SOLVEJ BALLE
Aus dem Dänischenvon Peter Urban-Halle
# 1144
# 1148
# 1150
# 1167
# 1173
# 1195
# 1245
# 1344
# 1347
# 1376
# 1403
# 1404
# 1411
# 1445
# 1531
# 1544
# 1552
# 1555
# 1557
# 1560
# 1583
# 1592
# 1611
# 1652
# 1653
# 1654
# 1668
# 1684
# 1698
# 1732
# 1733
# 1734
# 1745
# 1755
# 1783
# 1796
# 1803
# 1811
# 1845
# 1878
# 1892
Ich habe einen Menschen getroffen, der sich erinnert. Gestern. Das heißt, ich habe ihn gestern getroffen. Aber er erinnert sich auch an gestern. Er erinnert sich daran, dass wir uns gestern getroffen haben. Eigentlich hatten wir uns schon vorgestern getroffen, aber erst gestern sprachen wir miteinander. Und gestern bekam er einen Namen. Er heißt Henry Dale, und ich brauche ihm nicht zu erzählen, dass die Zeit stehen geblieben ist. Er weiß es.
Und er weiß noch so einiges mehr. Er weiß, dass wir Herbst haben, aber nicht auf den Winter zugehen. Dass es weder Frühling noch Sommer wird. Dass die goldene Färbung der Bäume gekommen ist, um zu bleiben. Er weiß, was die Wörter bedeuten: dass gestern nicht der siebzehnte November bedeutet, dass morgen der Achtzehnte bedeutet und dass der Neunzehnte ein Tag ist, den wir vielleicht nie erleben werden. Er weiß es, wenn er morgens aufwacht und wenn er abends zu Bett geht.
Jetzt weiß er auch, dass er nicht allein ist, denn heute früh trafen wir uns im Café Möller. Und wir trafen uns dort, weil wir uns zu dem Treffen verabredet hatten und weil wir noch wussten, dass wir uns verabredet hatten. Zwei Menschen, die sich erinnern. Nicht einer, der sich erinnert, und ein anderer, der vergisst. Ein seltsamer Gedanke: dass ein Mensch durch die Tür kommt, dessen Gedächtnis intakt ist.
Das genau tat er nämlich: Er erschien in der Tür und betrat das Café. Er kam kurz vor neun, ich saß schon am Tisch. Ich war gegen halb neun eingetroffen, hatte mir einen Kaffee an der Theke bestellt und darauf gewartet, dass der Fensterplatz frei wurde. Das geschah um 8.39 Uhr, und ich war noch nicht sehr lange da, als Henry D. die Stufen zum Café heraufstieg. Er öffnete die Tür, entdeckte mich, und mit einem Gesichtsausdruck, der mir zeigte, dass er mich erkannt hatte, kam er an meinen Tisch, zögerte gerade lange genug, damit ich mich von meinem Stuhl erheben konnte, und dann standen wir uns gegenüber, ohne gleich eine passende Geste zu finden, mit der wir uns begrüßen konnten.
Henry D. machte einen Schritt auf mich zu und streckte mir die Hand entgegen, da ich aber gleichzeitig auch einen Schritt nach vorn machte, zog er seine Hand wieder zurück. Ich drehte mich ein wenig, und wir endeten in einer etwas linkischen Bewegung, ich mit einem halben Luftkuss zur einen Seite, er mit ein paar Klapsen auf meine Schulter, eine merkwürdige Mischung aus Begrüßungsroutinen, Relikte alter Gewohnheiten, die wir aus der Vergangenheit mitgeschleppt hatten, und das Ganze endete in einem wunderlichen Tanz: ungelenk und nicht ganz im Gleichgewicht.
Wir mussten beide lachen, sicher über unser Gehampel und unsre komischen Gebärden, aber auch, weil sich alles so ungewohnt anfühlte. Wir hatten beide augenscheinlich verlernt, einen anderen Menschen zu begrüßen, oder richtiger gesagt, einen Menschen zu begrüßen, den wir wiedererkannten und der seine Wiedererkennung zurücksandte.
Nicht dass es etwas Besonderes gewesen wäre. Wir waren schlicht zwei Personen, die sich am Tag zuvor begegnet waren und den anderen aus der Kategorie ein anderer Mensch in die Kategorie ein bestimmter anderer Mensch verschoben hatten und die sich nun wieder trafen. Das sollte kein Problem sein, aber wir waren anscheinend derart daran gewöhnt, mit Menschen zu verkehren, die uns noch nie gesehen zu haben glaubten, dass wir nicht mehr wussten, wie man einen Menschen grüßt, den man kennt.
