Lesen um zu leben - Josef Quack - E-Book

Lesen um zu leben E-Book

Josef Quack

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Beschreibung

Hauptthema der Aufsätze ist die Geschichtserfahrung im 19. und 20. Jahrhundert, wie sie von einigen Romanciers gestaltet wurde. Besprochen werden Joseph Roths "Hiob", die Tagebücher und "Doktor Faustus" von Thomas Mann, ein Roman von Erwin Wickert über den Taiping-Aufstand in China, die "Deutschstunde" von Siegfried Lenz, "Ein weites Feld" von Günter Grass", "Der Turm" von Uwe Tellkamp und zwei amerikanische Romane von Don DeLillo. Schließlich beschreibt eine kritische Studie männliche und weibliche Sprachformen im Deutschen.

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Seitenzahl: 303

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Das Buch

Geschichtserfahrung im 19. und 20. Jahrhundert, wie sie von einigen Romanciers gestaltet wurde, ist das Hauptthema dieser Aufsätze. Sie handeln von Joseph Roths Hiob, der Unglücksgeschichte eines Juden zu Beginn des 20. Jahrhunderts; den Tagebüchern Thomas Manns aus den Jahren 1933-1955; einer kritischen Lektüre des Doktor Faustus; von Erwin Wickerts Darstellung des Taiping-Aufstandes in China (1850-64); von der Deutschstunde, in der Siegfried Lenz das Leben eines Künstlers im Dritten Reich schildert; dem Weiten Feld von Günter Grass, einem ironischen Roman über die Wendezeit; dem Turm von Uwe Tellkamp, einem epischen Rückblick auf Gesellschaft und Geistesart der DDR und von zwei problematischen Romanen Don DeLillos über die amerikanischen Nachkriegsjahre. Dem folgt eine sprachkritische Studie über männliche und weibliche Sprachformen im Deutschen. Was sonst noch zu sagen war, steht in den Bemerkungen.

Der Autor

Josef Quack, Jg. 1944, Dr. phil., Publikationen:

Bemerkungen zum Sprachverständnis von Karl Kraus. 1976.

Die fragwürdige Identifikation. Studien zur Literatur. 1991.

Künstlerische Selbsterkenntnis. Über E.T.A Hoffmann. 1993.

Wolfgang Koeppen, Erzähler der Zeit. 1997.

Die Grenzen des Menschlichen. Über Simenon & Co. 2000.

Geschichtsroman und Geschichtskritik. Döblins „Wallenstein“. 2004.

Diskurs der Redlichkeit. Döblins „Hamlet“. 2011.

Wenn das Denken feiert. Philosophische Rezensionen. 2013.

Zur christlichen Literatur im 20. Jahrhundert. 2014.

Über das authentische Selbstbild. Zum Tagebuch. .2016.

Über die Rückschritte der Poesie dieser Zeit. 2017.

Lehrjahre in St. Wendel und St. Augustin. 2018.

Über Simenons traurige Geschichten. 2019.

Über das Ethos von Intellektuellen. 2020.

      (www.j-quack.homepage.t-online.de)

Josef Quack

Lesen um zu leben

Aufsätze zur Literatur

© 2021 Josef Quack

978-3-347-24217-3 (Paperback)

978-3-347-24218-0 (Hardcover)

978-3-347-24219-7 (e-Book)

Verlag und Druck: tredition GmbH

Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorbemerkung

Über Joseph Roths Hiob

1. Die Geschichte

2. Form des Romans

3. Sinn des Romans

4. Das Beispiel Hiobs

5. Hypertextualität

6. Hiob in Roths Œuvre

6.1 Roths Kommentar

6.2 Der autobiographische Aspekt

6.3 Beziehung zu anderen Werken Roths

6.31 Juden auf Wanderschaft – 6.32 Die Rebellion

6.33 Tarabas – 6.34 Die Legende vom heiligen Trinker

6.35 Leviathan

7. Zur Rezeption

8. Hiobs Aktualität

Abschließende Bemerkung

Theodor Haecker über Thomas Mann

Kritik

Thomas Mann über Haecker

Zur Wirkungsgeschichte Thomas Manns

Geschichtserfahrung im Exil. Zu den Tagebüchern Thomas Manns

I. Exil

Verhältnis zu Döblin – Problem des Judentums

II. Geschichte

Stimmen zur Zeit – Geschichtsverständnis Thomas Manns

III. Selbstkommentar

Zum Werk – Zum Leben

IV Literarische Bedeutung

Doktor Faustus, kritisch gelesen

Kunstprosa – Unklare Begriffe – Verhältnis zur Religion

Erzählkunst – Ironie – Schlüsselroman? – Der fiktive Biograph

Rezeptives Talent – Werkidee – Paradoxes Ende

Selbstkommentar

Über Erwin Wickert

Politisches

Der Auftrag des Himmels

Fabel – Form – Fragen

Max Ludwig Nansen ist nicht Emil Nolde, die Deutschstunde kein Schlüsselroman

Der Maler

Scholion

Über Günter Grass, Ein weites Feld

Zum Werk

Zur Abstimmung (1995)

Scholion

Über Uwe Tellkamp, Der Turm

Roman, made in USA

I. Don DeLillo, Mao II

II. Amerikanisches Kaleidoskop: Don DeLillo, Unterwelt

„Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen.“ Über männliche und weibliche Sprachformen

I. Bizarres vs. Richtiges

II. Weibliche Sonderformen

III. Mytho-poetische Sicht

IV Sprachpolitik

Bemerkungen

Literatur

Vorbemerkung

Geschichtserfahrung im 19. und 20. Jahrhundert, wie sie von einigen Romanciers beschrieben und gestaltet wurde, ist das Hauptthema der Aufsätze dieses Bandes.

Joseph Roth schildert im Hiob das Schicksal eines jüdischen Emigranten in New York zu Beginn des letzten Jahrhunderts. Ich habe den Aufsatz geschrieben, weil Roth immer noch unterschätzt wird. Ich wollte nachweisen, daß Hiob ein unverächtliches Werk der Weltliteratur ist. In der Sekundärliteratur ist es Mode geworden, Roths Prosakunst zu loben und seine Denkschwäche zu tadeln – was aber ein Widerspruch ist. Denn man kann ja nicht gut eine Prosa als Kunst auszeichnen, die Denkfehler enthält. Die Fehlurteile über Roth gehen auf ein mangelndes Sprach- und Geschichtsbewußtsein zurück.

