Überfall um Mitternacht - Rudolf Wildgruber - E-Book

Überfall um Mitternacht E-Book

Rudolf Wildgruber

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Beschreibung

Ein neues Schuljahr beginnt. Julia, die Tochter von Förster Grimmel, setzt sich bei der Wahl zur Klassensprecherin gegen ihren Mitschüler Henry durch. Während sich aus der anfänglichen Abneigung langsam eine wachsende Freundschaft entwickelt, braut sich auf der anderen Seite der Welt Unheil zusammen. Die Glühaugengespenster auf der Vulkaninsel Lan Yu haben mit der Försterfamilie noch eine Rechnung offen und sinnen auf Rache. Im skrupellosen Bürgermeister von Lan Yu finden sie einen willigen Helfer für ihre Rachepläne. Mit einem gekaperten Raumschiff fliegen sie nach Grimmelshausen, zum Wohnort der Försterfamilie. Während der Förster, seine Frau Annette und Julia mitten in der Nacht ahnungslos in ihren Betten schlafen, schlagen die Glühaugengespenster erbarmungslos zu.

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Seitenzahl: 349

Veröffentlichungsjahr: 2022

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RUDOLF WILDGRUBER, Jahrgang 1955, lebt in München. Nach dem Abschluss als Diplom-Informatiker an der TU München arbeitete er in verschiedenen Münchener IT-Firmen als Software-Entwickler, Projektleiter und Produktmanager. Seit dem Eintritt in den Ruhestand widmet er sich intensiv dem Schreiben von Kinderbüchern und der Fotografie. Informationen zu seinen Büchern und eine Auswahl von Fotos veröffentlicht er auf der Webseite www.miramynd.com.

ÜBERFALL UM MITTERNACHT ist der zweite Band der Reihe ›Förster Grimmel Abenteuergeschichten‹. Weitere Bände sind in Vorbereitung.

Bisher sind erschienen:

Band 1 URLAUB AUF DER VULKANINSEL

Für meine Kinder und Enkelkinder

ODE AN REBECCA

Ich weiß noch wann es war

Als mich traf dein scheuer Blick

Es war so wunderbar

Da kam zu mir das Glück

Um bei dir zu sein

Ist mir kein Weg zu weit

Spring ich über Stock und Stein

Genieße die herrliche Zeit

Du bist der helle Stern

Der mir weist die Sicht

Der mich führt ins Licht

Hüpf von Baum zu Baum

Such die reife Nuss

Lebe wie im Traum

Bis zum nächsten Kuss

Egal was kommen mag

Unsre Liebe endet nie

Frisch wie am ersten Tag

Ein Leben voll Magie

Du bist der helle Stern

Der mir weist die Sicht

Der mich führt ins Licht

– Rolf Hüpfer

Melodie: Guiding Lights von Foy Vance

Inhaltsverzeichnis

1.

Förster Grimmel ist nervös

2.

Julia freut sich

3.

Annette träumt

4.

Der Oberförster ist zufrieden

5.

Der Förster ist leichenblass

6.

Der Forstdirektor macht Stress

7.

Der König trauert

8.

Der Bürgermeister plant

9.

Der König erhält schlechte Nachrichten

10.

Julia bestaunt die Fuchskinder

11.

Julia wird Klassensprecherin

12.

Julia und Lena erzählen von Lan Yu

13.

Der Förster nimmt Unterricht

14.

Der Bürgermeister macht ein Angebot

15.

Der Bürgermeister hebt Geld ab

16.

Pyra mischt sich ein

17.

Julia erinnert sich

18.

Rebecca ist verliebt

19.

Pyra ist niedergeschlagen

20.

Der Forstdirektor ist misstrauisch

21.

Julia macht Werbung

22.

Der Bürgermeister wird fündig

23.

Der Bürgermeister erklärt seinen Plan

24.

Annette hat Bedenken

25.

Der Bürgermeister spielt falsch

26.

Julia besucht Lena

27.

Henry ist beeindruckt

28.

Der Bürgermeister lügt

29.

Annette ist enttäuscht

30.

Das Raumschiff wird startklar gemacht

31.

Pyra wird aufmüpfig

32.

Der Bürgermeister schläft ein

33.

Der Uhu ist alarmiert

34.

Pyra kümmert sich

35.

Julia träumt

36.

Lakko flucht

37.

Julia flieht

38.

Lakko stürzt

39.

Der König tobt

40.

Rebecca ist unruhig

41.

Annette jauchzt

42.

Der Bürgermeister trickst

43.

Wo ist Julia?

44.

Der Bürgermeister ruht sich aus

45.

Henry stürmt los

46.

Der Polizeichef informiert sich

47.

Pyra sorgt sich

48.

Die Suche beginnt

49.

Pyra hat ein mulmiges Gefühl

50.

Der Polizist findet Spuren

51.

Der Polizeichef holt sich Rat

52.

Der Holländer ist schlau

53.

Der Taucher sucht

54.

Der Bürgermeister ist verzweifelt

55.

Henry malt

56.

Pyra hofft

57.

Julia wacht auf

58.

Die Sekretärin plaudert

59.

Julia verabschiedet sich

60.

Julia spielt Theater

61.

Julia kehrt heim

62.

Frau Gruber lobt den Förster

63.

Herr Chen ist erschüttert

64.

Julia will in den Zoo

65.

Julia platzt der Kragen

66.

Julia hat eine Idee

67.

Herr Chen wird eingeweiht

68.

Die Gefangenen werden ausgetauscht

69.

Pyra setzt sich durch

70.

Der Staatssekretär plaudert

71.

Der Förster ist überrascht

72.

Der Förster ist erleichtert

1 Förster Grimmel ist nervös

Förster Grimmel schob den Teller weg. Ein angebissenes Stück Toastbrot lag darauf. Mit einem Blick auf die Uhr erhob er sich. »Ich bringe keinen Bissen mehr hinunter. Der Termin mit dem Oberförster liegt mir im Magen. Ich mache mich auf den Weg. Wer weiß, wie der Verkehr heute ist.«

Annette schüttelte den Kopf. »Du hast ja fast nichts gegessen. Und die Kaffeetasse ist auch noch halb voll. Dein Termin ist erst in einer Stunde. Da kannst du dir schon noch Zeit nehmen und ordentlich frühstücken.« Sie drückte ihn wieder auf den Stuhl zurück und schob ihm den Teller hin. »Jetzt stell dich nicht so an. Er wird dir schon nicht den Kopf abreißen. Immerhin bist du Beamter, er kann dich gar nicht entlassen.«

Förster Grimmel sank auf dem Stuhl zusammen und griff nach dem Toastbrot. Gedankenverloren beäugte er es, konnte sich aber nicht entschließen, den Mund aufzumachen. Die vergangene Woche war die reinste Folter gewesen. Nachdem sie erschöpft, aber heil von dem Abenteuerurlaub auf der Vulkaninsel Lan Yu zurückgekommen waren, konnte der Förster wegen einer Bänderdehnung die Arbeit nicht sofort wieder aufnehmen. Der Oberförster, der ihn während des Urlaubs vertreten hatte, musste eine weitere Woche dranhängen. Da er in dieser Zeit in ihrem Gästezimmer wohnte, kamen sie näher auf Tuchfühlung, als ihnen beiden lieb war. Dass der Oberförster mit der Arbeit des Försters nicht zufrieden war, ließ er bei jeder Gelegenheit in einem abschätzigen Nebensatz anklingen. Die gemeinsamen Mahlzeiten verliefen in frostiger Atmosphäre. Alle hatten aufgeatmet, als der Oberförster am Freitag seine Sachen gepackt hatte und mit einem knappen Abschiedsgruß weggefahren war. Mit sichtlichem Vergnügen hatte er Förster Grimmel noch daran erinnert, sich bei seiner Sekretärin schnellstmöglich einen Termin für das Beurteilungsgespräch geben zu lassen.

