... und da war noch sein letzter Wille - Rolf Bidinger - E-Book

... und da war noch sein letzter Wille E-Book

Rolf Bidinger

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Beschreibung

    Das viktorianische England. Der alte Earl of Greenwood ist verstorben und die Erben sind erschienen, um der Verlesung des Testaments zu lauschen. Jedoch wird, kaum ist der erste Satz verlesen, schon wieder unterbrochen. Für Rechtsanwalt Larry Longdon wird es ein langer Abend, eine endlose Nacht und auch am nächsten Tag sind alle noch nicht klüger.

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Rolf Bidinger

... und da war noch sein letzter Wille

Komisch, ein Roman

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Kapitel 1

„Ihr könnt mich alle mal ...“

Rechtsanwalt Larry Longdon blickte von dem Dokument auf, aus dem er gerade diesen Satz vorgelesen hatte. Er sah in die verdutzten Gesichter der vier Anwesenden, die zur Testamentseröffnung ihres Onkels, des Earl of Greenwood, geladen waren.

„Wie bitte! Was?“, rief eine entrüstete Gwendolyn Tearbottom, die uneheliche Tochter des Earl.

„So steht es da! Ich kann nur vorlesen, was der alte Earl auf dem Totenbett aufnotiert hat.“, entschuldigte sich Rechtsanwalt Longdon.

„Jetzt lesen sie halt weiter. Sie können den Teil mit den Beleidigungen und Beschimpfungen auslassen und gleich zu dem Wesentlichen kommen. Wer bekommt wie viel?“, rief Linus Weatherling durch die geschlossene Tür. Ihm war von Rechtswegen der Zutritt verwehrt.

Er, der nur für zwei Stunden Ausgang hatte, klimperte nervös mit den Handschellen, die Constable Theodore Redfield, ihm nicht abnehmen wollte.

Das war sein Teil der Rache dafür, dass er draußen warten musste. Dies missfiel ihm, weil seine Frau Priscilla ihm auftrug, ihr alles genau zu berichten, wen der alte Earl bedacht hatte. Deshalb lauschten auch beide gespannt an der alten Eichentür. Weatherling, ob er etwas bekommen wird und Redfield, um seiner vor Neugier gepeinigten Frau etwas Entlastung zu verschaffen.

Cynthia Hollingsworth, eine ältliche Dame, spielte nervös an ihrer Perlenkette. Sie war die ältere Schwester des greisen Earl und noch unverheiratet. Aber sie gab die Hoffnung nicht auf!

Angus van Hall, der altgediente Diener des Earls, saß kerzengerade auf seinem Platz und enthielt sich jeglicher Stellungnahme, so wie er es dereinst auf der Butlerschule gelernt hatte. Niemals würde er seiner Empörung Ausdruck verleihen. Er war schon dankbar dafür, überhaupt hier sein zu können und auf eine kleine Zuwendung zu hoffen. Heimlich hatte er es sich natürlich gewünscht, denn immerhin hatte er fast fünfzig Jahre seinem Herrn treue Dienste geleistet. Den drei anderen war er zwar ein Dorn im Auge, denn sie empfanden es als skandalös, dass ein Bediensteter überhaupt zur Testamentseröffnung geladen wurde.

Entsprechend unwohl fühlte sich Angus van Hall, der, was noch schwerer wiegte, einer alten holländischen Schifferfamilie entstammte. Er entkam, noch als Kind einer Schiffskatastrophe und wurde, in einer Wiege liegend, an Land gespült. Dort wurde er am Strand von zwei Fischern aufgefunden. Sie brachten das schreiende und nicht zu beruhigende Kind zu Eida Hopkins, die sofort eine volle Windel, als Grund für das Geschrei ausmachte und handelte, als wäre es ihr eigenes Kind. Ohne das Amulett, was das der Säugling um den Hals trug und auf dem sein Name stand, wüsste heute niemand, wie sein wahrer Name ist. Als der kleine Angus gerade einmal fünfzehn Jahre alt war, starb Eida Hopkins im Kindbett, in das sie ein schottischer Whiskyvertreter auf Durchreise, gebracht hatte. Ab da war Angus auf sich alleine gestellt und begann eine Ausbildung an der renommierten „Butlerschule für höhere Töchter“, die er mit Prädikat abschloss. Gleich seine erste Anstellung fand er bei dem Earl of Greenwood, der ein Auge auf den jungen gutgebauten Butler geworfen hatte. Offiziell wurde er als Diener und Butler eingestellt. Der Earl of Greenwood war nicht nur unverheiratet, er hatte auch kein Interesse, an dieser Situation etwas zu ändern. Nachts schlich er, in Frauenkleider gewandet, in die Stube des Butlers und machte ihm eindeutige Avancen.

Und da der Earl in Frauenkleidern und Perücke sehr attraktiv war, ließ sich Angus nicht zweimal bitten und kam dem Drängen von Melissa, so nannte der Earl sich nachts, gerne nach. Fast fünfzig Jahre hielt diese Beziehung, von der niemand etwas wissen durfte, da es damals noch als unschicklich galt. Doch da beide sehr verschwiegen waren, konnten sie ihrer hemmungslosen Lust frönen.

Für Angus war diese tiefe Liebe nur dadurch möglich, weil er den Earl als vollkommene Frau ansah. Sonst wäre es für ihn niemals möglich gewesen, ihn zu lieben.

Tagsüber ließen sie sich nichts anmerken, was vor allem daran lag, dass der Earl als Mann und Herr auftrat. Damit war er für Angus sexuell absolut uninteressant, da für ihn nur Frauen infrage kamen. Ein Verhältnis mit einem Arbeitgeber, dazu noch von hohem Adel, war für ihn zeitlebens undenkbar.

Auch der Earl sah dies ähnlich. Eine Beziehung zu einem Mann und dann auch noch zu einem niederen Angestellten zu unterhalten, war für seinen Stand unakzeptabel. In der Nacht jedoch konnten sie ihrer zügellosen Begierde nachgehen. Am nächsten Morgen, da brachte Angus in vollendeter Perfektion, das Tablett mit Tee und Gurkensandwiches an das Bett des Earls, aus dem er sich erst vor wenigen Minuten erhoben hatte. Dabei verlor Angus kein Wort über das, was sich noch vor Kurzem zwischen den Laken abgespielt hatte. Ein Verhalten, das der Earl sehr schätzte!