Nebenbei wird bemerkt, daß der pseudowissenschaftliche Slogan vom Mythos Habsburg, dem angeblich die österreichische Literatur der Zwischenkriegszeit verpflichtet sein soll, nicht einmal für den Radetzkymarsch paßt, einen genuinen Roman über das alte Österreich. Der Slogan erklärt in Roths Werk nichts.

Der Aufsatz über die Tagebücher Thomas Manns während der Jahre 1933-55 beschreibt seine politischen Erlebnisse und analysiert sein historistisches Geschichtsverständnis, in dessen Rahmen er seine Erfahrungen deutet. Der Wert der Tagebücher ist nicht literarischer, sondern dokumentarischer Art. Sie belegen Tag für Tag, wie ein Schriftsteller die Geschichte seiner Zeit erlebt. Wer diese neun Bände liest, wird, auch dank des Kommentars, mit der Zeit-, Kultur- und Literaturgeschichte jener Jahre in einem Ausmaß vertraut, das einzigartig ist.

Die kritischen Beiträge über Manns Schrift von 1914 und den Doktor Faustus bilden ein bescheidenes Gegengewicht gegen die Masse der Lobreden, in denen sich die Sekundärliteratur über den Meister ergeht. Deshalb ist die Veröffentlichung dieser unerbittlichen Kritik auch in einer Zeit gerechtfertigt, deren Literaturproduktion fast bedeutungslos geworden ist (cf. mein Buch über Die Rückschritte der Poesie dieser Zeit).

Bei der Wirkungsgeschichte Thomas Manns sticht ins Auge, daß er die deutsche Nachkriegsliteratur nicht nennenswert geprägt oder befruchtet hat, während die namhaften Kritiker dieser Jahre gerade in ihm ihr literarisches Ideal erblickten. Dieses Phänomen müßte man berücksichtigen, wenn man sich über die Literatur jener Jahre und ihre Tradition eine Meinung bilden möchte.

Erwin Wickert habe ich besprochen, weil er unseren geschichtlichen Horizont durch seinen Roman über den chinesischen Taiping-Aufstand (1850-64), den blutigsten Bürgerkrieg der Weltgeschichte, sichtlich erweitert hat. Zu beklagen ist nur, daß der Roman kaum beachtet wurde und heute völlig vergessen ist – auch dies ein Symptom für den geistigen Provinzialismus unseres Kulturbetriebs.

Siegfried Lenz hat in der Deutschstunde das Leben eines expressionistischen Malers während des Dritten Reiches dargestellt. Die Besprechung weist nach, daß die Deutschstunde kein Schlüsselroman über Emil Nolde ist.

Uwe Tellkamps Turm schildert in einem epischen Format die problematischen Lebensverhältnisse in der untergegangenen DDR. Günter Grass hält in seinem Weiten Feld mit scharfem Blick die Turbulenzen der Wendezeit fest. Beide Romane wurden ihrem Rang gemäß gewürdigt. An das Weite Feld habe ich auch deshalb erinnert, weil es von der Kritik recht schnöde behandelt wurde.

Kritisch besprochen werden dagegen zwei Romane von Don DeLillo, die ein Kaleidoskop der Nachkriegszeit in den USA wiedergeben. Sie wurden bei uns über die Maßen gelobt. Demgegenüber weise ich auf die offensichtlichen erzählerischen und thematischen Schwächen der Texte hin. Die Rezeption dieser Romane zeigt wieder einmal, daß die amerikanische Literaturproduktion bei uns notorisch überschätzt wird, ein Zeugnis der kulturellen Servilität der Deutschen gegenüber Amerika.

Den Abschluß des Bandes bildet eine sprachkritische Studie über männliche und weibliche Sprachformen des Deutschen, über die spezifische Differenz zwischen dem grammatischen und dem natürlichen Geschlecht in Sprache und Rede. Schließlich wird der typisch akademische Irrtum widerlegt, daß man mit Sprachregelungen soziale Probleme lösen oder beseitigen könne.

Was sonst noch zu sagen war, steht in den Bemerkungen.

Über Joseph RothsHiob

Es gibt einige gezählte Meisterwerke der Weltliteratur, die sich dadurch auszeichnen, daß sie die wesentlichsten Fragen des menschlichen Daseins aufwerfen und ihre Aspekte gründlich beleuchten. Es ist ihnen gelungen, typische Gestalten und Ausprägungen des Homo sapiens mustergültig darzustellen, so daß sie zu gerne nachgeahmten Vorbildern für spätere Dichtungen bis in unsere Zeit wurden. Um nur die bekanntesten Menschheitsgestalten zu nennen: Odysseus, Antigone, Hiob, Faust, Don Quijote, Hamlet, Don Juan, Romeo und Julia, Robinson, Lederstrumpf. Bemerkenswert ist nun, daß gerade die exemplarischen Gestalten des Menschseins in der Literatur der Moderne aufgegriffen werden, um in exzellenten Dichtungen eine neue, zeitgemäße Form zu finden. Man braucht nur an Ulysses von James Joyce zu denken, an Antigone von Jean Annouilh, Doktor Faustus von Thomas Mann, Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende von Alfred Döblin, Schwarze Spiegel von Arno Schmidt, eine endzeitliche Robinsonade, und eben Hiob von Joseph Roth.