Das ganze Wochenende hatte der Förster hin und her überlegt, ob er den Termin einfach vergessen sollte. Gute Lust hätte er gehabt, aber schlussendlich siegte doch sein Pflichtgefühl. Gleich am Montag hatte er den Anruf getätigt und schon für den heutigen Dienstag um 10 Uhr einen Termin bekommen. Bringen wir es hinter uns, hatte er gedacht und zugesagt. Die letzte Beförderung, zum Revierförster, war vor fünf Jahren gewesen. Damals hatte es noch den alten Oberförster gegeben, der kurz vor seiner Pension großzügig gewesen war. Sein Nachfolger Baumstangerl war ein Typ, der nur seine Karriere im Sinn hatte. Er scharwenzelte permanent um den Minister herum und machte sich wohl Hoffnung auf eine Ernennung zum Staatssekretär. Förster Grimmel bezweifelte, ob er überhaupt Forstwirtschaft studiert hatte. Wahrscheinlich war er über Beziehungen in die Forstbehörde gekommen, denn wie sonst sollte man sich erklären, dass er mit seinen 39 Jahren schon Oberförster war.

Julia stürmte in die Küche. »Papa, ich muss los.« Sie gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange und war schon wieder verschwunden. Aus dem Flur rief sie ihm zu: »Drück mir die Daumen, dass ich heute zur Klassensprecherin gewählt werde.«

Der Förster schrak aus seinen Gedanken hoch. Siedend heiß fiel ihm ein, dass heute der erste Schultag nach den Sommerferien war. Er drehte sich um. »Ja, das wirst du ganz bestimmt. Ich hab’s im Gefühl.« Doch das hörte sie nicht mehr. Sie hatte schon die Haustür hinter sich zugezogen und lief mit schnellen Schritten zur Haltestelle des Schulbusses.

»Jetzt musst du dich aber sputen.« Annette rüttelte ihn an der Schulter. »Du hast ja immer noch nichts gegessen und getrunken. Kopf hoch! Lass dich nicht unterkriegen. Zeig ihm, dass du dich nicht einschüchtern lässt. Deine Beförderung ist überfällig. Wenn er dich übergeht, dann beschwerst du dich beim Personalrat.«

Der Förster seufzte, packte seine Aktentasche und griff sich den Autoschlüssel. Annette begleitete ihn nach draußen, öffnete das Gartentor und winkte ihm, als er mit seinem schwarzen Jeep in den Waldweg einbog.

Mit jedem Meter, den er sich der Stadt näherte, wurde Förster Grimmel nervöser. Kaum hatte er die Stadtgrenze erreicht, wurde der Verkehr dichter. Seine Hände schwitzten. Eine leichte Übelkeit erfasste ihn. Jetzt rächte sich, dass er mit nahezu nüchternem Magen unterwegs war. Bestimmt hatte er Unterzucker. Innerlich fluchte er. Was bildete sich dieser Lackaffe ein? Ihn in die Stadt zu zitieren. Warum mussten die Bürokraten auch mitten in der Stadt residieren? Wo sollte er hier parken? Parkverbot, soweit das Auge reichte. Glücklicherweise hatte die Ludwigstraße breite Gehwege. Und Horden von Radfahrern waren unterwegs. Jetzt bloß keinen zusammenfahren, dachte er, als er über den Radweg auf den Gehweg fuhr und stoppte. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Das war noch einmal gutgegangen. Perfekt, er parkte direkt vor dem Haupteingang. Mit einem Griff ins Handschuhfach holte er das Schild heraus. ›Arzt im Dienst‹, sogar mit Äskulapstab. Er schmunzelte, als er es gut sichtbar hinter der Windschutzscheibe platzierte. Wie gut, dass man einander auf dem Land in allen Lebenslagen half. Sein Hausarzt hatte sich über den frisch geschlagenen Tannenbaum für Weihnachten sehr gefreut.

Er wischte sich die feuchten Hände an der Hose ab und öffnete die Fahrertür. Wütendes Klingeln ließ ihn die Tür erschrocken zuziehen. Ein langhaariger Typ, der aussah wie ein in die Jahre gekommener Philosophie-Student, fuhr mit seinem Fahrradanhänger langsam an ihm vorbei und machte das Scheibenwischer-Zeichen. Ja, du mich auch, dachte sich Förster Grimmel und warf ihm einen giftigen Blick zu.

Ministerium

Vorsichtshalber schaute er sich um, bevor er die Tür erneut öffnete. Nach ein paar Schritten stand er in der Empfangshalle und meldete sich beim Pförtner an. Der schickte ihn in den zweiten Stock, wo er bei Frau Müller, Baumstangerls Vorzimmerdame, anklopfte.

»Kommen’S rein«, hörte er ihre Stimme und trat ein. »Nehmen’S doch noch einen Augenblick Platz. Ich sag dem Oberförster gleich Bescheid.« Sie steckte den Kopf durch die Zwischentür zum angrenzenden Büro und flüsterte leise.

»Es dauert noch. Der Oberförster führt ein wichtiges Telefonat.« Prüfend schaute sie ihn an. »Ja was ist denn mit Ihnen los? Sie sind ja ganz blass. Vor dem Oberförster brauchen’S keine Angst zu haben. Der wird Ihnen schon nicht den Kopf abreißen.«

Das hatte er heute schon einmal gehört. Trotzdem beruhigte es ihn in keinster Weise. Verstohlen schaute er auf die Uhr. Schon zehn Minuten nach 10 Uhr. Vor lauter Nervosität holte er aus seiner Aktentasche die Berichte der letzten zwölf Monate heraus und blätterte sie durch. Alles war akribisch aufgelistet. Der Wildbestand, das geschlagene Holz, Sturmschäden, Befall mit Schädlingen und die Ergebnisse der monatlichen Bodenproben. Knapp, aber akkurat, wie er sich innerlich versicherte. Da konnte er ihm nicht am Zeug flicken. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass er schon eine halbe Stunde wartete. Unruhig wetzte er auf dem Stuhl hin und her.