Besonders bei Ostwind bedrückte Angus, dass er so niemals Vater werden würde und somit sein Name eines Tages untergehen wird. So erging es dereinst seiner ganzen Familie. Ohne deren Mitwirkung wäre er wohl nie zu dem Leben gekommen, das er nun schon so lange leben konnte. Dafür war er ihnen in jeder Minute seines Lebens dankbar. Hätten seine Eltern das Schiffsunglück überlebt, könnte er nun nicht in der Kanzlei sitzen und dem Anwalt lauschen, was der alte tote Earl noch zu sagen hatte. Besonders gespannt war er darauf, was die anderen drei potenziellen Erben bekommen würden. Trotz seiner vornehmen Zurückhaltung war er innerlich aufgewühlt. Er sah sich als natürlichen Universalerben an, da niemals einer der drei Anderen sein Bett mit dem Earl geteilt hatte. Nach Angus Meinung, waren sie daher keine würdigen Erben. So war es nur seiner berufsbedingten Contenance zu verdanken, dass er ihnen nicht unverzüglich ein Messer in den Rücken rammte, wenngleich er stets ein Käsemesser mit sich führte.

 

Bevor nun Rechtsanwalt Greenwood fortfahren konnte mit dem Verlesen des letzten Willens, ging er zum Fenster und schloss es. Dunkle tiefschwarze Wolken waren aufgezogen. Sie brachten einen windigen Wind mit, der heftig gegen die Fensterjalousien blies, was diese, mit einem lautstarken Klappern der Empörung, nicht guthießen. Grollender Donner kündigte zuckende Blitze an, die durch die Wolkendecke auf die Erde stürzten. In späteren historischen Niederschriften wird man für diesen Tag zu berichten wissen, es sei ein Sauwetter gewesen. Niemand, der an diesem Tag dabei war, würde dem wohl widersprochen haben. Doch eben nicht jeder, denn nicht alle kamen lebendig aus diesem Tag heraus.

Die Umstände, wie es dazu kam, kann man getrost als mysteriös bezeichnen, wenn nicht sogar als geheimnisumwittert, seltsam, okkult und nicht zuletzt sibyllinisch. Letzteres wurde insbesondere für das hochgebildete Bildungsbürgertum hinzugefügt. Alle anderen, die bildungsbefreiten, die mögen sich an den erstgenannten Begrifflichkeiten erfreuen.

Ein lauter Knall unterbrach die Stille. Ein Knarzen und Knacken war zu hören, als ob der Blitz in einen Baum gefahren war. Rechtsanwalt Greenwood eilte zum Fenster und sah hinaus.

„Nein! Nicht du!“, stieß er aus.

Ein Schaudern überkam alle Zeugen dieses Moments. Tränen, die sein Make-up verwischten, liefen über die mit Rouge eingefärbten Wangen des Rechtsanwalts. Schwarze Kajalflecken tropften auf sein weißes Hemd, die ihm einen interessanten Look verliehen.

„Mein geliebter ... mein geliebter Apfelbaum brennt lichterloh!“, schluchzte er, als ob er der biologische Vater jedes einzelnen Apfels sei.

Nur der, der selbst einen freilaufenden Apfelbaum sein Eigen nennt, kann empfinden, welchen Schmerz er wohl verspürt haben muss. Alle anderen dürften wohl nur an einen Strudel mit gedünsteten Äpfeln denken, wenn gleich man dies als pietätlos verurteilen muss. Doch dies war alles erst der Anfang. Jetzt nahm das Gewitter erst richtig Fahrt auf. Der Wind brachte die Dachschindeln richtig in Wallung. Einige sahen ihr nahendes Ende voraus und entschieden sich, dem zuvorzukommen und stürzten sich freiwillig in den Tod.

Es war eine krachende Niederlage für den Wind, als sie am Boden zerbarsten. Der blasende Geselle ließ sich jedoch davon nicht entmutigen und versuchte nun das gesamte Dach abzutragen. Doch mit diesem Vorsatz hatte er sich deutlich verhoben. Gute alte Dachdeckerhandwerkskunst zeigte ihm, was eine Harke ist. Der Wind erwies sich als schlechter Verlierer und zog beleidigt weiter Richtung Küste, wo er mit einer unschuldigen Segeljolle sein perfides Spiel weitertrieb.

Er gab sich erst zufrieden, als sich die Jolle entschied, auf dem Meeresboden ihr Glück zu suchen.

 

Das Licht im Büro des Rechtsanwalts begann zu flackern. Mühsam hatte er sich wieder einigermaßen unter Kontrolle gebracht und entschied für sich, den Rest des Testaments, trotz widrigster Umstände, zu einem guten Ende zu bringen.

Doch dabei sollte dies erst der Anfang sein und alles andere als gut!

„Ihr könnt mich alle mal ...!“, wiederholte Rechtsanwalt Larry Longdon überflüssigerweise die ersten Worte aus dem earlschen Testament, die bereits zuvor auf wenig Gegenliebe gestoßen waren. Entsprechend waren auch die Reaktionen der Erbwilligen, die zwar erben, aber sich keinesfalls beleidigen lassen wollten, nicht einmal von einem Toten.

Doch Longdon ließ sich von rollenden Augen, dem Verziehen der Mundwinkel und dem Klackern der Perlenkette nicht aus der Ruhe bringen. Stets hielt er sich einen Spruch seines Mentors vor Augen, der ihn mühevoll durch das Staatsexamen gelotst hatte: „Die Eröffnung eines Testaments ist ein würdevoller Akt, der den letzten Wunsch eines Verblichenen widerspiegelt. Larry, entweihen sie niemals diesen festlichen Moment!“

Es waren die letzten Worte, die ihm sein alter Dozent mit auf den Weg gab, ehe sich dieser ebenfalls auf den Weg machte, dorthin wo seine Ahnen ihn bereits erwarteten. Bis zuletzt hatte er noch für seinen Mandanten gekämpft, aber gegen das Messer in seinem Rücken half auch die beste Verteidigungsrede nichts mehr. Und so war es auch für ihn unmöglich, den Mandanten auf seinem Gang zum Galgen zu begleiten. Es war, in seiner langen juristischen Karriere sein einziger Makel, dem man ihm jedoch, angesichts seines persönlichen Schicksals, nachsehen sollte. Der Wille war zwar da, doch das Messer zu einschneidend. Unnachgiebig steckte es in der Lunge und unterbrach so die Luftzufuhr, welche nicht ganz unwesentlich für einen Menschen ist.

Ein Lächeln huschte über das Gesicht von Larry Longdon, nachdem ihm diese reizende Anekdote wieder ins Gedächtnis kam. Die Miniatur-Big Ben-Uhr, die auf seinem Schreibtisch stand, schlug Mitternacht und mahnte ihn mit der Zeremonie fortzufahren. Regentropfen, in beträchtlichem Ausmaß, prasselten gegen die Fensterscheibe und auch der ein oder andere Blitz zeigte sich. Vom dumpfen Donnergrollen ganz zu schweigen, der ein nächtliches Unwetter, apokalyptischen Ausmaßes, anzukündigen drohte. Dies entging auch den Erbaspiranten nicht. Entsprechend ihrer Natur, brachten sie dies auch lautstark zum Ausdruck, was der feierlichen Stimmung etwas abträglich war.