Zu den klassischen Menschenbildern sei hier noch angemerkt, daß zwischen dem Buch Hiob und der Antigone des Sophokles ein signifikanter Gegensatz besteht. Die griechische Tragödie handelt nicht nur von dem tödlichen Konflikt zwischen Staatsmacht und Menschlichkeit, sondern in einem berühmten Chorlied auch von der furchtbaren Macht des Menschen: „Vieles Gewaltge lebt, und doch / Nichts gewaltiger denn der Mensch“. Das antike Chorlied ist ein hymnisches Lob des Menschen, die biblische Schrift handelt dagegen von dem Elend und der Vergänglichkeit des Menschen: „Der Erdenmensch, vom Weibe geboren, an Tagen arm und unruhvoll, geht gleich einer Blume auf und welkt, flieht wie ein Schatten und besteht nicht lang.“

Bevor ich jedoch die Beziehung zwischen kanonischem Vorbild und moderner Gestalt genauer untersuche, möchte ich Roths Roman allein für sich besprechen, getreu der Empfehlung, die Lessing in den Briefen, die neueste Literatur betreffend (Nr. 105) den Interpreten und Rezensenten gegeben hat: „Ich habe immer geglaubt, es sei die Pflicht des Kriticus, sooft er ein Werk zu beurteilen vornimmt, sich nur auf dieses Werk allein einzuschränken; an keinen Verfasser dabei zu denken; sich unbekümmert zu lassen, ob der Verfasser noch andere Bücher, ob er noch schlechtere oder noch bessere geschrieben habe; uns nur aufrichtig zu sagen, was für einen Begriff man sich aus diesem gegenwärtigen allein mit Grund von ihm machen könne.“

1. Die Geschichte

Der Roman erzählt die Geschichte Mendel Singers, die Unglücksserie, die ihn trifft, seine Anklage gegen Gott, seine Verzweiflung an Gott und das unerwartete Glück, das er am Ende erfährt und ihm wie ein Wunder erscheint.

Mendel Singer ist Lehrer, der bei sich zuhause zwölf Knaben die Bibel lesen lehrt. Er lebt in Zuchnow, einem russischen Dorf, das nach dem Ersten Weltkrieg polnisch wird. Er ist mit Deborah verheiratet und hat drei Söhne und eine Tochter: Jonas, Schemarjah und Mirjam. Sein viertes Kind ist Menuchim, ein körperlich und geistig schwer behinderter Junge, epileptisch veranlagt und sprachlich zurückgeblieben, so daß er jahrelang nur „Mama“ sagen kann. Als die ältesten Söhne ins wehrpflichtige Alter kommen, entscheidet sich Jonas freiwillig für den Militärdienst, während Schemarjah heimlich nach Amerika auswandert. Mendel entdeckt zufällig, daß Mirjam sich mit einem Kosaken abgibt, deshalb beschließt er, nach Amerika zu gehen und Menuchim bei einem befreundeten jungen Paar zurückzulassen. Schemarjah, der sich nun Sam nennt, schickt ihnen die Schiffskarten und sorgt in New York für die Familie. Im ersten Weltkrieg fällt er als amerikanischer Soldat. Als Deborah die Nachricht von seinem Tod erfährt, erleidet sie einen Tobsuchtsanfall und stirbt. Wenig später erkrankt Mirjam psychisch und wird als unheilbar in eine Anstalt gebracht. Angesichts dieser Unglücksfälle will Mendel seinen religiösen Glauben verzweifelt aufgeben. Während der Familienfeier am Osterabend kommt ein berühmter junger Dirigent zu ihnen und gibt sich als Menuchim zu erkennen. Er war in Petersburg geheilt worden und hat den Krieg als Dirigent überstanden.

Was die Zeit des Romans angeht, so finden sich nur wenige historische Daten. Einmal heißt es, daß der Krieg gegen Japan (1905) beendet war (S.28). Kurz vorher liest man, daß Menuchim vor zehn Jahren sein erstes und einziges Wort ausgesprochen habe (S.25). Der Beginn des Krieges und sein Ende werden vermerkt (S.124 u. 155) und danach der April, womit wohl das Jahr 1919 gemeint ist (S.157, das Osterfest, an dem Menuchim seinen Vater wiederfindet. Nach diesen Angaben und gewissen Andeutungen kann man annehmen, daß Menuchim 1895 geboren wurde, vor dem Krieg nach Petersburg kam und jetzt 24 Jahre alt ist. Die Familie ist wenige Jahre vor dem Krieg ausgewandert, Mendel war damals mindestens 59 Jahre alt (S. 119).

Daß der Text so wenige geschichtliche Daten enthält, die gerade für eine grobe Datierung ausreichen, bedeutet offensichtlich, daß die historische Zeit für den Sinn des Romans von untergeordneter Bedeutung ist. Signifikanter ist die Zeit der religiösen Festtage. Ohne Kommentar, als verstehe es sich von selbst, werden zweimal jüdische, alttestamentliche Monatsnamen verwendet. Es ist von der „ersten Woche im Monat Ab“, als die Juden den Neumond begrüßen, die Rede (S.61); d.h. es wird, Mitte Juni, der Beginn des Monats kultisch festgestellt. Dann liest man von dem Monat Ellul und den hohen Feiertagen (S.151), womit wohl Anfang oder Mitte September gemeint ist. Auch werden der Sabbat und die Vorbereitungen für diesen Tag häufig erwähnt und ausführlich beschrieben.

2. Form des Romans

Roths Hiob ist ein Episodenroman. Er enthält sechzehn Kapitel, die jeweils die bedeutsamen Ereignisse der Familie schildern; gelegentlich wird auch die ereignislose Zeit erwähnt, um die Lücke des Zeitverlaufs zu markieren. Der erste Teil des Romans beschreibt das Leben der Protagonisten in Zuchnow und die Fahrt nach Amerika, der zweite Teil handelt von dem Aufenthalt in New York.

Was die Folge der Kapitel angeht, so fällt auf, daß Roth nicht nur einfach einen Orts-, Personen- oder Szenenwechsel beschreibt, sondern die Erzählsequenzen oft sprachlich-diskursiv in Form einer filmischen Montage verbindet. Er verwendet etwa eine klanglich-semantische Analogie-Montage, was im Film einer Überblendung entspricht. So endet das erste Kapitel mit den Worten: „…kehrte sie heim“, und das nächste Kapitel beginnt: „Als Deborah heimkehrte“ (S. 18). Das fünfte Kapitel endet: „Also verrannen die Jahre“, das sechste Kapitel beginnt: „An einem Nachmittag im Spätsommer …“ (S.52) – ein Beispiel für eine semantische Kontrast-Montage. Noch radikaler wird der semantische Kontrast im Übergang vom zehnten zum elften Kapitel bezeichnet, wo der Jubel des Herzens und der Tanz des Körpers den Sorgen gegenübergestellt werden (S. 119). Oft aber vollzieht Roth die Verbindung zwischen den Kapiteln durch die Wiederholung des Orts- oder Personennamens. Am markantesten ist die folgende Analogiemontage im Übergang zwischen zwei Erzählsequenzen. Mendel sagt: „Kapturak? Natürlich! Er hat meinen Sohn weggeschickt!“ Dem folgt in einem harten Schnitt, der einen Perspektiven- und Ortswechsel anzeigt, der Satz: „‘Alte Kundschaft!‘ sagte Kapturak“ (S. 79).

