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Und jetzt lass uns tanzen E-Book

Karine Lambert

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Beschreibung

Beinahe wären sie einander nie begegnet: Marcel, der den Sternenhimmel liebt, und Marguerite, die nur dem Tag Schönheit abgewinnen kann. Er, für den nur die Freiheit zählt, und sie, die ausnahmslos allen Regeln folgt. Doch dann verlieren beide ihre langjährigen Ehepartner. An diesem Wendepunkt in ihrem Leben treffen Marguerite und Marcel aufeinander und stellen überrascht fest, dass sie über die gleichen Dinge lachen. Wagen sie es auch, noch einmal zu lieben?

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Zum Buch

Beinahe wären sie einander nie begegnet: Marcel, der den Sternenhimmel liebt, und Marguerite, die nur dem Tag Schönheit abgewinnen kann. Er, für den nur die Freiheit zählt, und sie, die ausnahmslos allen Regeln folgt. Doch dann verlieren beide ihre langjährigen Ehepartner. An diesem Wendepunkt in ihrem Leben treffen Marguerite und Marcel aufeinander und stellen überrascht fest, dass sie über die gleichen Dinge lachen. Wagen sie es auch, noch einmal zu lieben?

Zur Autorin

Karine Lambert ist Fotografin und Schriftstellerin und lebt in Brüssel. Für ihr erstes Buch, das in Frankreich zum Bestseller avancierte, erhielt sie 2014 den Prix Saga Café für das beste belgische Debüt. Mit ihrem zweiten Roman Und jetzt lass uns tanzen erscheint sie nun im Diana Verlag erstmals auf Deutsch.

KARINE LAMBERT

ROMAN

Aus dem Französischen

von Pauline Kurbasik

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Zitatnachweis:
[hier]: Guillaume Apollinaire: Die Brueste des Tiresias, übers. v. Peter Loeffler, Basel: Birkenhäuser 1989, S. 18.
[hier][hier]: Gustave Flaubert: Madame Bovary. Aus dem Frz. v. René Schickele u. Irene Riesen. Copyright der deutschsprachigen Übersetzung © 1979 Diogenes Verlag AG Zürich.
[hier][hier][hier]: Guy de Maupassant: Mondschein-Novellen, Stuttgart/Berlin: Deutsche Verlagsanstalt 1921, übers. v. Georg Freiherr von Ompteda, S. 10.
[hier]: Ma p’tite folie. Gesungen von: Line Renaud. Autor und Komponist: Bob Merrill. Frz. Fassung: Jacques Plante. Übers. v. Pauline Kurbasik.
Copyright © 2016 by Éditions Jean-Claude LattèsDie Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel Eh bien, dansons maintenant! bei Éditions Jean-Claude Lattès, ParisCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by Diana Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenRedaktion: Uta RupprechtUmschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München Coverillustration: © Hélène CrochemoreSatz: Leingärtner, NabburgAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-641-20606-2V002
Avec le soutien de la Fédération Wallonie-Bruxelles
www.diana-verlag.de
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Der ersten

und der letzten

Liebe …

»Die Zeit ist da: Der Stern muss leuchten.«

GUILLAUME APOLLINAIRE

1

Schließlich hatte sie sich für den mahagonifarbenen mit den vier Kupfergriffen entschieden. Das Modell 328: zweiundzwanzig Millimeter stark, mit Satin ausgeschlagen, gegen Termiten behandelt und feuchtigkeitsbeständig. »Unverwüstlich«, wie der Angestellte im Beerdigungsinstitut erklärte. Resistent gegen alles. Außer gegen die ewige Ruhe.

»Das müssen Sie entscheiden, Madame.«

Dieser Satz hallte seit drei Tagen dumpf in ihr nach. Offener oder geschlossener Sarg, das Bild schwarz-weiß oder in Farbe, Brioches oder Häppchen? Und musste auf dem schwarzen Band um den Grabkranz unbedingt Meinem geliebten Ehemann stehen?