Gwendolyn, der es von jeher an Contenance fehlte, stöhnte vor sich hin, rollte ihre Augen und stampfte eher undamenhaft, mit den Stilettos kleine tiefe Löcher ins Parkett. Ihre Tante Cynthia, lächelte seltsam vor sich hin. In Gedanken war sie wohl bereits damit beschäftigt, was sie mit dem Vermögen anfangen soll. Gerade in ihrem Fall war Eile geboten, da demnächst ein dreistelliger Geburtstag vor der Tür stand.

„Wurde schon gesagt, was ich bekomme?“, erkundigte sie sich und rasselte dabei mit ihrer Perlenkette, ein Verlobungsgeschenk eines bereits verblichenen Geliebten, der ihr im Ersten Weltkrieg abhandengekommen war. Diesen Verlust konnte sie bis heute nicht überwinden und entsagte ab da der Männerwelt, die es dankbar zur Kenntnis nahm und ihrem Wunsche entsprach.

„Nein Lady Cynthia, die Veranstaltung hier zieht sich gerade etwas in die Länge!“, antwortete Angus van Hall, mit einer tiefen Verbeugung, so wie es die Butlerschule lehrt.

„Hier draußen ist es kalt! Kann ich nicht doch reinkommen?“, meldete sich nun auch noch Linus Weatherling, der sich allmählich als Erbe zweiter Klasse vorkam.

Larry Longdon legte seine Stirn in Falten. Etwas, was er immer tat, wenn er vor einem kniffligen Problem stand. Nun begann er auch noch rhythmisch mit den Fingern auf seinem Schreibtisch zu klopfen. Für gewöhnlich beruhigte ihn dies und für normalerweise machte es andere Leute nervös.

„Sir, wenn ich bitten darf! Dieser infernalische Krach ist ja eine Vorstufe zur Unmenschlichkeit, wenn nicht gar der inquisitatorischen Folter!“, befand Angus van Hall mit wohlgewählten Worten und in distinguiertem Ton.

„Angus! Mäßigen sie sich. Bedenken sie ihre Stellung, die ihnen nur gestattet, sich auf Aufforderung zu äußern“, entrüstete sich Lady Cynthia, die sich für die rechtmäßige Nachfolgerin und Alleinerbin des verblichenen Earl fühlte. Laut ihrer Vorstellung gehörte der Butler zur Erbmasse. Alleine schon, dass Angus van Hall überhaupt zur Testamentseröffnung eingeladen war, empfand sie als Vorstufe zum Untergang der britischen Empire.

Doch Angus, der sich mit Leib und Seele dem Wohl des Earl verschrieben hatte, ging überhaupt nicht auf sie ein und strafte sie mit Missachtung und einem verschämten und lautlosen: „Pah!“

Nur Larry Longdon bemerkte es mit einem Schmunzeln. Er war der Einzige, der überhaupt Notiz von ihm nahm.

„Vor Gott und Gericht sind alle gleich!“, war seine Devise.

Er selbst kam aus einfachsten Verhältnissen und wuchs als Findelkind auf. Die Nonnen, bei denen er lebte, gaben ihm den Namen Larry London, weil er unter der Tower Bridge gefunden wurde. Der Name Longdon geht auf einen Beamten des Einwohnermeldeamtes zurück, der mehr dem Alkohol als der Rechtschreibung zugetan war. Und so blieb es bei Longdon.

„Darf ich jetzt endlich hereinkommen?“

„Moment Herr Weatherling. In dieser Angelegenheit habe ich noch nicht abschließend entschieden. Zunächst muss ich die Rechtslage überprüfen.“

Der Anwalt ging zu seinem Schrank und öffnete unter einem lauten Knarzgeräusch die Tür und nahm ein Buch heraus. Er öffnete es und begann darin zu blättern. Beäugt wurde er dabei von den anwesenden Erbanwärtern, die von Minute zu Minute unruhiger wurden. Ab und an vernahmen sie ein: „Aha – Oh – mmmm“, oder ein leises Pfeifen durch die Zähne.

Eine Tendenz war nicht zu erkennen. Erst als er das Buch mit einem lauten Knall zuschlug, flammte ein Fünkchen Hoffnung auf, die jedoch sofort wieder zunichtegemacht wurde, indem der Anwalt zu einem weiteren Buch griff. Pünktlich zum zweiten Glockenschlag von Big Ben, Lady Cynthia war längst entschlafen, kam ein erleichtertes: „Da ist er ja, der passende Paragraf!“

Allenthalben machte sich Erleichterung breit.

„Herr Weatherling, sie dürfen hereinkommen!“

Die Tür ging auch sofort auf und Linus Weatherling trat, gefolgt von Theodore Redfield, in das Zimmer.

„Stop! Der Constable muss draußen bleiben.“

„Aber Sir, wie soll das denn gehen? Wir sind doch mit den Handschellen miteinander verbunden. Wo ich hingehe, da muss auch Constable Redfield hingehen“, erklärte Linus Weatherling wahrheitsgemäß, was für einen verurteilten Straftäter nicht so oft vorkommt.

Larry Longdon sah durchaus das Problem. Doch sein Blick sagte, dass er noch meilenweit von einer Lösung dessen entfernt war.

„Das Lösen der Handschellen ist mir ausdrücklich untersagt. Bei Zuwiderhandlung der Dienstvorschriften, die den Umgang mit Sträflingen, besonders den Gemeingefährlichen, könnte mich meine ohnehin karge Constablepension kosten“, erklärte Redfield.

„Es tut mir leid, aber es haben nur die folgenden eingeladenen Personen ein Anrecht auf die Verlesung des Testaments:

Gwendolyn Tearbottom, Cynthia Hollingsworth, Angus van Hall und Linus Weatherling. Constable sie müssen leider mein Büro verlassen und vor der Tür warten.“

„Ich verstehe Sir, aber dann muss Mr. Weatherling auch mit vor die Tür.“

Larry Longdon blickte Theodore Redfield tief in die Augen, als ob darin die Lösung zu finden wäre. Redfield seinerseits, tat es ihm gleich. Für einen Moment trat eine unheimliche Stille ein, die nur von dem entfernten Donnergrollen, einem gleißenden Blitz und dem sanften Schnarchen von Lady Cynthia gestört wurden.

„Ich bleibe jedenfalls!“, stellte Linus Weatherling fest und untermauerte seine Aussage, indem er sich in einen freien Clubsessel fallenließ.

Bei dieser unabgesprochenen Aktion wäre Constable Redfield beinahe zu Fall gekommen. Er konnte sich gerade noch an Lady Cynthias Schulter festhalten, wobei er unabsichtlich ihre Perlenkette vom Hals riss. Wie kleine Hagelkörner fielen sie herab und verteilten sich auf dem Boden. Zum Glück bekam Lady Cynthia, die einen beneidenswerten tiefen Schlaf hatte, nichts mit. Nur eine der Perlen hatte sich auf ihre leicht vibrierende Zunge verirrt. Dort lag sie und drohte bei einem plötzlich auftretenden Schluckreflex die Speiseröhre hinunterzurutschen.