Roth verwendet das filmische Montageverfahren, die Methode der Überleitung von Szene zu Szene mittels phonologisch-semantischer Analogie oder des entsprechenden Kontrastes, nicht ganz so obstinat und planmäßig wie Alfred Döblin, der die filmische Montage mittels sprachlich-diskursiver Verbindung bewußt in das epische Werk eingeführt hat (Quack 2004, 22ff.). Daß Roth sie aber überhaupt in einem eher legendenhaften Roman anwendet, zeugt von einem scharfen Formbewußtsein und einer intimen Kenntnis des modernen Romans. Um aber kein Mißverständnis aufkommen zu lassen, sei betont, daß nur die verbale, klanglich-semantische Überleitung der Erzählsequenzen neueren Datums ist, während die narrative Montage des Szenen- und Perspektivenwechsels zum Wesen des Erzählens an sich gehört und seit Menschengedenken praktiziert wird. So hat der Sprachtheoretiker Karl Bühler die filmischen Szenenschnitte bei Homer wunderbar beschrieben (l.c. 23). Tatsache ist aber auch, daß erst der Film die Literaturtheorie auf das Montagemoment des Erzählens recht eigentlich aufmerksam gemacht hat.

Für die Erzählweise dieses Romans ist weiterhin bezeichnend, daß meistens die Stimme eines auktorialen Erzählers zu vernehmen ist, gelegentlich aber die personale Erzählweise an seine Stelle tritt, so daß aus der Perspektive einer Person erzählt wird und deren Gedanken in innerem Monolog oder erlebter Rede wiedergegeben werden. Einmal tritt der auktoriale Erzähler sogar als Person hervor, wenn er in der ersten Person Plural spricht: „Von Mendel Singer aber wissen wir, daß er nach einigen Monaten in New York zu Hause war“ (S. 107). Meist aber beschreibt er objektiv und durchaus neutral die zu schildernden Vorkommnisse. Gelegentlich spricht er auch als Kommentator, so wenn er in Form einer Sentenz vermutet: „Vielleicht brauchen Segen eine längere Zeit zu ihrer Erfüllung als Flüche“ (S. 25). Einzigartig aber und höchst aufschlußreich ist das folgende Urteil des Erzählers über die seelische Verfassung des sprachlosen Menuchim, ein Urteil, das die Gestalt des Kindes prägnanter und sinnfälliger vergegenwärtigt, als eine äußere Beschreibung es könnte, ein Höhepunkt der Menschenschilderung Roths: „Er war ein Idiot, dieser Menuchim! Ein Idiot! Wie leicht sagt man das! Aber wer kann sagen, was für einen Sturm von Ängsten und Sorgen die Seele Menuchims in diesen Tagen [der Abreise der Familie] auszuhalten hatte, die Seele Menuchims, die Gott verborgen hatte in dem undurchdringlichen Gewande der Blödheit! (S. 91)

In den folgenden Beispielen wird aus der Perspektive einer Person im stummen Selbstgespräch erzählt. Von Deborah heißt es: „Sie zürnte ihrem Mann“; dann folgt ohne verbum dicendi: „Mendel Singer, was war er? Ein Lehrer, ein dummer Lehrer dummer Kinder.“ (S. 29) Ebenso übergangslos werden nach den Worten „sie denkt nur an Amerika“ in einem neuen Absatz die Gedanken Deborahs wiedergegeben: „Ein Dollar ist mehr als zwei Rubel […]“ (S.68). Und nach der Wendung „[…] dachte Mendel“ folgen Sätze, die wiedergeben, was Mendel denkt: „Hier war mein Großvater Lehrer; hier war mein Vater Lehrer, hier war ich ein Lehrer. Jetzt fahre ich nach Amerika. Meinen Sohn Jonas haben die Kosaken genommen, Mirjam wollen sie mir auch nehmen. Menuchim – was wird aus Menuchim? (S. 89)

Zum stummen Monolog wäre zu sagen, daß Roth darin Mendel und Deborah gerne über andere Personen urteilen läßt. Außerdem hat die Form dieser Selbstgespräche nichts mit dem Bewußtseinsstrom, der ungeordneten Folge zufälliger Assoziationen zu tun, einer fragwürdigen Kategorie der Poetik. Roths stumme Monologe sind vielmehr bewußt und genau artikulierte Gedankenberichte. Was den Begriff des Bewußtseinsstromes angeht, so hat Karl Popper kritisch vermerkt, daß er auf eine wissenschaftlich längst überholte Assoziationspsychologie zurückgeht, und Vladimir Nabokov hat diese Redeform verächtlich als „typographischen Brei“ bezeichnet (cf. Quack 2004, 15 u. 384). Es versteht sich fast von selbst, daß ein formbewußter Erzähler wie Roth von Natur gleichsam dagegen gefeit ist, eine wirre Wortfolge als Denken auszugeben.

