6,99 €
In dem Buch werden einunddreißig Romane Simenons besprochen, die berühmten Gipfelwerke, "Der Schnee war schmutzig", "Der Präsident", "Die Glocken von Bicêtre", "Der kleine Heilige", aber auch weniger bekannte exzellente Titel. Der Bericht über die Lektüre schließt mit einem Aufsatz über die Frage, warum uns Simenons traurige Geschichten gefallen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 304
Veröffentlichungsjahr: 2019
Das Buch
In dem Buch werden einunddreißig Romane Simenons eingehender besprochen, darunter die berühmten Gipfelwerke, Der Schnee war schmutzig, Der Präsident, Der Sohn, Die Glocken von Bicêtre, Der kleine Heilige, aber auch weniger bekannte exzellente Titel und eine Reihe solider Erzählungen mittleren Ranges. Die Romane werden aber nicht als Serienprodukte behandelt; vielmehr wird jeder Roman als originelles, in sich bestehendes und für sich einnehmendes Werk betrachtet und als solches gewürdigt. Der Bericht über die Lektüre schließt mit einem Aufsatz, der zu begründen versucht, warum uns Simenons traurige Geschichten gefallen.
Der Autor
Josef Quack, Jg. 1944, Dr. phil., Publikationen:
Bemerkungen zum Sprachverständnis von Karl Kraus. 1976.
Die fragwürdige Identifikation. Studien zur Literatur. 1991.
Künstlerische Selbsterkenntnis. Über E.T.A Hoffmann. 1993.
Wolfgang Koeppen, Erzähler der Zeit. 1997.
Die Grenzen des Menschlichen. Über Simenon & Co. 2000.
Geschichtsroman und Geschichtskritik. Döblins „Wallenstein“. 2004.
Diskurs der Redlichkeit. Döblins „Hamlet“. 2011.
Wenn das Denken feiert. Philosophische Rezensionen. 2013.
Zur christlichen Literatur im 20. Jahrhundert. (2014.
Über das authentische Selbstbild. Zum Tagebuch. .2016.
Über die Rückschritte der Poesie dieser Zeit .2017.
Lehrjahre in St. Wendel und St. Augustin. 2018.
(www.j-quack.homepage.t-online.de)
Josef Quack
ÜberSimenons traurige Geschichten
Bemerkungen
© 2019 Josef Quack
ISBN 978-3-7497-1433-9 (Paperback)
ISBN 978-3-7497-1434-6 (Hardcover)
ISBN 978-3-7497-1435-3 (e-Book)
Verlag und Druck: tredition GmbH
Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Inhalt
Vorbemerkung
I. Verfehltes Leben
Die schielende Marie
Maigret und die junge Tote
Zum Film
Schlußlichter
Ein Neuer in der Stadt
Der kleine Mann aus Archangelsk
Die Alte
Der Mann mit dem kleinen Hund
November
II. Finstere Zeiten
Der Schnee war schmutzig
III. Moralische Geschichten
Die Zeugen
Maigret vor den Geschworenen
Die Komplizen
Unbestraftes Verbrechen
Die Anderen
IV. Mißgeschick
Der Sohn
V. Warum ein Mensch zum Mörder wird
Der Mann aus London
Die Wahrheit über Bébé Donge
Der Plüschbär
VI. Geschichten der Flucht
Der ältere Bruder der Ferchaux
Der Mann, der den Zügen nachsah
Die Flucht von M. Monde
Nachtzug nach Lissabon (P. Mercier)
VII. Politiker literarisch betrachtet
Der Präsident
Maigret beim Minister
Das Treibhaus (W. Koeppen)
Bericht über Bruno (J. Breitbach)
Schlußbemerkung
VIII. Randfiguren der Gesellschaft
Am Ende der Kunst
Der blinde Passagier
Striptease
Ausgestoßen
Antoine und Julie
Maigret und der Clochard
IX. Jenseits des Engagements
Die Glocken von Bicêtre
X. „Eine Art Hymne an das Leben“
Der kleine Heilige
Warum uns Simenons traurige Geschichten gefallen
Literatur
Vorbemerkung
Man kennt das Verhalten passionierter Simenon-Leser, das André Gide wohl als erster beschrieben hat: Wenn sie mit der Lektüre eines Romans beginnen, erfaßt sie ein Lesefieber, das erst dann abklingt, wenn sie ein halbes Dutzend seiner Romane verschlungen haben. Es scheint, als teile die konzentrierte Leidenschaft, mit der die Werke geschrieben wurden, sich dem Leser unmittelbar mit.
Damit habe ich auch angedeutet, wie diese Besprechungen zustande gekommen sind. Je nach Lust und Laune habe ich nach einem Roman gegriffen und dann ein paar weitere Bücher ausgewählt, von denen ich annahm, daß sie von ähnlichen Themen und Schicksalen handeln. Ich hatte nicht die geringste Absicht, die Non-Maigret-Romane Simenons in ähnlicher Weise, d.h. halbwegs systematisch, zu untersuchen, wie ich die Maigrets beschrieben habe. Es gibt längst Handbücher, die das Universum Simenons ausführlich präsentieren. Ich wollte nur von meinen Lektüre-Eindrücken berichten und den Gedanken, die ich mir darüber machte, unbekümmert um die Sekundärliteratur, nur gestützt auf meine Kenntnis seines Œuvres, seiner Memoiren und des verwunschenen Tagebuchs von 1960-63, von dem er die Passagen über seine Frau später widerrufen hat. Als nützlich erwies sich auch die Biographie von Pierre Assouline, eine sachlich-kritische Beschreibung seines Lebens. Zu den Rezensionen über Simenon sei nur noch angemerkt, daß das schulterklopfende Lob, mit dem manche Journalisten Simenon bedenken, nur ihre eigene Banausie verrät.
