Und Gott sprach: Du musst mir helfen! - Hans Rath - E-Book
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Hans Rath

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Beschreibung

«‹Du sollst den Menschen die frohe Botschaft verkünden.› ‹Vergiss es, Abel. Sie werden mir nicht zuhören.› ‹Sag ihnen, wenn sie dir blöd kommen, komme ich mit der Apokalypse.›» Die Welt ist schlecht. Das muss Jakob Jakobi am eigenen Leib erfahren, als er ausgerechnet auf dem Weihnachtsmarkt von zwei Typen in Nikolausverkleidung bestohlen wird. Aber nicht nur im Kleinen, auch im Großen muss dringend was passieren auf der Erde. Sagt wer? Ein alter Bekannter Jakobs: Gott persönlich. Der taucht in Gestalt des Lebenskünstlers Abel Baumann auf und wirft erst mal Jakobs Winterurlaubspläne über den Haufen. Und nicht nur das: Diesmal ernennt Gott seinen Extherapeuten kurzerhand zum neuen Messias. Eine kleine Schar etwas zwielichtiger Apostel gesellt sich auch bald dazu – doch Jakob zweifelt sehr daran, dass das mit der Weltrettung so funktioniert. Und wo soll man überhaupt anfangen?

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Hans Rath

Und Gott sprach: Du musst mir helfen!

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

«‹Du sollst den Menschen die frohe Botschaft verkünden.›

‹Vergiss es, Abel. Sie werden mir nicht zuhören.›

‹Sag ihnen, wenn sie dir blöd kommen, komme ich mit der Apokalypse.›»

 

Die Welt ist schlecht. Das muss Jakob Jakobi am eigenen Leib erfahren, als er ausgerechnet auf dem Weihnachtsmarkt von zwei Typen in Nikolausverkleidung bestohlen wird. Aber nicht nur im Kleinen, auch im Großen muss dringend was passieren auf der Erde. Sagt wer? Ein alter Bekannter Jakobs: Gott persönlich. Der taucht in Gestalt des Lebenskünstlers Abel Baumann auf und wirft erst mal Jakobs Winterurlaubspläne über den Haufen. Und nicht nur das: Diesmal ernennt Gott seinen Extherapeuten kurzerhand zum neuen Messias. Eine kleine Schar etwas zwielichtiger Apostel gesellt sich auch bald dazu – doch Jakob zweifelt sehr daran, dass das mit der Weltrettung so funktioniert. Und wo soll man überhaupt anfangen?

Inhaltsübersicht

Widmung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

Leseprobe «Halb so wild»

Leseprobe «Man tut, was man kann»

Für meine Lieblingsbuchstaben M und M

1

«Frohe Weihnachten und Geld her!» Vor mir steht ein gutgelaunter Nikolaus mit roter Samtmütze, der gerade seinen falschen Bart zurechtrückt.

«Bitte das Handy nicht vergessen», höre ich eine andere Stimme sagen.

Es ist Knecht Ruprecht, der mir den Fluchtweg versperrt. «Und die Uhr da nehmen wir auch.» Ebenso lässig wie drohend deutet er mit einem Holzknüppel auf mein Handgelenk.

Erst jetzt begreife ich, dass ich auf dem Weg zum Weihnachtsmarkt in einen adventlichen Hinterhalt geraten bin.

«Die Uhr war aber ein Geschenk», protestiere ich.

«Dann ist sie jetzt eben unser Geschenk», erwidert Nikolaus sonnig.

Knecht Ruprecht wiegt vielsagend den Holzknüppel in seinen Händen.

Widerwillig gebe ich meine Uhr ab. Nikolaus wirft einen kurzen Blick darauf und pfeift anerkennend. «Ist die etwa echt?»

«Keine Ahnung. Wie schon gesagt, ich hab sie geschenkt bekommen», sage ich. «Übrigens dachte ich immer, der Nikolaus würde ebenfalls Geschenke bringen. Seit wann lungert er mit seinem Assistenten in Seitengassen herum, um Leute abzuziehen?»

Schweigen. Nur das Lärmen des nahen Weihnachtsmarktes ist zu hören.

Nikolaus ignoriert meine Frage und betrachtet stattdessen seine Beute.

«Die scheint wirklich echt zu sein», stellt er fest.

Der Wind weht ein wüstes Gemisch aus Weihnachtsmelodien zu uns herüber.

«Ein Bonze wie du weiß natürlich nicht, wie das ist, wenn man keine Kohle hat», behauptet Knecht Ruprecht. «Wir machen das hier jedenfalls nicht zu unserem Vergnügen.»

«Kein Problem», sage ich. «Wenn ihr Tipps braucht, was ihr sonst noch so mit eurer Zeit anfangen könntet, statt Leute zu überfallen, dann bin ich euch gerne behilflich.»

«Deine Ironie kannst du dir sparen», erwidert Ruprecht. «Wer weiß, was du für Dreck am Stecken hast. Die wenigsten Vermögen werden auf ehrliche Weise verdient.»

«Außerdem sind wir nicht zum Diskutieren hier», sagt Nikolaus mit Blick auf seinen Kompagnon.

«Das trifft sich gut», erwidert Knecht Ruprecht. «Mit Kapitalisten will ich nämlich auch gar nicht diskutieren.»

«Ich bin kein Kapitalist», erwidere ich. «Ich bin Psychotherapeut.»

«Das eine schließt das andere ja nicht aus», kontert Ruprecht. «Deine Uhr ist jedenfalls eine Kapitalistenuhr.»

«Deswegen bin ich aber noch lange kein Kapitalist.»

«Können wir jetzt vielleicht mal weitermachen?», mischt Nikolaus sich erneut ein. Genervt stopft er meine Uhr in seinen roten Sack und streckt die Hand aus. «Brieftasche und Handy.»

Ich zögere. «Und wie wäre es, wenn ich euch etwas Geld gebe, und wir vergessen die Sache hier einfach?»

Ruprecht wirkt belustigt. «Was soll das heißen? Willst du dich etwa freikaufen?»

«Aha. Du bist also doch ’n Bonze», stellt Nikolaus fest.

«Sag ich ja die ganze Zeit», pflichtet Knecht Ruprecht ihm bei.

«Nein, ich bin kein Bonze. Ich würde es als ein Weihnachtsgeschenk betrachten. Ich gebe euch ein bisschen Geld, behalte die restlichen Sachen, und alle sind zufrieden.»

«Du willst doch nur deine Kapitalistenuhr behalten», vermutet Ruprecht.

«Das auch. Aber nur weil sie ein Geschenk ist.»

«Oder weil du weißt, dass sie selbst gebraucht mehr wert ist als das, was du an Kohle bei dir hast», spekuliert Nikolaus.

«Ich weiß wirklich nicht, was die Uhr gekostet hat», sage ich. «Und wenn ich ein mieser Kapitalist wäre, würde ich sicher nicht auf die Idee kommen, freiwillig mit euch zu teilen, oder?»

Ruprecht sieht mich an und überlegt. Dann schaut er zu seinem Kompagnon. Der zuckt mit den Schultern.

«Wie genau stellst du dir das mit dem Teilen denn vor?»

Ich wittere eine winzige Chance, aus dieser unangenehmen Situation mit einem blauen Auge herauszukommen. Dazu muss ich den beiden jetzt allerdings ein akzeptables Angebot unterbreiten. Ich überlege. Vermutlich habe ich knapp zweihundert Euro Bargeld bei mir. Gut die Hälfte davon scheint mir als nicht ganz freiwilliges Weihnachtsgeschenk für Nikolaus und Knecht Ruprecht angemessen zu sein.

«Ich gebe euch hundert Euro», sage ich. «Wenn man bedenkt, dass ich der Christoffel Blindenmission gerade mal zwanzig Euro gespendet habe, dann ist das eine stattliche Summe. Mit hundert Euro könnte man immerhin rund fünfzig Leute in Afrika vor der Flussblindheit bewahren.»

Nikolaus und Knecht Ruprecht werfen sich amüsierte Blicke zu.

«Lass mal deine Geldbörse sehen», befiehlt Ruprecht.

Ich gebe sie ihm, und er durchstöbert das Utensil.

«Du hast fast zweihundert Mäuse dabei. Warum gibst du uns nicht alles? Immerhin würdest du die Uhr, das Handy und die Kreditkarten behalten. In ein paar Minuten könntest du neues Geld gezogen haben.»

«Na gut», sage ich schicksalsergeben. «Dann nehmt euch eben alles.»

«Das ist die richtige Einstellung», lobt Nikolaus, schnappt sich meine Geldbörse und wirft sie in seinen roten Sack. «Fehlt nur noch das Handy.»

Ebenso verblüfft wie hilfesuchend schaue ich zu Knecht Ruprecht, doch der hebt nur bedauernd die Schultern. «Tut mir wirklich leid, aber du hattest deine Chance. Offensichtlich haben wir einfach zu unterschiedliche Vorstellungen vom gerechten Teilen.»

Nikolaus nickt bestätigend und hält mir den geöffneten Sack hin. Missmutig ziehe ich mein Handy hervor und werfe auch das noch hinein.

«Kann ich wenigstens meine Papiere zurückhaben?», frage ich. «Das würde mir die Rennerei zu den Ämtern ersparen.»

«Ist deine Adresse im Ausweis aktuell?», will Ruprecht wissen.

Ich nicke.

«Okay, wir schicken dir den Kram per Post. Aber nur weil bald Weihnachten ist.»

«Danke», sage ich. «Und da ist noch was.»

«Übertreib es nicht», warnt Knecht Ruprecht.

«Nein. Will ich ja gar nicht. Aber wäre es trotzdem möglich, dass ich auch die SIM-Karte zurückbekomme? Ich hab blöderweise kein Back-up von den Kontakten gemacht.»