Was den sprachlichen Stil angeht, so verwendet Roth sowohl Wörter und Ausdrucksformen, die an das Bibeldeutsch erinnern, als auch Wörter und rhetorische Formen des modernen Deutsch. Von den biblischen Redeformen fällt zunächst der Parallelismus, der doppelte Ausdruck eines Gedankens, auf, wie er übrigens gerade auch für das weithin poetisch geformte Buch Hiob charakteristisch ist. Sie „glaubte, daß Gottes Licht in den Dämmernissen aufleuchtete und seine Güte das Schwarze erhelle“ (S.13). Gelegentlich folgt ein Parallelismus dem anderen: „Nacht war in ihrem Herzen, Kummer in jeder Freude gewesen, seit Menuchims Geburt. Alle Feste waren Qualen gewesen und alle Feiertage Trauertage.“ (S.83)

Der Parallelismus ist genau genommen eine Wiederholung oder Variation eines Gedankens in anderen Worten. Daneben finden sich in dem Roman aber auch zahlreiche verbale Wiederholungen. Die rhetorische Wiederholung ist aber ebenfalls eine Redeform der Bibel, zudem eine Weise epischen Erzählens, eine Form der Mündlichkeit dieses Erzählens. Wir lesen: „Jonas, der ältere, war stark wie ein Bär, Schemarjah, der jüngere, war schlau wie ein Fuchs“ (S.19) und finden später die gleichen Sätze wörtlich wieder (S. 27). Mendel Singer wird mit den Worten eingeführt: „Er war fromm, gottesfürchtig und gewöhnlich, ein ganz alltäglicher Jude“ (S. 7). Die wortgleiche Charakteristik findet sich zu Beginn des Amerikateils wieder (S. 119). Thematisch am wichtigsten aber ist die Wiederholung der Weissagung, die ein Rabbi über Menuchims Zukunft ausspricht (S.17f. u. 118). Ich werde darauf zurückkommen.

In dem oben zitierten Monolog Mendels ist eine weitere rhetorische Figur enthalten, die für die biblische Diktion typisch ist: die Reihung von Ausdrücken, die Aufzählung, die gelegentlich als poetische Variation vorkommt. Sie ist in dem Roman so häufig, daß es genügt, ein einziges Beispiel anzuführen, das aber für den Sinn des Romans aufschlußreich ist, einen Satz, der sich an Menuchims erstes Wort anschließt: „Es war erhaben wie eine Offenbarung, mächtig wie ein Donner, warm wie die Liebe, gnädig wie der Himmel, weit wie die Erde, fruchtbar wie ein Acker, süß wie eine Frucht“ (S.25).

Auch die Wörter mit biblischer, alttestamentlicher Konnotation sind so signifikant und auffallend, daß ich hier bloß die „Frucht des Leibes“ und die „Plagen der Kinder“ zu erwähnen brauche. Bei den religiösen Begriffen wie Segen oder Gnade versteht sich die biblische Herkunft von selbst, zu erinnern wäre auch an die genannten Monatsnamen. Nennen will ich aber noch den „Gerechten“, einen zentralen Begriff des jüdischen Glaubens, über den noch einiges zu sagen wäre.

Was den typisch modernen Wortschatz angeht, so spricht der Erzähler wie selbstverständlich ohne jeden Vorbehalt von Symbol, Epilepsie, Honorar, Molekülen. Der Sprachgebrauch läßt keinen Zweifel daran entstehen, daß der Roman eine Geschichte aus der jüngsten Vergangenheit erzählt, eine Geschichte, die sich wenig mehr als zehn Jahre vor der Veröffentlichung des Romans (1930) ereignet hat.

Diese kurze Beschreibung des Stils wäre aber unvollständig, wenn ich nicht auf eine dramatische Szene von exzessiver Leidenschaft hinweisen würde, wo der Schrecken in einem Schweigen und in einem Schrei gleichsam körperliche Gestalt annimmt. Als Jonas berichtet, daß er und sein Bruder zum Militär müssen, heißt es: „Auf einmal stürzte ein furchtbares Schweigen über die Stube“, dann werden die stummen Ereignisse während dieses Augenblicks der kollektiven geistigen Lähmung beschrieben. Dem folgt ein Schrei Deborahs, die sich rasend gegen Mendel wendet und zum Friedhof eilt, wo sie wiederum in einen gewaltigen, weithin hörbaren Schrei ausbricht, der allmählich in ein Wimmern übergeht (S.35f.). Es liegt auf der Hand, daß diese Vergegenständlichung des Schweigens und des Schreies, ein Ausdruck tiefen Schmerzens und ungebremster Emotion, nicht mehr das Geringste mit dem Stil der mehr als fraglichen Neuen Sachlichkeit zu tun hat, der man Roth in seiner Frühzeit zurechnet. Ähnlich hochdramatisch und überschwenglich wird die Ankunft Deborahs beim Rabbi geschildert: „Mit einem einzigen grellen Schrei, hinter dem die grauenhafte Stille einer ganzen gestorbenen Welt einstürzte, fiel Deborah vor der endlich erreichten Tür des Rabbi nieder“ (S.17).

Die Szenen erinnern durchaus an Redeformen des Expressionismus. D.h. Roth kümmert sich nicht um literarische Moden, sondern wählt die Ausdrucksform, die dem jeweiligen Phänomen adäquat ist. Diese Passagen hat F. Hackert übersehen, wenn er in der Schilderung des Alltagslebens ein Programmpunkt der Neuen Sachlichkeit verwirklicht sieht; außerdem erinnert der Roman natürlich nicht an den Roman Kipps. The Story of a Simple Soul von H.G.Wells, wie Hackert meint (Roth 1990, Bd. 5,890f.), sondern an Le cœur simple von Gustave Flaubert.

Alle genannten Erzählformen und rhetorischen Figuren, zu denen noch die übersichtliche, natürlich erscheinende einfache Satzform und die parataktische Ordnung der Sätze zu zählen wären, haben eine sinnliche Vergegenwärtigung und Anschaulichkeit der Ereignisse zur Folge, die man nur bewundern kann. Sie ist das Gütezeichen von Roths Prosakunst. Man hat öfter lobend von der Einfachheit dieser Prosa gesprochen, was man jedoch leicht mißzuverstehen kann. Denn, wie Nabokov betont hat, ist sprachliche Einfachheit in der Dichtung das Ergebnis präzisen Formbewußtseins und höchster Kunstanstrengung. Dasselbe meinte auch Lichtenberg, als er schrieb: „Die simple Schreibart ist schon deshalb zu empfehlen, weil kein rechtschaffener Mann an seinen Ausdrücken künstelt und klügelt.“ (Sudelbücher Heft G 126) Und: „Simpel und edel simpel schreiben erfordert vielleicht die größte Spannung der Kräfte, weil in einer allgemeinen Bestrebung unserer Seelenkräfte, gefallen zu wollen, sich nichts so leicht einschleicht als das Gesuchte. Ein Mann, der gut schreiben will, soll, soviel er kann, sich bloß durch die Natur der Sache leiten lassen.“ (Heft B 20)

Von niemand anderes als von Leibniz stammt die folgende luzide Charakterisierung der dichterischen Sprache: „Drei Eigenschaften muß nach meiner Meinung die Rede haben, wenn sie Lob verdienen will: claritas, veritas und elegantia. – Die deutsche Poesie gehört hauptsächlich zum Glanz der Sprache.“ Damit sind auch die Merkmals von Roths erzählerischer Prosa genannt, ihre Klarheit und Einfachheit, ihre Wahrheit und ihre Eleganz.