Das war nämlich die Pointe: Wir kannten uns. Denn wir hatten uns gestern getroffen, und heute erinnerten wir uns daran, und obwohl ich alle Cafégäste und das Personal und die Passanten auf der Straße vorm Fenster viel öfter gesehen hatte als Henry D., würde keiner von denen sagen, dass wir uns kennen. Im Gegenteil, sie würden beteuern, sie hätten mich noch nie gesehen. Das Wiedererkennen ist ganz auf meiner Seite, ist ja klar, aber dann standen wir uns plötzlich gegenüber, Henry D. und ich, und wenn jemand gefragt hätte, ob wir uns kennen, hätten wir sagen können, ja, tatsächlich, tun wir. Wir hatten uns unterhalten, kannten unsere Namen, wir wussten, dass wir uns schon kennengelernt hatten, und nun nahmen wir ein Gespräch wieder auf, das gestern in der Universität begonnen hatte und hier am Fenstertisch im Café Möller weitergeführt werden konnte, hier, wo wir beide erschienen waren und uns in einem linkischen Tanz begrüßten, der uns zum Lachen gebracht hatte.
Er musste genauso verwundert gewesen sein wie ich, denn die Situation bekam auf einmal eine gewisse Leichtigkeit, eine Ausgelassenheit, die sicher nicht nur daher rührte, dass wir beide den größten Teil der Nacht keinen Schlaf gefunden hatten. Wir lachten unser kurzes und befreiendes Lachen, und plötzlich hatte die Situation nichts Sonderbares mehr. Wir mussten einfach ein Gespräch fortsetzen, das schon angefangen hatte.
Beim Gedanken an unsere Begegnung muss ich jetzt wieder lächeln, und mir wird bewusst, wie lange mir dieses gegenseitige Wiedererkennen gefehlt hatte, dieses kleine Zucken im Bewusstsein, ein schwaches Zittern im Gehirn, wenn man einen Menschen wiedererkennt, der einen auch erkennt. Eine Empfindung, die so lange verloren gewesen war, dass ihre Rückkehr überraschend kam, wie ein neues und merkwürdiges Gefühl, das uns in einen wunderlichen Tanz versetzte.
Ich bin wieder in der Wohnung im Wiesenweg, allein, weil jeder zu sich nach Hause gegangen ist, aber noch immer erstaunt, dass man mitten im achtzehnten November eine gemeinsame Geschichte haben konnte, eine ganz kurze zwar, aber doch eine mit Begegnungen und Abschieden und Wiedersehen und Verabredungen zu einem neuen Treffen.
Als unser leichtes und etwas nervöses Lachen verklungen war, gestand Henry D. seine Unsicherheit. Er habe Angst gehabt, meine Erinnerung an unsere Begegnung könne mich im Laufe der Nacht im Stich gelassen haben. Ich sagte, dass ich am Morgen, nach einer schlaflosen Nacht, überzeugt gewesen war, dass alles nur pure Phantasie gewesen sei, dass unser Treffen nicht stattgefunden habe, dass es schlichtweg nicht passiert sei. Aber es hatte stattgefunden, es war passiert, und er bestellte eine Tasse Kaffee, wir frühstückten, und ich verstehe noch immer nicht richtig, wie es sein kann, aber plötzlich sprachen wir über unsere erste Begegnung, gestern im Hörsaal der Universität, er mit seiner Version, ich mit meiner, er auf dem Weg die Treppe hinunter, ich eine Stuhlreihe verlassend, er mit erstauntem Blick auf die Frau, die auf ihn zukam, ich mit einer Geste, die deutlich machte, dass ich mit ihm ins Gespräch kommen wollte, jeder mit seinem Blick, aus zwei verschiedenen Perspektiven, aber die Zutaten waren dieselben, der Raum, die Stuhlreihen und die Treppe, die zum Ausgang führte. Wir erinnerten uns an alles, und wir konnten uns gemeinsam daran erinnern, denn wir hatten beide unsere Begegnung im Gedächtnis aufbewahrt.