«Oh. Das ist aber ganz schön unvorsichtig», feixt Nikolaus.

«Na gut», sagt Knecht Ruprecht. «Meinetwegen kriegst du auch noch deine SIM-Karte zurück. Und jetzt Gesicht zur Wand, Augen zu und langsam bis fünfzig zählen.»

«Und wenn du schummelst, dann hat sich das mit deiner Post ruck, zuck erledigt», droht Nikolaus.

«Ich schummele ganz bestimmt nicht», erwidere ich, drehe mich zur Wand und tue, was man mir gesagt hat.

Als ich mich wieder umdrehe, sind die beiden verschwunden.

Mich fröstelt. Erst jetzt spüre ich, dass mich die Begegnung mehr mitgenommen hat, als ich mir habe anmerken lassen. Meine Knie sind weich wie reifer Camembert, und ich spüre das Adrenalin in meinem Blut.

Obwohl die Temperaturen um den Gefrierpunkt liegen, lasse ich mich auf den eiskalten Boden eines Hauseingangs sinken, um kurz zu verschnaufen. Der Himmel über dem Weihnachtsmarkt leuchtet rot.

«Gute Show», höre ich eine Stimme sagen.

Ein paar Meter rechts von mir, versteckt hinter Mülltonnen, sitzt ein Kerl, umringt von Einkaufstüten. Sein strähniges Haupthaar schimmert ebenso silbergrau wie der zottelige Bart. Gesicht und Hände sind völlig verdreckt. Schwer zu schätzen, ob es sich bei ihm um einen völlig verwahrlosten Mittfünfziger oder um einen Tattergreis handelt.

«Danke», sage ich matt.

Er grinst breit und zeigt mir seine ockerfarbenen Zähne. «Ich meinte nicht Sie, sondern die Vorstellung von Nikolaus und Knecht Ruprecht.»

Schade, denke ich. Wenn ich schon bestohlen werde, dann hätte ich dabei zumindest gern eine passable Figur gemacht.

«Das klingt, als wären Sie ein echter Fan der beiden», sage ich.

«Nein. Das ist zu viel gesagt. Aber ich mag ihre freundliche Art.»

«So freundlich fand ich die jetzt gar nicht», erwidere ich.

«Oh doch. Wenn man weiß, wie es sonst auf der Straße zugeht, dann sind die beiden sogar richtig zuvorkommend. Man begegnet hier vielen verrückten und auch ein paar gemeingefährlichen Typen. Aber Kalle und Frieder sind wirklich in Ordnung.»

«Sie kennen die beiden?», frage ich erstaunt.

«Kennen ist zu viel gesagt. Sie arbeiten in dieser Gegend, und ich wohne hier. Da bleibt es nicht aus, dass man ab und zu ins Gespräch kommt.»

Er sieht, dass ich überlege, und errät meinen Gedanken. «Sie brauchen mich gar nicht erst zu fragen, ob ich mit Ihnen zur Polizei gehe. Das mache ich nämlich nicht. Ich verpfeife grundsätzlich niemanden.»

Ich zucke mit den Schultern. «Schon okay. Die Hauptsache ist doch, dass es Ihnen gefallen hat, wie ich ausgeraubt worden bin.»

Er muss lachen. Es ist mehr ein Krächzen, das in einen kurzen, heftigen Hustenanfall mündet. Seine Lunge rasselt dabei wie ein alter Wecker.

«Das hört sich aber nicht gut an», sage ich.

Er winkt ab, zieht eine Flasche hervor und nimmt einen ordentlichen Schluck. «Keine Sorge. Das geht schon seit Jahren so. Im Herbst fängt es an, im Winter ist es am schlimmsten. Im Frühling wird der Husten besser, und im Sommer ist er dann weg. Meistens zumindest.»

Er hält mir die Flasche hin. «Auch ’n Schluck?»

«Was ist das?»

«Rum. Der wärmt und desinfiziert.»

Ich muss an seinen Husten denken und schüttele den Kopf. «Danke, lieber nicht. Und was Ihre Erkältung angeht, da sollten Sie sich nicht allein auf dieses Zeug verlassen, sondern lieber mal zum Arzt gehen. Der Sommer ist noch eine Weile hin.»

«Ich hab nicht so gute Erfahrungen mit Krankenhäusern gemacht», antwortet er. «Außerdem habe ich gelesen, dass es da Killerkeime gibt. Also kuriere ich mich lieber mit Rum und warte einfach ab, bis es mir bessergeht.»

Ich spüre, dass mir die Kälte in die Knochen kriecht, deshalb stehe ich auf.

«Oh. Sie müssen los», vermutet er. «Schade. War nett, mit Ihnen zu plaudern. Vielleicht schauen Sie gelegentlich mal wieder vorbei.»

«Mach ich», sage ich, obwohl ich weiß, dass das nicht stimmt.

Ich will mich tatsächlich auf den Weg machen, merke aber, dass sich mein Gewissen meldet. Einerseits zögere ich, den netten Kerl einfach so zurückzulassen, krank und allein, wie er ist. Andererseits fühle ich mich aber auch nicht dazu berufen, als barmherziger Samariter Bedürftige von der Straße zu holen. Ich tue also, was die meisten Menschen in dieser Situation tun würden. Ich versuche, mein Gewissen möglichst unkompliziert zu beruhigen.

«Hören Sie, ich kenne da einen guten Arzt, der sich Ihre Lunge mal anhören könnte», sage ich. «Über die Bezahlung brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen. Ich würde das mit ihm intern regeln.»

Der Mann hinter den Mülltonnen lächelt und schweigt.

«Er hat eine eigene Praxis, in der es ganz bestimmt keine Killerkeime gibt», füge ich hinzu.

Immer noch lächelnd, schüttelt der Obdachlose den Kopf. «Danke, aber ich brauche keinen Arzt.»

Er nimmt noch einen Schluck Rum und fügt hinzu: «Ihre Mütze könnte ich allerdings gebrauchen. Und Ihren Schal. Und vielleicht noch die Handschuhe. Wissen Sie, die Leute mustern meist Jacken und Mäntel aus. Accessoires sind deutlich seltener auf dem Markt, vielleicht weil sie praktisch nie aus der Mode kommen.»

Seine Argumentation ist ebenso einleuchtend wie verblüffend.

Kurz entschlossen gebe ich ihm Mütze, Schal und Handschuhe.

«Oh. Danke. Einfach so?», fragt er erstaunt und nimmt die Sachen an sich.

«Ja, einfach so. Warum auch nicht?», antworte ich.

«Weil ich es Ihnen nicht krummnehmen würde, wenn Sie nach dem Überfall die Schnauze davon voll gehabt hätten, jetzt auch noch mir was abzugeben», antwortet er.

«Ist schon okay», sage ich. «Darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an.»

Er zieht die Mütze auf, legt den Schal um den Hals und beginnt, in die Handschuhe zu schlüpfen.

«Steht Ihnen gut», stelle ich fest.

«Danke. Ist ja auch eine gute Qualität. Das hab ich gleich gesehen.»

«Freut mich, dass Ihnen die Sachen gefallen», sage ich und freue mich tatsächlich, dass ich ihm helfen kann. «Also dann. Machen Sie es gut.»

«Ich heiße übrigens Franz», sagt er.

«Freut mich. Ich bin Jakob.»

«Danke für deine Hilfe, Jakob. Wenn ich mal was für dich tun kann, melde dich. Abends bin ich eigentlich immer hier zu finden. Ansonsten frag einfach nach mir.»

«Gut. Das werde ich machen», antworte ich.

Franz grinst. «Dann viel Spaß, Jakob. Genieße es, dass du jetzt vogelfrei bist. Wäre ich du, würde ich gleich ein paar Tage blaumachen.»

Ich verstehe nicht ganz. «Vogelfrei? Wieso vogelfrei?»

«Weil du kein Handy hast, mit dem man dich orten kann, und keine Kreditkarten, aus deren Daten sich dein Bewegungsmuster ablesen lässt», erklärt Franz. «Mit Hilfe von Nikolaus und Knecht Ruprecht hast du in nur wenigen Minuten fast alle abgehängt, die dir auf den Fersen sind.»

«Wer soll mir denn auf den Fersen sein?», frage ich erstaunt.

«Alle, die Daten von dir wollen», antwortet Franz. «Multinationale Konzerne, Geheimdienste, Regierungen. Such dir was aus.»

«So was wie die CIA?», frage ich scherzhaft.

«Die CIA, die NSA, das FBI, der Mossad, das BKA, der BND, der MAD, Facebook, Google, das Finanzamt und ganz bestimmt auch deine Krankenkasse. Nicht zu vergessen der ehemalige KGB sowie sämtliche Banken dieses Planeten.»

Ich muss lachen.

«Du glaubst mir nicht», sagt Franz. «Es stimmt aber. Die alle sind dir auf den Fersen. Lautlos und unsichtbar.»

«Das kann nicht sein», wende ich ein. «Ich bin nicht im mindesten interessant. Meine Daten sind garantiert total öde.»

«Sind sie nicht. Im Gegenteil», erwidert Franz. «Deshalb können die Datenjäger auch gar nicht genug davon bekommen. Und richtig spannend wird es, wenn man möglichst viele Daten verknüpft. Daran arbeiten sie in ihren Rechenzentren. Tag und Nacht. Hättest du gedacht, dass man anhand deiner Frühstücksgewohnheiten und deiner Schuhgröße Rückschlüsse auf deine Kreditwürdigkeit ziehen kann?»

Ungläubig schüttele ich den Kopf.

«Ist aber so», fährt Franz fort. «Und das Internet ist erst der Anfang. Ich habe gehört, sie arbeiten inzwischen an Funktionsunterwäsche, mit der man den Gesundheitszustand seines Trägers per Satellit überprüfen kann. Stell dir das nur mal vor. Du bekommst plötzlich heftige Magenschmerzen, und deine Unterhose weiß bereits, dass es sich um eine Gallenkolik handelt.»