„Niemand bewegt sich, damit es keine Erschütterung des Parketts gibt. Wir befinden uns hier auf einem Schwingboden, ähnlich dem eines Tanzbodens!“, reflektierte Angus van Hall die heikle Situation.

Zum Glück hatte er auf der Butlerschule gelernt, professionell jedwedes außergewöhnliche Ereignis schnell zu erfassen, zu analysieren und lösungsorientiert zu handeln. Er zog aus seiner Livree eine Pinzette hervor, die zur Grundausstattung eines jeden Butlers Englands gehört. Vorsichtig und mit ruhiger Hand entfernte er die speicheltropfende Perle aus dem Mundinnenraum. Die Gefahr, nun das Erbe nur noch durch Drei teilen zu müssen, war gebannt. Lady Cynthia wäre sicherlich unendlich dankbar gewesen, wenn sie etwas davon mitbekommen hätte, doch dem war eben nicht so. Auch von anderer Seite erhielt er keine Komplimente für sein schnelles Reagieren. Wenn er die Blicke der Umstehenden richtig deutete, stieß sein forsches Auftreten auf wenig Gegenliebe. Da also nicht mit einem kollektiven Lob zu rechnen war, zog der Butler sich diskret zurück auf den Fußboden, von wo er die ganze Perlenpracht zusammensuchte. Dann begann er seelenruhig die Perlen wieder einzufädeln, verknotete die Enden miteinander und legte das reparierte Schmuckstück Lady Cynthia um den Hals.

„Sir, während des Einfädelns kam mir eine Idee, wie es gelingen könnte, dass der Constable vor der Tür verweilt und Mr. Weatherling hier im Kreis der Erbanwärter bleiben kann“, warf Angus van Hall wie nebenbei ein.

Larry Longdon sah zu ihm hin.

„Dann reden sie doch Angus! Weisen sie uns den Weg aus der Misere. Denn wir wollen doch alle nur noch eins, ins Bett!“

„Sehr wohl, Sir. Zur Grundausstattung, die jeder Butler, der etwas auf sich hält, mit sich führt, gehört unter anderem Nützlichem auch ein Fuchsschwanz. Damit könnte ich eine kleine Ecke aus der Tür heraussägen. Gerade so groß, wie wir für die Kette brauchen, die die Handschellen miteinander verbindet.“

Lange, sehr lange, ließ Larry Longdon die Worte des Butlers auf sich wirken.

Intensiv wog er das für und wider ab und kam schließlich zu einer abgewogenen und ökonomischen, als auch ökologischen Schlussfolgerung, die man als durchaus wegweisend bezeichnen konnte. Entsprechend war die Stimmung unter den Anwesenden, mit Ausnahme von Lady Cynthia, die immer noch in ihrem Sessel schlief.

„Angus, so beeindruckend ihr Vorschlag auch sein mag und sicherlich viele Fürsprecher und Nachahmer finden mag, so muss ich ihn dennoch kategorisch ablehnen. Diese meine Bürotür ist aus einer Jahrhunderte alten Eiche gezimmert worden. Es wäre ein Sakrileg, dort nun ein Loch herauszuschneiden, nur um dieses Handschellenproblem zu lösen, was mit mir persönlich aber auch so gar nichts zu tun hat. Deshalb bitte ich meinen abschlägigen mündlichen Bescheid zu akzeptieren. Zudem möchte ich sie inständig bitten, von weiteren Vorschlägen dieser Art Abstand zu nehmen. Als passionierten Baumumarmer kränkt es mich zutiefst, wenn es mich nicht sogar aus dem seelischen Gleichgewicht bringt, was ungeahnte psychische Folgen mit sich bringen könnte.“

„Ich verstehe Sir und bitte Sie, meinen unqualifizierten und nicht bedachten Vorschlag ad acta zu legen!“

Mit diesem Eingeständnis zog sich Angus van Hall in eine der vier Ecken des Zimmers, mit dem Gesicht zur Wand und ließ nur noch ein leises Winseln vernehmen, Dies war ein Ausdruck seines vollkommenen Versagens. Zwar war nun Angus van Hall in seine Schranken gewiesen, doch das allgegenwärtige Problem stand immer noch ungelöst im Raum. Das herbeigeeilte Gewitter hatte sich derweil in seiner ganzen Pracht ausgeweitet. Mit heftigem Donnergrollen brachte es seinen Unmut zum Ausdruck. Bedrohliche Blitze schwirrten um das Haus und suchten nach einer geeigneten Stelle, in die sie hemmungslos einschlagen könnten. Doch die dunkle sternenlose Nacht und der heftige Regen erschwerten es, eine günstige Einschlagstelle zu finden. Für jedes anständige und sozialisierte Gewitter eine frustrierende Erfahrung!

„Ich sehe nur eine einzige Möglichkeit, wie wir aus diesem Dilemma herauskommen könnten. Constable Redfield, dafür bedarf es jedoch ihrer uneingeschränkten Mitarbeit.“

„Selbstverständlich stehe ich in voller Solidarität zur Verfügung, Sir!“

„Ungewöhnliche Situationen erfordern nun einmal noch ungewöhnlichere Maßnahmen. Angus, verbinden sie ihm die Augen und verschließen sie seine Ohren“, befahl Larry Longdon.

„Lady Gwendolyn, darf ich bitte um ihren Schal ersuchen?“

Mit diesen Worten trat Angus van Hall wieder in den Mittelpunkt der Ereignisse.

„Mein Schal? Erbstück meiner über alles geliebten Großmutter? Dieses Prunkstück aus Meisterhand? Feinstes Seidentuch, durchwirkt von Goldfäden, die einen auffliegenden Kranich darstellen!

Mit diesem Relikt fernöstlicher Kultur, wollen sie die Augen, dieses einfachen Constablesverschließen?“

„Ja Mylady!“, entgegnete Angus van Hall.

„So nehmt es hin und besudelt es mit einem Bürgerlichen!“, gab sie dem erbitterten Ansinnen nach, wenngleich auch widerwillig, was die abschätzige Handbewegung versinnbildlichte, mit der sie den Schal von ihren Schultern riss.

„Im Namen aller Erbwilligen danke ich von ganzem Herzen“, beeilte sich Larry Longdon, zu versichern, der das unaufhaltsame Aufkommen einer negativen Stimmung verspürte.

Sofort begann Angus van Hall mit der Verhüllung des Constable, der es in stoischer Ruhe über sich ergehen ließ. Man konnte es Gwendolyn Tearbottom ansehen, wie sehr sie unter der Zweckentfremdung ihres geliebten Schals litt. Doch sie vermied es, einen weinerlichen Chorgesang deswegen anzustimmen. Der war ihr erfolgreich auf der Schule für höhere Töchter abtrainiert worden. Und so blieb ihr nur, sich innerlich zu empören.

„Nun noch die Ohren, Angus“, wies Rechtsanwalt Longdon ihn an, nachdem der Polizist bereits in Dunkelheit gehüllt war.