Nach dem Frühstück gingen wir zu meiner Wohnung, und ich bat ihn herein, nicht in mein römisches Durcheinander, zu den Abfalltüten an der Tür, den halb geleerten Tassen, den Salatbehältern, den Fußböden mit herumfliegenden Zetteln und Büchern, sondern in meine aufgeräumte Küche, in mein Wohnzimmer mit den Regalen und den ordentlich gestapelten Mappen und Papieren. Hier lagen meine Forschungen. Bücher über Griechen und Makedonier, Mykener und Perser, einige Seiten mit Aufzeichnungen über Hethiter und Sumerer und ein Stapel zu Ägyptern. Und Römer selbstverständlich. Und Bücher über die Franken und Mappen mit den Spartanern und Etruskern. Da waren Notizen über die nördlichen Völkerschaften, Listen mit den Namen verschiedener germanischer Stämme, und neben dem Computer auf dem Tisch lagen nicht nur Janita Wengs Rome and Rye, sondern auch ihr letztes Buch Noxious Pustule – the case against claviceps purpurea sowie ein Übersichtswerk über unterwasserarchäologische Wrackfunde, alles in einer Ordnung, die weder chronologisch noch alphabetisch, geographisch oder nach sonst einem bekannten System organisiert war, aber trotzdem einer Art Ordnung. Man konnte herumgehen, ohne auf die Stapel zu treten, es waren keine zufälligen Reste, die nach Tagen und Nächten auf den Spuren toter Römer und verschwundener Kulturen übrig geblieben waren, es war leicht, einen Weg durch die Räume zu finden, man musste sich nicht hindurchgraben, man musste keinen Wald roden oder sich mit der Machete vorankämpfen. Es war nur eine Wohnung, die verhältnismäßig ordentliche Wohnung eines neugierigen Menschen, die wir nach einem kurzen Rundgang, einem Blick auf den Mispelbaum im Hof, einem Glas Wasser an der Küchenspüle wieder verließen, und als wir gingen, blieben unsere Taschen auf dem Boden in der Küche stehen. Wir verloren kein Wort darüber. Wir ließen sie einfach stehen, gingen aus der Wohnung und machten einen langen Spaziergang am Rhein entlang.
Da hatten wir längst angefangen, die ganze Geschichte aufzurollen, diese Abfolge achtzehnter November, die wir aus dem Gedächtnis kramten, bis zu den allerersten Tagen und noch weiter zurück, zu unserem Leben vor dem achtzehnten, und dann wieder retour zu diesen zahllosen Novembertagen. Wir setzten uns auf die Steinmauer am Fluss, auf dem die Schiffe an uns vorüberglitten, und sprangen in unserer Reihe von Tagen hin und her, bis wir ein weiteres Mal, eigentlich waren es mehrere Male, auf die Einzelheiten unserer plötzlichen Begegnung zu sprechen kamen, auf die Unruhe, die Überraschung und den unerklärlichen Zufall, der uns zusammengebracht hatte, und als wir lange genug am Fluss gesessen hatten, gingen wir in Richtung Stadt und kehrten dann zur Wohnung zurück, wo Henry seine Tasche aufsammelte und wir uns trennten – er ging in sein Hotel, ich zu meinem Bett, wo ich mich schlafen gelegt hätte, wenn es nur möglich gewesen wäre, aber ich fühlte mich gar nicht mehr müde, nein, eher frisch und voll Verwunderung, denn ich hatte zwar manchmal die Möglichkeit erwogen, eine andere Person mit in meinen achtzehnten November zu ziehen, aber einem Menschen zu begegnen, der sich schon in meinem Loop befindet, hätte ich mir niemals vorstellen können.
Es waren die Römer, die mich auf die Spur von Henry D. gebracht hatten. Das heißt, eigentlich wurde ich nicht auf seine Spur geführt. Er tauchte einfach auf. Vielleicht hätte ich ihn schon früher kennenlernen können, denn ich bin jetzt ziemlich sicher, dass ich ihn auf einem meiner ersten Besuche der Heinrich-Heine-Universität in der Cafeteria gesehen habe. Wenn ich aufgepasst, wenn ich nach Unterschieden gesucht hätte – vielleicht wäre ich ihm dann früher begegnet. Aber ich suchte nicht nach Unterschieden, ich suchte nach Römern. Und wenn ich nicht nach Römern suchte, dann nach Griechen und Etruskern, Sumerern und Mykenern, Germanen und Franken. Solche Sachen. Jedenfalls nicht nach einem Mann mit einer Tasche.
Henry D. suchte auch niemanden. Er war in einen Hörsaal gegangen und hatte sich gesetzt. Vorgestern. Das heißt, ein bisschen sucht man wohl immer, sagte er. Er war in der Uni gewesen und hatte am Eingang des Auditoriums die Ankündigung für eine Vorlesung gesehen. War hineingegangen und hatte sich in eine der obersten Reihen gesetzt.
Als ich die Treppe im Saal hinaufstieg und mich in dieselbe Reihe setzte, in der Henry D. saß, sah ich, dass ich der Vorlesung schon einmal beigewohnt hatte, wohl bei einem meiner ersten Besuche der Universität. Ich war damals etwas planlos durch die Gänge geirrt und dann bei der Cafeteria gelandet. Hier wurde auf einem Aushang eine Vorlesung am achtzehnten November angekündigt: Heute war der Aushang mit großen roten Buchstaben überschrieben, und darunter stand etwas von Handel und Versorgungsstabilität im Römischen Reich. Anscheinend war die Veranstaltung Teil einer längeren Vorlesungsreihe, die sich über den ganzen Herbst erstreckte, eine Art fachübergreifendes Projekt über komplexe Gesellschaften von der Antike bis heute.