Was meine Auswahl der Romane angeht, so konnte ich die vielgerühmten Meisterwerke, herausragende Beispiele des modernen Romans, natürlich nicht übergehen: Der Schnee war schmutzig, Der Präsident, Der Sohn, Die Glocken von Bicêtre, Der kleine Heilige. Ich habe diese originellen Erzählwerke also mit einer Bewunderung gelesen, die an Ehrfurcht grenzt, und meine Meinung darüber gesagt. Ich habe aber auch andere Romane entdeckt, die es meines Erachtens verdienen, in diese erlesene Reihe aufgenommen zu werden: Der kleine Mann aus Archangelsk, Der Mann mit dem kleinen Hund, Die Komplizen, Der Mann, der den Zügen nachsah. Die Flucht von M Monde. Und dann habe ich noch einige Romane gefunden, die man, eine Wendung Arno Schmidts gebrauchend, unverächtliche Meisterwerke zweiten Ranges nennen könnte.
Nicht auslassen wollte ich den umstrittensten seiner Romane: Der Plüschbär. Hier fragt es sich, ob der große Menschenkenner sich in der Deutung eines Verbrechens geirrt hat, oder ob seine Erzählkunst an eine Grenze gekommen ist, so daß er einmal nicht darstellen konnte, was er darstellen wollte – und dies, obwohl das Werk in formaler Hinsicht nahezu vollkommen ist.
In der Literaturkritik hat man seine Romane meist als psychologische Romane oder Schicksalsromane bezeichnet, was, recht verstanden, wohl zutrifft, einen wesentlichen Aspekt aber nicht berücksichtigt. Es sind nämlich oft moralische Geschichten, die erzählen, wie Menschen schuldig werden und wie sie mit ihrer Schuld fertig zu werden versuchen. Diesen wenig gewürdigten Aspekt der Romane wollte ich betonten, so wie ich seinerzeit die Last der Verantwortung analysiert habe, die Maigret bedrückt.
Der abschließende Essay ist kein Resümee der Besprechungen, keine Zusammenfassung der Themen, Motive und Erzählweisen, nichts dergleichen, sondern eine Reflexion über die Frage, warum uns Simenons Romane gefallen, obwohl sie meist traurige Geschichten erzählen – in meinen Augen ein Paradox, das dringend nach einer Erklärung verlangt.
Schließlich noch ein Wort zu den Werkausgaben, die ich verwendet habe. Da Simenons Prosa im wesentlichen rhythmisch geprägt ist und die deutsche Sprache einen immanenten Rhythmus hat, der sich von dem Rhythmus des Französischen fundamental unterscheidet, habe ich meistens Originalausgaben benutzt und die Zitate so genau wie möglich übersetzt. Die Übersetzungen, die ich geprüft habe, erwiesen sich alle als ungenau und weit unter dem Niveau des Originals. So wurde mit dem deutschen Titel die Lösung des Rätsels eines Romans mitgeteilt und dem Leser die Spannung genommen – ein einmaliger Fall in der Kriminal-Literatur, der zeigt, wie lässig man Simenons Werk behandelt.
Ich habe nicht nur Bücher von Simenon besprochen, sondern auch das Treibhaus von Wolfgang Koeppen und den Bericht über Bruno von Joseph Breitbach herangezogen, um das politische Thema durch analoge Geschichten zu illustrieren. Auch habe ich den Nachtzug nach Lissabon von Pascal Mercier skizziert, um wenigstens ein renommiertes Buch aus der Wirkungsgeschichte Simenons vorzustellen.
I. Verfehltes Leben
Greift nur hinein in’s volle Menschenleben!
Ein jeder lebt’s, nicht vielen ist’s bekannt,
Und wo ihr’s packt, da ist’s interessant.
GOETHE
Il faut regarder la verité en face.
Man muß der Wahrheit ins Gesicht sehen.
MAIGRET
Ein Pop-Sänger schreibt Texte, in denen Anspielungen auf die hohe Literatur vorkommen – und erhält dafür den Nobel-Preis! Kein Zweifel, wir leben in banausischen Zeiten, wo es genügt, die Literatur vom Hörensagen zu kennen, um preiswürdig zu sein. Was aber soll man lesen, wenn man kultivierte Unterhaltung sucht und wenn auch die anämische Neuerscheinungs-Literatur unserer Tage nicht den geringsten Anreiz bietet und man nicht in der Stimmung ist, Goethe oder Shakespeare zu lesen?
Richtig, man kann Simenon lesen, den großen Menschenkenner und großen Realisten, den fruchtbarsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, den Schöpfer eines Universums aus rund zweihundert Romanen, ein Schatz von überraschenden Einsichten in die Beschaffenheit der menschlichen Natur.
Simenon ist deshalb einer der überzeugendsten Realisten der modernen Literatur geworden, weil er die einfache, aber überwältigend bunte Alltäglichkeit, die unüberschaubare Vielfalt menschlichen Verhaltens und Erlebens wie kein anderer kannte und aufgrund zahlreicher kleinster Beobachtungen genau beschrieb. Er war ein Genie der sinnlichen Vergegenwärtigung; er konnte die Atmosphäre einer Stunde, eines Tages, der Jahreszeit, die Stimmung eines Ortes oder einer Situation wie kein anderer Romancier seiner Zeit einfangen und wiedergeben, und er hatte die verblüffende Gabe, Personen schildern zu können, an deren Lebendigkeit niemand zweifeln konnte (Quack 2000, 13ff.).
Als ein Muster seiner ungezählten Kleinst-Beobachtungen will ich nur den folgenden Satz anführen, der beschreibt, wie Maigret bei Glatteis vorsichtig über den Bürgersteig geht und nichtsdestoweniger schwer gefallen ist: „et il était resté assis un bon moment sur le sol, ahuri et honteux“ (und er blieb eine Weile auf dem Boden sitzen, verblüfft und beschämt) (Maigret et l’affaire NahourS.8). Genau diese Erfahrung, verblüfft und beschämt zu sein, kann jeder bestätigen, der das gleiche erlebt hat.
Eine andere Eigenart dieses Menschenkenners will ich etwas ausführlicher beschreiben. Wie viele Maler, die ein Sujet in mehreren Bildern aus verschiedenen Ansichten oder in abweichenden Formen darstellen, so liebt es auch Simenon, ein Handlungsmotiv oder einen Typus menschlicher Beziehungen aus verschiedenen Perspektiven in mehreren Romanen zu schildern. Eines dieser Motive ist die vielfach bestätigte Erfahrung, daß sehr oft zwei junge Mädchen aus der französischen Provinz nach Paris kamen, um hier ihr Glück zu suchen.