Endlich klingelte Frau Müllers Telefon. »Ja«, meldete sie sich und lauschte einige Sekunden. »Ich schicke ihn rein«, sagte sie und wies zur Tür. Tief luftholend stand Förster Grimmel auf und ging mit bleischweren Schritten in Oberförster Baumstangerls Büro.

2 Julia freut sich

Aufgeregt lief Julia zur Gartentür. Sie freute sich auf das neue Schuljahr. Gottseidank war Lena, ihre beste Freundin, auch in ihrer Klasse. Am vergangenen Donnerstag hatte sie mit ihrer Mama einen Ausflug nach Grimmelshausen gemacht. Dabei hatten sie sich die Schule nochmal angeschaut. Auf den ausgehängten Listen hatte sie ihren und Lenas Namen bei der Klasse 5a gefunden. Ihre Mama war so großzügig gewesen und hatte ihr zum Schulanfang eine neue Jeans gekauft. Im Textilgeschäft war Lena sofort auf den Ständer mit den abgerissenen Jeans zugesteuert. Entsetzt wollte ihre Mama sie davon abbringen, aber Julia hatte mit einem treuen Dackelblick die Oberhand behalten. Was würde der Förster dazu sagen, wenn Julia eine Jeans mit aufgerissenen Knien tragen würde? Voller Zweifel hatte ihre Mama den Kopf gewiegt. Doch Julia hatte die Bedenken beiseite gewischt, indem sie einfach behauptete, dass der Förster sowieso nicht beachten würde, was sie anhätte. Das hatte Annette eingeleuchtet. Als sie letztes Jahr einen neuen Pullover gekauft hatte, war es dem Förster überhaupt nicht aufgefallen. Umgekehrt sah er sie manchmal ganz erstaunt an und fragte, ob sie neue Sachen trüge. Dabei waren das Kleidungsstücke, die sie schon oft getragen hatte.

Als sie auf den Waldweg einbog, der zur Landstraße führte, fiel ihr sofort der Uhu auf. Er saß auf einer Fichte, hatte die Augen geschlossen und den Kopf in die Federn eingezogen.

»Uhu, was ist los?«, rief sie ihm zu. »Warum bist du nicht in deinem Nest und wartest auf die Dämmerung?«

Der Uhu öffnete ein Auge und seufzte. »Meine Uhudame hat mich weggeschickt. Sie will das Nest putzen und neu auspolstern. Es muss picobello sein, hat sie gesagt. Ich würde nur alles in Unordnung bringen.«

Julia lachte. Schon in der letzten Woche hatte sie mitbekommen, dass das Verhältnis zwischen dem Uhu und seiner Uhudame nicht ganz einfach war. Als sie überstürzt ihren Urlaub auf der Vulkaninsel Lan Yu abgebrochen hatten, war die Uhudame mitgekommen. Auf der Insel hatte sie keinen Uhumann gefunden und der Uhu im Grimmelwald war auch schon lange auf der Suche nach einer Gefährtin. Also könnten es die beiden doch einmal mit einer Partnerschaft probieren, hatte sie gedacht.

»Ihr werdet euch schon aneinander gewöhnen. Vielleicht will sie einfach das Nest vorbereiten, weil sie demnächst Eier legt. Das darfst du ihr nicht krummnehmen. Möglicherweise bist du bald stolzer Papa von drei süßen Uhukindern.«

»Meinst du?« Der Uhu plusterte sich auf. »Das wäre fantastisch. Ein bisschen dicker kommt sie mir schon vor. Und ich habe immer gedacht, das läge an unserem guten Futter im Grimmelwald.«

Julia wurde abgelenkt, als ein Eichhörnchen auf ihre Schulter hüpfte. »Nanu, Marie, was treibst du hier und wo ist Rebecca?«

Marie schniefte. »Dauernd schickt sie mich weg. Ich soll sie in Ruhe lassen. Eine richtige Zicke ist sie geworden.«

Rebecca und Marie waren von ihren Eltern Max und Helena wie Zwillinge aufgezogen worden. Sie hatten Marie adoptiert, als deren Eltern von einem Auto überfahren worden waren. Im Urlaub auf Lan Yu waren sie noch unzertrennlich gewesen und hatten durch ihren mutigen Einsatz die Rettung von Annette, Julia und Lena ermöglicht. Diese waren von den Glühaugengespenstern, wie sie die Vulkanoiden respektlos getauft hatten, verschleppt und gefangen worden.

»Gestern bin ich ihr heimlich nachgehüpft und stell dir vor, was ich gesehen habe.«

»Was denn?« Julia war neugierig geworden.

»Sie trifft sich mit einem der Eichhörnchenjungs. Rolf heißt er, habe ich herausgefunden. Rolf Hüpfer.« Sie rümpfte die Nase. » Wissen möchte ich, was sie an dem findet?«

»Ach Rebecca«, schmunzelte Julia. »Du bist ja richtig eifersüchtig. Bestimmt wirst du auch bald einen Freund finden.«

»Was soll ich mit so einem Halbstarken? Jungs sind blöd.« Sie grummelte vor sich hin. »Vielleicht kann ich ihn ihr ausspannen?«

»Oh jemine, das solltest du nicht tun. Lass ihr doch das Glück und schau dich genau um. Ich bin sicher, deine Verehrer stehen schon Schlange.«

»Hm, dann muss ich halt auch mal morgens auf die Waldlichtung kommen. Da trifft sich die Jungsgang. Vielleicht ist einer dabei, der nicht ganz so blöd ist.«

Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie noch drei Minuten hatte, bis der Bus käme. Mit schnellen Schritten lief sie zur Haltestelle. Gerade noch rechtzeitig kam sie in Sichtweite und winkte dem Busfahrer, der gerade die Türen schließen wollte. Atemlos stieg sie ein, suchte Lena, die ihr zuwinkte und ließ sich auf den freien Platz neben ihr fallen.

Obwohl sie sich letzte Woche fast täglich gesehen hatten, steckten sie sofort die Köpfe zusammen und spekulierten, wie der erste Schultag verlaufen würde. Seitdem sie auf der Vulkaninsel das Abenteuer mit den Glühaugengespenstern heil überstanden hatten, waren sie wie ein Herz und eine Seele. Die Tage und Nächte in der Gefängniszelle hatten ihre Freundschaft wachsen lassen.

3 Annette träumt

Annette summte vor sich hin. Es war herrlich, das Haus wieder für sich alleine zu haben. Julia war in der Schule, der Förster in der Stadt. Sie drückte ihm innerlich die Daumen, dass er mit der ersehnten Beförderung heimkommen würde. Aber so, wie sie den Oberförster in der vergangenen Woche kennengelernt hatte, nagten Zweifel an ihr. Bald würde sie es wissen, der Förster müsste zum Mittagessen wieder zuhause sein.