Die Veranstaltung sollte bald anfangen, weshalb ich mich nach ein paar Minuten in der Cafeteria zum Auditorium begab, das ich ohne Probleme fand. Ich weiß noch, dass ich mich ziemlich unvorbereitet fühlte und beinah umgekehrt wäre, als ich mich dann doch mit einem Nicken an die wenigen bereits eingetroffenen Zuhörer in die dritte Reihe zwängte. Kurz bevor die Vorlesung anfing, kam eine Gruppe Studenten herein. Plötzlich füllten sich die vorderen Reihen mit Leuten, die sich kannten und kreuz und quer durcheinander redeten, ich hatte das Gefühl, irgendwie im Weg zu sein, als ob ich mich aufgedrängt hätte.
Die Vorlesung drehte sich vor allem um den großen logistischen Apparat, der vorhanden sein musste, wenn man die konstanten Waren- und Ressourcenströme zur Aufrechterhaltung der römischen Gesellschaft sicherstellen wollte. In erster Linie ging es um das Problem, die benötigten riesigen Mengen an Korn zu importieren, zu transportieren und zu lagern. Im Laufe der Vorlesung, die auf Deutsch gehalten wurde, merkte ich, dass meine Sprachkenntnisse nicht so weit reichten, wie ich erhofft hatte, denn auch wenn ich mich im Alltag in der deutschen Sprache einigermaßen heimisch fühlte, fehlten mir doch viele Details und Fachausdrücke. Aber mein Interesse war geweckt, und ich verließ den Hörsaal mit der Gewissheit, später wiederzukommen.
Das war nun vorgestern der Fall, ich kam auf die Minute pünktlich. Diesmal fühlte ich mich sicherer. Nicht nur hatte ich mittlerweile die Römer besser kennengelernt, sondern ich bewegte mich auch vertrauter unter den Studenten, mehrmals hatte ich mich sogar in verschiedene Seminare geschlichen. Mein Deutsch und meine Welt waren gewachsen, und ich hatte angefangen, mich mit einem vorsichtigen Eifer zu bewegen, der eine Tür nach der andern öffnete, in Seminarräume und Hörsäle, wo ich mich oft in die hinteren Reihen setzte, in Lehrveranstaltungen, die aus irgendeinem Grund meine Aufmerksamkeit erregten, und dann natürlich in die Welt der Römer, Türen, die hinein- und hinausführten.
Ich fühlte mich gut vorbereitet. Von den ersten Veranstaltungen der Vorlesungsreihe hatte ich Videoaufzeichnungen gefunden, durch die ich mir ein paar Fachtermini zu eigen machen konnte, die hier durch die Luft schwirrten. In der Bibliothek hatte ich mir Bücher über Vorkommen und Fehlen von Ressourcen im Römischen Reich beschafft, über Wasserverbrauch, Bergbau und Lebensmitteleinfuhren. Ich hatte Artikel über den Getreidehandel und die Unternehmungen rund um die gigantischen Kornlager gelesen und war endlich mit Janita Wengs Rome and Rye fertig geworden, worin sie ihre These ausführte, die Expansion der Römer sei durch den Mangel an Weizen im Norden gestoppt worden. Abend für Abend hatte ich in meinem Sessel gesessen und mir ihre langen und umständlichen Darlegungen zu Gemüte geführt. Ich las von Getreiderationen und der entscheidenden Bedeutung der Lebensmittelversorgung, von der entstehenden Unruhe, sobald die Lieferungen nachließen, vom Weizenbrot als »Identitätsmarker«, wie Weng es nannte. Sie war der Meinung, die Römer hätten ihr ganzes Selbstverständnis mit der Getreideversorgung verknüpft, weil der Weizen für sie schon früh den Unterschied ausmachte zwischen Menschen und Tieren, zwischen Römern und Barbaren. Die Erzählung vom Weizen wurde zur Erzählung von der Überlegenheit eines Menschenschlags, meinte sie. Plautus machte sich über primitive Völker lustig, die ihren Gästen Unkraut anböten, als wären sie Ochsen. Weng zitierte Plinius und Galen. Sie beschrieb den Widerwillen der Römer gegen das schwarze Brot, das in den kühlen Gegenden Thrakiens und Makedoniens verzehrt wurde und nicht als Menschennahrung angesehen werden könne. Sie erklärte die Krankheiten, die durch den Genuss von Roggen entstünden, denn in einem waren sich offenbar alle Römer einig, und zwar über fünfhundert Jahre: Ohne Weizen würden sie auf ein primitives Stadium zurückfallen, einen barbarischen Tiefpunkt. Nur Weizenesser waren zivilisierte Menschen. Ein Kaiser oder ein praefectus annonae, der unfähig war, seinem Volk Weizen zu verschaffen, konnte kaum Römer genannt werden, und es leuchtete allen ein, dass eine Getreidesorte wie Roggen Barbaren oder Tieren vorbehalten war.