«Na ja», sage ich. «Wenn die Unterhose dann auch einen Krankenwagen ruft, ist das ja in Ordnung.»

Franz fängt an zu lachen, was in einem Hustenanfall endet. Er nimmt noch einen Schluck Rum. «Die Sache hat nur einen Haken. Wenn man den Gesundheitszustand eines Menschen per Satellit abfragen kann, dann bekommen doch bald nur noch die Gesündesten eine Wohnung, einen Job, eine Krankenversicherung oder einen Ratenkredit.»

Das klingt einleuchtend. Und irgendwie bedenklich. Ich überlege.

Franz scheint eine Idee zu haben. Eilig schüttet er eine seiner Plastiktüten aus, findet in den herumliegenden Lumpen eine schmuddelige Unterhose und hält sie in die Höhe. «Hier, Jakob, die ist für dich. Ich schenke sie dir. Die ist wenig getragen, stammt aus dem letzten Jahrhundert und ist damit garantiert frei von Abhörtechnik.»

Beim Anblick des schmutzigen Slips schaudert es mich ein bisschen. Außerdem wird mir klar, dass das harte Leben auf der Straße Franz nicht nur körperlich, sondern auch psychisch etwas mitgenommen hat.

«Das ist sehr freundlich von dir», sage ich. «Aber ich bin mir sicher, ich habe selbst noch ein paar abhörfreie Unterhosen im Kleiderschrank.»

«Dann ist ja gut», antwortet Franz und beginnt damit, seine Lumpen wieder einzupacken.

Ich nutze die Gelegenheit, um mich zu verabschieden. «Okay, Franz. Ich glaube, ich muss dann langsam mal los.»

Er schaut hoch und lächelt. «Ja. Mach’s gut, Jakob. Vielleicht bis bald mal wieder.»

 

«Du kommst spät», sagt Ellen, als ich mich neben sie an den Tresen einer Imbissbude stelle und der Bedienung winke, um einen großen Becher Tee zu bestellen. Mich fröstelt immer noch.

«Bin leider aufgehalten worden», erkläre ich knapp.

«Kann ich Ihnen was bringen?», fragt die Bedienung.

«Tee», antworte ich und füge hinzu: «Irgendeinen schwarzen.»

«Alles okay mit dir?», fragt Ellen.

Sie kennt mich inzwischen gut genug, um mir anzusehen, dass nicht alles okay ist. Als wir noch verheiratet waren, hätte sie meinen Gemütszustand ignoriert oder vielleicht nicht einmal bemerkt. Inzwischen sind wir seit mehr als vier Jahren geschieden, und ich habe das Gefühl, wir gehen jetzt aufmerksamer miteinander um. Ich glaube, wir sind sogar der Beweis dafür, dass Männer und Frauen doch Freunde sein können. Sie müssen lediglich zuvor ihre Ehe gründlich vor die Wand gefahren haben.

«Erzähle ich dir später», wiegele ich ab.

Als die Bedienung den Tee bringt, fällt mir ein, dass mein gesamtes Geld im Sack vom Nikolaus gelandet ist. Ich komme also doch nicht umhin, Farbe zu bekennen. «Du, ich bin gerade leider ein paar Straßenräubern begegnet. Kannst du mir ein bisschen Geld leihen?»

«Himmel!», ruft Ellen und setzt ihre Kaffeetasse ruckartig ab. «Was machst du denn für Sachen, Jakob? Bist du etwa verletzt?»

«Nein. Mir geht’s gut. Ich bin nur völlig blank.»

Ellen mustert mich. «Die haben ja sogar deine Mütze und deinen Schal mitgehen lassen.»

«Nein, nein. Die hab ich einem Mann geschenkt, der glaubt, dass die Regierung uns mit Funktionsunterhosen kontrollieren will.»

Sie sieht mich regungslos an.

«Er heißt Franz. Netter Kerl, übrigens.»

Immer noch mustert sie mich unbeweglich.

«Was ist? Warum siehst du mich so an?»

«Sag mir nur, dass sie dir nicht meine Uhr geklaut haben.»

«Wieso denn deine Uhr?», erwidere ich. «Du hast sie mir geschenkt. Es war also meine Uhr.»

«Stimmt es also? Ist sie tatsächlich weg?», fragt Ellen unheilvoll.

Sie sieht mein leises Kopfnicken und wirkt bestürzt. «Oh. Das ist wirklich ärgerlich. Ich wollte, dass du Luis die Uhr schenkst, wenn er älter ist. Da sein Vater sich aus dem Staub gemacht hat, bist du als Patenonkel nun mal seine wichtigste männliche Bezugsperson.»

«Wie bitte? Das ist ja wieder typisch», sage ich. «Ich dachte, du hättest mir die Uhr zum Dank dafür geschenkt, dass ich Patenonkel von Luis geworden bin. Jetzt erfahre ich, dass ich sie eigentlich nur verwahren soll, bis dein Sohn alt genug ist, um sie selbst zu tragen.»

«Ja. Ich wollte so was wie eine Tradition begründen. Luis hätte sie später seinem Sohn vererben können. Außerdem dauert es ja noch einige Jahre, bis er alt genug ist. In der Zwischenzeit hättest du dich an der Uhr erfreuen sollen.»

«Tja», sage ich. «Jetzt ist sie weg. Ich werde ihm einfach selbst eine Uhr schenken, wenn er alt genug ist.»

«Das war aber eine sehr besondere Uhr», sagt Ellen. «Zum Beispiel ist sie bis zu einer Tiefe von dreitausend Metern wasserdicht.»

«Dreitausend Meter?», frage ich ungläubig. «Bist du da sicher?»

«Absolut», erwidert Ellen.

Wahrscheinlich lag Nikolaus mit seiner Vermutung doch richtig, dass die Uhr nicht ganz billig war. Ellen ist durch eine Erbschaft immens reich geworden. Seitdem gibt sie manchmal absurde Summen für allen möglichen Kram aus. Das ist in Ordnung, weil ja jeder mit seinem Geld machen kann, was er will. Manchmal finde ich es trotzdem anstrengend, über den Sinn oder eher über den Unsinn von Luxuszeug zu diskutieren.

«Wieso muss eine Uhr bis zu einer Tiefe von dreitausend Metern wasserdicht sein?», frage ich. «Damit sie heil auf dem Meeresboden ankommt, wenn man sie auf hoher See über Bord wirft?»

«Nein. Damit man mit ihr so tief tauchen kann, wie man will», antwortet Ellen spitz. «Außerdem ist das insgesamt eine sehr robuste Uhr. Ich wollte, dass Luis etwas von bleibendem Wert bekommt.»

Ich ahne, dass sie auf den Preis anspielt. «Okay, Ellen. Sag es mir. Wie viel hast du dafür hingeblättert?»

«So um die fünfundzwanzigtausend», erwidert Ellen ungerührt.

Ich muss kurz durchatmen. «Ist das dein Ernst? Dein Sohn trägt zwar noch Windeln, besitzt aber schon eine Taucheruhr, die so viel kostet wie ein Mittelklassewagen?»

«Ja», erwidert Ellen locker. «Warum denn auch nicht?»

«Weil das Schwachsinn ist», sage ich. «Kein Mensch braucht so ein Statussymbol. Erst recht kein Kind.»

«Luis hätte die Uhr frühestens als Teenager bekommen», wendet Ellen ein. «Aber das nur nebenbei. Sag mir lieber, wo geschrieben steht, dass Uhren der gehobenen Preiskategorie Schwachsinn sind.»

«Das sagt einem doch schlicht der gesunde Menschenverstand», antworte ich.

«Komm mir jetzt nicht so, Jakob.» Ellen zieht sichtlich verärgert die Stirn kraus. «Es gibt vieles auf diesem Planeten, über das man sich moralisch entrüsten kann. Kriege, Diktaturen, Korruption, Drogenhandel, Umweltzerstörung und noch einiges mehr. Der Kauf einer vernünftigen Uhr gehört aber definitiv nicht zu den Geißeln der Menschheit. Also kümmere dich gefälligst um deinen eigenen Kram.»

«Oh. Da hast du natürlich völlig recht», sage ich. «Das heißt dann wohl, es geht mich nichts an, was du mit deinem vielen Geld machst, richtig?»

Sie nickt. «Völlig richtig.»

«Gut. Dann hat es dich aber ebenso wenig zu interessieren, was ich mit meinen Geschenken mache», fahre ich fort. «Und weißt du was? Ich gönne diesen beiden Gaunern meine schweineteure Uhr. Sollen sie sich damit ein schönes Weihnachtsfest machen, eine große Silvesterparty schmeißen und meinetwegen noch zwei Wochen Skiurlaub in Sankt Moritz dranhängen.»

«Das könnte dir so passen», sagt Ellen, legt Geld für unsere Getränke auf den Tresen und will mich mit sich ziehen. «Wir beide werden jetzt zur Polizei gehen und den Diebstahl melden. Die Uhr ist registriert. Es wird also nicht ganz einfach sein, sie zu versetzen.»

«Ich gehe aber nicht zur Polizei», sage ich und wende mich wieder meinem Tee zu.

«Ich kaufe dir mal eben eine Mütze und einen Schal, damit du auf dem Weg zur Wache nicht erfrierst», sagt Ellen und nimmt Kurs auf einen Stand, an dem Winterklamotten angeboten werden.

«Nicht nötig!», rufe ich ihr hinterher. «Ich gehe definitiv nicht zur Polizei!»

«Oh doch!», ruft sie und hält eine Mütze in die Höhe, um sie mir zu zeigen.