Den neuen Internet-Auftritt ihres Online-Shops hatte sie letzten Mittwoch live geschaltet. Sie war zwar nicht ganz zufrieden, aber jeder weitere Aufwand wäre unverhältnismäßig. Man muss auch zu seinen beschränkten Möglichkeiten stehen, hatte sie gedacht und auf den Knopf gedrückt. Und so ganz viel falsch konnte sie nicht gemacht haben. Immerhin war am Freitag eine Testbestellung des berühmten Münchner Feinkostgeschäfts Dallkäfer eingetrudelt. Sie hatten 100 Fläschchen ihrer neuen Salzmischung geordert. ›Tante Anni’s Kräutersalz‹ hatte sie es genannt. Natürlich mit Deppenapostroph geschrieben. Das erwarteten die Leute heute so. Keiner hielt sich mehr an die Genetivregeln. ›Aus der Region‹ stand auf dem Etikett. Was auch immer das bedeuten sollte. Das Salz kam jedenfalls aus Bad Reichenhall, die Kräuter aus ihrem Garten. Vielleicht hätte sie doch mehr verlangen sollen als die 4,99 Euro für 100 Gramm? Dallkäfer würde es bestimmt für das Doppelte in den Handel bringen. Gestern hatte sie im Supermarkt noch zwölf Kilo Salz gekauft. Die Kassiererin hatte sie etwas misstrauisch angeschaut. Ob sie denn nicht wisse, dass zu viel Salz den Blutdruck erhöhen würde? Ja mei, hatte sie geantwortet, Salzbäder täten der Haut so gut. Der neugierigen Ursel hatte sie nicht auf die Nase binden wollen, wie geschäftstüchtig sie ist.

Das Abfüllen ging ihr gut von der Hand. Sie hatte das Salz in einen Bottich geschüttet, die Kräuter dazu gegeben und mit einem Kochlöffel umgerührt. Die Fläschchen hatte sie glücklicherweise schon auf Vorrat gekauft. Die Etiketten konnte sie selbst drucken. Ein Messbecher und die Küchenwaage vervollständigten ihr Handwerkszeug. Mithilfe eines Einfülltrichters sorgte sie dafür, dass nicht allzu viel verschüttet wurde. Sie war richtig stolz auf sich. Den Stückpreis pro Fläschchen hatte sie auf 1 Euro berechnet. Das machte fast 400 Euro Gewinn. So konnte es weitergehen. Natürlich würde Dallkäfer sie im Preis drücken, wenn sie mit den Bestellungen weitermachten. Aber das würde sie verschmerzen.

Salz war ein billiger Grundstoff. Was konnte man daraus nicht alles machen. Sie würde ihr Sortiment erweitern. ›Tante Anni’s Lavendelsalz‹. Sie sah blühende Lavendelfelder vor sich, die sich bis zum Horizont erstreckten. ›Der Geschmack der Provence‹, so würde der Werbeslogan lauten. Die Herstellung war aufwändiger. Das Salz musste, damit es den Geruch von Lavendel annahm, mindestens eine Woche ruhen. Und es durfte nicht feucht werden. Alles in allem also gar nicht so einfach. Da wäre es nicht vermessen, für ein Fläschchen 10 Euro zu verlangen. Na gut, 9,99 Euro, damit die psychologische Barriere nicht zu groß wäre.

Sie würde exklusiv an Dallkäfer liefern, vielleicht sogar eine Mitarbeiterin einstellen. Lieferverträge wären abzuschließen. Da müsste man aufpassen, dass man nicht über den Tisch gezogen wird. Sie bräuchte einen Anwalt. Auch ein Steuerberater wäre gut. Nicht dass sie was falsch machte. Wie leicht landete man heutzutage wegen Steuerhinterziehung im Gefängnis. Das hatte sie doch an diesem Fußballboss gesehen. Und sie sollte eine Firma gründen. Eine GmbH. Beschränkte Haftung ist immer gut. Sonst würde, wenn etwas schiefliefe, Haus und Hof gepfändet werden. Vielleicht müsste sie anbauen. Eine Lagerhalle, ein Produktionsraum, …

4 Der Oberförster ist zufrieden

Der Oberförster saß hinter seinem Schreibtisch und winkte den Förster heran. »Bringen wir’s hinter uns, Herr Grimmel. Hier, setzen Sie sich.« Einladend deutete er auf einen unbequemen Holzstuhl, der direkt vor seinem Schreibtisch stand.

Förster Grimmel nickte zur Begrüßung und nahm Platz. »Ich wünsche Ihnen ebenfalls einen guten Tag.«

Oberförster Baumstangerl runzelte die Stirn und vertiefte sich in seine Akten. Er schob ihm drei Fotos hin. »Schauen Sie sich das an. Dank Ihres Urlaubs und der Verlängerung wegen Ihres Unfalls hatte ich reichlich Gelegenheit, mir ein Bild von Ihrer Arbeit zu machen. Ich muss sagen, meine schlimmsten Befürchtungen sind übertroffen worden. Was sehen Sie auf dem Bild?«

Förster Grimmel fixierte das Foto. »Das könnte ein Weg in meinem Wald sein.«

»Gut erkannt. Fällt Ihnen irgendetwas auf?«

»Na ja, ein paar Pfützen und Spurrillen. Vor meinem Urlaub hatte es drei Tage ununterbrochen geregnet. Da ist klar, dass der Weg noch ein bisschen nass war. Das ist eine schattige Stelle, die Sonne scheint da nur in den Abendstunden hin.«

»Bravo, Sie drücken sich sehr diplomatisch aus«, bemerkte der Oberförster süffisant. Er schob seinen Kopf vor und nahm den Förster ins Visier. »Ich sage Ihnen, was das ist, wenn es Ihnen nicht selbst klar ist. Der Weg ist total verschlammt. Er muss aufgesandet werden, mit einer schön abgerundeten Oberfläche, damit das Wasser zu den Rändern ablaufen kann.«

Er schob dem Förster das zweite Foto hin und blickte ihn erwartungsvoll an.

»Eine Fichte, abgeknickt. Das muss mitten im Gehölz sein. Sie kann nicht umfallen, weil sie von den umgebenden Bäumen gestützt wird. Von dem Baum geht überhaupt keine Gefährdung aus, wenn Sie darauf abzielen, dass hier Pilzsucher umherstreifen.« Förster Grimmel nahm all seinen Mut zusammen. »Was soll dieses Verhör überhaupt? Bin ich hier der Angeklagte und Sie der Richter?«

»Jetzt werden Sie mal nicht pampig, Herr Grimmel. Ich will Ihnen doch nur helfen, Ihre Arbeit ordentlich und zeitnah zu erledigen. Überlegen Sie mal. Sie wollen doch auch nicht, dass in Ihrem Wald ein Unfall geschieht. Wenn hier eine Windböe reinkommt, dann wird die Fichte möglicherweise in die andere Richtung gedrückt. Da steht nur Jungholz, das kann den Stamm nicht aufhalten.«

Förster Grimmel stöhnte. »Ich kenne den Baum, der steht mitten im Geviert. Den wollte ich sowieso da rausholen, ähm, also die nächsten Tage.«

»Sehr gut, Herr Grimmel. Ich sehe, wir sind auf einer Linie. Sie haben die Problematik erkannt. Jetzt geht es nur noch darum, die Arbeiten zeitnah auszuführen.« Er nahm das dritte Foto zur Hand und warf einen Blick darauf. »Das dritte Foto erspare ich Ihnen. Ich denke, Sie haben verstanden, worum es mir geht.«

Der Förster nickte ergeben. Er merkte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg. Schweißperlen standen auf seiner Stirn.