Seit Roths Lebzeiten bis heute hat es sich eingebürgert, daß manche Kritiker Roths Prosakunst sozusagen pflichtgemäß loben, zugleich aber einwenden, daß Denken nicht seine Stärke gewesen sei. Sie merken nicht, daß zwischen beiden Aussagen ein Widerspruch besteht; denn man wird ja kaum eine Prosa loben können, die Denkfehler enthält. Oder mit den Worten ausgedrückt, die Roth gegen einen analogen Vorwurf Ludwig Marcuses gebraucht: „Wenn Du mir zugestehst, daß ich ‚Sätze-bauen‘ kann und der Grammatik ergeben bin, so mußt Du doch wissen, daß Beides der direkte Ausdruck der Vernunft ist, vielleicht der einzige der Vernunft, in dieser Welt!“ (Br 373).

Was schließlich die Frage angeht, welche Sprache Mendel spricht, so muß man annehmen, daß er in Wolhynien russisch bzw. ukrainisch und jiddisch spricht, in Amerika ebenfalls den „Jargon der Juden“, da er kein Englisch kann (S.173; 176).

3. Sinn des Romans

Der Roman wird weithin von der Frage beherrscht, ob das Unglück des Menschen eine Strafe Gottes für eine Schuld des Menschen ist. Wenn man aber diese Überzeugung teilt und wenn ein großes Unglück eintritt, wird der Glaube auf eine harte Probe gestellt. Das Verhalten der Personen in dieser Frage hängt dann von ihrer religiösen Einstellung ab. Die Spannung des Romans resultiert im Ersten Teil nun hauptsächlich daraus, daß Mendel Singer ein anderes religiöses Selbstverständnis hat als seine Frau Deborah. Die beiden folgen verschiedenen Richtungen des osteuropäischen Judentums.

Der Mann wird zweimal „der Gerechte“ genannt. „Mendel Singer aber, der Gerechte, floh vor keiner Strafe Gottes“, heißt es gleich zu Beginn des Romans anläßlich der als Strafe empfundenen Impfung gegen die Pocken (S.11). Dann wird er wieder „der Gerechte“ genannt, als er sich im Krieg um das Schicksal von Jonas und Menuchim sorgt (S.125). Der Gerechte (hebr. Zaddik) aber ist ein zentraler Begriff der hebräischen Bibel und des nachexilischen Judentums: er bezeichnet den frommen, gesetzestreuen Menschen. Für den Glauben Mendels sind nun drei Merkmale charakteristisch, durch die sich seine Überzeugung von Deborahs Einstellung unterscheidet. Er glaubt an eine direkte Beziehung zwischen Mensch und Gott, woraus sich ergibt, daß er nicht wie seine Frau auf die Vermittlung eines Rabbis angewiesen ist und auch eine andere Art des Betens als sie pflegt. Und schließlich glaubt er nicht an Wunder.

Er „vertrug kein Wunder im Bereich der Augen. Er lächelte über den Glauben seiner Frau an den Rabbi. Seine schlichte Frömmigkeit bedurfte keiner vermittelnden Gewalt zwischen Gott und den Menschen.“ (S.18).

Seine Art des Betens hat unverkennbar eine sachliche, gelegentlich sogar automatische Eigenschaft. Er wird als Beter mit einem Trichter verglichen, durch den die Worte zum Himmel gehen (S.66). Dann heißt es: „Er betete auswendig und mechanisch, er dachte nicht an die Bedeutung der Worte, ihr Klang allein genügte, Gott verstand, was sie bedeuteten.“ (S.95).

Deborah dagegen „wagte nicht mehr Gott anzurufen, er schien ihr zu hoch, zu groß“; statt dessen ruft sie ihre toten Verwandten an, dann die biblischen Erzväter und Erzmütter (S.15f.). Wie zitiert, gibt sie sich einer hemmungslosen Leidenschaft hin, als sie die Toten anruft und zum Wunderrabbi vordringt. Kein Zweifel, daß ihre Frömmigkeit an chassidische Überzeugungen erinnert. Bei Martin Buber kann man nachlesen, daß im Chassidismus ein frommer Rabbi als Zaddik, als „der Bewährte“, „der Heilige, der Mittler zwischen Gott und Mensch“ verehrt wurde (Buber 1955, 9). Auch nahm man an, daß Gebete nur wirkungsvoll sind, „wenn der Mensch in die Sphäre der Inbrunst emporwächst“ (l.c. 37). Bei Deborahs Leidenschaft könnte man allerdings eher von dem Ausdruck einer wilden, archaischen Passion reden.