»Das müssen Sie entscheiden, Madame.«

Sie wirkt zierlich, als sie auf das Grab starrt, in ihrem silbergrauen Kostüm – dem Anlass entsprechend – und dem dezenten, auf ihr Rouge abgestimmten Lippenstift. Würdevoll und tadellos, so konnte man Henris Liebe zu ihr beschreiben. Fünfundfünfzig Jahre und siebzehn Tage lang waren sie verheiratet gewesen. Der einzige Mann, mit dem sie je zusammen war, der einzige Mann, der sie je nackt gesehen hat. Fünfzehntausend Mal gemeinsam aufwachen, irgendwann dann zum letzten Mal. Eines Morgens im Ehebett hatte er die Augen nicht mehr aufgeschlagen. Ganz sanft entschlafen stand in der Todesanzeige. Eine ungewöhnliche Formulierung, die ihrem einzigen Sohn Frédéric nicht gefiel.

Unbegreiflich, dass er nun dort in dieser Kiste liegen soll, die die Totengräber in die Grube hinablassen und anschließend mit Erde bedecken werden. Um sie herum bekannte Gesichter: Docteur Dubois ist da, die Honoratioren aus der Umgebung und entfernte Verwandte aus der Provinz. Maria, die treue Seele, nickt ihr fast unmerklich zu. Von nun an ist Marguerite Delorme die Witwe des Notars. Frédéric steht im schwarzen Anzug neben ihr und stützt sie; er beißt sich auf die Unterlippe, um seine Gefühle zu ersticken. Die Hand ihrer Schwiegertochter Carole ruht auf Ludovics Schulter. Vorhin in der Kirche hat er ein paar Sätze über den Großvater gesagt, mit dem er zwar nie viel geredet hatte, aber dessen Leidenschaft für Tennis er teilte. Zitternd hat der kleine Junge den Text vorgelesen und sich anschließend wieder neben seine Großmutter gesetzt, die ihm über die Wange strich. Carole hat den Blick ergriffen abgewandt.

An dicken Tauen lassen die Bestatter den Sarg langsam in das klaffende Erdloch hinab. Marguerite schließt die Augen und drückt Ludovics Hand. Ihr Sohn umklammert ihren Arm noch fester als zuvor. Als die Seile wieder hochgezogen werden, hat sie das Gefühl, das Schlimmste liege hinter ihr.

Die Leute kondolieren einer nach dem anderen: Madame Sowieso verbeugt sich, Monsieur Soundso spricht ihr Trost zu – wie soll sie darauf reagieren? Höflich nimmt sie den Sturm der Beileidsbekundungen entgegen.

»Fünfundachtzig ist ein stolzes Alter.«

»Er hat ein vorbildliches Leben geführt.«

»Ich wünsche Ihnen viel Kraft.«

Fremde reichen ihr die Hand, halten sie lange schweigend fest. Wer wird der Nächste sein? Sie fragt sich, ob jemand sie aus Versehen beglückwünschen wird.

Dann folgen die kalten Häppchen und der Kaffee. Am Abend zuvor hat sie sich die Beerdigung vorgestellt, und nun ist es tatsächlich so weit. Die schlaflose Nacht und das ungewöhnlich warme Septemberwetter bringen sie durcheinander.

Sie antwortet allen: »Es geht schon.«

Als müsste sie die anderen trösten. Und weil sie auf nichts anderes mehr hoffen kann. Sie glaubt nicht an ein Wiedersehen im Jenseits. Henri und Maguy, das ist Vergangenheit. Jetzt ist nur noch Maguy übrig.

Sie wollte nicht, dass die Feier im Gemeindesaal neben der Kirche stattfindet, lieber in ihrem geräumigen Haus, wo sie von den vertrauten Möbeln und ihrem Nippes umgeben ist. Ein Anker in dem ganzen Chaos, das ihr über den Kopf wächst. Die Blicke der Anwesenden machen aus ihr eine andere Person, ihre Farben sind verblasst. Wie durch Watte hört sie gedämpfte Stimmen: »Sie muss unbedingt weinen«, »Setz dich«, »Trink doch etwas«, »Möchtest du einen Tee, ein Aspirin, ein Beruhigungsmittel?«

Sie wiederholt die einzigen Worte, zu denen sie fähig ist: »Es geht schon.«

An der Tür drückt Frédéric ihr einen Kuss auf die Stirn, wie er es immer bei seinem Vater gesehen hat. Ludovic schmiegt sich an ihren Rock und flüstert: »Ich hab dich lieb, Oma.«

Alle sind weg, der Salon kommt ihr riesig vor. Ja, es geht schon. Sie wird das Kap der Guten Hoffnung umsegeln, den Atlantik überqueren und – falls sie noch ein wenig Kraft übrig hat – den Everest erklimmen. Henri hätte wahrscheinlich gemeint, man hätte mehr von den kleinen Häppchen mit Ziegenkäse anbieten sollen.