Oberförster Baumstangerl musterte ihn eindringlich. Ein leichtes Lächeln umspielte seinen Mund. »Frau Müller hat mir gesagt, dass Ihnen ein bisschen flau im Magen ist.« Er griff in den Aktenschrank hinter sich, nahm eine Tasse und stellte sie dem Förster hin. Aus einer Thermoskanne schenkte er dampfenden Tee ein. »Kamillentee. Nehmen Sie einen Schluck, das beruhigt die Nerven.« Er lehnte sich zurück. Gönnerhaft fuhr er fort: »Glauben Sie mir, ich kann mich in Sie hineinversetzen. Es geht mir nur um die Sache. Wir beide wollen doch das Beste für unser Bayernland und die Menschen, die im Wald Erholung suchen.«

Förster Grimmel fühlte sich so klein wie ein Schulanfänger. Nahm diese Tortur denn überhaupt kein Ende? Jetzt musste er auch noch den Tee von diesem Folterknecht trinken. Sein Kopf dröhnte vor lauter Ommms, die er unhörbar vor sich hinsagte. Er nahm einen Schluck. Die warme Brühe beruhigte tatsächlich das Flattern in seinem Magen. Wie ein verwundeter Stier starrte er den Torero an und wartete auf den nächsten Stoß.

Oberförster Baumstangerl war sehr zufrieden mit sich. Er hatte ihn da, wo er ihn haben wollte. Es fehlte noch der finale Stoß. Die Krönung hatte er sich für den Schluss aufgehoben.

»Zeigen Sie mir Ihre Social-Media-Profile, in der Sie Ihre Follower über Ihre Arbeit informieren.« Er schob dem Förster sein Smartphone hin und sah ihm direkt in die Augen. Genau diesen total verstörten Blick hatte er sich vorgestellt. Er musste sich zusammenreißen um nicht laut loszuprusten.

Förster Grimmel japste nach Luft. Er verstand nur noch Bahnhof. Von welchen Profilen faselte der Oberförster? »Ich weiß nicht recht, was Sie meinen, Herr Oberförster«, stammelte er.

»Als Beamte sind wir Diener der Bevölkerung«, erklärte geduldig der Oberförster. »Die Menschen haben ein Recht darauf zu wissen, was mit Ihren Steuergeldern geschieht. Sehen Sie«, er nahm das Smartphone in die Hand und wischte ein paar Mal darauf herum. »Das ist das Instakilo-Profil des Försters Ihres Nachbarreviers. Er informiert wöchentlich über die bevorstehenden Arbeiten in seinem Wald und postet regelmäßig Fotos von seinen Wildtieren. Er hat schon mehr als 300 Follower und auf seine Fotos bekommt er regelmäßig Hunderte von Likes. Da sollten Sie sich mal ein Beispiel nehmen. Natürlich ist er auch auf Bookface und Zwitscher aktiv.«

Förster Grimmel war auf seinem Stuhl zusammengesunken. Mittlerweile hatte er verstanden, dass es irgendwie um das Internet ging. Nur, was hatte er damit zu schaffen? Er arbeitete im Wald. Er war doch kein Computerfuzzi. Vielleicht sollte er seine Frau und Julia fragen. Die konnten ihm sicher erklären, was der Oberförster im Sinn hatte.

»Ich will Sie jetzt nicht überfordern, Herr Grimmel.« Genüsslich lehnte sich der Oberförster in seinen Bürostuhl zurück. »Aber ich will Ihnen helfen. Wir alle müssen mit der Zeit gehen. Die Digitalisierung erreicht auch den entferntesten Winkel unseres schönen Bayernlandes. Sie haben bestimmt auch ein Smartphone. Vielleicht nehmen Sie es bisher nur zum Telefonieren. Entdecken Sie die digitale Welt und ihre ungeahnten Möglichkeiten. Führen Sie ein Leben auch im digitalen Raum. Sie werden sehen, die Anerkennung, die Ihnen aus dem Cyberspace entgegen schwappt, wird ihr analoges Leben bereichern.«

Fassungslos hatte der Förster die Worte vernommen. In welcher Welt lebten die in München eigentlich? Oder in welcher Welt lebte er? Leise Zweifel klopften in seinem Gehirn an. Er musste unbedingt mit seiner Frau und Tochter reden. Irgendwas war wohl an ihm vorübergegangen. Gedankenverloren stand er auf.

Verdutzt schaute ihn Oberförster Baumstangerl an. »Ja, das ist ein bisschen viel für Sie.« Er nickte verständnisvoll. »Wir sind sowieso fast am Ende unserer Besprechung. Kommen Sie gut nach Hause.« Er reichte ihm die Hand. »Ach ja, das hätte ich fast vergessen. Ich spendiere Ihnen einen Fortbildungslehrgang im Bayerischen Wald. Der bietet eine ausgewogene Mischung zwischen praktischer Arbeit und der Arbeit mit den neuen Medien. Sie werden sehen, damit kommen Sie auf die Höhe der Zeit. Dann wird’s auch mit Ihrer Beförderung auf absehbarer Zeit etwas werden. Lassen Sie sich von Frau Müller die Details erklären. Leider kann ich Sie in Ihrem Revier nicht erneut vertreten. Ich bin hier in nächster Zeit unabkömmlich.«

Mit einer lässigen Handbewegung schickte er ihn hinaus. Zufrieden strich er sich über das Kinn. Das war perfekt gelaufen. Er gab sich natürlich keinen Illusionen hin, dass ein Lehrgang viel bewirken würde. Aber es konnte nicht schaden, diesen Hinterwäldlern ein bisschen Feuer unter dem Hintern zu machen. Wenn er erst mal Staatssekretär wäre, müsste er sich nicht mehr mit solchen Waldschraten abgeben. Angewidert goss er den Rest des Kamillentees in die Zimmerpalme. Es war höchste Zeit für einen ordentlichen Cappuccino aus dem Barista-Kaffeeautomaten.

Mechanisch tappte Förster Grimmel durch das Vorzimmer. Sein Geist war noch umnebelt von dem Geschwurbel seines Vorgesetzten. Nur raus hier. Er sehnte sich nach frischer Waldluft, einem Schwätzchen mit dem Uhu, einer kleinen Ruhepause am Froschteich, die Luft erfüllt von Vogelgesang.