Ich werde dieses Motiv und andere Themen zunächst nicht als durchgehenden Aspekt im gesamten Werk beschreiben, sondern als charakteristisches Merkmal eines einzigen Romans, weil das einzelne Werk die Grundeinheit der Literatur ist, die den genauen Sinn eines Motivs, eines Thema, eines Gedankens bestimmt, und bevor man das Gesamtwerk charakterisiert, muß man die einzelnen Werke kennen. Allerdings werde ich mich jeweils auf die wesentlichen Elemente eines Romans beschränken und die meisten Werke nicht so ausführlich besprechen, wie sie es eigentlich verdient hätten.
Die schielende Marie
Jenes Motiv hat Simenon in Marie qui louche (1951) dargestellt, in einem zweiteiligen Roman über Dienstmädchen, der aber natürlich kein Dienstmädchen-Roman ist. Der erste Teil schildert das Leben und Treiben zweier Hausangestellten, Marie und Sylvie, in einer kleinen Familienpension nahe La Rochelle im Jahr 1922; der zweite Teil erzählt von ihrer Wiederbegegnung nach dem Krieg und ihrem schließlich untrennbaren Zusammenleben. Es gestaltet sich am Ende genau so, wie es Sylvie vorhergesagt hatte: „Wenn ich reich sein werde, nehme ich dich als Dienerin, und du machst mir jeden Morgen das Haar.“ (S. 63)
Es wäre aber nicht ganz treffend, die Beziehung zwischen der schielenden Marie und der hübschen, ihre natürlichen Reize bewußt als Mittel für ihr gesellschaftliches Fortkommen einsetzenden Sylvie als das Verhältnis einer Dienerin zu ihrer Herrin zu beschreiben. Denn Marie kommt als Angestellte in ihrem Milieu ganz gut zurecht, sie handelt durchaus selbständig und selbstbewußt. Vielmehr ist es so, daß Sylvie, als Gefährtin eines reichen Mannes, im entscheidenden Augenblick, wo es darum geht, ihre Stellung zu sichern, auf die loyale Hilfe Maries angewiesen ist. Das aparte Thema des Romans ist die merkwürdige, zweckmäßig nüchterne, unsentimentale, aber doch nicht gefühllose Beziehung zwischen zwei ungleichen Frauen, eine menschliche Beziehung im Grenzgebiet von Freundschaft und Kameradschaft.
Maigret und die junge Tote
Simenon hat das Motiv der zwei Mädchen aus der Provinz, die in Paris ihr Glück suchen, in Maigret et la jeune morte (1954) wieder aufgegriffen, um diesmal eine Beziehung mit fatalem Ausgang zu beschreiben. Es handelt sich um einen Unterhaltungsroman auf höchstem literarischem Niveau, der manches Werk der hohen Literatur als arg gekünstelt erscheinen läßt, und dies aus mindestens drei Gründen.
(1) Es ist ein außergewöhnlicher Detektivroman, geht es hier doch zunächst nicht darum, die Identität des Mörders zu ermitteln, sondern die Identität und Person des Opfers, und dieses Opfer, ein von allem Glück verlassenes Mädchen, erscheint im Laufe der Ermittlung mit einer beklemmenden Intensität dargestellt, die selbst im Œuvre Simenons ungewöhnlich ist. Nach ihrem Tod erfährt die junge Frau ein Verständnis, ein Mitgefühl und eine Aufmerksamkeit, wie sie es in ihrem ganzen Leben nie erlebt hatte. Louise Laboine, die Tochter einer halbverrückten süchtigen Spielerin verläßt mit sechzehn Jahren ihre Mutter und trifft im Zug nach Paris Jeanine Armenieu, ein anderes Mädchen mit dem gleichen Ziel, aber besserem Geschick und besseren Karten. Louise gelingt es nicht, in der Großstadt Fuß zu fassen, und zum Schluß wird sie durch Zufall das Opfer eines Mordes.
(2) Als Gegenstand einer Ermittlung wird sie selbstverständlich nur aus der Außenperspektive dargestellt, doch gewinnt ihre Gestalt auf diese Art nach und nach die lebendigsten Konturen, so daß Maigret ihre Mentalität genau kennt und mit diesem Wissen den Mörder sozusagen automatisch findet – erzähltechnisch ein Geniestreich, wie er Simenon nur in den besten Maigret-Romanen und in wenigen anderen Romanen gelungen ist. Man kann nur staunen, daß Louise, das Objekt der Detektiv-Erzählung, uns genau so lebendig und plastisch vorkommt wie die beiden Frauen des Marie-Romans, die doch direkt vor unseren Augen handeln und wandeln, als seien sie reale Personen.
(3) Hinzukommt ein weiteres Moment der formalen Gestaltung des unglücklichen, trostlosen Schicksals von Louise. Diese Gestaltung beruht im wesentlichen auf der Evokation der Atmosphäre in der gegebenen Situation, eine Schilderung, die hauptsächlich durch den unverwechselbaren Rhythmus der Prosa Simenons ausgezeichnet ist und an Eindringlichkeit und Überzeugungskraft nicht ihresgleichen hat. Das heißt aber auch, daß diese Prosa ihre Kunst nur im Französischen entfaltet, in welcher Sprache der Hauptakzent meist auf dem Satzende ruht.
So schließt ein Kapitel mit dem höchst anschaulichen, wunderbar ausbalancierten, auf die Katastrophe zustrebenden Satz: „Louise, qui n’avait jamais su organiser sa vie, qui n’avait trouvé, pour s’y raccrocher, qu’une fille rencrontrée dans un train, marchait vite, toute seule sous la pluie fine, comme si elle était pressée de rencontrer son destin“ (S. 189). (Louise, die niemals ihr Leben zu organisieren gewußt hat, die nur im Zug einem Mädchen begegnet ist, um sich daran festzuklammern, ging schnell, ganz allein unter dem feinen Regen, wie wenn sie es eilig hätte, ihrem Schicksal zu begegnen.)