Sie verliert das Gleichgewicht, findet am Beistelltisch Halt, die Vase mit den Nelken kippt um. Beim Anblick der Scherben, dem Wasser, das in den Teppich sickert, und der zum Welken verurteilten Blumen schießen ihr Tränen in die Augen. Er hat immer die Haustür abgeschlossen. Doppelt. »Man kann nie vorsichtig genug sein«, pflegte er zu sagen. Sie streift die Schuhe ab, zieht den Blazer ihres Witwenkostüms aus und lässt sich erschöpft auf das Samtsofa fallen. Sie vermisst Hélène. Ihre Schwester hätte sie in den Arm genommen, und alles wäre leichter gewesen. Was hätte sie von den drei Chopin-Sonaten während der Messe gehalten? »Rockmusik wäre besser gewesen, damit mal ein bisschen Leben in die Bude kommt.« Ihre liebe Hélène ist immer bei ihr.

Wie ferngesteuert schaltet sie den Fernseher an. Stets die gleichen Sendungen, in denen Menschen lachen und Gewinner Freudenschreie ausstoßen. »Erbärmlich und lächerlich«, hätte ihr Mann gesagt. Sie blickt auf den leeren Sessel, wo er immer gesessen hat. Einen Scotch in Reichweite, schaltete er von politischen Debatten zu Wirtschaftssendungen. Sie vertiefte sich in ihr Buch. Kein Blick, keine liebevollen Worte, aber auch kein Missklang. Ein Mann und eine Frau, zwei Körper und zwei Seelen. Er: steif wie eine notarielle Urkunde. Sie: ein Kerzenlicht, das flackert, aber nicht erlischt. Nun hat sie die Fernbedienung für sich allein, kommt aber mit den Tasten nicht zurecht. Über den Bildschirm flimmert eine japanische Dokumentation über Thunfischfang.

Wenn Henri aus dem Büro zurückkam, öffnete er geräuschlos die Haustür, hängte Mantel und Hut in der Diele auf und verschwand ohne ein Wort in seinem Arbeitszimmer, das er erst wieder verließ, wenn sie verkündete: »Das Abendessen ist fertig.«

Am ersten Tag ihrer Ehe hatte er die Regeln festgelegt. Marguerite, das sei zu lang, zu blumig, außerdem passe Maguy viel besser zu Henri. Nur noch ganz selten wurde sie mit ihrem Taufnamen angesprochen und nie in Anwesenheit ihres Gatten. Sie würde nicht arbeiten. Einziges Zugeständnis: eine ehrenamtliche Tätigkeit in der Stadtbibliothek, zweimal die Woche. Sie würde ausschließlich Kleider und einen Haarknoten tragen, wie damals, als er sie zum ersten Mal sah. Sie würden keine Haustiere haben. Nur ein Kind, vorzugsweise einen Jungen. Und in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, sagte er abschließend: »Ich würde es begrüßen, wenn wir uns weiterhin siezten.«

Zum Glück bekamen sie Frédéric. Nach der Geburt ihres Sohnes hatte Henri auf dem Vornamen seines Lieblingskomponisten bestanden, und als der Junge sechs Jahre alt war, schickte er ihn ins Internat Saint-Roch. Marguerite hatte geweint, sich aber damit getröstet, dass sich ihr einziges Kind in der Gesellschaft gleichaltriger Spielkameraden bestimmt viel wohler fühlen würde. Sie freute sich auf die gemeinsamen Wochenenden und plante Picknicks und Ausflüge zum Pony-Club, damit die Samstage und Sonntage unvergesslich blieben. Die restliche Zeit verfloss an Henris Seite. Jeden Morgen kaufte er Le Monde und kommentierte beim Abendessen die Bewegungen auf den Aktienmärkten. Marguerite hörte sich sein Fachchinesisch höflich an und nickte von Zeit zu Zeit. Und an jedem ersten Donnerstag im Monat polierte Maria das Tafelsilber, Henri und Maguy Delorme empfingen Gäste.