In Wirklichkeit interessierte ich mich mittlerweile mehr für die Barbaren als für die Römer. Für diejenigen, die der römischen Welt die Bausteine geliefert hatten, für verschwundene Völkerschaften, von denen die Römer keine Ahnung hatten, und dann für all diejenigen, die in die römischen Gebiete nachrückten, eine Unzahl von Stämmen und Gruppen und Völkern, deren Namen ich noch nie gehört hatte. Meine Ausflüge in die Welt der Römer hatten mich in mehrere Richtungen gleichzeitig geführt, in ein Geflecht aus Ländern, Reichen und Kulturen. Es waren nicht mehr mein eigener Stillstand oder die römischen Reichsgrenzen, die mich beschäftigten, oder jedenfalls weniger als bisher. Vielmehr war es der Gedanke an die vielen verschiedenen Reiche, die existierten, stets im Austausch miteinander, manchmal durch Krieg und Konflikt, ein andermal durch langsame Veränderung.
Vielleicht war ich deshalb vorgestern noch einmal an der Universität. Weil ich mehr wissen wollte. Über das ganze feinmaschige Netzwerk, das sich in alle Richtungen erstreckte. Über den Kontrast vielleicht, zwischen den vielen Gefäßen der Römer und diesem konstanten Austausch mit der Umwelt. Jedenfalls nahm ich wieder die Straßenbahn zur Uni, ich war etwas spät dran, ich hastete über den Platz, wo sich die Leute hier und da auf die niedrigen Mauern gesetzt hatten, nahm eine Abkürzung an einem der Gebäude entlang und trat ganz in der Nähe des Hörsaals, in dem die Vorlesung gehalten werden sollte, durch eine Seitentür. Die Schar der jüngeren Semester war bereits auf ihre Plätze gehuscht, sie hockten unruhig und schwatzend in den ersten Reihen, und ich eilte die Treppe hoch und ließ mich weiter oben im Auditorium nieder, wo ich mehr Luft hatte. Weiter in der Mitte der Reihe saßen drei oder vier andere Zuhörer. Henry Dale – oder die Person, die sich als Henry Dale herausstellen sollte – war einer von ihnen.
Zunächst hatte ich ihn gar nicht bemerkt. Ich setzte mich auf einen der Plätze am Gang und wurde nur auf ihn aufmerksam, weil er den Hörsaal in der Pause verließ, kurz bevor die Fragen gestellt werden konnten. Er muss irgendwo in der Mitte der Reihe gesessen haben, und jetzt stand er auf, hängte sich die Tasche über die Schulter und machte Anstalten, seinen Platz zu verlassen. Ich konnte sehen, dass ein anderer für ihn aufgestanden war, also erhob auch ich mich von meinem Sitz, der hinter mir hochklappte, und trat etwas zurück, damit er an mir vorbeikommen konnte.
Er wirkte ungeduldig, aber seltsamerweise schien er sich gleichzeitig auch entschuldigen zu wollen, und als er die Stufen hinunterging, die Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, mit seiner großen Tasche, der Jacke über dem Arm und seiner etwas eckigen Art, fand ich ihn mit einem Mal interessant. Er war etwas älter als die Studenten, mit denen ich weiter unten im Auditorium zusammengesessen hatte, und ich dachte, dass er bestimmt ein Dozent oder vielleicht ein älteres Semester war. Irgendetwas an ihm passte nicht recht zum Rest der Anwesenden, es war nicht viel, aber genug, dass er mir auffiel, als er eilig die Treppe zum Ausgang nahm.
Ich hatte das Gefühl, ihn schon einmal gesehen zu haben, aber das war ja nicht ungewöhnlich. Ich sehe die Menschen immer wieder und habe mich schon dabei ertappt, sie zu grüßen, als würden wir uns kennen, obwohl ich genau weiß, dass ausschließlich ich sie kenne. In der Regel sehe ich sie natürlich zur selben Zeit und am selben Ort, aber es kommt vor, dass sie in einem ganz anderen Zusammenhang auftauchen: Eine Verkäuferin, die vormittags an der Kasse eines Supermarkts sitzt, kommt mir um drei Uhr nachmittags auf der Straße entgegen, ein Gast, den ich in einem Restaurant gesehen habe, steht mir plötzlich in einem Geschäft gegenüber, und jetzt hatte ich eben das Gefühl, den Mann, der da an mir vorbeigegangen war, zu kennen. Ich erinnerte mich an die Tasche und meinte, ihn in der Cafeteria gesehen zu haben, aber irgendetwas war anders. Vielleicht war er anders gekleidet gewesen, vielleicht hatte er eine andere Frisur gehabt, ich war mir nicht sicher. Mir stach die Farbe seines Hemdes ins Auge, ein etwas staubiges Grün. Ich mochte sie, aber sie war außergewöhnlich. Jedenfalls fiel sie mir auf.