An anderer Stelle gibt Simenon ein Resümee des verzweifelten Mädchens in dem meisterhaft konzentrierten Stil Candides und mit dem weiten Ausblick auf das Universum, eine kosmische Geste, die wiederum an die Perspektive auf das Weltall bei Blaise Pascal und Joseph Conrad erinnert: „Während der Jahre hatte Louise hartnäckig ihren Platz gesucht, ohne ihn zu finden. Verloren in einer Welt, die sie nicht verstand, hatte sie sich verzweifelt an die erste Beste geklammert und diese hatte sie schließlich im Stich gelassen. // Allein, versteifte sie sich in einem feindlichen Universum, wo sie vergeblich die Spielregeln zu lernen suchte.“ (S. 216) Das eindringlichste Bild der nicht nur sozialen Isolation, sondern der kosmischen Einsamkeit eines verzweifelten Menschen.
Übrigens wird in diesem Maigret ganz nebenbei ein anderes Leitmotiv erwähnt, das Simenon auch mehrmals dargestellt hat. Er erwähnt den Vater der Unglücklichen, der eines Tages ausgeht, um Zigaretten zu kaufen, und nicht zurückkehrt (S. 148). Ich werde auf dieses Thema, die plötzliche Flucht eines Menschen aus seinem Alltagsleben, zurückkommen.
Auch verweist Maigret, mit einer gewissen Ironie, verstehend auf die Beziehung einer kleinen Ladenbesitzerin zu jungen mittellosen Frauen, die sie für einige Zeit gleichsam als ihre Sklavinnen hält. Eine analoge Beziehung, aber in der ernstesten Variante, ein Herr-Knecht-Verhältnis, hat er dann in Maigret et l’affaire Nahour geschildert, das Verhältnis zwischen einem begüterten Berufsspieler aus einer Bankiersfamilie und einem ausgehaltenen armen Bekannten, der sich wegen dieser Demütigung schließlich rächt und dafür mit dem stillschweigenden Verständnis Maigrets rechnen kann.
Zum Film
Exemplarisch aber hatte Simenon die Beziehung zwischen einem Sekretär und seinem Chef, wobei der Sekretär am Ende die Oberhand gewinnt, in dem Roman L’aîné des Fercheaux (1945) dargestellt (cf. Kap. VI), und Jean-Pierre Melville hat daraus einen exzellenten Film gemacht mit Charles Vanel und Jean-Paul Belmondo in den Hauptrollen (1963).
Simenon und der Film ist ein gewichtiges Kapitel für sich, zu dem ich hier nur ein paar sparsame Anmerkungen machen kann, auch deshalb, weil ich außer dem genannten Film und der Maigret-Serie mit Rupert Davis keine anderen Verfilmungen selbst gesehen oder in Erinnerung habe.
Erstens hat Simenon wie kein anderer Romancier seiner Zeit den Film entscheidend beeinflußt. Wie der Maler Maurice de Vlaminck schon vor dem Krieg feststellte, hat der französische Film von Simenon gelernt, wie man unter den Bedingungen dieses Genres Atmosphäre darstellt (Schmölders 1978, 46).
Jedoch konnte Simenon selbst keine Drehbücher schreiben, zumindest nicht Drehbücher auf dem Niveau seiner Romane. Dies ist nur für den merkwürdig, der den Unterschied der beiden Gattungen nicht in Betracht zieht.
Drittens und hauptsächlich: Simenons Romane eignen sich vorzüglich dazu, verfilmt zu werden, was die lange Reihe geglückter Verfilmungen seiner Werke beweist. Freilich hatte er auch Regisseure gefunden, die Meister ihres Fachs waren, und die namhaftesten französischen Stars der Zeit haben seinen Romanpersonen ihr Gesicht gegeben, von Jean Gabin bis Lino Ventura, von Brigitte Bardot bis Simone Signoret und vielen anderen.
Wie anders sieht die Sache dagegen zum Beispiel bei Thomas Mann aus. Seine Romane haben, abgesehen vielleicht von den Buddenbrooks, die aber nicht den richtigen Regisseur fanden, die Probe der Verfilmung offensichtlich nicht bestanden. Zu sehen waren Kunstfiguren, keine lebendige Menschen – „Kunst“ im Sinne von Kunsthonig verstanden. Dies trifft selbst dann zu, wenn man die Einsicht der Filmtheorie Siegfried Kracauers berücksichtigt, daß es Phänomene des inneren Erlebens, der Reflexion und der Zeiterfahrung gibt, die der Film als Medium der „Rettung der äußeren Realität“ mit den ihm eigenen Mitteln nun mal nicht darstellen kann (cf. Quack 2016, 31).
Schlußlichter
Feux rouges, 1953 in Amerika geschrieben, ist ein amerikanischer Roman, eine Reise-Erzählung im Stil eines Road-Movie. Ein Großteil der Handlung spielt sich in einem Auto ab, das von New York unterwegs zu einem Ferienlager in Maine ist, von wo Stève, ein Angestellter anfangs der Dreißiger, und seine Frau ihre Kinder abholen wollen. Auf der monotonen Fahrt kommen in dem Gehäuse des Autos die Spannungen in der Eheroutine der beiden zum Vorschein, und schließlich ereignet sich ein Eklat, d.h. die Frau trennt sich von ihrem Mann, um allein per Anhalter weiterzureisen, während Stève wenig später gezwungen ist, einen entlaufenen Sträfling mitzunehmen. Die Frau wird im Laufe der Ereignisse Opfer der Gewalt dieses Sträflings, der krasseste Bruch der Alltagsroutine, den man sich vorstellen kann. Im Krankenhaus wagt das Paar dann einen Neuanfang, eine Rückkehr zur Normalität in geläutertem Geist. Insgesamt ein Eheroman, der auch Lesern gefallen kann, die sonst von diesem Genre wenig halten.