Ich drehe mich demonstrativ weg und will gerade an meiner Teetasse nippen, da fällt mein Blick auf eine Straßenbahn, die gleich neben dem Weihnachtsmarkt hält. Hinter einem der hell erleuchteten Fenster steht ein Mann, der mich anzustarren scheint. Ich kenne diesen Mann. Oder zumindest kannte ich jemanden, der diesem Mann wie aus dem Gesicht geschnitten war.

Vor Schreck fällt mir die Teetasse aus der Hand und zerbricht auf dem Tresen. Im gleichen Moment fährt die Straßenbahn ruckelnd los, und mit ihr verschwindet der Mann aus meinem Gesichtsfeld.

«Halb so wild», nuschelt die Bedienung, sammelt die Scherben zusammen und beginnt, den verschütteten Tee vom Tresen zu wischen.

Ellen erscheint und hält mir diverse Winterklamotten hin.

«Was ist los?», fragt sie und mustert mich mit leichter Bestürzung. «Du siehst aus, als hättest du gerade einen Geist gesehen.»

«Das habe ich möglicherweise auch.»

2

Ich lasse mich doch noch von Ellen dazu überreden, zur Polizei zu gehen. Nicht weil sie mir vorjammert, dass die Versicherung nur dann zahlt, wenn der Diebstahl aktenkundig ist, sondern weil sie mir zu guter Letzt anbietet, einen Teil des Versicherungsgeldes für eine gute Sache zu spenden. Ich fühle mich nun zwar von meiner Exfrau moralisch erpresst, aber in diesem Fall heiligt wohl tatsächlich der Zweck die Mittel.

Polizeirat Lorenz ist nicht im mindesten überrascht, als ich ihm von Nikolaus und Knecht Ruprecht erzähle.

«Das passiert ständig. Kriminelle verkleiden sich, weil sie ihre Opfer austricksen oder nicht erkannt werden wollen», erklärt der Polizist und notiert nebenbei meine Personalien. «Falsche Ärzte und falsche Feuerwehrmänner trifft man besonders oft. Wir hatten aber auch schon Superhelden, Prinzessinnen und einen Typen, der sich als Bischof verkleidet hat.»

«Interessant», sage ich. «Was war seine Masche?»

«Er hat den Leuten die Vergebung aller Sünden versprochen und ihnen dann beim gemeinsamen Gebet die Brieftaschen geklaut.»

«Auch keine schlechte Idee. Ich bin beeindruckt.»

Er stutzt. «Wir reden hier von einem Verbrechen, Dr. Jakobi. Es besteht kein Grund, so etwas beeindruckend zu finden.»

«Nein. Eigentlich wollte ich nur einen Witz machen», antworte ich.

«Sprechen Sie eigentlich Russisch?», fragt er unvermittelt.

Ich schüttele den Kopf. «Wie kommen Sie darauf?»

Er deutet auf die Mütze, die Ellen mir eben gekauft hat. «Sie tragen eine Uschanka, wie sie zum Beispiel beim russischen Militär üblich ist. Und die Fellhandschuhe und der Schal sind aus dem gleichen Material gefertigt. Sieht aus, als hätte das alles ein und derselbe Schneider hergestellt.»

Ich habe keine Ahnung, was Lorenz sich da gerade zusammenreimt.

«Ich vermute, das kann man so als russisches Komplettset auf dem Weihnachtsmarkt kaufen», sage ich.

«Sie … vermuten?», fragt er argwöhnisch.

«Ja. Ich hab die Sachen nicht selbst gekauft.»

«Aha. Verstehe», murmelt er und mustert mich nachdenklich. Das dauert eine Weile. Mit einem skeptischen Stirnrunzeln wendet er sich schließlich wieder seinem Formular zu.

«Was haben Sie gerade gedacht?», will ich wissen.

«Ach, nichts Besonderes», erwidert er.

«Wenn es nichts Besonderes war, dann können Sie es mir ja erzählen.»

Er zuckt mit den Schultern. «Ehrlich gesagt hab ich mich gerade gefragt, ob Sie vielleicht auch verkleidet sind.»

«Als Russe?», frage ich perplex. «Was hätte das für einen Sinn?»

«Eben. Es hätte keinen Sinn», antwortet er. «Deswegen habe ich auch nichts gesagt. Aber es gehört nun mal zu meinem Beruf, Dinge kritisch zu hinterfragen. Also mache ich das auch ab und zu.»

Es interessiert mich, was da gerade im Kopf von Polizeirat Lorenz vor sich geht. Womit und wieso habe ich mich bei ihm verdächtig gemacht?

Er scheint meine Frage zu erraten. «Wissen Sie, es gibt ja auch besonders ausgebuffte Kriminelle, die sich als Opfer ausgeben, obwohl sie keine sind. Die stehen dann hier vor meinem Tresen und behaupten, dass man sie überfallen hat, aber in Wirklichkeit wollen sie nur ihre Versicherung abzocken. Bei diesen vorgetäuschten Überfällen sind dann angeblich nur die allerteuersten Wertgegenstände gestohlen worden. Perlenketten und Diamantringe oder auch Luxusuhren für Tausende von Euro.»

«Luxusuhren», wiederhole ich und spüre einen Frosch im Hals.

Lorenz nickt. Ich muss mich räuspern.

«Das ist die trockene Heizungsluft», erklärt er. «Möchten Sie vielleicht ein Glas Wasser?»

«Gern», erwidere ich und frage mich, ob ich mit meiner Anzeige warten soll, bis Ellen wieder da ist. Falls sie den Kaufbeleg und das Zertifikat für die Uhr nicht in ihren Unterlagen finden kann, wird Polizeirat Lorenz mich vermutlich als Versicherungsbetrüger einbuchten.

Zum Glück kommt Ellen in diesem Moment zur Tür herein und wedelt triumphierend mit einer Aktenmappe. «Hier. Ich hab alles gefunden.»

Sie zieht zwei Blätter aus der Mappe und legt sie auf den Tresen.

«Kaufbeleg und Zertifikat», verkündet sie.

«Wofür?», will Lorenz wissen und sieht mich fragend an.

«Für die Luxusuhr, die gestohlen worden ist», antwortet Ellen.

«Was für eine Überraschung», erwidert Lorenz. Er wirft mir einen abfälligen Blick zu, als würde er sagen wollen: Sie sollten sich was schämen.

Schuldbewusst presse ich die Lippen aufeinander.

«Wie teuer war denn das gute Stück?», will Lorenz wissen.

«So um die fünfundzwanzigtausend», antwortet Ellen.

Lorenz beugt sich über Ellens Papiere und betrachtet sie kritisch. Man sieht ihm an, dass er fieberhaft überlegt, wie er uns als russische Trickbetrüger überführen kann, die mit gefälschten Dokumenten deutsche Versicherungen abzocken. Penibel sucht er nach dem entscheidenden Hinweis.

Nach einer Weile wird es Ellen zu bunt.

«Was machen Sie da eigentlich?», fragt sie ungehalten.

«Ich prüfe die Echtheit des Dokumentes», erwidert Lorenz sachlich.

«Das ist toll, aber wäre es nicht einfacher, morgen bei diesem Juwelier anzurufen und ihn zu fragen, ob ich die Uhr wirklich dort gekauft habe?»

Lorenz wirkt ertappt. «Ähm. Ja. Eigentlich schon.» Er schnappt sich die beiden Papiere und nuschelt verlegen: «Ich mach mir dann mal ein paar Kopien.»

Wenig später sitzen wir in Ellens eleganter Limousine. Ich genieße die komfortablen Ledersitze und freue mich auf mein Bett. Da die Temperatur inzwischen deutlich unter dem Nullpunkt liegt, hat Ellen mir freundlicherweise angeboten, mich nach Hause zu fahren. Schweigend rollen wir nun durch das verwaist wirkende Berlin.

Ein Taxi rauscht an uns vorbei. Eher zufällig hebe ich den Kopf und erkenne den Mann im Fond. Mit Erschrecken stelle ich fest, dass es sich um denselben Mann handelt, den ich vor vielleicht einer Stunde in der Straßenbahn gesehen habe. Ich zucke dermaßen heftig zusammen, dass Ellen ebenfalls erschrickt und beinahe das Steuer verreißt. «Was ist los, Jakob?»

Gebannt starre ich auf das Taxi. Es schert zügig vor uns ein. Hinter der Heckscheibe ist nun die Hand des Mannes zu sehen. Er winkt mir freundlich zu.

Das Fahrzeug entfernt sich mit hoher Geschwindigkeit. Wenige Sekunden später sind nur noch die Rücklichter zu erkennen.

«Fahr bitte schneller! Wir müssen das Taxi stoppen», sage ich hektisch.

«Hast du sie noch alle?», sagt Ellen. «Wie soll das gehen?»

«Bitte, Ellen! Das ist jetzt nicht der Moment für lange Erklärungen. Gib einfach Gas, okay?»

Sie seufzt genervt, tut aber, was ich sage. Unsere Limousine beschleunigt spürbar, und kurz danach sind wir dem Taxi wieder dicht auf den Fersen.

Es dauert ein paar Minuten, bis die Gelegenheit günstig ist. Als wir an einer Ampel fast zeitgleich zum Stehen kommen, springe ich aus dem Auto, laufe zum Taxi und reiße die Tür zum Fond auf.

«Steigen Sie ein», sagt der Fahrer freundlich. «Ich bin frei.»

Der Fond ist leer. Ebenso der Beifahrersitz.

«Wo ist der Mann hin, der hier gerade noch gesessen hat?», frage ich.

«Welcher Mann? Außer mir ist hier niemand», antwortet der Taxifahrer.

«Aber als Sie uns überholt haben, da saß ein Mann auf dem Rücksitz. Ich bin mir sicher, dass ich ihn gesehen habe.»

«Das kann nicht sein. Meinen letzten Fahrgast hatte ich vor fast einer Stunde», erwidert der Taxifahrer. «Da müssen Sie sich verguckt haben.»