Was nun das Thema des Romans angeht, so nimmt Mendel sozusagen als selbstverständlich an, daß alles Unglück und alles Unheil, das ihn und seine Familie trifft, eine Strafe Gottes sei: „Ich weiß nicht, wofür Er uns straft, zuerst mit dem kranken Menuchim und jetzt mit den gesunden Kindern“, die zum Militär müssen. Man müsse sich dem „Willen des Himmels“ fügen (S. 38). Vergebens sucht er bei sich nach einer Sünde, warum er im Hinblick auf Menuchim bestraft ist (S.42). Dieser Ansicht ist er auch noch, als Deborah meint: „Wofür straft er uns jetzt? Haben wir Unrecht getan? Warum ist er so grausam?“ Er hält dies für eine Lästerung (S.84). Später meint er im Hinblick auf die Schuldfrage, es sei seine Schuld, wenn Jonas und Menuchim im Krieg umkommen (S.125). Aber erst nach Mirjams unheilbarer psychischer Erkrankung zweifelt er an Gottes Hilfe angesichts der übergroßen Strafe, die ihn getroffen hat (S.139, und meint in bitterer Ironie: „Nur Mendel straft er! Mendel hat den Tod, Mendel hat den Wahnsinn, Mendel hat den Hunger, alle Gaben Gottes hat Mendel. Aus, aus, aus ist es mit Mendel Singer.“ Dazu der Kommentar: „Sein Herz war böse auf Gott, aber in seinen Muskeln wohnte noch die Furcht vor Gott“, und es gelingt ihm nicht, „Gott zu verbrennen“, d.h. seine Gebetbücher, die Gebetsriemen und den Mantel zu verbrennen (S.141f.). Er vergleicht Gott mit einem zaristischen Bezirkshauptmann, dem erklärten Feind der Juden auf Seiten des Staates: „Er ist ein großer grausamer Isprawnik“ (S.143). Er weist den Trost und die Erklärung seiner Freunde, die auf das Beispiel Hiobs verweisen, zurück, weil er in seinem Fall nicht an Wunder glauben kann und keine Angst vor der Hölle habe: „Gütiger als Gott ist der Teufel. Da er nicht so mächtig ist, kann er nicht so grausam sein“ (S.147).

Mendels Kampf „gegen den Himmel“ (S.148) hat zur Folge, daß er nicht mehr betet: „Aber es tat ihm weh, daß er nicht betete. Sein Zorn schmerzte ihn und die Machtlosigkeit dieses Zorns. Obwohl Mendel mit Gott böse war, herrschte Gott noch über die Welt. Der Haß konnte ihn ebensowenig fassen wie die Frömmigkeit.“ (S.150)

Wenn Mendel dann klagt, er habe keinen Gott (S.152), so heißt dies keineswegs, daß er nun ungläubig geworden sei und die Existenz Gottes verneine; es bedeutet vielmehr, daß er Jehova, zu dem seine Nachbarn beten, nicht mehr als seinen Gott betrachten könne.

Bei der Feier des Osterabends aber wird Mendel in seiner glaubenskritischen Haltung ein wenig erschüttert, heißt es doch nach dem Gesang der biblischen Berichte: „Es war, als würde durch die Liebe Gottes zum ganzen Volk Mendel mit seinem eigenen kleinen Schicksal beinahe ausgesöhnt“ (S.169). Nach dem Wiedersehen mit Menuchim bei der gleichen Feier sieht Mendel schließlich in seinem schlichten, doch bedeutenden Schlußwort zum Thema aber ein, daß er Unrecht hatte: „Schwere Sünde hab‘ ich begangen, der Herr hat die Augen zugedrückt. Einen Isprawnik hab ich ihn genannt. Er hat die Ohren zugehalten. Er ist so groß, daß unsere Schlechtigkeit ganz klein wird.“ (S.182) Mit den Sünden sind hauptsächlich nicht irgendwelche Vergehen Mendels in der Vergangenheit gemeint, sondern vor allem seine religiöse Verzweiflung.

Es bleibt noch zu klären, wie in diesem Zusammenhang die Frage des Wunders zu verstehen ist, die in der Sekundärliteratur über den Roman eine so große Rolle gespielt hat. Diese Frage aber hat zwei Aspekte: die Auffassung Mendels von der Sache und das Problem, ob man die Heilung Menuchims tatsächlich als Wunder im strengen Sinn betrachten kann, als ein Vorkommnis, das auf natürliche Weise nicht zu erklären und mit den Naturgesetzen nicht vereinbar ist. Mendel aber versteht unter Wunder verschiedene Arten von Ereignissen: die Geschehnisse am Ende des Buches Hiob, der neue Reichtum Hiobs, seine neuen Söhne und Töchter, also einen materiellen und familiären Wohlstand, der als Segen Gottes betrachtet wird; dann die Rückkehr Sams aus einem Massengrab, was in der Tat ein Wunder im strengen Sinn wäre, nämlich ein Vorgang, der den Naturgesetzen widerspricht; die unverhoffte Heilung Mirjams, die höchst unwahrscheinlich, aber doch nicht auf natürliche Weise unmöglich wäre, wenn nämlich ein wirksames Heilmittel entdeckt würde; die Ankunft Menuchims während des Krieges aus Rußland wäre zwar auch in der gegebenen Situation unwahrscheinlich, aber doch auch nicht wider die Naturgesetze (S.144f.). Das endliche Wiedersehen mit Menuchim hält er schließlich auch für ein Wunder – er betrachtet also als Wunder sowohl im strengen Sinn ein Ereignis, das eine Ausnahme von den Naturgesetzen darstellt, als auch glückliche Zufälle, die gegen alle Erwartung und Wahrscheinlichkeit eintreffen, aber doch natürliche Vorkommnisse sind.

Was die Heilung oder Gesundung Menuchims angeht, so wird sie im Roman recht summarisch und andeutungsweise beschrieben. Es ist aber nach den Andeutungen im Text nicht ausgeschlossen, daß dabei alles mit rechten Dingen zugeht. Als Doktor Soltysiuk, der die Impfungen durchführt, den kleinen Menuchim sieht, behauptet er, Menuchim werde ein Epileptiker: „Aber ich könnte ihn vielleicht gesund machen“ (S.12), und Mendel selbst denkt noch in Amerika, daß Menuchim gesund werden könnte (S.111). Dann erhält er die Nachricht, daß Dr. Soltysiuk veranlaßt hat, daß Menuchim nach Petersburg zu Fachärzten kommt (S.116), und man erfährt, daß das Kind unter dem Schock eines Brandes ein wenig zu sprechen begonnen hat. Menuchim selbst berichtet nur, daß er in einem öffentlichen medizinischen Institut gut behandelt worden sei und daß man dort seine musikalische Begabung entdeckt habe (S.175).

Diese Begabung aber wird im Roman schon früh angedeutet. Als das Kind den Ton hört, den ein Schlag des Löffels an das Teeglas hervorbringt, erscheint in seinen Augen ein „lauschendes Licht“, und als er die Schläge der Turmuhr hört, streckt er den Kopf hoch, „als atmete er den nachhallenden Gesang der Glocken ein“ (S.41f.). Menuchims Heilung wird man also, genau genommen, nach den Angaben des Romans wohl als überraschendes, unwahrscheinliches Ereignis, aber doch nicht als übernatürliches Wunder im strengen Sinn bezeichnen können.