Wenn man nach den Vorzügen dieses Romans fragt, kann man zwei unverächtliche Aspekte nennen. Simenon ist es auf seine unaufdringliche Art gelungen, das puritanische schlechte Gewissen, das Schuldgefühl, durchscheinen zu lassen, das sozusagen jeder normale Amerikaner beim Trinken von Schnaps und anderen Alkoholika verspürt.
Vor allem aber kann man nicht genug die Intensität betonen, mit denen er das Erleben Stèves aus der Innenperspektive schildert.
Simenon erweist sich wiederum als ein Meister in der Schilderung der Gedanken- und Gefühlswelt seiner Personen. Am Beispiel des von regelmäßigen Drinks abhängigen Stève beschreibt er die allmähliche Verengung des bewußten Erlebens, das allmähliche Verlöschen oder Verdämmern des seiner selbst bewußten Geistes.
Es ist dies ein Gegenstück zu der Schilderung des aus der Bewußtlosigkeit erwachenden Geistes, die er in einem seiner bedeutendsten Romane, Les anneaux de Bicêtre, unvergeßlich und einzigartig dargestellt hat. Ich werde darauf zurückkommen.
Doch bleibt auch die Schilderung der abnehmenden Aufmerksamkeit und erlöschenden Selbstwahrnehmung des ins Unbewußte versinkenden Geistes in Feux rouges als psychische Erkundung und bewundernswerte Stilübung in bester Erinnerung.
Ein Neuer in der Stadt
Während die Schlußlichter, die Simenon am Ende seiner amerikanischen Jahre geschrieben hat, das amerikanische Milieu sozusagen als selbstverständlichen Hintergrund und Schauplatz der Handlung haben, merkt man dem Roman Un nouveau dans la ville (1949) ein wenig zu sehr an, daß Simenon die typisch amerikanischen Zustände an der Nordostküste des Landes als exotische Szenerie oder Folklore auffaßt, die die fremdartigsten Menschentypen beherbergt. Simenon war übrigens Ende 1945 nach Amerika gekommen. Immerhin hat er als eine der Hauptfiguren einen gebürtigen Italiener gewählt, dessen Mentalität dem europäischen Leser nicht gar zu fremd ist.
Für unseren Zusammenhang ist der Roman deshalb von Interesse, weil darin wiederum eines der großen Themen Simenons zum Ausdruck gelangt: die soziale Vereinzelung eines Menschen, seine Ausgrenzung aus der menschlichen Gemeinschaft einer Stadt oder eines Dorfes. Hier hat er aber einen Fremden gewählt, dem gegenüber das gemeinschaftliche Mißtrauen in gewisser Hinsicht sogar gerechtfertigt ist und von dem Neuling auch durchaus bewußt provoziert und genährt wird. Die anhaltende Spannung dieser Erzählung geht darauf zurück, daß der unerwartete Neuling und sein herausforderndes, verächtliches Verhalten immer nur von außen, aus der Perspektive des italienischen Barbesitzers beschrieben wird.
Man sieht übrigens an diesem Roman, daß ein Könner wie Simenon einfach kein schlechtes Buch schreiben kann. Daß es trotz seiner Schwächen auf intelligente Weise unterhaltsam ist, braucht nicht eigens gesagt zu werden.
Der kleine Mann aus Archangelsk
„Zur Weltliteratur der letzten dreißig Jahre würde ich ‚Der kleine Mann aus Archangelsk’ von Simenon rechnen. Die Tragödie an sich ist allerdings zeitlos, aber sie spielt vor dem Hintergrund unserer Zeitgeschichte. Das ist das traurigste Buch, das ich kenne.“ So schrieb Hans Erich Nossack im Juni 1968 über Le petit homme d’Arkhangelsk (1956) und dieses Urteil kann man auch heute nur unterschreiben. In dem Roman geht es um zwei für Simenons Werk bezeichnende Themen, die sich hier in unheilvoller Weise verbinden, so daß daraus ein Verhängnis folgt, dem der bescheidene Titelheld am Ende nicht entgehen zu können glaubt: das Thema der plötzlichen Flucht aus dem gewohnten Leben und das Thema der gesellschaftlichen Isolierung eines Menschen.
Jonas Milk, Russe von Geburt, kam als Kind nach der OktoberRevolution nach Frankreich und lebt nun als Buchverleiher, Buchantiquar und Briefmarkenhändler in einer Kleinstadt nahe Bourges. Er ist seit zwei Jahren mit der wesentlich jüngeren Gina verheiratet, die für ihre Männerbeziehungen bekannt ist und die ihm mehr schlecht als recht den Haushalt besorgt. Eines Abends verläßt sie unter einem harmlosen Vorwand das Haus, um nicht mehr wiederzukommen. Als Jonas am nächsten Morgen nach ihr gefragt wird, begeht er den entscheidenden Fehler, der den Anstoß für das folgende Verhängnis wird. Er antwortet mit der Lüge, Gina sei nach Bourges gegangen, und obwohl er im gleichen Augenblick intuitiv weiß, daß er unrecht hatte zu lügen, bleibt er „aus Furchtsamkeit, einem Mangel an Kaltblütigkeit“ bei seiner Lüge und verstrickt sich bald in ein „Netz von Lügen“ (S.5; 27). Damit setzt er sich dem Verdacht aus, Gina gewaltsam beseitigt zu haben. Es kommt zu einer polizeilichen Untersuchung und er gerät zunehmend ins gesellschaftliche Abseits, in vollständige Isolation und Einsamkeit als ein Fremder, als Russe und als Jude, obwohl er konvertiert ist. Der Argwohn, der ihm in seinem Wohnviertel am Alten Markt entgegenschlägt, läßt ihn ausweglos verzweifeln.