Er sieht mein ratloses Gesicht.

«Alles okay bei Ihnen?», will er wissen.

Ich nicke geistesabwesend. «Ja, alles okay. Entschuldigen Sie, dass ich hier so reingeplatzt bin.»

«Kein Problem. Sie müssten sich nur langsam mal entscheiden, ob Sie mitfahren wollen. Die Ampel wird gleich wieder grün.»

Ich schüttele den Kopf, wünsche ihm eine gute Fahrt und schließe die Tür.

«Was war los?», fragt Ellen, als ich mich wieder neben sie setze.

«Nichts. Ich dachte, ich hätte jemanden gesehen.»

«Und?»

«Muss wohl eine optische Täuschung gewesen sein. Außer dem Fahrer war nämlich niemand in dem Taxi.»

Ellen sieht mich durchdringend an. «Irre ich mich, Jakob, oder ist dir das heute schon mal passiert? Vorhin auf dem Weihnachtsmarkt hattest du genau denselben Gesichtsausdruck wie jetzt gerade. Irgendwie … zutiefst erschüttert.»

«Ach ja? Wirklich?», sage ich ausweichend. «Das sieht nur so aus. Es geht mir gut. Alles okay.»

Um ihrem Blick zu entkommen, wende ich den Kopf und tue so, als würde ich aus dem Seitenfenster schauen.

«Wie du meinst», sagt Ellen und fährt los. «Deine Sache, ob du darüber reden willst oder nicht.»

Schweigen. Eine Weile hört man nur das dezente Brummen des Motors.

«Die Wahrheit ist, du irrst dich nicht», gestehe ich bedrückt. «Und wenn ich gerade einen erschütterten Eindruck mache, dann liegt das wohl daran, dass ich tatsächlich erschüttert bin.»

«Aber was ist denn nur passiert, Jakob?» Ellen klingt alarmiert.

«Ich bin heute gleich zweimal einem ehemaligen Patienten von mir begegnet. Abel Baumann.»

«Abel Baumann», wiederholt sie langsam. «War das nicht der Typ, der sich für Gott höchstpersönlich gehalten hat?»

«Ganz genau der. Schwere schizophrene Psychose. Zumindest dachte ich das anfänglich.»

«Und was ist nun daran so besonders, jemanden zu treffen, den man von früher kennt?», fragt Ellen.

«Abel Baumann ist seit mehr als vier Jahren tot», antworte ich. «Ein Unfall. Er hat es noch bis ins Krankenhaus geschafft, aber leider zu spät. Ich war dabei, als er starb. Und ich war auch auf seiner Beerdigung.»

«Das ist ja schrecklich», sagt Ellen.

«Dass er tot ist, oder dass ich ihn gesehen habe?», frage ich.

«Natürlich dass er tot ist», antwortet Ellen. «Bestimmt hast du heute einen Doppelgänger gesehen. Also kein Grund zur Beunruhigung, wenn du mich fragst.»

«Ja. Auf dem Weihnachtsmarkt habe ich das auch gedacht», sage ich. «Aber die Sache jetzt gerade, das kann kein Zufall sein.»

«Was soll das heißen? Dass du neuerdings Gespenster siehst?»

Ich zucke mit den Schultern. «Das wäre eine Möglichkeit. Eine andere wäre, dass ich verrückt bin. Hast du ihn denn nicht gesehen?»

«Nein. Aber ich habe auch gar nicht auf das Taxi geachtet», antwortet sie.

«Das hatte ich schon befürchtet», sage ich.

«Hey, es wird für all das eine simple Erklärung geben», sagt Ellen in aufmunterndem Tonfall und grinst. «Oder er hat dir damals die Wahrheit gesagt und ist tatsächlich Gott. Das würde zumindest erklären, warum er von den Toten auferstanden ist.»

«Das sollte ein Witz sein», fügt sie nach einer kurzen Pause hinzu.

«Ich weiß», antworte ich und verziehe immer noch keine Miene.

«Du glaubst jetzt nicht ernsthaft daran, dass dir plötzlich verstorbene Patienten erscheinen, oder?» Es schwingt ein sorgenvoller Ton in ihrer Stimme mit.

«Ach, was weiß denn ich?», antworte ich. «Ein paar Milliarden Menschen auf diesem Planeten glauben an Erscheinungen. Warum sollte ausgerechnet ich nicht daran glauben?»

«Weil du ein Psychologe bist, Jakob. Ein Wissenschaftler. Also ein Mensch, der auf harte Fakten vertraut. Wenn dir jemand sagt, dass er Erscheinungen hat, dann verschreibst du ihm doch Medikamente, oder?»

«Ich bin Psychotherapeut, Ellen. Und kein Psychiater. Ich verschreibe also keine Medikamente.»

«Du weißt aber ganz genau, was ich meine», erwidert sie.

«Ja, das weiß ich. Und ehrlich gesagt frage ich mich schon länger, ob es richtig ist, jede von der Norm abweichende Erscheinung im Zweifelsfall als Wahnvorstellung zu behandeln. Vielleicht sind einige davon ebenso real wie das, was wir gemeinhin als Realität betrachten.»

Ellen fährt entschlossen rechts ran und stoppt den Wagen. Das Motorgeräusch ist nun nur noch ein Summen.

«Jakob, was redest du da?» Sie wirkt verunsichert. «Das hört sich an, als würdest du der Geschichte von diesem Abel Baumann irgendwie Glauben schenken.»

«Am Ende ist das wohl auch so», gebe ich zögernd zu. «Und wahrscheinlich glaube ich schon an die Geschichte, seit ich Abel zum ersten Mal begegnet bin, wollte es aber partout nicht wahrhaben.»

Ellen wirkt schockiert. «Jakob, du denkst doch nicht im Ernst, dass er der war, für den er sich ausgegeben hat, oder? Ich meine, glaubst du wirklich, dass du damals … Gott begegnet bist?»

«Ich weiß eines: Ich habe Abel heute gesehen. Und ich bin sicher, er war es tatsächlich.»

Ellen schüttelt ratlos den Kopf.

«Ich weiß, das klingt verrückt», fahre ich fort. «Aber vielleicht sind wir ja wirklich Teil einer göttlichen Energie. Vielleicht gibt es so etwas wie einen göttlichen Plan, und wir alle müssen mal mehr und mal weniger dabei helfen, ihn in die Tat umzusetzen. Und vielleicht habe ich all das erst durch die Begegnung mit Abel Baumann begriffen.»

«Und der ist jetzt von den Toten auferstanden, um dir deinen Part im göttlichen Plan zu erklären, oder was?»

Ich zucke ratlos mit den Schultern. «Ich weiß es nicht.»

«Und warum nimmt er ausgerechnet Kontakt zu dir auf?», hakt sie nach.

«Ellen, ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, dass diese beiden Begegnungen heute kein Zufall waren. Abel Baumann lebt. Das hat mich zwar in der Tat schockiert, aber deshalb bin ich noch lange nicht verrückt.»

Sie sieht mich mitleidig an, dann atmet sie tief durch. «Vielleicht bist du nicht verrückt, sondern einfach nur wahnsinnig urlaubsreif.»

Ich muss lächeln. «Auch das wäre eine Möglichkeit.»

«Gut. Ich fahre dich jetzt nach Hause, du nimmst ein heißes Bad und schläfst dich danach richtig aus. Morgen sehen wir weiter.»

Ich nicke dankbar und lege müde den Kopf zurück.

Sie setzt den Blinker und gibt Gas.

 

Eine gute halbe Stunde später liege ich in meiner Badewanne und versuche erfolglos, mich zu entspannen. Meine Gedanken kreisen um die Begegnungen mit Abel, und jede Frage, die ich mir dazu stelle, wirft mehrere neue Fragen auf. Nach wenigen Minuten breche ich mein Entspannungsbad ab und gieße mir stattdessen eine Kanne Entspannungstee auf. Als die vorgeschriebene Brühzeit um ist, kippe ich die ganze Kanne kurzerhand in den Ausguss und öffne stattdessen eine Flasche Rotwein.

Zwei große Gläser davon entspannen mich tatsächlich ein bisschen. Das Karussell in meinem Kopf dreht sich nun langsamer. Ich gieße mir noch einmal nach, schalte den Fernseher ein und lande bei einer Doku, in der sich ein Survivalexperte durch das australische Outback kämpft. Es ist eine merkwürdige Vorstellung, dass jemand fiese Käfer und Schlangen isst, während ein Filmteam um ihn herumsteht, das ihn jederzeit mit einem leckeren Sandwich versorgen könnte, denke ich und schlafe ein.

Zur Ruhe komme ich dennoch nicht. Abel Baumann geistert durch meine Träume. Ich sehe Bilder von seiner Beerdigung. Sie sind monochrom und seltsam blass. Bilder der trauernden Angehörigen und Freunde. Bilder der Musiker, die die Prozession anführen. Bilder des mit weißen Nelken reich verzierten Sarges. Bilder der kleinen bunten Tulpensträuße, die als letzter Gruß auf dem Sargdeckel landen. Bilder der Kränze. Bilder der in einer langen Reihe kondolierenden Trauergemeinde. Und schließlich Bilder einiger Vögel, die auf umliegenden Grabmälern gelandet sind. Es scheint, als würden auch sie dem Toten die letzte Ehre erweisen wollen.

Plötzlich begreife ich, dass ich ein sehr altes Fotoalbum betrachte. Es ist in dunkles Leinen gebunden. Die Bilder kleben auf schwarzem Grund und sind deshalb so blass, weil sie offenbar aus den frühen Tagen der Fotografie stammen.

Ich klappe das Album zu und erkenne, dass ich unweit von Abels Grab auf einer Bank sitze. Damals, nach seiner Beerdigung, saß ich ebenfalls hier. Ich wartete, bis alle gegangen waren, um dann noch eine Weile meine Gedanken und meine Trauer fließen zu lassen.