Anfangs hatte mich das nicht weiter gewundert. Es war bloß ein Mann in grünem Hemd und mit einer Tasche über der Schulter. Möglich, dass ich ihn schon mal gesehen hatte, aber so viel denke ich auch nicht über die Männer nach, die mir unterwegs begegnen, oder über ihre Kleidung, nicht mehr, nicht hier an meinen ewigen Herbsttagen, es sei denn natürlich, es handelt sich um Fußballanhänger oder Diebe auf Fahrrädern.
Als der Mann im grünen Hemd an mir vorbeigekommen war und die Stufen zum Ausgang hinunterging, wurde gerade die erste Frage aus dem Plenum beantwortet. Ich hatte mir auch selbst eine Frage ausgedacht, irgendetwas über Janita Wengs Theorien und das Problem anderer Getreidesorten, Roggen zum Beispiel, die für die Lebensmittelversorgung von Bedeutung gewesen sein konnten, aber jetzt war mir plötzlich die Konzentration abhandengekommen, und ich verzichtete auf meine Frage.
Ich weiß nicht, ob das der Grund war oder ob ich sowieso schon das Gefühl hatte, dass irgendetwas faul war, jedenfalls nahm ich gestern wieder die Straßenbahn zur Uni, um dieselbe Vorlesung zu besuchen und mich auf denselben Platz im Hörsaal zu setzen. Als ich ankam, sah ich gleich, dass in meiner Reihe ein Zuhörer fehlte, ich konnte den Mann im grünen Hemd nirgends entdecken, obwohl ich mich ein paar Mal diskret umdrehte und nach ihm Ausschau hielt, während ich gleichzeitig versuchte, mich auf den römischen Getreidehandel zu konzentrieren: die Techniken für das Auf- und Abladen des Korns, Überlegungen zu dessen Haltbarkeit, die Schwierigkeiten der Aufbewahrung, das Abmessen der Kornmengen, die Handhabung der Zahlungsmittel, den eigentlichen Transport des Getreides über Land oder auf dem Wasser und den Vergleich mit dem Transport anderer Produkte und Rohwaren und Werkstoffe wie Salz und Zinn und Zement, Öle und Fischsoßen, all die unverzichtbaren Dinge des Römischen Reichs. Doch der fehlende Zuhörer wollte nicht auftauchen. Oder richtiger, er kam erst in der Pause nach Ende des Vortrags und suchte sich einen Platz zwei Reihen höher. Er ging die Treppe zu den obersten Reihen hinauf, und kurz darauf wurde um Fragen gebeten. Diesmal trug der Neuankömmling ein blaues Hemd, aber es gab für mich keinen Zweifel, dass er es war. Er hatte wieder seine Jacke über dem Arm und seine Tasche über der Schulter und erreichte seinen Platz, bevor die erste Frage gestellt wurde.
Wieder hatte ich selber eine Frage in petto. Diesmal hatte ich sie mir notiert. Ich wollte wissen, ob es stimmen konnte, dass die Römer – trotz ihrer Probleme, Getreide sowohl für die Einwohner von Rom als auch für die in den Provinzen stationierten Legionen zu beschaffen – zu keiner Zeit Roggen gegessen oder importiert hätten, und ob die Tatsache, dass Weizen nördlich der germanischen Grenze einen geringeren Ertrag brachte, eventuell mit dazu beigetragen habe oder womöglich ein entscheidender Faktor gewesen sei, dass die römische Expansion nach Norden ins Stocken geraten war.
Es war mir natürlich schon bewusst, dass etwas nicht stimmte. Nicht nur, dass ich mich vielleicht als Einzige im Saal für die Beziehung der Römer zum Roggen interessierte, sondern auch – oder vielmehr besonders –, dass der Mann, der da eben die Treppe heraufgestiegen war, ein Hemd in der falschen Farbe anhatte. Denn der achtzehnte November wechselt keine Hemden. Der achtzehnte November wiederholt sich, und die Passagiere des achtzehnten Novembers tragen nicht verschiedene Hemden zur gleichen Zeit des Tages. Im achtzehnten November haben Menschen Muster, und solange man sie nicht von ihren festgelegten Routen wegzieht, halten sie sich an die Plätze, die sie einnehmen. Und bewegen sich nicht an einem Tag die Treppe hinunter und am nächsten die Treppe hinauf.