»Halt, laufen’S mir nicht davon.« Frau Müller brachte ihn ins Diesseits zurück. Erschrocken blieb er stehen. Sie wedelte mit einem Blatt vor seinem Gesicht. »Da steht alles drauf. Sie haben Glück, ich habe extra nochmal angerufen. Ein Teilnehmer ist verhindert, Sie sind nachgerückt. Ihr Lehrgang beginnt am Montag, Punkt acht Uhr.« Er packte das Blatt und stopfte es in seine Aktentasche. Sie musterte ihn aufmunternd. »Habe ich es Ihnen nicht gesagt? Der Kopf ist noch dran.« Voller Begeisterung über ihre witzige Bemerkung brach sie in ein helles Lachen aus.

Förster Grimmel stürmte aus dem Vorzimmer und hetzte die Treppen hinunter. Auf der Straße stockte er. Eine Mitarbeiterin der Parkraumüberwachung, landläufig Politesse genannt, strich um sein Auto herum. Neugierig schaute sie durch die Windschutzscheibe auf das Schild. Er gab sich einen Ruck und ging auf das Auto zu. Mit einem knappen Gruß öffnete er die Tür und wollte einsteigen.

»Entschuldigen Sie, sind Sie wirklich Arzt? So schauen Sie gar nicht aus.«

»Nein, natürlich nicht. Sie haben eine gute Beobachtungsgabe.« Er beugte sich zu ihr und raunte: »Der Arzt ist noch oben. Ein Notfall. Ich soll das Auto um die Ecke fahren. Wir wollen doch nicht, dass die Passanten behindert werden. Aber gut, dass Sie aufpassen. Was wären das für Zustände, wenn jeder parken würde, wie er wollte.«

Betont langsam stieg er ein und nickte ihr freundlich zu. Sicherheitshalber schaute er dieses Mal in den Rückspiegel, bevor er über den Radweg auf die Fahrbahn fuhr. Nachdenklich blickte ihm die Frau hinterher. Das Auto steuerte geradewegs auf das Siegestor zu. Langsam keimte in ihr der Verdacht, dass der Typ sie gehörig verarscht hatte. Gut, dass sie sich das Kennzeichen gemerkt hatte.

5 Der Förster ist leichenblass

Die Haustür fiel ins Schloss. »Mama, was gibt’s zum Mittagessen?« Julias Stimme riss Annette aus ihren Träumen. Huch, da hatte sie doch glatt die Zeit vergessen.

»Ähm, ich überlege gerade.«

Julia öffnete die Tür zu ihrem Arbeitszimmer und streckte den Kopf rein. »Du hast ja noch gar nicht angefangen. Ich hab solchen Hunger«, maulte sie vorwurfsvoll. »Ist der Papa schon wieder zurück?«

Annette sah auf die Uhr. Es war kurz nach eins. Wo war er denn? So lange konnte seine Besprechung nicht dauern. »Deck schon mal den Tisch. Ich mache ein paar Pfannkuchen. Er wird bestimmt jeden Moment kommen.«

Zehn Minuten später hörten sie, wie ein Auto in die Einfahrt rollte. Erwartungsvoll blickten sie zur Haustür. Langsam öffnete sie sich und Förster Grimmel schlich herein. Er war leichenblass. Mit letzter Kraft legte er seine Aktentasche auf die Kommode im Flur, lehnte sich an die Wand und schloss die Augen.

»Papa«, rief Julia erschrocken. »Geht’s dir nicht gut?«

Annette schwante nichts Gutes. So mitleiderregend hatte sie ihren Mann seit Jahren nicht mehr gesehen. »Was ist passiert?«, begrüßte sie ihn. »Du schaust aus, als wäre dir der Teufel über den Weg gelaufen.«

»Haha. Wenn’s nur der Teufel gewesen wäre. Mit dem hätte ich es aufgenommen. Aber dem Oberförster mit nüchternem Magen zu begegnen, das haut den stärksten Förster um.«

»Dem nüchternen Magen kann ich abhelfen«, schmunzelte Annette. Wenigstens hatte er seinen Humor nicht verloren. »Die Pfannkuchen sind fertig. Ich mach noch ein Glas Kirschkompott auf, dann können wir essen.«

Förster Grimmel hängte seine Jacke an die Garderobe und setzte sich an den Esstisch. Gierig trank er ein Glas Mineralwasser. »Das tut gut. Der Oberförster hat mich mit Kamillentee abgespeist. Abspülwasser hätte vermutlich besser geschmeckt.«

Annette stellte einen Teller mit dampfenden Pfannkuchen auf den Tisch. Sie bedienten sich und füllten sie mit selbstgemachter Kirsch- und Erdbeermarmelade. Mit jedem Pfannkuchen belebte sich das Gesicht des Försters mehr. Nach dem fünften lehnte er sich zufrieden zurück und strich sich über den Bauch. Gespannt schauten ihn Julia und Annette an.

»Dieser selbstherrliche Typ hat mich voll runtergemacht.« Förster Grimmel schüttelte den Kopf voller Abscheu. »Nach oben kriechen und nach unten treten, das ist das Einzige was er kann.«

»Armer Förster«, versuchte Annette etwas Balsam auf seine Wunden zu geben. »Der hat doch überhaupt keine Ahnung. Der will sich nur aufblasen.« Sie nahm seine Hand. »Erzähl uns, wie es gelaufen ist.«

»Ja, wo soll ich anfangen? Er hat mich nicht einmal richtig begrüßt.« In allen Details schilderte der Förster den Termin im Forstministerium. Ein Wunder, dass er sich das alles so gut gemerkt hatte. Schon gleich nach der unerfreulichen Einleitung hatte er seine Ohren innerlich auf Durchzug gestellt. Trotzdem war alles hängengeblieben, wie er sich nur ungern eingestand. Wie eingebrannt war alles. Mit dieser Schmach musste er nun leben. Trost würde er nur im Wald finden und natürlich bei seiner Familie. »Am Schluss hat er mir noch den Lehrgang reingewürgt. Damit ich einen digitalen Zugang zum Wald finde.« Der Förster raufte sich die Haare. »Und der geht schon am Montag los. Im Bayerischen Wald.« Verzweifelt schaute er seine Frau und Tochter an. »Ihr müsst mir das alles vorher noch erklären. Das mit den social Dingern und Profilen. Damit ich viele Follower und Likes bekomme.« Er seufzte. »Ich habe nur Bahnhof verstanden.«

»Ach Papa«, beruhigte ihn Julia. »Das bringen wir dir schon bei.« Sie dachte kurz nach. »Und ich habe auch eine Idee. Du musst gar nicht unter deinem Namen auftreten. Wir legen ein Profil für eines der Tiere aus dem Wald an. Rebecca würde sich ganz gut dafür eignen. Sie ist pfiffig, unerschrocken und nicht auf den Mund gefallen. Rebeccas Blog, das hört sich gut an. Da kann sie dann über den Oberförster lästern. So fällt es nicht auf dich zurück.«

Ein Lächeln überzog Förster Grimmels Gesicht. Was hatte er doch für eine schlaue Tochter. Er hob die Hand und ließ Julia auf high five einschlagen. »Einfach genial, Julia. Aber«, beugte er sich vor, »Rebecca sollten wir damit gar nicht behelligen. Sie muss davon nichts wissen.« So konnte er ohne Hemmungen gegen den Oberförster vom Leder ziehen. Er freute sich schon diebisch darauf, es dem Oberförster heimzuzahlen.