„Sofort Sir!“, beeilte sich Angus zu versichern. Augenblicklich sah er sich in dem Büro nach geeigneten Materialien dafür um, denn Ohropax waren sowohl verpönt, als auch noch nicht erfunden. Doch so sehr er sich auch umsah, wollte ihm kein geeigneter Ohrverschließmechanismus ins Auge fallen. Spürbare Unruhe und Nervosität stieg in ihm hoch. Er wusste nur zu gut, ein ausgezeichneter Butler und als solcher verstand er sich, findet immer eine Lösung, mag sie auch noch so ausgefallen sein. Doch dieser höchst defiziele Auftrag schien ihm unlösbar. Fast schon hätte er aufgegeben und sein Butlerdiplom zerrissen, als ihm zwei Bleistifte in den Blick gerieten, die sich auf dem Schreibtisch befanden. Ein Strahlen huschte über sein Butlergesicht. Entschlossen griff er die unschuldigen Bleistifte und würdevoll wie ein Scharfrichter, ging er festen Schrittes auf Constable Redfield zu, der ob des Verdunklungsgebots nicht ahnte, was da auf ihn zukam. Angus sah zu Larry Longdon, um sich zu vergewissern, ob er die Maßnahme mit den Bleistiften befürworten wird. Der nickte wohlwollend. So bohrte Angus van Hall beide Stifte gleichzeitig in die Ohren, die nichts mehr hören sollten.

 

„Der Constable, der Constable, hat eine Frau, die nicht mehr will“, sang daraufhin Longdon.

Eine Reaktion seitens der Staatsmacht blieb aus. In den Augen Longdons hatte es diesen erotisch anrüchigen Tests bedurft, denn nun bestand die Gewissheit, der Constable war von der Außenwelt abgeschnitten.

„Angus, sie haben wieder einmal bewiesen, welch ein qualifizierte Butler sie sind. Ich wünsche ihnen, dass sie eines Tages einen ihnen ebenbürtigen Butler ihr Eigen nennen können. Möge das Testament ihnen hold sein, damit sie sich alsbald auf die Suche nach einem geeigneten Kandidaten machen können. Sollte jedoch das Testament seinen Daumen über ihnen senken, so bleiben sie ein treuer und würdevoller Vertreter ihrer Zunft.“

 

Die letzten Worte Larry Longdons übermannten Angus van Hall beinahe. Nur die ihm eigens aufgelegte Contenance konnte verhindern, dass er dem Rechtsanwalt um den Hals fiel. Denn er gefiel ihm, optisch als auch äußerlich! Und jetzt, da er als langjähriger Geliebter des alten Earls zwangsweise stellungslos war, suchte er nach adäquater Abendunterhaltung. So lächelte Angus van Hall das Objekt seiner Begierde hemmungslos und zärtlich zugleich, dezent an.

Doch Larry Longdon, ein Mann, wie gemacht für die Frauen, deutete das Lächeln miss und so wurde, weder jetzt, noch später ein Paar aus ihnen. Nicht einmal eine kurze Affäre kam zustande. Dabei hätte es für beide durchaus lehrreich sein können und ihren Horizont aufs Angenehmste erweitert. Doch es sollte nicht sein. Daher blieben beide Männer Zeit ihres Lebens kinderlos. Von den zahlreichen geheim gehaltenen Unehelichen mal abgesehen, die aus Gründen der Privatsphäre hier nicht erwähnt werden wollen.

 

Unbemerkt von Allen hatte inzwischen Lady Cynthia Hollingsworth ihren Schönheitsschlaf erfolglos beendet. Sie rieb sich den adligen Rotz aus den Augen und streckte ihre morschen Glieder. Erst durch das Knacken der Gelenke wurde man auf sie aufmerksam. Fröhlich blickte Lady Cynthia in die Runde und bemerkte mit einem leisen Kichern den Constable, der regungslos, taub und blind geduldig dastand.

„Was hat er denn da in seinen Ohren?“, erkundigte sich Lady Cynthia und nestelte in ihrer Tasche nach dem Nasenkneifer.

„Bleistifte“, half ihr freundlicherweise Linus Weatherling auf die Sprünge.

„Ich möchte nicht, dass dieser Sträfling mit mir spricht. Gwendolyn, was hat er da in den Ohren?“

„Das, was der Mann, der im Übrigen dein Neffe ist, gesagt hat, Tante Cynthia! Es sind zwei Bleistifte.“

„Wie niedlich!“, rief die alte Tante und klatschte begeistert in die Hände.

 

„Wenn ich dann um die Aufmerksamkeit der Damen bitten dürfte, hier gilt es nun ein Testament zu verlesen und so langsam wird es bereits hell!“, mahnte Rechtsanwalt Longdon und gähnte laut und demonstrativ.

„Da ist aber einer müde“, kommentierte die gerade Erwachte.

Rechtsanwalt Larry Longdon nahm hinter seinem Schreibtisch Platz, nahm das Testament zur Hand und begann erneut daraus vorzulesen. Wobei er, da inzwischen einige Zeit ins Land gegangen war, noch einmal von vorne begann.

„Sie wiederholen sich!“, bemängelte Gwendolyn Tearbottom, der die Eingangsworte noch sehr gut im Gedächtnis waren. Eine Fähigkeit, die ihre Tante bereits vor Jahren verloren hatte. Dafür besaß sie aber noch ihre Jungfräulichkeit. Diese Tatsache spielte jedoch innerhalb der Familie keine Rolle. Das Thema wurde diskret behandelt. Selbst auf Familienfeiern wurde es nur unter der Hand diskutiert.

 

Larry Longdon räusperte sich. Es war seine vornehme Ausdrucksweise für: Haltet mal die Klappe!

Alle Anwesenden hatten eine gute Sozialisierung erfahren, selbst der Sträfling, erkannten sie die Mahnung auch als solche und verstummten augenblicklich. Nur Constable Theodore Redfield, der nicht nur von bürgerlichem Geblüt, sondern zudem Seh- und hörgeschädigt war, hatte aus purer Langeweile und keinesfalls wegen seines ausgeprägten Talents, begonnen alte Bardenlieder zu summen, wohl mangels Textsicherheit. So hatte Larry Longdon für die Verlesung des letzten Willens des Earl of Greenwood, einen leisen Klangteppich, der die stimmungsvolle Atmosphäre wohlig unterstützte.

„Ihr könnt mich alle Mal ...“, eröffnete er zum wiederholten Mal, sehr zum Unwillen der angetretenen Erbwilligen.

„Ich kann es nicht mehr hören!“, echauffierte sich Lady Gwendolyn Tearbottom und Linus Weatherling sprang ihr inhaltlich bei.

„Falls da noch mehr Beleidigungen Anwesender folgen sollten, wäre es nett, wenn sie diese diskret überlesen würden“, stellte er nüchtern fest.