«Ist schön geworden, oder?», höre ich eine Stimme sagen.

Erschrocken zucke ich zusammen.

Gleich neben mir auf der Bank sitzt Abel Baumann und deutet auf das Fotoalbum. «Findest du nicht, dass ich eine schöne Beerdigung hatte, Jakob?»

Immer noch perplex, rücke ich ein Stück zur Seite und rutsche dabei von der Bank.

In diesem Moment erwache ich.

Ich liege neben meinem Bett, und es ist stockfinster.

Ich ahne, was der Traum mir sagen will: Abel ist in meiner Nähe.

«Bist du da?», frage ich in die Dunkelheit.

Keine Reaktion.

Ich mache das Licht an. Nicht nur im Schlafzimmer, sondern auch im Flur, in der Küche, im Badezimmer und im Wohnzimmer.

«Abel! Wo bist du?», rufe ich und laufe durch meine hell erleuchtete Wohnung, auf der Suche nach einem Mann, den man vor vier Jahren zu Grabe getragen hat.

Als wieder keine Reaktion erfolgt, öffne ich den Kleiderschrank, schaue unters Bett, hinters Sofa und in die Badewanne. Selbst die Küchenschränke suche ich ab. Doch Abel ist nirgendwo zu finden.

Seufzend lasse ich mich auf einen Küchenstuhl fallen und befinde mich im selben Moment wieder auf der Bank unweit von Abels Grab.

Er sitzt immer noch neben mir, hat das Album auf den Beinen liegen und betrachtet mit Vergnügen die Fotos seiner Beerdigung.

Als ich begreife, dass ich eben keineswegs aufgewacht bin, sondern in Wahrheit immer noch träume, erwache ich wirklich. Ich bin schweißgebadet und brauche einige Sekunden, um mich zu vergewissern, dass ich nun tatsächlich nicht mehr schlafe.

Ein paar tiefe Atemzüge, dann sind meine Zweifel ausgeräumt. Diesmal bin ich wirklich wach.

Ich schleppe mich in die Küche, setze Teewasser auf und lasse mich müde auf einen Stuhl fallen.

Es ist noch früh. Das fahle Licht der Dämmerung lässt die gegenüberliegenden Fassaden wie bleiche Knochen aussehen.

Die Küche hat sich über Nacht merklich abgekühlt. Ein Schauer läuft mir über den Rücken, und ich muss mich schütteln. Keine Ahnung, ob ich nur die Kälte abschütteln will oder auch den Traum von Abel Baumann.

Ich drehe mich um, blicke zum Flur und überlege. Kann es sein, dass Abel tatsächlich hier ist? Wenn er einfach so in einem Taxi auftaucht und wieder verschwindet, dann ist ihm auch zuzutrauen, dass er irgendwo hier auf mich wartet.

Ich könnte jetzt seinen Namen rufen. Damit müsste ich mir dann aber auch eingestehen, dass ich im Begriff bin, den Boden der Realität zu verlassen. Ich spüre, dass meine leise Angst, dem Wahnsinn zu verfallen, kleiner ist als die Hoffnung auf ein großes Wunder.

«Abel, bist du da?», frage ich zaghaft.

Keine Reaktion.

«Abel, wenn du da bist, dann sag bitte etwas.»

Wieder keine Reaktion.

Das Teewasser ist fertig. Ich gieße mir ein, überlasse die Tasse sich selbst und beginne kurz entschlossen damit, meine Wohnung zu durchsuchen. Erst nach einer Weile fällt mir auf, dass ich dabei genau so vorgehe, wie ich es eben im Traum getan habe.

Keine Spur von Abel. Ich weiß nicht, ob ich enttäuscht oder erleichtert sein soll.

Ich setze mich wieder in die Küche, nippe an meinem Tee und betrachte eine Weile die gegenüberliegende Fassade. Im Licht der aufgehenden Wintersonne bekommt sie nun langsam ein bisschen Farbe.

Ich fühle mich unausgeruht, aber an Schlaf ist nicht mehr zu denken. Also dusche ich, ziehe mich an und beschließe, in die Praxis zu gehen. Eigentlich gibt es dort kaum etwas zu tun, zumal heute keine Sprechstunde ist. Aber ich hoffe, dass sich irgendein Papierkram finden wird, der mich eine Weile ablenkt.

Ich ziehe den Mantel über und öffne die Wohnungstür.

Vor mir steht Abel Baumann.

3

«Was hältst du davon, wenn wir beide zusammen irgendwo nett frühstücken gehen?», fragt er mit einem strahlenden Lächeln. «Tut dir bestimmt gut, mal rauszukommen. Es ist eiskalt, aber glasklar und sonnig. Ein besonders schöner Wintertag. Fehlt eigentlich nur noch der Schnee.»

Sprachlos stehe ich vor meinem ehemaligen Patienten.

Immer noch lächelnd, tritt er einen Schritt näher und umarmt mich herzlich. «Du ahnst nicht, wie sehr ich mich freue, dich wiederzusehen, Jakob.»

Ich spüre, dass meine Schockstarre langsam nachlässt. «Ich freue mich auch, dich zu sehen.»

«Das ist schön», sagt er und löst die Umarmung. «Dann komm. Lass uns gehen. Ich sterbe fast vor Hunger. Und das wäre blöd, weil ich ja gerade erst von den Toten auferstanden bin.» Gut gelaunt vor sich hin pfeifend, schlendert er zu den Fahrstühlen.

Ich sehe ihm hinterher und frage mich, ob es möglich ist, dass ich doch noch tief und fest schlafe.

Abel drückt den Fahrstuhlknopf und mustert mich streng. «Vergiss es, Jakob. Das hier ist kein Traum. Und das weißt du auch, spätestens seit gestern. Ich wollte dich nicht zu Tode erschrecken, deshalb habe ich unsere beiden Begegnungen inszeniert. Auch die waren keine Hirngespinste.»

Mit einem leisen «Pling» verkündet der Fahrstuhl, dass es losgehen kann.

«Es mag dir seltsam erscheinen, Jakob. Aber das hier ist die Realität. Und ich bin es wirklich. Dein ehemaliger Patient Abel Baumann, zugleich der freundliche Gott von nebenan, der dir jetzt ein opulentes Frühstück spendieren wird.» Einladend deutet er auf den geöffneten Fahrstuhl.

Ich nicke schicksalsergeben und ziehe die Wohnungstür ins Schloss. Es beschleicht mich der Gedanke, dass sich mir auch der Weg in mein gewohntes Leben verschließen könnte, wenn ich jetzt Abel Baumann folge. Andererseits scheine ich gerade keine Wahl zu haben.

 

Das Café hat hohe Decken und bodentiefe Fenster. Obwohl es mit dunklem Mobiliar im Stil klassischer französischer Bistros eingerichtet ist, wirkt der Raum hell und freundlich.

Abel hat sich praktisch alles bringen lassen, was die Frühstückskarte hergibt. Jetzt sitzt er vor einem reichgedeckten Tisch und lässt es sich schmecken. Ich begnüge mich mit einer Tasse Tee, weil ich zunächst einmal das Wiedersehen mit ihm verdauen muss.

«Wenn dich hier irgendwas anlacht, bedien dich bitte», sagt er und nippt an einem großen Milchkaffee. «Das Rührei ist wirklich sehr zu empfehlen. Und der Lachs ist ein Gedicht.» Er macht eine wegwischende Geste. «Was rede ich da? Es schmeckt alles ganz vorzüglich.»

«Danke. Vielleicht später.»

Eben noch waren wir die einzigen Gäste, aber langsam füllt sich der Laden mit Leben. Die meisten sind in Eile und besorgen sich nur rasch einen Becher Kaffee oder etwas Gebäck. Einige verweilen ein paar Minuten, werfen einen Blick in die Zeitung oder sind mit ihren Handys beschäftigt, während sie an ihren Tassen nippen. Unablässig faucht und zischt eine große Espressomaschine.

«Erinnerst du dich an unsere erste Begegnung?», fragt Abel. «Damals sind wir auch frühstücken gegangen.»

Ich nicke. «Du hattest Angst, dass ich dich für verrückt erkläre, und wolltest von mir hören, dass ich dich garantiert nicht einweisen lasse.»

Er nickt amüsiert. Sein Gesichtsausdruck wird abrupt wieder ernst, und er sieht mich durchdringend an. «Heute bist du es, der Angst hat, verrückt zu sein, nicht wahr, Jakob?»

«Ja. Irgendwie schon», gebe ich unbehaglich zu.

«Zweifelst du etwa immer noch?», fragt er. Es klingt nicht vorwurfsvoll, sondern freundlich und ehrlich interessiert. «Oder glaubst du inzwischen an mich?» Er hat die zweite Frage betont beiläufig gestellt, an seinem lauernden Blick erkenne ich jedoch, dass ihm die Antwort wichtig ist.

«Abel, ich weiß nicht, ob ich ein gläubiger Mensch bin», antworte ich ehrlich. «Aber seitdem ich dich kenne, ist mein Unglaube so oft erschüttert worden, dass ich jetzt auch kein überzeugter Ungläubiger mehr bin.»

«Oh, das hast du hübsch formuliert», sagt er lächelnd. «Und ich weiß, dass du dich für deine Verhältnisse damit weit aus dem Fenster lehnst. Als wir uns kennengelernt haben, da warst du ein reiner Verstandesmensch. Ich bin sehr froh, dass dein Kopf Gesellschaft von deinem Bauch bekommen hat. Oder liegt es etwa nur daran, dass du dieses Gespräch auf nüchternen Magen führst?»

Ich muss lächeln.