»Ich weiß nicht«, ließ sich Annette vernehmen. »Vielleicht schläfst du einfach eine Nacht darüber. Momentan bist du zu aufgeregt. Nicht dass dir hinterher alles leidtut.«

Der Förster nickte. Annette hatte wie immer recht. Man sollte nichts übers Knie brechen. »Aber jetzt zu dir? Wie war der erste Schultag im Gymnasium? Bist du Klassensprecherin geworden?«

»Es war mega. Endlich wieder Schule. Wir sind nur 22 in der Klasse. Unser Klassenlehrer ist ein echt gemütlicher Typ. Ziemlich groß, nicht der Schlankste, hat wenig Haare. Willi Schulte heißt er und unterrichtet Mathe und Natur und Technik. Und das Beste ist, wir haben einen Mädchenüberschuss, nur 9 Jungs sind dabei.« Selbstbewusst fügte sie hinzu: »Die Klassensprecherin, also mich, wählen wir erst morgen.«

Förster Grimmel stand auf und streckte sich. »Das dauernde Sitzen macht mich ganz steif. Ich ziehe mich um und mache einen Rundgang im Wald. Kommst du mit, Julia? Hausaufgaben hast du heute bestimmt noch nicht auf.«

»Au ja, dann können wir beim Fuchs vorbeischauen. Ich bin so neugierig, wie es seinen drei Kindern geht.«

6 Der Forstdirektor macht Stress

Eine Woche zuvor, am anderen Ende der Welt, saß der Bürgermeister von Lan Yu mit seiner Frau beim Abendessen.

»Endlich haben wir das Schlimmste überstanden.« Er schob sich genüsslich eine gebratene Garnele in den Mund. »Die Vulkanoiden haben sich wieder beruhigt. Was hat dieser Förster mit seiner Familie für einen Aufruhr verursacht. Unsere Leute haben drei Tage geschuftet um die Verwüstungen durch den Vulkanausbruch einigermaßen zu beseitigen. Mit Touristen hat man nichts wie Ärger. Noch dazu, wenn sie halbwüchsige Gören mitbringen, die sich an keine Regeln halten.«

Mit Schrecken dachte er an den Kampf auf dem Flughafen zurück. Glücklicherweise hatten sie keine Opfer zu beklagen gehabt. Ein Trupp von Vulkanoiden, der sie überfallen wollte, hatte es jedoch mit dem Leben bezahlen müssen. Das alles war die Folge einer Urlaubsreise gewesen, die unter keinem guten Stern gestanden hatte. Die zwei Mädchen der Touristen, Julia und Lena, hatten leichtsinnigerweise die Absperrung am Vulkan übertreten. Kein Wunder, dass sich die Vulkanoiden die leichte Beute geholt hatten. Arbeitskräfte konnten die immer brauchen. Die Einheimischen hatte ihre Lektion gelernt, seitdem einige Wanderer auf Nimmerwiedersehen verschwunden waren. Ihre Angehörigen hatten sich damit abgefunden. Sie ahnten nicht, dass die Glühaugengespenster sie als Arbeiter im Vulkan gefangen hielten. Und er würde es ihnen auch nicht auf die Nase binden. Immerhin war es nicht zu seinem Schaden. Grinsend schielte er auf die große Holzkiste, auf der eine stattliche Buddhafigur zur inneren Erleuchtung gemahnte.

»Ich glaube nicht, dass der Ärger vorbei ist«, schreckte ihn seine Frau aus den Gedanken hoch. »Der König wird die Schmach nicht hinnehmen. Du kannst sicher sein, dass er irgendwas ausheckt.«

»Und wenn schon. Die Touristen sind weg. Was soll er machen? Die setzen so schnell keinen Fuß mehr auf die Insel.«

Das Telefon klingelte. Der Bürgermeister schob sich eine weitere Garnele in den Mund. »Wer ruft um diese Zeit an? Ich bin nicht mehr im Dienst. Soll er es morgen wieder probieren.«

Das Klingeln hörte auf. »Na also. Geht doch!«

Jetzt vibrierte sein Smartphone auf dem Tisch. Seine Frau warf einen Blick auf das Display. »Es ist dein Vorgesetzter, der Forstdirektor Hsu aus Taiwan. Du solltest das Gespräch besser annehmen.«

Fluchend wischte der Bürgermeister seine Hände an der Hose ab und griff zum Smartphone. Keuchend rief er: »Ja, Herr Hsu, womit kann ich ihnen dienen?«

»Was ist los mit Ihnen? Warum sind sie so außer Atem?«

»Ich bin gerade auf meiner abendlichen Joggingrunde. Jeden Abend prüfe ich die Lage am Vulkan. Es ist alles ruhig. Die Lavaströme sind versiegt, die Aufräumarbeiten beendet. Die Vulkanbewohner verhalten sich ruhig.«

»Das ist gut. Deswegen rufe ich an.«

Der Bürgermeister schaltete den Lautsprecher ein, damit seine Frau mithören konnte. »Es ist alles unter Kontrolle. Sie können ganz beruhigt sein.«

»Nicht ist unter Kontrolle, solange das Gebiet nur mit dem rotweißen Flatterband abgesperrt ist und die Vulkanoiden nachts die Felder plündern.«

»Das machen sie doch nur um Essen für die Menschen zu holen, die in ihrem Vulkan arbeiten.«

»Sie vergessen wohl, dass die Menschen nicht freiwillig dort arbeiten, sondern ihre Gefangenen sind? Das ist nämlich das Problem. Wenn die Presse davon Wind bekommt, dann ist es um unser Ansehen geschehen und wir können die Entwicklung des Tourismus in den Wind schreiben.«

Der Bürgermeister fing an zu schwitzen. Das Gespräch lief in eine Richtung, die ihm gar nicht gefiel.