Trotz der freundlichen Wortwahl lief Larry Longdon ein eiskalter Schauer über den Rücken. Er war sich nicht sicher, war es der drohende Unterton, den er wahrnahm oder waren es die eiskalten blauen Augen, die ihn förmlich durchdrangen. Wie auch immer, er fühlte sich zunehmend unwohl in seiner Rolle.

„Wenn sie mich alle ständig unterbrechen, bin ich leider gezwungen, jedes Mal erneut von vorne zu beginnen. Ein Testament soll, alleine schon aus dramaturgischen Gründen, in seiner Gänze verlesen werden. Es ist mein hoher Anspruch an mich selbst, den ich nicht einfach ignorieren kann. Dies bin ich mir und dem Verblichenen, der durch mich seine letzte Hauptrolle erfährt, schuldig. Üben sie sich in Disziplin und Geduld und wir können rasch voranschreiten“, mahnte er eindringlich.

„Also alle Klappe halten!“, rief nun Linus Weatherling seiner Verwandtschaft zu, wobei er zu Worten griff, die er sicherlich seinem Gefängnisaufenthalt verdankte.

Angus van Hall schüttelte nur noch den Kopf. Entsetzt darüber, was ein Ortswechsel doch für fatale Folgen auf das Benehmen eines geborenen Blaublüters hat. Alleine schon, dass ein Mitglied seiner Herrschaft in staatlicher Obhut wegen einer Straftat war, gab ihm arg zu denken. Doch nun auch noch diese rüpelhafte Gossensprache, machte ihn gänzlich fassungslos. Er konnte nicht anders, als seiner Empörung Ausdruck zu verleihen und, soweit es ihm als Butler möglich war, ein kleines Zeichen zu setzen. Er entschied sich dazu, sich in eine Ecke zu stellen, mit dem Rücken zu seiner Herrschaft. Doch dieses starke Zeichen blieb unbemerkt, da alle an den Lippen von Rechtsanwalt Longdon hingen der, gemäß seiner eigenen Vorstellung einer Testamentsverlesung, erneut mit dem Anfang begann.

„Ihr könnt mich ...“, hub er erneut an.

„... alle mal!“, setzte Lady Cynthia seine Worte fort und handelte sich damit eine nonverbale Rüge, mittels eines Blickes, der es in sich hatte, seitens des Rechtsanwaltes er. Der sah seine Autorität schwinden.

„Lady Cynthia, trotz ihres hohen Alters oder gerade deswegen, muss ich sie bitten, meinen Redefluss nicht zu untergraben, indem sie Passagen rezitieren, die ihnen bereits bekannt sind“, griff Larry Longdon nun drastisch durch.

„Na nun seien sie mal nicht eingeschnappt! Es war der zugegebenermaßen klägliche Versuch, etwas Spaß in dieseträge Veranstaltung zu bringen“, verteidigte sich die so Gescholtene.

„Spaß? Höre ich richtig? Tantchen, wir sind hier nicht zum Spaß. Es geht um die Verteilung eines Vermögens! Und da hört für mich der Spaß auf“, empörte sich nun auch noch Gwendolyn, indem sie ihrer Tante massiv widersprach. Zwischen den beiden Damen kam es in der Folge zu einem heftigen Wortgefecht. Beide verloren ihre vollkommene Contenance, für die die englische Aristokratie zu Recht berühmt ist. Sprichwörtlich geriet ihre gute Erziehung unter die Räder! Zu Handgreiflichkeiten kam es zwar nicht, doch wohl nur, weil Larry Longdon gerade noch rechtzeitig einschritt, indem er die Nationalhymne anstimmte, was die beiden Damen zu einem tiefen Hofknicks veranlasste. Dies geschieht bei englischem Hochadel reflexartig, denn es könnte ja möglich sein, die Queen oder der King, je nachdem, in welchem Jahrhundert man sich gerade befindet, könnten just um die Ecke biegen. Dann wäre es ungehörig, man würde ohne Knicks dastehen. Für die Herren des Adels gilt selbstverständlich eine tiefe Verbeugung. Ein männlicher Knicks wäre nicht nur unpassend, er wäre geradezu grotesk, albern und würde die Krone lächerlich vor der Weltöffentlichkeit machen.

Doch über die Ausschlachtung in den sozialen Medien machte sich Larry Longdon die wenigsten Sorgen, da er seine Testamentseröffnung im Lichte einer Gaslampe verlas.

Dies ist, als ein Indiz anzusehen, dass Facebook, Instagram oder Youtube noch in sehr weiter Ferne lagen. Deshalb spricht man ja auch noch heute von einem goldenen Zeitalter, wenn man es geschichtlich betrachtet! Sonst hätte Larry Longdon ja auch einfach eine Videokonferenz per Zoom einberufen können und Linus Weatherling wäre in der Todeszelle zugeschaltet worden. Dann müsste Constable Redfield nicht in dieser für ihn erniedrigenden Weise dastehen und seine, vor Neugier platzende Gattin Priscilla, könnte widerrechtlich, im heimischen Kleiderschrank alles live verfolgen.

Doch noch war dieses glorreiche Zeitalter nicht angebrochen. Man fuhr mit Pferdekutschen und trug Reifröcke. Letzteres besonders die Damen. Herren, denen es danach gelüstete, nur im Geheimen. Ob nun der alte Earl und sein Geliebter Angus diesem Fetisch frönten, ist nicht überliefert. Doch in einer Zeit, in der Herren dereinst Strumpfbänder trugen, ist nichts wirklich auszuschließen. Aber überraschen würde es nicht! In einem Land, welches Minzsoße zum Schmorbraten reicht, muss man eben mit allem rechnen. Doch ist hier weder Zeit noch Ort darüber zu richten! Überlassen wir es den Historikern und greifen ihren Geschichtsbüchern nicht vor.

 

Nachdem den beiden adligen Kampfhennen die Begrifflichkeiten für Beleidigungen ausgingen, entschied Larry Longdon, das Wortduell sei unentschieden ausgegangen und es kehrte bei ihnen wieder die berühmte Contenance zurück. Dies führte dazu, dass nun der Rechtsanwalt einen weiteren Versuch wagen konnte, seiner ureigensten Aufgabe nachzukommen, dem Verlesen des letzten Willens des Earls of Greenwood.

Die Versammelten verzogen das Gesicht, als Larry Longdon wieder zu dem Schreiben griff, wussten doch alle, was nun unweigerlich kommen würde.

„Ihr könnt mich alle mal ...!“, sprach er feierlich und war dankbar, diesen epochalen Satz unter das Volk bringen zu können, ohne unnötige Unterbrechung.

Überglücklich wischte er sich den Schweiß von der Stirn, nahm einen großen Schluck Wasser aus dem Glas, welches er vor Stunden bereits für diesen Moment aufgebaut hatte und ließ es sich sichtlich schmecken. Das Feuchte rann seine ausgedorrte Kehle hinab und sorgte für ein wohliges Behagen in seiner Magengrube, als es dort wohltemperiert eintraf. Jetzt galt es nur noch die restlichen Zeilen, die der Earl in seiner Todesstunde ihm diktierte, mit größtmöglicher Neutralität und doch mit Empathie zu verlesen.