«Abel, ich glaube an dich», sage ich freundschaftlich und merke plötzlich, das dieser Satz wie eine kleine Liebeserklärung klingt.

«Da kommt jetzt bestimmt noch ein Aber», unkt mein Gastgeber und beißt genussvoll in sein reich belegtes Croissant.

«Ja. Aber was erwartest du denn auch? Ich sitze hier mit einem Menschen, der mir vor vier Jahren erzählt hat, dass er Gott höchstpersönlich ist.»

«Was ja auch stimmt», wirft Abel ein und setzt ein sonniges Lächeln auf.

«Und dieser Jemand hat mir ebenfalls gesagt, Gott befinde sich in einer schweren persönlichen Krise.»

«Auch das stimmte damals», erwidert Abel. «Wobei ich dir heute mitteilen kann, dass es Gott inzwischen wesentlich besser geht.»

«Das freut mich», sage ich. «Jedenfalls ist dieser Mensch vor vier Jahren nach einem Unfall verstorben. Das hindert ihn aber nicht daran, in genau diesem Moment leibhaftig vor mir zu sitzen.»

«Na bitte», sagt Abel. «Du wolltest doch immer einen Gottesbeweis. Hier hast du ihn: Ich bin auferstanden von den Toten. Beeindruckend, oder?»

Er prostet mir mit einem Glas Orangensaft zu und nippt daran.

«Aber kannst du nicht auch verstehen, dass ich angesichts der Tatsache, dass ich einem Toten gegenübersitze, zumindest ein bisschen an meinem Verstand zweifle?», frage ich.

«Ich bin nicht tot, ich bin auferstanden», korrigiert Abel sachlich. «Das sind zwei völlig verschiedene Paar Schuhe. Und was den Verstand betrifft, so kann ich nur jedem empfehlen, dem hin und wieder mal zu misstrauen. Nebenbei gesagt ist es mir sowieso ein Rätsel, wieso die meisten Menschen lieber an Gott als an ihrem Verstand zweifeln. Mal ganz abgesehen davon, dass eure angeblich so überragenden intellektuellen Fähigkeiten ständig für Probleme auf diesem Planeten sorgen. So clever könnt ihr Menschen also eigentlich gar nicht sein.»

Ich muss grinsen. «Du hast dich kein bisschen verändert.»

Er lächelt. «Na, Gott sei Dank.» Ein Stück Räucherlachs verschwindet in seinem Mund.

«Der ist wirklich köstlich», nuschelt er.

Ich bekomme Appetit. «Darf ich mir jetzt doch so ein Croissant nehmen?»

«Unbedingt», sagt er. «Trink und iss. Du musst dich schließlich stärken.»

Seine Wortwahl irritiert mich. «Stärken? Wieso stärken? Haben wir heute noch was Besonderes vor?»

«Ich nicht», erwidert Abel. «Aber du hast noch so einiges vor. Und das nicht nur heute, sondern auch in der – sagen wir mal – näheren Zukunft.»

Er sieht mein fragendes Gesicht.

«Vielleicht auch in der fernen Zukunft», fügt er rasch hinzu.

Ohne es angebissen zu haben, lege ich mein Croissant zurück auf den Teller und werfe Abel einen argwöhnischen Blick zu. «Das klingt verdächtig nach einem längeren Projekt.»

«Stimmt», gibt Abel zu. «Im Grunde ist die Sache zeitlich unbegrenzt. Man könnte auch sagen, sie betrifft den Rest deines Lebens.»

«Jetzt bin ich aber gespannt», sage ich und beuge mich vor. «Verrätst du mir, worum es geht?»

«Iss doch erst mal was», schlägt er fürsorglich vor.

«Spann mich nicht auf die Folter, Abel. Warum bist du hier?»

«Na, offensichtlich deinetwegen», erwidert er. «Du hast mich gerufen. Und hier bin ich.»

«Ich habe dich nicht gerufen», antworte ich wahrheitsgemäß.

«Gut, dann lass es mich anders ausdrücken», sagt Abel. «Du hast dir insgeheim gewünscht, mich wiederzusehen.»

«Ja. So könnte man es schon eher sagen», entgegne ich nach kurzem Überlegen. «Trotzdem leuchtet mir nicht ein, dass allein mein Wunsch genügt hat, um dich von den Toten auferstehen zu lassen.»

«Es war nicht allein dein Wunsch», erwidert Abel. «Es war auch dein Glaube. Wenn Menschen nicht nur wünschen, sondern auch glauben, dann setzt das ungeahnte Energien frei.»

«Und deshalb bist du jetzt hier?», frage ich skeptisch.

«Nicht nur deshalb», erwidert Abel. «Mir ist auch klargeworden, dass ich dir sehr viel verdanke. Am Ende sogar mein Leben.»

«Ich glaube, ich kann dir nicht ganz folgen», gestehe ich ratlos.

«Eigentlich ist die Sache ganz einfach», sagt Abel. «Ich existiere nur, weil du an mich glaubst. Würdest du nicht an mich glauben, wäre ich also nicht hier.»

Ich stutze. «Das klingt wie ein psychologischer Taschenspielertrick.»

«Es ist kein Trick», erwidert Abel. «Sondern eines der unumstößlichen Gesetze des Universums: Etwas, an das überhaupt kein Mensch glaubt, existiert auch nicht. Das gilt für die Freiheit, für die Liebe, selbst für die Elementarteilchen. Und am Ende gilt es sogar für Gott höchstpersönlich.»

«Verstehe ich nicht.» Gedankenverloren beiße ich in mein Croissant.

«Vielleicht wird es einfacher, wenn man es von der anderen Seite betrachtet», fährt Abel fort. «Ich behaupte, es gibt kein Paradies auf Erden, solange die Menschen sich das nur wünschen. Sie müssten auch fest daran glauben, dass so etwas möglich ist.»

«Okay», sage ich. «Da ist was dran.»

Abel wirkt erfreut. Er bemerkt das einsame Croissant auf meinem Teller. «Magst du nicht auch von dem Käse kosten? Und von dem Lachs?»

Beflissen reicht er mir die Teller. «Bitte. Nimm ruhig alles. Ich bestelle auch gern noch mal nach.»

Ich greife zu, dabei fällt mir Abels Bemerkung von vorhin ein. «Du wolltest mir noch sagen, was ich deiner Meinung nach jetzt vorhabe.»

Er nickt. «Das stimmt. Aber wir reden ja schon die ganze Zeit darüber. Ich vermute, du ahnst bereits, was auf dich zukommt.»

«Nein. Ich habe keinen blassen Schimmer», sage ich und beiße in mein Croissant.

Er sieht mir in die Augen und nickt ernst. «Gut. Dann werde ich es dir jetzt sagen. Jakob Jakobi. Ich, der Herr, dein Gott, habe dich auserwählt, den Menschen eine frohe Botschaft zu bringen. Sage ihnen, dass …»

Er unterbricht sich, weil er sieht, dass ich rot anlaufe.

«Oh. Verschluckt?», fragt er besorgt.

Ich nicke hilflos und merke, dass ich in Panik gerate. Abel beugt sich rasch vor, legt seine rechte Hand flach auf meine Brust und drückt kurz und heftig mit dem Handballen dagegen.

Ich spucke in hohem Bogen ein Stück Croissant durchs Café.

Während ich hustend nach Luft schnappe, klopft Abel mir sachte auf den Rücken. Ein paar Köpfe am Tresen heben und senken sich wieder.

«Danke», bringe ich mühsam hervor.

«Keine Ursache», erwidert mein Retter. «Gern geschehen.»

«Vielleicht kannst du beim nächsten Mal mit deinen Witzen warten, bis ich mit dem Kauen fertig bin», schlage ich vor.

Abel wirkt irritiert. «Das war kein Witz, Jakob. Ich habe dich tatsächlich auserwählt. Du sollst verkünden, dass ich meinen Bund mit den Menschen erneuern möchte.» Er bemerkt nicht, dass ich ihn mit halbgeöffnetem Mund anschaue, und fährt ungerührt fort. «Weißt du, ich habe mir nämlich überlegt, dass die Menschen womöglich nur deshalb immer weniger an mich glauben, weil ich ihnen in der Vergangenheit nicht genug gezeigt habe, dass ich an sie glaube. Und das muss ich ändern.»

«Du willst mich zu deinem Propheten machen?», frage ich bass erstaunt.

«Das auch», erwidert Abel. «Aber eigentlich hatte ich gehofft, dass du dich noch etwas mehr engagieren könntest.»

«Und wie sähe das konkret aus?», will ich wissen.

«Ganz einfach. Du sollst den Welthunger bekämpfen, sämtliche Kriege beenden und der Menschheit den Weg in eine friedliche, gerechte und glückliche Zukunft weisen.»

«Das ist schon alles?», frage ich amüsiert. «Kleinigkeit. Das heißt also, du machst mich zu deinem neuen Messias?»

«Bingo», verkündet Abel. «Genau so habe ich mir das vorgestellt.»

Ich muss lachen. «Entschuldige, Abel. Aber das ist absurd.»

«Warum?», fragt er entrüstet. «Wir sind doch ein gutes Team. Und ich würde dir natürlich helfen, wo ich nur kann.»

«Wie stellst du dir das vor?», frage ich. «Soll ich meinen Job hinschmeißen und in Hippieklamotten durch die Gegend ziehen, um zu predigen?»

«Das musst du selbst wissen», antwortet Abel. «Der Job als Messias erfordert ein hohes Maß an Eigeninitiative und Kreativität. Wobei dieses Umherziehen und Predigen in vielen Fällen ganz gut funktioniert hat. Aber das nur als kleiner Tipp.»