Diesen Prozeß der gesellschaftlichen Ächtung und Entfremdung, den Jonas ungewollt angestoßen hat und der gleichsam unaufhaltsam fortschreitet, hat Simenon mit bedrängender Intensität dargestellt. Jonas kann seine Verlegenheitslüge nicht dementieren, weil er in seinem demütigen Streben, sich dem Milieu anzupassen, nicht das nötige Selbstbewußtsein und den Mut besitzt, seinen Fehler zu korrigieren. Die wachsende Vereinsamung, die Erfahrung der gesellschaftlichen Beziehungslosigkeit hat Simenon mit einer ihm eigentümlichen Metapher als eine Erfahrung der Leere (le vide) beschrieben (cf. Quack 2000, 66). Sie bringt die typische Erfahrung in Jonas’ Leben zum Ausdruck, der sie aber von heftigem Schmerz und Verzweiflung unterscheidet (S.77). Auch fehlt nicht die kosmische Perspektive, aus der er das „feindliche Schweigen“ seiner Umgebung betrachtet: „Er lebte wie in einem Universum, das abgeschnitten ist vom Rest der Welt“ (S.124). Den Höhepunkt erreicht die Erfahrung der Leere schließlich darin, daß Jonas sich vorstellt, wie „sein Körper in der Leere hängen würde“, wenn er sich selbst töten würde (S. 175).
Das genuin existentialistische Thema der erfahrenen Nichtigkeit wurde, fernab von allem philosophischen Jargon, selten so eindringlich dargestellt wie in diesem Roman. Hinzukommt ein weiterer nicht zu unterschätzender Vorzug: die Subtilität der Überlegungen, die dem Entschluß zum Freitod vorhergehen, der trotz aller gesellschaftlichen Bedrängnis tatsächlich die eigene Entscheidung des kleinen Antiquars ist. Außerdem kann man gar nicht genug den von aller Sentimentalität freien Charakter des Romans betonen, wie man aus dem innersten Wunsch des Protagonisten ersehen kann: er will nur „als ein menschliches Wesen wie die anderen betrachtet werden“ (comme un humain pareil aux autres) (S.182). Und Gina erklärt: „Moi et le bonheur …“, womit sie meint, daß sie und das Glück zwei verschiedene, nämlich unvereinbare Dinge seien (S.44).
Am Rande will ich nur bemerken, daß die Lebendigkeit der Prosa hier wiederum durch den sprachlichen Rhythmus, den typischen Simenon-Sound, zustande kommt, zu dem als integrales Moment die Frageform gehört, die die Abfolge der Aussagesätze immer wieder auflockert, seien es rhetorische oder wirkliche Fragen, d. h. Fragen von existentiellem Gewicht.
Es versteht sich fast von selbst, daß die Lebensgeschichte des kleinen Mannes, bis auf das Schlußkapitel, aus seiner Perspektive erzählt wird. Er wird in bestimmter Hinsicht das Opfer der Flucht eines anderen. Zu diesem Thema mehr in dem Kapitel über Geschichten der Flucht.
Die Alte
Auch La vieille (1959) ist ein Werk, das den Namen „harter Roman“ – „hart“ im Unterschied zu dem harmlos gefälligen Unterhaltungsroman – vollauf verdient. Es beschreibt die Lebensgeschichte einer achtzigjährigen Frau, die den einzigen Willen hat, ihre Persönlichkeit zu bewahren; die zwei Ehemänner überlebte und doch niemals eine „Ecke für sich“ hatte, weder in ihrem Elternhaus, noch bei ihren beiden Ehemännern. Nun wird sie aus ihrer Wohnung in einem Haus vertrieben, das zum Abriß bestimmt ist, und sucht Zuflucht bei ihrer Enkelin, wo sie wiederum eine Ecke für sich einrichten will, schließlich aber an dem Eigensinn ihrer herrischen Enkelin scheitert.
Es ist die Charakterstudie einer eigenwilligen Frau, die bekennt: „Seit meiner Kindheit, hatte ich das Verlangen zu zählen, jemand zu sein (être quelqu’un), und ich zählte niemals im dem Haus am Boulevard Paspail, noch bei meinen Eltern, einst, und später auch nicht bei deinen Eltern“, d.h. im Haus ihres reichen zweiten Mannes und im Haus ihrer Tochter (S.160). Sie hatte diesen Mann verlassen, um sich in die lebhafte Szene von Montparnasse in jenen Jahren zu stürzen, mit der Begründung: „Ich sagte mir, daß einige Jahre wahren Lebens mehr wiegen als eine lange Existenz in einem fremden Haus“ (S.161).
Damit ist das Stichwort gefallen, das die Quintessenz ihrer Lebenserfahrung wiedergibt. Als sie ihren ersten Mann trifft und mit ihm durchaus im üblichen Sinn zusammenlebt, kommt sie zu der Erkenntnis: „aber wir würden dennoch für immer Fremde bleiben“, und sie fragt ihre Enkelin: „Und du, glaubst du, daß es wahre Paare gibt, gebildet aus einem Mann und einer Frau, die nicht der eine für den anderen Fremde sind?“ (S. 140f.). Das zentrale Thema des Existentialismus, die unaufhebbare Einsamkeit des Menschen, hat Simenon in einem gewöhnlichen Lebensmilieu sehr eindringlich, wiederum ohne jede Fachterminologie, dargestellt. Dem möchte ich die für sein ganzes Werk fast selbstverständlich erscheinende Beobachtung hinzufügen, daß er in seinem Stil jede literarische Pose vermeidet. D.h. er verzichtet auf jedes rhetorische Ornament, er lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers niemals auf die poetische Funktion seiner Prosa, sondern verwirklicht fast ausschließlich die deskriptive und narrative Funktion der Sprache.
Wie diese kurze Zusammenfassung erkennen läßt, könnte man auch von einem feministischen Roman sprechen. Dies gilt besonders im Hinblick auf die Figur der Enkelin, anfangs der Zwanzig, aber schon als Rennfahrerin und Fallschirmspringerin berühmt, die nicht mit einem Mann zusammenleben kann und statt dessen jüngere Frauen für eine kurze Zeit bei sich aufnimmt, wie Tierliebhaber verlassene Katzen oder Hunde bei sich aufnehmen – so der Vergleich der Großmutter im Roman. Wenn man diese Konstellation berücksichtigt, so müßte man von einer kuriosen ménage à trois sprechen, die sich in diesem Haus zusammenfindet, eine gespannte Dreier-Beziehung, die nicht von Dauer sein kann.