Während sich der Mann im grünen Hemd, das heute also blau war, die Treppe hinaufbewegte, wurde mir langsam klar, dass ich nicht die Einzige war, deren Eintritt in den achtzehnten November schiefgelaufen war. Selbstverständlich konnte es andere Erklärungen geben, und einige davon habe ich sogar in Betracht gezogen, aber eins war klar: Es war ein Bruch des Musters, und die einzige sinnvolle Erklärung war, dass der Mann, der sich gerade in eine der oberen Reihen setzte, in der Zeit gefangen war.
Natürlich kam ich nicht dazu, meine vorbereitete Frage zu stellen, denn das Einzige, woran ich denken konnte, war der Zuhörer zwei Reihen hinter mir. Ich fühlte, dass er mich hin und wieder anschaute. Ich war genauso angezogen wie am Tag zuvor und war mir sicher, auch auf demselben Platz zu sitzen, sodass ich nicht recht verstand, womit ich seine Aufmerksamkeit erregte. Vielleicht hatte ich ihn zu lange angestarrt, als er die Stufen heraufkam, vielleicht hatte er gefühlt, dass ich ihm auf einmal so außerordentliche Beachtung schenkte.
Es konnte aber auch sein, dass er bereits wusste, dass ich mich in einer anderen Zeit befand. Jedenfalls hatte ich verstanden, was mit ihm nicht stimmte, und ich fand es unheimlich. So als ginge man mitten in der Nacht nackt auf einer leeren Straße und begegnete plötzlich einem anderen Menschen, der mitten in der Nacht nackt auf einer leeren Straße ging. So fühlte es sich an. Nackt. Wie eine Enthüllung.
Bei der letzten Frage aus dem Plenum packte ich meine Notizen zusammen, machte meine Tasche zu und war bereit hinauszueilen. Der Mann im blauen Hemd, die Jacke wie gewohnt überm Arm, hatte sich während der Fragen zurückgelehnt und erhob sich jetzt von seinem Platz. Ich machte es ihm nach, erreichte die Treppe in dem Moment, als er auf der Höhe meiner Reihe war, räusperte mich dezent und sagte, ich würde ihm gern ein paar Fragen stellen.
Er nickte. Ich mühte mich mit meiner Tasche aus meiner Sitzreihe, und wir gingen gemeinsam die Treppe hinunter. Auf dem Weg fragte ich ihn mit einer etwas zittrigen Stimme – ich weiß nicht, ob mich meine mangelnden Deutschkenntnisse oder die ungewohnte Situation nervös machten, wahrscheinlich beides –, ob er auch eine Wiederholung sei. Ein Wiederholung, sagte ich und dachte sofort, dass es wahrscheinlich eine Wiederholung hätte heißen müssen. Die Kombination aus meinem Akzent, meinem Grammatikfehler und der Merkwürdigkeit des Satzes ließ die Frage wunderlich klingen. Er nickte bloß, besann sich dann aber anders und zeigte durch den Hörsaal. Eigentlich, sagte er, sei alles das hier eine Wiederholung. Ich nickte und sagte, das sei vermutlich die genauere Formulierung, denn nun war ich sicher, dass auch er im achtzehnten November feststeckte.
Er schlug vor, eine Tasse Kaffee zusammen zu trinken. Ich willigte ein, und wir gingen zur Cafeteria, die voll besetzt war. Hier einen freien Tisch zu finden, an dem wir uns ungestört unterhalten konnten, wäre schwierig gewesen, also schlug er vor, dass wir uns einen Kaffee am Automaten holten, der etwas weiter hinten im Gang stand. Auf dem Weg machte er seine Tasche auf und kramte sein Notizbuch heraus, und bevor er sie wieder zumachte, konnte ich einen grünen Zipfel erkennen, sicher von seinem grünen Hemd. Dann fragte er mich, wie ich den Kaffee gern hätte.
Während er die Getränke holte, ging ich zu einer Tischgruppe in der Ecke. Da saßen nicht viele Leute, und ich stellte meine Tasche ab, um ihm mit dem Kaffee zu helfen, den er in einem unglaublichen Balanceakt durch den Raum trug. Seine große Tasche drohte ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen, und ich beeilte mich, ihm einen Pappbecher abzunehmen, ehe er womöglich ernsthaft ins Straucheln geriet. Als wir uns setzten, fiel mir ein, dass wir uns noch gar nicht vorgestellt hatten. Ich heiße Tara Selter, sagte ich. Sein Name war Henry Dale.