Zu Beginn ihrer Ehe nahm er Schaumbäder in einer randvollen Wanne. Er konnte eine halbe Stunde mit geschlossenen Augen daliegen, den Oberkörper nicht ganz im Wasser, dabei summte er mit angenehmer Stimme vor sich hin. Das tat er nirgendwo sonst. Sie stand ein paar Meter vor der angelehnten Tür und wartete darauf, dass er sie hereinrief. Eines Tages hatte sie all ihren Mut zusammengenommen: »Ich finde es schön, wenn Sie in der Badewanne singen.« Von da an hatte er stets abgeschlossen. Sie presste das Ohr an die Tür, weil sie ihn trotzdem hören wollte, und lauschte auf jedes noch so leise, verräterische Gluckern.

Sie waren ein kultiviertes Paar, ohne Überraschungen, ohne Streit. Er gestattete sich bloß wenige Gesichtsausdrücke: eine hochgezogene Augenbraue oder missbilligend herabgezogene Mundwinkel. Sie hatte sich ihm angepasst, sich geduldig und taktvoll gezeigt und ihr Seelenleben nicht offengelegt. In ihrem Leben hatte es nie andere Männer gegeben, und mangels mütterlicher Ratschläge, wie man seine ehelichen Verpflichtungen zu erfüllen habe, wusste sie es auch nicht besser. Die Nächte waren ebenso redlich und tadellos gewesen wie die Tage. Dennoch war sie überzeugt, dass dieser aufrechte, prüde Mann sie auf seine Weise liebte.

In Flanellbademantel und Samtpantoffeln sitzt Marguerite reglos vor dem Fernseher, wo ein japanischer Fischer einen Thunfisch auf einer Harpune schwenkt. Sie murmelt: »Ich bin achtundsiebzig Jahre alt, was soll ich jetzt bloß mit mir anfangen?«

2

Marcel Guedj kommt aus dem Kino und wirft noch einen Blick auf das Plakat des Films El Gusto. Er hat keine Lust, in die Metro hinunterzugehen, und schon gar nicht will er nach Hause. Mit den Händen in den Taschen flaniert er über die Grands Boulevards. Zum ersten Mal seit vielen Monaten war er im Kino gewesen, und diese Männer, die sich nach fünfzig Jahren Trennung wieder trafen, um Chaâbi-Musik zu machen und ihre Jugend aufleben zu lassen, haben ihn aufgewühlt. So streift er ziellos durch die Straßen von Paris und erinnert sich an den Tag im November 1954, als er sein Heimatland verließ.

Sein Vater hatte gespürt, dass der Wind sich drehte. Und nachdem die Unabhängigkeitskämpfer seinen landwirtschaftlichen Betrieb verwüstet hatten, war nichts mehr wie zuvor. Die Familie musste fliehen, ehe alles noch schlimmer wurde und sich der Himmel endgültig verdunkelte. Das Haus am Fluss und die Vorfahren in ihren Gräbern ließen sie zurück. Marcel musste von seiner Lehrerin, seinen Klassenkameraden und dem Fußballplatz Abschied nehmen. Er war gerade erst Mittelstürmer geworden und hätte eigentlich in der kommenden Woche auf dieser Position spielen sollen. Den Hund Oscar hatte man einer Nachbarin gegeben. Sie schwor, sie werde sich bis zu ihrer Rückkehr gut um ihn kümmern. An ein Wiedersehen glaubte zwar niemand, aber alle taten so.

Ein Cousin, der in Frankreich lebte, hatte ihnen einen Brief geschrieben, den der Vater stolz seinen Söhnen vorlas.

Lieber André,

wir freuen uns auf das Wiedersehen mit Dir, Deiner Frau und dem kleinen Marcel, der jetzt wahrscheinlich schon groß ist. Ich habe eine Wohnung für Euch gefunden, gar nicht weit von Deiner zukünftigen Arbeit. Ja, genau, Du hast richtig gelesen, ich habe Dir bei der Stadtverwaltung von Vincennes eine Stelle als Gärtner besorgt. So bleibst Du nah bei der Erde, die Du doch so liebst. Ihr werdet etwas zusammenrücken müssen, aber – wie Du immer sagst – irgendwann dreht sich der Wind auch wieder. Ich habe noch eine gute Nachricht: Ich habe auch eine möblierte Wohnung für Deine Freunde und ihre Tochter Nora gefunden, falls sie Euch immer noch begleiten wollen. Als ich vor zehn Jahren nach Frankreich kam und auf einem Rathausgiebel in dicken Lettern Liberté – Égalité – Fraternité las, dachte ich: Such nicht weiter, hier bist du richtig. Olga freut sich genauso sehr wie ich, Euch wiederzusehen. Ruf mich an, wenn Du in Marseille bist, und sag mir, welchen Zug Du nimmst. Du steigst am Gare de Lyon aus. Ich werde Euch dort in Empfang nehmen.