»Und deshalb«, fuhr Herr Hsu fort, »habe ich ein Schiff beladen lassen. Es ist auf dem Weg zu Ihnen. Sie bekommen alle Materialien für den Bau eines stabilen Zaunes um den Vulkan. Das Schiff kommt morgen an und ich erwarte, dass Sie unverzüglich mit den Arbeiten beginnen. Und Sie berichten mir wöchentlich. Habe ich mich klar ausgedrückt?«

»Selbstverständlich, Herr Hsu.« Er fluchte innerlich. »Haben Sie vielen Dank. Das ist sehr vorausschauend. Ich hätte Sie sowieso morgen zu diesem Thema angesprochen. Sie können sich auf mich verlassen.«

»Das wollte ich hören«, kam es aus dem Lautsprecher. »Die Befreiung der Gefangenen gehen wir dann als Nächstes an. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Nachtruhe.«

»Das wünsche ich Ihnen ebenso. Und ein langes und gesundes Leben!«

Der Bürgermeister drückte die Aus-Taste und stöhnte auf. »Das hat mir gerade noch gefehlt. Jetzt wo es endlich wieder ruhig ist, muss ich die Vulkanbewohner mit dem Zaun aufmischen. Das gibt böses Blut. Und die Gefangenen geben die nie heraus. Wer soll sonst deren Arbeit machen?«

Seine Frau drückte ihm die Hand. »Du musst tun, was er sagt, sonst bist du deinen Job los. Aber«, sah sie ihn verschmitzt an, »man muss ja nicht alle Zaunelemente felsenfest einbauen. Er wird nicht merken, wenn einige nur eingehängt, aber nicht verschraubt sind. Verstehst du?« Sie tippte sich an den Kopf.

Der Bürgermeister nickte ihr dankbar zu. Seine Frau war nicht auf den Kopf gefallen. Trotzdem würde es nicht einfach werden, seine Geschäftspartner nicht zu verärgern. Ewig würde das nicht gutgehen. Hoffentlich noch so lange, bis sie genug zusammen hätten um am anderen Ende der Welt ein neues Leben zu beginnen. Eines in Saus und Braus, unter Palmen, am Strand, vor einem Haus mit Meerblick, einen Drink in der Hand beim Sonnenuntergang.

7 Der König trauert

»Wir haben uns heute versammelt um unserer neun Gefährten zu gedenken, die von den Menschen gnadenlos zu Tode gespritzt wurden.«

König Megalo schaute eindringlich die im Thronsaal versammelten Untertanen an. Die Vulkanbewohner wurden von den Menschen verächtlich Glühaugengespenster oder Monster genannt. Das hatten Lakko und Pyra, die Zwillingskinder des Königs herausgefunden. Sie hatten Oberirdisch, die Sprache der Menschen, von den Gefangenen gelernt. Die Vulkanbewohner sprachen Unterirdisch und bezeichneten sich selbst als Vulkanoiden. Vor geraumer Zeit hatte der König entschieden, neugierige Menschen, die sich auf ihr Gebiet wagten, zu verschleppen. Das hatte zwei Vorteile. Zum einen diente es zur Abschreckung. Die Einheimischen mieden fortan den Vulkan. Nur hin und wieder missachteten Touristen das rot-weiße Flatterband, das die Inselverwaltung um den Vulkan gezogen hatte. Zum andern bekamen sie dadurch tüchtige Arbeitskräfte, die die schwere Arbeit im Vulkan übernehmen konnten. Zuletzt waren ihnen die beiden Mädchen ›zugelaufen‹, wie der König die Verschleppung gerne verniedlichte. Obendrein hatten sie durch ein geschicktes Manöver auch noch die Mutter geschnappt. Und dann war die Sache aus dem Ruder gelaufen. Deshalb waren sie hier und heute zusammengekommen um die Opfer der Wasserschlacht auf dem Flughafen zu betrauern. Mit quasi offenem Visier waren die Gefährten in den Untergang gelaufen.

»Wir verneigen uns vor den Helden, die in einer aufopferungsvollen Schlacht ihr Leben lassen mussten.«

Wie es wirklich abgelaufen war, wusste der König nicht. Niemand von ihnen war Augenzeuge gewesen. Ein bisschen Pathos konnte aber nicht schaden. Er musste die Flamme der Rache schüren. Ihre Stunde würde kommen. Er würde es ihnen heimzahlen. Mit diesen vorwitzigen Touristen war das Gleichgewicht, das er mühsam aufgebaut hatte, ins Wanken geraten. Die Gefangenen hatten nicht nur Vorteile gebracht, wie er zugestehen musste. Natürlich hatten die Einheimischen versucht sie zu befreien. Sie hatten sich zurückgezogen, hermetisch ihre Eingänge verschlossen. Die Menschen schafften es nicht in den Vulkan einzudringen. Noch nicht. Es war nur eine Frage der Zeit. Die Menschen waren schlau. Wie gut, dass er sich mit dem Bürgermeister arrangiert hatte. Seine zwei Kinder hatten schnell die Sprache der Menschen gelernt. Er hatte sie zu den Gefangenen gelassen, unter Aufsicht natürlich, damit sie den Menschen etwas Zerstreuung brachten. Sie hatten sich darum gerissen, den Kindern ihre Sprache beizubringen. Über die ersten holprigen Versuche hatten sie gelacht. Aber seine Kinder waren gelehrig. Sie kamen ganz nach ihm. Und dann war ihm die Idee gekommen. Von den Menschen hatten sie erfahren, dass sie verrückt nach den glänzenden Gesteinsbrocken waren. Deshalb waren einige von ihnen den Vulkan hochgestiegen und hatten in den Spalten geschürft. Gold nannten sie es. So hatten sie eines Nachts den Bürgermeister besucht, einen Eimer Gold mit dabei. Der war zu Tode erschrocken, als sie plötzlich in seiner Stube standen.

»Wir werden nicht eher ruhen, bis wir die feigen Touristen in unsere Gewalt gebracht haben.«

Lakko hatte die Gesprächsführung übernommen. Ganz freundlich hatte er dem Bürgermeister erklärt, dass sie sich von den Einheimischen gestört fühlten. Derweil hatte er gedankenverloren mit einem der glänzenden Steine gespielt. Ihn so gehalten, dass der Lichtreflex den Bürgermeister streifte. Gierig hatte der auf den Stein gestarrt. Viel Überredungskunst war nicht nötig gewesen. Lakko hatte ihn weiter zugetextet, aber der Bürgermeister hatte nur noch den Stein fixiert. Er hatte die Botschaft ohnehin verstanden. Ganz beiläufig hatte der König den Stein auf den Tisch gelegt und den vollen Eimer vor seinen Augen geschwenkt. Mit einem Wink hatte er Lakkos Gesprächsfluss unterbrochen. Für jeden Monat ohne Belästigung einen Stein. Das waren Lakkos letzte Worte gewesen. Sie waren gegangen, nicht ohne den Eimer wieder mitzunehmen. Und wie es funktioniert hatte. Anfangs waren noch ein paar Befreiungsversuche gestartet worden. Dann gab’s bei den Monatsbesuchen eben keinen Stein. Stattdessen waren sie ihm hautnah auf die Pelle gerückt. Das hatte gewirkt. Eine lange Zeit waren sie nun von Zwischenfällen verschont geblieben. Bis diese Touristen alles ins Wanken gebracht hatten.