Dagegen gibt es für die Vorhersage des Rabbi von Kluczyk, die dann auch tatsächlich eintrifft, keine natürliche Erklärung: „Menuchim, Mendels Sohn, wird gesund werden. Seinesgleichen wird es nicht viele geben in Israel. Der Schmerz wird ihn weise machen, die Häßlichkeit gütig, die Bitternis milde und die Krankheit stark.“ (S.17f.)

Mendel wiederholt diese Worte, als Menuchim beim Wiedersehen ihn aufhebt und auf seinen Schoß setzt (S.180). Es ist die wichtigste und entscheidendste Wiederholung des ganzen Textes und sie, nicht die medizinisch nicht ausgeschlossene Heilung Menuchims, bezeichnet das eigentliche Wunder dieser Geschichte.

Die geschilderten geistigen und existentiellen Konflikte spielen sich in einer historischen und gesellschaftlichen Situation ab, die Roth mit der ihm eigenen Kunst der realistischen Darstellung anschaulich-einprägsam beschreibt. Der Brisanz der geistigen Konflikte entspricht die Schärfe der sozialen Gegensätze. Es ist die Situation der Juden im zaristischen Rußland, die durch zwei Antagonismen geprägt ist: die Gegnerschaft der russischen Bauern und die schikanöse Gegnerschaft der staatlichen Behörden, die Mendel selbst drastisch erlebt, zwei feindliche Mächte, von denen die osteuropäischen Juden sich fernzuhalten nach Möglichkeit bestrebt sind. „Seid tausend Jahren ging es niemals gut aus, wenn ein Bauer fragte und ein Jude antwortete“, heißt es im Text (S.31). Dem entspricht, daß die Juden sich möglichst dem Militärdienst entziehen wollen, und nicht zuletzt entschließt Mendel sich zur Auswanderung, als Mirjam sich mit Soldaten einläßt.

Die gesellschaftliche Situation der Juden wäre nicht vollständig beschrieben, wenn man nicht erwähnte, daß sie eifrig darauf bedacht sind, ihre religiös bestimmte Lebensweise zu bewahren. So stützt Mendel sich auf ein religiöses Argument, als er die medizinische Behandlung Menuchims in einem russischen Spital ablehnt, wo die jüdischen Speisegesetze natürlich nicht gelten: „Wir sind arm, aber Menuchims Seele verkauf‘ ich nicht, nur weil seine Heilung umsonst sein kann“ (S.12). Es spricht nun für die Objektivität des Erzählers, daß er diesen religiös begründeten Eigensinn, der mit der natürlichen Vernunft kaum zu vereinbaren ist und heute allenfalls noch bei einigen Sektierern anzutreffen ist, ohne jeden Kommentar und ohne jede Kritik sans phrase beschreibt.

Es zeigt sich hier ein Aspekt, der wiederum für Roths Erzählkunst charakteristisch ist und ein Moment ihrer Qualität ausmacht. Um die Sache mit den Worten Lichtenbergs auszudrücken: „Jedem Kenner des Menschen ist es bekannt, wie schwer es ist, Erfahrungen so zu erzählen, daß sich in die Erzählung kein Urteil einmischt“ (Sudelbücher, Heft C 192). Derselbe Gedanke findet sich dann auch bei Walter Benjamin in seinem programmatischen Aufsatz über den „Erzähler“: „Es ist nämlich schon die halbe Kunst des Erzählens, eine Geschichte, indem man sie wiedergibt, von Erklärungen freizuhalten“.

Das wohl charakteristischste Beispiel für diese zurückhaltende Erzählweise ist jedoch die Szene, in der Schemarjah von der Familie Abschied nimmt: „Furchtsam näherte sich darauf Schemarjah dem glotzenden Menuchim. Zum erstenmal galt es, das kranke Kind zu umarmen, und es war Schemarjah, als hätte er nicht einen Bruder zu küssen, sondern ein Symbol, das keine Antwort gibt“ (S.48). Es wird nicht gesagt, was das kranke Kind in den Augen des älteren Bruders denn symbolisiert. So bleibt es dem Leser überlassen, herauszufinden, was hier gemeint sein könnte. Es liegt nahe anzunehmen, daß Menuchim nach Schemarjahs Ansicht das unglückliche Geschick der Familie sichtbar verkörpert. Furchtsam ist der Auswanderer gewiß deshalb, weil er einst mit seinen Geschwistern das behinderte Kind ertränken wollte (S.21).

4. Das Beispiel Hiobs

Roth hat mit dem Titel explizit, gleichsam in einem Leservertrag, erklärt, daß der Roman sich auf den biblischen Hiob bezieht. Das heißt, daß der Roman eine zeitgenössische Geschichte erzählt, die in signifikanten Aspekten der Geschichte des biblischen Hiob gleicht. Im Text wird dieser Vergleich aber nicht von dem Erzähler eingeführt, sondern von den Freunden und Nachbarn Mendel Singers, während dieser das Beispiel Hiobs in seinem Fall zunächst nicht gelten läßt, obwohl er sich ähnlich wie Hiob verhält. Erst am Schluß stimmt er der Analogie zu.

Wenn man nun den Roman mit dem biblischen Buch vergleicht, kann man wesentliche Übereinstimmungen feststellen, die den Titel des Werkes rechtfertigen. Mendel Singer faßt sein Leid und sein Unglück als Strafe Gottes auf, wie Hiob, der betet: „Deine strafende Hand entferne von mir“ (Job 13,21). Mendel nimmt an, daß sein Unglück auf eine Schuld und auf Sünden seinerseits zurückzuführen seien, was auch die Ansicht eines der Freunde Hiobs ist (Job 20,27). Doch kann er ebenso wie Hiob bei sich keine Schuld finden, die das übergroße Unglück rechtfertigen könnte. Mendel lehnt es ab, sich an Heilige zu wenden, was im Falle Hiobs auch von dessen Freund als unnütz und wirkungslos erachtet wird (Job 5,1).