Gute Reise und liebe Grüße

Dein Cousin Maurice

Der älteste Sohn Robert, Mechaniker von Beruf, wollte mit seinen neunzehn Jahren noch an das französische Algerien glauben, er blieb, koste es, was es wolle. Marcel hatte sich geweigert, ihn zum Abschied zu umarmen, lieber war er ohne einen letzten Blick fortgegangen. Zwei Brüder in den schonungslosen Wirren der Ereignisse.

Hastig hatten sie alles gepackt, auch das Teeservice und den Dampfkochtopf. Die Matratzen blieben, denn die Möbel würden später folgen. Mitten in der Nacht schlichen sie aus dem Haus, ließen Wäsche auf dem Balkon, als wären sie noch zu Hause. Und was alles andere anging: Inschallah!

Ihre Nachbarn, die Familie Ben Soussan mit ihrer Tochter Nora, brachen ebenfalls auf. Auch sie wollten der gefährlichen Lage entkommen und sich in Sicherheit bringen. Dass Nora mitkam, war Balsam für Marcels gebeuteltes Herz. Seit jeher war er mit ihr in die Berge gegangen, wo sie Schwüre tauschten, leicht wie der Wind, und er ihr verschlungene Pfade zwischen dem Großen Wagen und dem Haar der Berenike zeigte. Eine Kindheit, wie sie glücklicher nicht hätte sein können.

Auf Gleis drei deutete nichts auf eine Massenflucht hin. Touristen stiegen aus, der Orangenhändler hatte seinen Laden nicht geschlossen, das Leben ging weiter, als hätten die Attentate Anfang des Monats nie stattgefunden. Nur einige zerstörte Häuser ließen die Zukunft erahnen. André hatte seine Entscheidung getroffen und blieb dabei. Auf der ersten Seite des L’Echo d’Alger stand: »Gehen Sie rechtzeitig.« Für Marcel war sein Vater ein Held. Er hatte grenzenloses Vertrauen in ihn und wäre ihm klaglos bis ans Ende der Welt gefolgt.

Um 18.30 Uhr in dieser Nacht des 29. Novembers 1954 hatte die Sidi Mabrouk den Hafen von Algier verlassen. Die Überfahrt nach Marseille dauerte zwölf Stunden. Man winkte mit Taschentüchern: kleine Gesten, die Leben auseinanderrissen. Die Passagiere beugten sich kummervoll über die Reling, wohl wissend, dass sie nie wieder einen Fuß auf den Boden setzen würden, auf dem ihre Familien über fünf Generationen hinweg gelebt hatten. Mit zugeschnürter Kehle und stumpfem Blick sahen sie zu, wie die Berge hinter den weißen Häuserreihen von El-Bahdja, der Strahlenden, verschwanden und das Land langsam verblasste. Die Verzweiflung, alles zurücklassen zu müssen, und die Angst vor dem Unbekannten spiegelten sich in ihren Augen. Zum ersten Mal sah der kleine Junge seinen Vater weinen. Männer werden wieder zu Kindern, wenn sie ihr Vaterland verlassen.

Marcel sah hinauf zur Milchstraße. Kein Himmel glich diesem hier. Mit zwölf Jahren glaubte er fest daran, dass die Sterne einmalig waren und er den Himmel seiner Heimat nie wiedersehen würde. Für ihn zählte in diesem Augenblick nur eins: Er hielt Noras Hand. Zwei Knirpse auf einem gigantischen Meer, unterwegs zu einem ganz und gar unbekannten Land. Man hatte ihnen gesagt: »Wir fahren nach Vincennes in der Nähe von Paris, der Hauptstadt von Frankreich. Dann gehen wir zum Eiffelturm, das ist ein Gerüst aus eisernen Streichhölzern.«

Zwischen drei Pappkoffern und zwei Jutesäcken waren Marcels Eltern irgendwann eingeschlafen. In der Ferne, auf der anderen Seite der Brücke, war ein altes Volkslied zu hören. Die Klänge eines Akkordeons, eines Banjos und eines Tamburins, so feurig wie galoppierende Rappen, dann das langsame, traurige Tremolo der Flöte, das gleich einer verlorenen Seele aus dem Nebel emporstieg und in das sich die Stimmen der Männer und Frauen mischten. Die Chaâbi-Musik ging den Menschen unter die Haut, sie stieg ihnen zu Kopf wie bei einem Volksfest. Juden, Muslime, Christen, Franzosen, Algerier, alle vereint. Marcel hatte die Augen geschlossen. Die Melodie trug ihn davon, nahm ihm die Angst, und er schwor sich, dass sein Leben in dem Städtchen Vincennes schön sein würde, weil Nora mit von der Partie war.