Ich rücke meinen Teller zur Seite, beuge mich vor und schaue meinem Gegenüber direkt in die Augen. «Abel, ich bin nicht der Messias. Und ich werde auch nie einer sein, ganz gleich, ob du mir nun hilfst oder nicht. Ich bin vielleicht ein ganz passabler Psychologe, und in genau dieser Eigenschaft werde ich glücklicherweise von ein paar Leuten gebraucht. Das ist schön, und dabei wird es auch bleiben. Such dir bitte einen anderen, der den Menschen deinen neuen Bund erklärt.»

«Warte mal kurz, Jakob …», setzt Abel an, doch ich hebe abrupt die Hand, und das lässt ihn verstummen.

«Danke für das Frühstück», sage ich. «Ich würde mir sehr wünschen, dass wir das bald mal wiederholen. Aber jetzt muss ich leider los.»

Ich stehe auf und nehme meinen Mantel.

«Ich ruf dich an», sagt Abel, dem die Enttäuschung über den Ausgang unseres Gespräches anzusehen ist.

 

Im Büro erwarten mich zwei Notizen. Zum einen erfahre ich, dass Frau Kretzer sich den Rest des Tages freigenommen hat. Wie ich weiß, wird meine Sekretärin bald heiraten, und das heißt, sie muss noch eine Menge organisieren. Da wir kurz vor unseren Winterferien stehen und momentan ohnehin nicht viel los ist, habe ich ihr vor einer Weile gesagt, dass sie sich derzeit nicht stoisch an ihre Arbeitszeiten halten muss. Sie hat das offenbar als Freibrief verstanden, nur noch gelegentlich im Büro zu erscheinen. Im Grunde kommt sie seit ein paar Tagen nur noch vorbei, um mir Zettel hinzulegen, auf denen steht, dass sie gleich wieder gegangen ist. Immerhin wird es definitiv nicht an mir liegen, falls an ihrem Hochzeitstag irgendetwas nicht zufriedenstellend organisiert sein sollte.

Die zweite Notiz betrifft meinen bevorstehenden Urlaub. Die Reiseunterlagen sind angekommen. Nun ist es also amtlich, dass ich in der nächsten Woche nach Sri Lanka fliegen werde, um mich dort einer dreiwöchigen Ayurveda-Kur zu unterziehen. Ich hätte die Zeit zwar auch ganz gut auf der schattigen Veranda eines Strandhotels verbringen können, aber mein Hausarzt meinte, dass ich nicht nur entschleunigen, sondern auch entschlacken und entgiften sollte. Inzwischen bin ich ihm sogar für den Tipp dankbar, denn ich spüre, dass das vergangene Jahr mich übermäßig viel Kraft gekostet hat. Bleibt wohl nicht aus, wenn man auf die fünfzig zugeht.

Ich fülle den Tag im Büro mit elendig langweiligem Papierkram. Am frühen Nachmittag folge ich dem Beispiel von Frau Kretzer und nehme mir den Rest des Tages frei.

Gerade will ich die Praxis verlassen, da klingelt das Telefon.

«Psychologische Praxis Jakob Jakobi.»

«Wenn du mich fragst, dann wird Ayurveda-Urlaub total überschätzt», höre ich Abel Baumann sagen. «Das kannst du viel einfacher haben.»

«Wie denn? Ich lege mich zu Hause in die Badewanne?», rate ich.

«Du gehst jeden Tag zwei Stunden spazieren, meditierst morgens, mittags und abends und verzichtest auf Fett, Zucker und Alkohol», sagt Abel.

«Woher weißt du eigentlich, dass ich einen Ayurveda-Urlaub gebucht habe?», frage ich. «Hast du etwa meine Sekretärin ausgehorcht?»

«Nicht nötig. Ich kann deine Gedanken lesen. Schon vergessen?»

«Es ist unhöflich, Leute auszuspionieren», wende ich ein.

«Mag sein. Darauf kann ich aber in diesem Fall keine Rücksicht nehmen. Es geht immerhin um nichts Geringeres als die Zukunft der Menschheit.»

«Abel, ich habe wie gesagt nicht die geringsten Ambitionen, der neue Messias zu werden. Nebenbei weißt du ja jetzt, dass ich bald Urlaub machen werde und insofern überhaupt keine Zeit habe, die Menschheit zu retten.»

«Schon gut, schon gut», sagt Abel beschwichtigend. «Ich rufe ja nur an, weil du heute Morgen so überhastet aufgebrochen bist. Ich kann es verstehen, dass du dich überfordert fühlst. Das wollte ich dir nur sagen.»

«Danke. Nett von dir.»

«Und ich kann es auch nachvollziehen, dass du panische Angst davor hast, ein Auserwählter zu sein», fährt er fort.

«Wer sagt denn, dass ich panische Angst habe?»

«Hast du etwa nicht?», fragt er lauernd.

«Worauf willst du hinaus, Abel?»

«Auf gar nichts. Ich wollte dich nur wissen lassen, dass ich immer für dich da bin.» Er macht eine Kunstpause. «Und das, obwohl du leider nicht für mich da sein möchtest.»

«Das klingt eher so, als würdest du mir ein schlechtes Gewissen einreden wollen, weil ich dich mit deinen Problemen alleinlasse.»

«Oh. Daran habe ich ja noch gar nicht gedacht», heuchelt er. «Aber es stimmt. Bei Gelegenheit sollte ich dir mal vorwerfen, dass du deinen Gott einfach schnöde hängenlässt.»

«Ich habe hier noch eine Menge zu tun, Abel. Sind wir fertig?»

«Eine Menge zu tun? Warst du nicht gerade beim Gehen?»

«Wie gesagt, es ist unhöflich, Leute auszuspionieren.»

«Okay. Ich werde es mir merken. Versprich du mir nur, dass du noch einmal in Ruhe über meinen Vorschlag nachdenken wirst. Wenn du dann immer noch der Ansicht bist, dass der Job nichts für dich ist, rede ich nicht mehr davon. Einverstanden?»

«Also gut. Ich verspreche es. Zufrieden?»

«Ja», erwidert Abel. «Danke.»

«Gut», sage ich. «Also dann …»

«Da ist noch was», beginnt er zögerlich.

«Ich höre.»

«Kann ich vielleicht ein paar Tage bei dir wohnen?»

4

«Klar. Kein Problem», antworte ich. «Aber was ist denn passiert?»

«Ach, ärgerliche Geschichte», sagt Abel. «Nachdem ich gestern von den Toten auferstanden war …»

«Wie. Das war erst gestern?», falle ich ihm erstaunt ins Wort.

«Ja. Wann denn sonst?», erwidert Abel.

«Keine Ahnung. Ich dachte, das wäre schon etwas länger her. Hätte ja sein können, dass du nach deiner Auferstehung erst mal Urlaub gemacht hast oder so.»

Abel muss lachen. «Jakob, ich habe vier Jahre in einer Kiste gelegen. Da lege ich mich doch anschließend nicht gleich an irgendeinen Strand.»

«Auch wieder wahr», sage ich.

«Jedenfalls wollte ich dich so schnell wie möglich treffen, um dir von deiner Berufung zum Messias zu erzählen.»

«Dann sollte ich mich wohl geschmeichelt fühlen», sage ich.

«Ja. Dazu hast du allen Grund, Jakob. Die letzte Nacht habe ich in einem miesen Hotel verbracht und aufs Abendessen verzichtet. Ich wollte bei unserem heutigen Frühstück nämlich nicht aufs Geld schauen müssen …»

«Das war wirklich nett gemeint», erwidere ich. «Aber es wäre nicht nötig gewesen, Abel. Hättest du etwas gesagt, dann …» Ich stutze, denn plötzlich geht mir eine wichtige Frage durch den Kopf. «Sag mal, wieso hat ein frisch von den Toten Auferstandener eigentlich überhaupt Geld dabei?»

«Das ist eine gute Frage. Eine wirklich gute Frage, Jakob.» Es ist offensichtlich, dass Abel Zeit zu gewinnen versucht. Schließlich sagt er: «Die Wahrheit ist, ich habe den Opferstock in der Friedhofskapelle ausgeräumt.»

Ich muss mir verkneifen, laut zu lachen.

«Immerhin handelt es sich um Spenden an meine Kirche. Als Gott gehört mir das Geld also sowieso», erklärt Abel. «Nach unserem Frühstück wollte ich gleich zu meinem Bauwagen rausfahren. Da ist mein Notgroschen versteckt. Ein hübsches Sümmchen, übrigens alles ehrlich verdient.»

«Warum musst du das so betonen?», frage ich.

«Weil du sonst bestimmt denkst, ich würde dauernd krumme Dinger drehen.»

«Denke ich gar nicht.»

«Dann ist ja gut», erwidert Abel.

«Nur mal so aus Interesse. Womit hast du das Geld denn verdient?», hake ich nach.

«Hauptsächlich mit Pferdewetten und Black Jack», antwortet er.

«Oh. Das klingt wirklich nach harter, ehrlicher Arbeit», sage ich.

Abel überhört die Spitze. «Was den Bauwagen betrifft, da habe ich jedenfalls eine böse Überraschung erlebt.»

«Das Geld war weg?», rate ich.

«Schlimmer. Der ganze Bauwagen war weg», erwidert Abel. «Und mit ihm sind auch meine persönlichen Sachen verschwunden. Beim Bürgeramt haben sie mir gesagt, dass mein Nachlass von Amts wegen entsorgt worden ist. Im Klartext heißt das, die haben alles, was ich je besessen habe, einfach weggeworfen.»

«Na ja. Offiziell bist du ja auch seit vier Jahren tot», gebe ich zu bedenken.

«Na und?», begehrt Abel auf. «Es kann ja wohl nicht angehen, dass man nur mal ein paar Jahre tot ist, und schon sind alle Dinge, die einem mal lieb und teuer waren, für immer von der Bildfläche verschwunden. Das ist ja fast so, als hätte man nie existiert.»

«Hast du das denen beim Amt auch so gesagt?», frage ich amüsiert.