Im Hintergrund des Geschehens scheint die Sozialgeschichte im Paris der ersten Jahrhunderthälfte auf, skizzenhaft und fragmentarisch, aber doch in bezeichnenden Aspekten. Vor allem aber hat Simenon hier das Lebensgefühl der fünfziger Jahre in Paris recht gut getroffen, das rege Nachtleben reicher Lebemänner und Frauen dieser Kategorie, die lärmenden, bis zum frühen Morgen ausgedehnten Feste von Cliquen oberflächlicher Bekannter. Diese Feste, die ähnlich auch von Simone de Beauvoir und in manchen Filmen geschildert wurden, mögen der Ausdruck von allen möglichen Geistesverfassungen sein, aber gewiß nicht von Lebensfreude. Zeittypisch ist auch der Umstand, daß damals selbst Sportler wie die junge Domina des Romans ohne jeden gesundheitlichen Skrupel ständig Whisky tranken oder Zigaretten rauchten. Simenon zeigt aber auch das weniger glamouröse, harte Leben der Kabarettsänger und Tänzer, die für die Unterhaltung sorgen müssen und die Hoffnung haben, auch mal zu den Kreisen der Schönen und Reichen zu gehören.
Übrigens will die Alte sich nicht von ihrem kleinen Ofen trennen, den sie in das neue Haus mitnimmt. Diese Vorliebe für summende Kohlenöfen teilt sie mit dem Kommissar Maigret, der sich mit der Zentralheizung auch niemals hat anfreunden können.
Der Mann mit dem kleinen Hund
„Hätte Simenon nichts geschrieben als den Mann mit dem kleinen Hund, er hätte das Seine getan“, sagt Alfred Andersch (Zitat bei Schmölders 1978, 111) und meint damit, daß Simenon, auch wenn er nur dieses eine Buch geschrieben hätte, bewiesen hätte, daß er ein glänzender Schriftsteller sei. In der Tat weist L’homme au petit chien (1963) mindestens fünf relevante Merkmale auf, die bestätigen, daß dieses Lob nicht übertrieben ist.
(1) Der Roman hat die Form eines Tagebuchs. Felix Allard, 48 Jahre alt, Angestellter eines kleinen Buchladens in Paris, entschließt sich, ein Tagebuch zu führen, als er von seinem Arzt erfährt, daß er wegen seiner Krankheit höchstens noch zwei Jahre zu leben habe. Er will diese täglichen Aufzeichnungen deshalb machen, weil er einiges zu erklären hat, bevor er seinen Vorsatz ausführt, sich zu töten. Dieses fiktive Tagebuch weist nun genau die Qualitäten auf, die für ein echtes Tagebuch wesentlich sind. Der primäre Grund, ein Tagebuch zu führen, ist die Selbstbesinnung: der Autor will sich über seine existentielle oder gesellschaftliche Situation klar werden, und dieses Unterfangen kann nur dann gelingen, wenn der Schreiber intellektuell redlich ist (Quack 2016, 21ff.; 104ff.).
Diese Absicht hat auch Allard, wenn er diese Aufzeichnungen macht: „Meine Idee war anfangs, alles klar zu machen, nicht nur für andere, wenn es sich ergibt, daß andere mich lesen, sondern mir. … Es genügte, meinen Fall darzulegen, aufrichtig, wenn nötig auch grausam, um zur Wahrheit zu gelangen. Hat nicht jeder, in einem bestimmten Augenblick seines Lebens, mehr oder weniger den Wunsch, sich über die Lage klar zu werden? Empfindet sich nicht jeder anders als die anderen und leidet er nicht darunter, unverstanden zu sein?“ (S. 58)
Wie man sieht, hat Allard auch durchaus richtig bemerkt, daß jedes Tagebuch insofern öffentlich ist, als andere es lesen können. Alles Geschriebene ist als solches öffentlich oder, anders gesagt, es gibt kein rein privates Tagebuch (Quack l.c. 50f.).
Beachtlich ist zudem, daß Allard mit dem Sinn des Tagebuchs auch ein Leitmotiv Simenons verbindet: das Bestreben sowohl des Autors selbst als auch seines bekanntesten Protagonisten, Maigret, die Menschen zu verstehen, ohne sie überhaupt oder doch wenigstens nicht vorschnell zu verurteilen. Allard will der „Wahrheit auf den Grund“ gehen. „Nicht nur der Wahrheit über mich: auch der Wahrheit über die anderen“ (S. 162).
(2) Zweitens haben wir es mit einer Ich-Erzählung zu tun, und bei dieser Form des Romans taucht sofort die Frage nach dem Motiv auf, warum eine Romanfigur als Erzähler in der ersten Person auftritt. Dieses Motiv versteht sich hier von selbst, da wir es mit einem Tagebuch zu tun haben.
Das weitere und entscheidende Problem besteht aber darin, wie es mit der erzählerischen Kompetenz der Figur bestellt ist. Die meisten Romane in der Ich-Form weisen nämlich eine Kunst des Schreibens auf, die man nur einem geübten Schriftsteller, nicht aber einem beliebigen Mann oder einer gewöhnlichen Frau zutrauen kann. So ist etwa die Figur des Landpfarrers, die in dem Roman von Bernanos das Tagebuch schreibt, alles andere als ein gebildeter Mann, aber doch ein Schriftsteller von Format – in dieser Hinsicht muß man Bernanos die Konzession machen, daß er seinem Helden eine Gabe verliehen hat, die ein wenig unwahrscheinlich ist (Quack 2014, 18).
Simenon aber hat dieses Problem glaubwürdig gelöst. Seine Romanfigur schreibt tatsächlich so, wie man es von einem gebildeten und auch in Geschäften erfahrenen Menschen seiner Zeit erwarten konnte. Die Eigenart der nüchternen Aufzeichnungen Allards, die nicht den geringsten literarischen Ehrgeiz verfolgen, entspricht natürlich genau dem Ideal Simenons, in seiner Prosa jeden literarischen Schmuck zu vermeiden.