In der Ferne konnte man bereits einen Hahn krähen hören, der seine Freude zum Ausdruck brachte, wohl die ganze Nacht mit einer Unzahl von Hühnern eingesperrt worden zu sein. Dort tat er wohl, wofür Hähne dorfbekannt sind, wenn sie nicht in der jährlichen Grippesaison als Hühnersuppe herhalten mussten.

Für einen Moment sah Larry Longdon ganz traurig aus, wäre der notorische Junggeselle, doch allzu gerne an der Stelle des Hahns, wenn auch eher im übertragenen Sinne. Dies näher nun zu beleuchten, würde den Rahmen der Geschichte sprengen, die ja eigentlich noch nicht über den ersten Satz hinausgekommen ist, was sich der Autor selbst zum Vorwurf macht und verspricht, im nächsten Kapitel den Turbo einzulegen.

 

Kapitel 2

Priscilla Redfield stand in der Küche und befreite gerade einen alten Hahn von seinen überflüssig gewordenen Federn. Eigentlich wollte sie Schmorgemüse machen. Doch nach einer heftigen Auseinandersetzung mit ihrem Mann am Morgen, war sie so sehr aufgewühlt, dass sie dringend einen emotionalen Ausgleich suchte. Den hatte sie dann, sehr zum Missfallen des Hahns, bei ihm gefunden. Schon lange war er ihr unangenehm aufgefallen, da er nur wenig Freude erkennen ließ und meist nur aus Pflichterfüllung auf seinen Hühnern saß. Aber auch ein Huhn braucht eben Hingabe und Zuneigung. Dies ließ er vermissen! Lustlos scharrten die Hühner nun schon im Sand und die Eierproduktion wurde auf das Nötigste heruntergefahren. Mrs. Redfield verfolgte diese Entwicklung mit Argwohn. Es waren täglich nicht nur weniger, sondern auch kleinere Eier. Und gerade heute wollte sie einen Kuchen backen und wieder Gutsein mit ihrem Mann. Doch als sie den Stall durchsuchte, fand sie nur drei äußerst mickrige Eier.

„Mädels, wir müssen reden! So geht es nicht weiter. Entweder der Hahn erfreut euch oder er erfreut mich in der Suppe!“

Das war eine klare Ansage, die Mrs. Redfield ihrer Eiertruppe machte.

Daraufhin beschwerten sich die Hühner und gaben sich gegenseitig die Schuld. Von alldem bekam Priscilla Redfield nichts mit. Längst war sie wieder in der Küche verschwunden und dachte darüber nach, was sie mit den drei Eiern anfangen könnte.

Unterdessen fand im Hühnerstall eine Krisensitzung statt. Der Hahn wurde einbestellt und musste sich verteidigen, denn die Damen hatten ihn als Problem ausgemacht. Sieben Hennen gegen einen Hahn, so sah das ungleichgewichtige Femegericht aus. Gerlinde, die dienstälteste Henne, eine Legehennenlegende, führte den Vorsitz.

Matthias, ein völlig ermüdeter Hahn, konnte kaum seine Augen aufhalten. Ihm zugutehaltend muss man erwähnen, er hatte die ganze Nacht durchgearbeitet und jeder Henne Avancen gemacht.

„Meine Damen, wir haben ein ernsthaftes Problem! Ihr habt die Menschin erlebt. Wie sie getobt hat. Ich fürchte, wenn sich nicht schnell etwas ändert, geht es uns an den Kragen. Drei Eier von sieben beglückten Hennen ist eindeutig zu wenig. Wir müssen die Produktion steigern.“

Alle Hühner sahen betroffen zu Boden. Matthias hatte unterdessen seine Augen geschlossen und träumte von einem stressfreien Altersruhesitz, fernab sexueller Begierde. Er war über die Jahre abgestumpft. Die tägliche Pflichterfüllung war nur noch eine Qual. Er hatte sogar schon mit dem Gedanken gespielt auszuwandern.

„Früher war Matthias viel liebevoller!“, beschwerte sich Charlotte.

Die anderen Hennen gaben ihr recht.

„Vielleicht findet er uns nicht mehr so attraktiv“, versuchte Mortisha, ihn zu verteidigen.

Sie war die einzige Henne, die ihn wirklich liebte, ja geradezu vergötterte.

„Du hast seit drei Tagen kein Ei mehr gelegt“, warf daraufhin Gerlinde ihr vor.

„Wenn Matthias so ruppig ist, dann kann ich einfach nicht. Früher gab es wenigstens noch ein Vorspiel.“

„Hachja“, seufzten die anderen Hühner, in Erinnerung an frühere Jahre, wo sie so viel Spaß hatten.

Natürlich war es für keine der Hennen leicht gewesen, zu akzeptieren, dass sich Matthias auch für andere Hühner interessierte und täglich fremdging. Doch auf einer Krisensitzung hatte ihnen Gerlinde erklärt, es dürfe keine Eifersüchteleien unter ihnen geben. Jede Einzelne solle dankbar sein, von so einem stolzen Hahn nachts besucht zu werden.

„Wir müssen teilen lernen und uns für die anderen Hennen freuen, wenn sich Matthias für sie interessiert. Wir sind doch alle Dienerinnen des Eies“, appellierte sie damals nachdrücklich.

Nun meldete sich Marie-Claude zu Wort, eine französische Legehenne, die erst vor kurzem dem Harem beigetreten war.

„Mondieu!“, rief sie und brach dann in Tränen aus.

Sie war hochsensibel und ging jedem Streit aus dem Weg.

Tutti, die nach einem Fuchsbesuch ein Beinchen verloren hatte, hüpfte zu ihrer Freundin hin und legte tröstend einen Flügel über sie.

„Nicht weinen! Wir wollen ja alle Matthias helfen, damit er wieder seinen Hahn stehen kann“, versuchte sie, Marie-Claude wieder zu beruhigen.

Doch Marie-Claude zitterte am ganzen Gefieder.

„Aber was, wenn sein wird, kommt neuer Hahn? Und er seien sympathisch nicht?“, schluchzte sie und dabei kam deutlich ihre Grammatikschwäche zu Tage.

„Auch dann, selbst wenn es uns schwerfällt, müssen wir ihn gewähren lassen. Ein Hahn hat zu besteigen und wir müssen das demütig erdulden, ja erleiden“, stellte Gerlinde klar.

Jetzt begannen alle Hühner hemmungslos zu weinen an, denn diese Aussichten waren wenig erfreulich.

„Und wenn er einen Bauch hat, dann auch?“, fragte leise Elisabeth, die als die Schüchternste galt. Sie ließ Matthias nur gewähren, wenn die anderen ihre Hühneraugen schlossen. So hatte sie wenigstens etwas Privatsphäre.