Er berichtete, dass er seinerzeit, das heißt, ehe die Zeit aus den Fugen geriet, genauer gesagt am sechzehnten November, nach Düsseldorf gekommen sei, weil er an einer Universitätskonferenz teilnehmen sollte. Er sei Norweger, habe aber in Freiburg und Düsseldorf studiert. Vor langer Zeit, sagte er. Er sei Soziologe. Gewöhnlich wohne er in Oslo. Jetzt halte er sich meistens in Deutschland auf. Oder den USA, aber das sei eine längere Geschichte, sagte er.
Ich erzählte ihm, dass ich einst Anthropologie studiert hätte. Jetzt sei ich Buchhändlerin oder richtiger gesagt, zurzeit sei ich keine Buchhändlerin. Zurzeit sei ich nichts. Ich würde mich für das Römische Reich interessieren. Für seine Grenzen. Oder vielmehr, so sei es bis vor Kurzem gewesen. Jetzt schienen sich die Grenzen auflösen zu wollen. Mein Horizont habe sich erweitert.
Aber sonst sei ich nichts. Ich lebte in einem Novembertag. In einer Wiederholung. Ich hätte versucht, die Zeit vergehen zu lassen. Aber nun stehe sie still. Der achtzehnte November sei ein Behälter, jedenfalls sähe ich es so. Ich hätte versucht zu verstehen, wieso ich hier sei. Und so wenig Schaden wie möglich anzurichten. Gefangen in einem goldenen Käfig, sagte ich und fing an zu erklären, was ich damit meinte. Oder vielleicht sei ich ein Monster. Das die Welt verzehre. Ein Ungeheuer im achtzehnten November. Ich hörte selbst, dass meiner Erklärung etwas fehlte. Ich sah ihn an. Er schwieg. Aber dann ist er auch eins, dachte ich im selben Augenblick, jetzt sind wir zwei.
Ich fragte ihn, wann ihm klar geworden sei, dass er nicht der einzige Gefangene im achtzehnten November war. Erst, als ich ihn gefragt hätte, antwortete er. Aber er habe sich schon gedacht, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Deshalb sei er wiedergekommen. Als er sich in der Sitzreihe im Hörsaal an mir vorbeizwängte, habe er das Gefühl gehabt, es sei etwas Sonderbares an mir.
Nachdem wir den Kaffee getrunken hatten, blieben wir noch eine Weile mit unsern leeren Pappbechern in dieser ungewohnten Lage sitzen. Ich dachte kurz, ich hätte ihn mit meinen komischen Bemerkungen abgeschreckt, aber als ich vorsichtig vorschlug, in die Stadt zu gehen und etwas zu essen, nickte er und stand auf.
Er hängte seine Tasche über die Schulter, griff nach den Bechern und warf sie in einen Abfalleimer. Ich nahm meine Tasche vom Boden auf, und wir verließen die Universität. Zwei Reisende mit Taschen, die für die Situation ein wenig zu groß waren.
Ein paar Stunden später ging ich nach Hause – verwirrt und mit einem Gefühl der Unwirklichkeit. Denn eigentlich war es schier unmöglich, dass zwei Menschen unabhängig voneinander im selben achtzehnten November gefangen sein konnten. Und wenn es nicht unmöglich war, wäre es ganz und gar unwahrscheinlich, dass gerade diese beiden Menschen sich begegneten.
Und heute Morgen trafen wir uns also im Café Möller. Wir hatten beide Angst gehabt, die Erinnerung an unsere Begegnung würde im Laufe der Nacht aus dem Bewusstsein des anderen verschwinden, aber sie blieb, wo sie war. In zwei Bewusstseinen, nicht in einem.
Ich hatte fast kein Auge zugetan. Henry hatte ein paar Stunden geschlafen, aber als er aufwachte, konnte er sich an alles erinnern. Er wusste noch von unserer Begegnung. Dass wir Kaffee getrunken hatten. Er wusste noch, dass wir in die Stadt gegangen waren, es war ein Spaziergang mit vereinzelten Sätzen, aber vor allem mit einem Schweigen zwischen uns, das zeigte, dass wir beide Ruhe brauchten, um zu verstehen, was passiert war. Er wusste noch, dass wir in einem japanischen Restaurant gegessen hatten. Und worüber wir gesprochen hatten.
Ich schreibe es gleich noch einmal: Ich habe einen Menschen getroffen, der sich erinnert. Seit heute früh summt der Satz in meinem Kopf, und jetzt schreibe ich ihn hier am Computer in mein Dokument, das ich gleich ausdrucke. Auf Papier, auf dem sich erinnernden Material, bis gestern der einzige Ort, wo ich ein wenig Gedächtnis erwarten konnte, mein einziger Zeuge, mein Vertrauter.