Die Selbstaussagen Allards sind als die Bekenntnisse eines nichtprofessionellen Schreibers auch dann glaubwürdig, wenn er die erstaunlichsten Aussagen macht. Er sagt zum Beispiel, daß er nicht „über sein Los weine und es ein Irrtum sei, daß er das Vergangene“ beweine. Er betrachte sich vielmehr im Spiegel: „Ohne Bitternis, ohne Nostalgie, erst recht ohne Groll gegen etwas oder jemand, weder gegen das Geschick noch gegen die condition humaine“ (S.12).
(3) Diese Bemerkung wird nur verständlich, wenn man weiß, was Allard mit seiner Vergangenheit meint, nämlich daß er den Liebhaber seiner Frau getötet hat und dafür fünf Jahre im Gefängnis büßen mußte. Damit ist ein weiteres Leitmotiv im Œuvre Simenons genannt, das hier zur Sprache kommt: die Absicht des Autors, zu ergründen und verständlich zu machen, warum ein Mensch zum Mörder wird. Es ist das durchgängige Thema aller Maigret-Romane und einiger anderer Romane. Ich habe dem Thema das zweite und fünfte Kapitel gewidmet.
Das Verbrechen Allards ist nun keineswegs so bösartig und schändlich wie die Untat in Simenons schwärzestem Roman, Der Schnee war schmutzig. Immerhin kann Allard mildernde Umstände für sich in Anspruch nehmen. Aufschlußreich ist jedoch vor allem das Motiv, das ihn im letzten Grund zu seiner Tat geführt hat. Zufällig hört er eine abfällige, total verächtliche Bemerkung über sich und sie bringt ihn in Rage, so daß er jenen Mord begeht. Was er hörte, kommentiert er mit den Worten: „Nur, er hatte nicht das Recht, es zu sagen. Er hatte nicht das Recht, mir meine Würde zu stehlen, die Achtung vor mir selbst. Niemand hat das Recht, denn, ohne Achtung, hört ein Mensch auf, ein Mensch zu sein“ (S. 189).
(4) Viertens kommt in dem Roman das Thema zur Sprache, aus welchem Grund ein Mensch sich zum Selbstmord entschließen kann – wie wir gesehen haben, ist dies auch das Thema des kleinen Mannes aus Archangelsk. Hier aber kommt eine originelle Variante des Motivs zur Darstellung. Daß es Simenon gelungen ist, glaubwürdig zu beschreiben, wie die existentielle Situation seines Helden eine Wende erfährt, die nicht wenig zur Spannung des Romans beiträgt, ist ein weiterer Beleg für sein Können.
(5) Schließlich will ich noch anmerken, daß Simenon in diesem Buch einige persönliche Erfahrungen verarbeitet hat. Wie der Held seiner Geschichte so hat auch er erlebt, daß ein Arzt ihm, als er siebenunddreißig Jahre alt war, bedeutete, er habe nur noch zwei Jahre zu leben. In dieser Situation beschloß er, seine Lebensgeschichte für seinen kleinen Sohn aufzuschreiben, sich also über seine biographische Situation klar zu werden. Außerdem hat er für einige Jahre selbst mal Tagebuch geführt – in einer Phase, als er sich älter fühlte, als er tatsächlich war (Memoiren 112; 637).
Daß Simenon das Schicksal Allards beschreibt, indem er einige persönliche Erlebnisse darin verarbeitet, macht das Buch natürlich nicht zu einem autobiographischen Roman – dies sei nur als Avis au lecteur hinzugefügt. Simenon bemerkt dazu lakonisch, es sei „kein fröhlicher Roman“ (l.c. 690).
November
Novembre (1969) ist eine Ich-Erzählung. Laura, eine junge Laborantin, berichtet von sich und ihren näheren Lebensumständen, und man fragt natürlich sofort, wem erzählt sie diese Dinge. Diese Frage wird im Text explizit nicht beantwortet, doch kann man als plausible Erklärung annehmen, daß sie die Geschichte für sich selbst aufschreibt. Da das erste Kapitel den 9. November und das zweite Kapitel den 10. November beschreibt, kann man vermuten, daß der Text entweder als Tagebuch niedergeschrieben oder in der Form eines Journals verfaßt wurde.
Wir haben es mit einem schlanken, auf die Beschreibung der wesentlichen Ereignisse reduzierten, skizzenhaften Roman ohne jede literarische Ambition und ohne jede epische Breite zu tun. Dies erklärt sich wiederum aus der Anlage, daß das Buch von einem Laien, nicht von einem professionellen Autor geschrieben wird. Damit ist Simenon einer der wenigen Romanciers, die glaubhaft machen konnten, daß eine fiktive Ich-Erzählung nicht von einem Schriftsteller stammt. Daß aber nur ein begabter und erfahrener Autor es fertig bringt, in einfachster Sprache zu erzählen, steht auf einem anderen Blatt.
Es ist ein Familienroman und die Familie ist das Problem, die Quelle und Ursache allen Übels, von dem hier die Rede ist. Es ist keine normale Familie, wenn es dergleichen überhaupt gibt. Der Vater ist ein subalterner Beamter, der steif auf seine Würde bedacht ist und sich zuhause regelmäßig in sein Zimmer zurückzieht, um einer nichtigen Beschäftigung nachzugehen. Er hat aus Gründen beruflichen Fortkommens die wenig für sich einnehmende, um nicht zu sagen, häßliche Tochter eines Generals geheiratet. Die abgemagerte Frau, mit spitzer Nase und spitzem Kinn, pflegt im wesentlichen ihre Migräne, eine Ausrede, um die Folgen ihres heimlichen Trinkens zu kaschieren. Olivier, der neunzehnjährige Sohn, studiert Chemie und meidet das Familienleben, so oft er nur kann. Bei den unvermeidlichen Mahlzeiten herrscht gewöhnlich ein mißtrauisches Schweigen und das einzig Gemeinsame dieser Familie besteht darin, daß sich alle gegenseitig ständig beobachten. Dieser trübseligen Gruppe steht das spanische Dienstmädchen gegenüber, das sich seine natürliche Fröhlichkeit und Lebenslust durch die düsteren Hausbewohner nicht verderben läßt.