Die anderen Hennen taten ihr diesen Gefallen. Sie selbst hatten kein Problem mit öffentlichem Sex. Einige waren sogar so exhibitionistisch veranlagt, dass sie es mitten im Hof trieben, stets in der Hoffnung, Constable Redfield oder seine Frau würden spannen. Das turnte sie erst so richtig an. In der Beziehung war Matthias auch hemmungslos. Einmal hatte er sogar versucht, einen Igel zu erfreuen, der ahnungslos der Wege kam. In seinem Testosteron gesteuertem Wahn flog er auf ihn drauf. Danach war er eine Woche unfähig, seinen Dienst an den Hennen zu verrichten. In einer nächtlichen Notoperation musste ihm Gerlinde, bei vollem Bewusstsein, siebzehn Stacheln herausziehen. Nach dieser, für ihn traumatischen Erfahrung, unterließ er sämtliche Fremdgehversuche, außerhalb der eigenen Art. Seit jenem Tag war er verändert. Seine Stecherqualitäten ließen zu wünschen übrig. Fortan ging er nur noch lustlos an die Sache. Anfangs dachten die Hennen, es sei nur eine Phase.

Doch die Wochen vergingen und seine Lustlosigkeit blieb. Er fühlte sich wie ein schlechtbezahlter Gigolo. Gerlinde tat alles, um ihm wieder ein gutes Gefühl zu geben. Sie lobte ihn. Sie schmeichelte ihm. Sie feuerte ihn an. Einmal, als er wieder traurig auf Elisabeth saß, bildeten die anderen sechs eine gemeinsame Laola-Welle. Doch es brachte alles nicht den gewünschten Erfolg.

Matthias hatte die Lust am Liebesspiel endgültig verloren. Es schien ihm nichts auszumachen. Es war ihm gleichgültig. Er machte nur noch Dienst nach Vorschrift. Diese Lustlosigkeit übertrug sich auch auf die Hühner und auf die Eierproduktion. Aber sie machten ihm nie einen Vorwurf. Denn sie alle liebten ihn. Es gibt eben mehr als nur das Körperliche! Bislang konnten sich auch alle mit dieser Situation abfinden, doch die Drohung, die Mrs. Redfield ausgesprochen hatte, besorgte sie doch sehr.

„Matthias! Aufwachen! Es geht um deinen Hals!“, rief aufgebracht und zugleich besorgt, Gerlinde.

Matthias öffnete seine müden Augen und trabte los, um sich mühsam auf Gerlinde zu setzen.

„Nicht jetzt“, wies sie ihn zurück.

„Lass ihn doch, wenn er will“, meldete sich Mary, eine preisgekrönte wahre Schönheit.

„Er will ja nicht, er tut es nur“, gab Gerlind genervt zurück.

„Soll ich nicht?“, wollte nun Matthias wissen und gähnte aus vollem Schnabel.

„Nicht wenn du mich nicht begehrst“, stellte Gerlinde klar.

„Dann eben nicht“, sagte Matthias gleichgültig.

„Da haben wir es! Da ist dein Problem. Früher wärst du einfach über mich hergefallen und hättest mich genommen, bis ich jauchzend über den Hof gesaust wäre. Und nun bist du nur noch ein Abbild deiner selbst. Selbst dein morgendliches Krähen ist erbärmlich leise. Du bist eine Schande für die ganze Innung. Während wir uns Gedanken machen, wie wir dir das Schicksal ersparen, im Kochtopf zu landen, da pennst du hier“, redete sich Gerlinde immer mehr in Rage.

„Genau“, rief nun auch Mary. „Wir sind begehrenswert. Wir sind heiß. Wir sind willig! Nimm uns, aber richtig!“

„Meine Liebe, bitte zügele dich. Die Kinder hören doch zu“, beschwor sie Gerlinde, die bemerkt hatte, wie sich zwei Küken selbständig gemacht hatten und aus dem Nest geflohen waren.

„Ab ins Bett!“, befahl ihnen Mary, die Mutter der beiden Nestflüchter.

„Wir wollen mit Papa spielen“, rief eines der Küken.

„Euer Vater spielt jetzt nicht mit euch. Er spielt ja auch nicht mit mir! Und jetzt marsch marsch!“

Sie deutete mit einem Flügel Richtung Nest und unter lautstarkem Protest gingen sie zurück.

Ein lautes Scheppern drang aus der Küche und ließ die hitzige Diskussion abrupt ersterben.

Gerlinde erstarrte.

Ängstlich sahen die anderen Hühner sie an.

„Gerlinde, was hast du?“, fragten sie besorgt.

Was die Hennen nicht wissen konnten, Gerlinde hatte schon einmal eine Erfahrung gemacht, doch nie darüber erzählt. Doch nun war der Moment gekommen und leise berichtete sie aus ihrer Jugendzeit, als sie erste Erfahrungen mit einem Hahn hatte. Es war eine schmerzliche Episode ihres Lebens, die sich nun wiederholen könnte. Jedenfalls fürchtete sie das Schlimmste, denn aus der Küche drangen fürchterliche Flüche. Einige der Wortfetzen, die der Wind herüberwehte, besorgten sehr.

„Nur drei mickrige Eier und jetzt liegen sie am Boden! ... Verfluchter Hahn ... Wo ist der Kochtopf ... das Beil ...“, waren nur einige der Wortfetzen, die nichts Gutes verheißen ließen.

Stockend begann Gerlinde zu erzählen.

„Als junge Henne, noch unschuldig, kam ich auf einen Bauernhof in Yorkshire. Dort lebte ich in ständiger Gefahr. Denn der Bauer liebte Hühner. Aber nicht, weil sie fröhlich herumpicken auf seinem Hof, sondern er wollte sie gebraten auf seinem Teller. Denn eines ihr müsst wissen, Menschen essen Hühner. Meine beiden besten Freundinnen dort, waren eines morgens verschwunden.

Ich suchte den ganzen Hof nach ihnen ab und dann fand ich sie. Sie hingen nackt, an den Füßen aufgehängt und ohne Kopf, am Küchenfenster. Daneben stand ein Holzklotz. Rundherum lag eine Unmenge von Federn. In dem Holzklotz steckte ein Beil und es war ganz rot. Ich flog hinauf und erschrak. Da lagen die Köpfe meiner beiden Freundinnen.“

Es war ganz still im Hühnerstall geworden. Mit offenen Schnäbeln waren sie der schauerlichen Geschichte gefolgt. Jetzt standen sie da und zitterten am ganzen Leib.

„Damals drangen ähnliche Worte zuvor aus der Küche!“

Stumm ging Gerlinde auf Matthias zu und nahm ihn unter ihre Fittiche.

Dann begannen beide zu weinen, als plötzlich die Stalltür weit geöffnet wurde. Das Tageslicht erhellte den dunklen Stall.

In der Tür stand Mrs. Redfield.