Er entfernte sich von den Grands Boulevards. Das Gehen tat ihm gut. Er wollte noch einmal die Totalen und Schwenks der Kamera Revue passieren lassen.

Wie eine bunt zusammengewürfelte Gruppe Einwanderer standen die Guedjs und die Ben Soussans dicht aneinandergedrängt inmitten ihrer Habseligkeiten vor dem Gare de Lyon. Schmutzig graue Mauern, so weit das Auge reichte, schmale Fassaden, welkende Geranien, die auf einem Fensterbrett vergessen worden waren, grauer Himmel, feiner Nieselregen. Das war nun also die französische Hauptstadt?

In Vincennes bezogen sie die provisorische Wohnung, die ihnen Cousin Maurice besorgt hatte. Jener erste Winter war bitterkalt, und es gab nur einen Kohleofen in der Küche. Dort wurde in einem Teekessel auch das Wasser für die allabendliche Toilette erhitzt; morgens musste man sich mit eiskaltem Wasser begnügen. Marcel war nun kein Algerier mehr, als Franzose fühlte er sich aber auch nicht. Ein betonierter Schulhof hatte die gestampfte Erde ersetzt, Kastanien die Orangenbäume und der ständige Regen die Sonne. Zum Glück war Nora auf derselben Schule wie er. Die beiden Familien trafen sich oft, aßen scharfe Fleischbällchen zum traditionellen Tee aus der Minze, die sie heimlich in einer Ecke des Parks anbauten, und spielten wohltuende Chaâbi-Musik. Die beiden Väter würden bis ans Ende ihrer Tage Musik machen. Marcel und Nora erfanden sich Hügel im Bois de Vincennes und erkundeten ihr neues Universum mit Versteckspielen in den Seitengassen des Viertels. Man ritt nicht mehr auf Eseln die Berge hinauf, man fing keine Salamander mehr in Felsspalten, man entdeckte Baguettes und Wurst aus Schweinefleisch. Man wurde zum Städter.

Kurz vor seinem fünfzehnten Geburtstag hatte er es erfahren. Die Nachricht traf ihn schlimmer als ein heftiger Sandsturm. Nora war an jenem Tag nicht in der Schule gewesen. Als er nach Hause kam, hatte sein Vater an der Tür auf ihn gewartet. Er sagte nur: »Noras Großmutter musste plötzlich ins Krankenhaus, die ganze Familie ist nach Algerien zurückgegangen, sie hatten keine andere Wahl.«

Für Marcel wurde das Leben zu einer Reihe von Abschieden und Ankünften. Ohne Nora war Vincennes nur noch kalt und grau, und Algerien fehlte ihm mehr als je zuvor. In schlaflosen Nächten quälte ihn immer dieselbe Frage: Warum hat sie sich nicht von mir verabschiedet? Die Stille fraß ihn auf. Und er, warum hatte er sie nie geküsst?

Aber wieder einmal kehrte mit dem Alltag die Normalität zurück. Unter dem Tannenbaum lag ein großes Paket mit einem Teleskop, und jeden Abend, wenn er den Sternenhimmel von Vincennes betrachtete, sagte er sich, dass sie vielleicht auch gerade die Sterne anschaute, weit von ihm entfernt.

Seine Eltern hatten ihn an der Fachoberschule angemeldet, wo er Abitur machte. Alle Klassenkameraden hatten bereits einen Beruf ausgewählt, er aber verlor sich in Träumereien und fand sich in der harschen Realität nicht zurecht. Einen Monat lang arbeitete er in einer Werkstatt, weil er sich seinem Bruder nahe fühlen wollte, aber er verabscheute den Geruch von Schmieröl. »Was machen wir bloß mit dir?«, hatte sein Vater gefragt. In den Ferien nahm er eine studentische Aushilfsstelle im Zoo von Vincennes an. Die Tiere im Exil zogen ihn augenblicklich in ihren Bann, und er bewarb sich für eine Stelle als Tierpfleger. Die Kollegen ohne Geschichte und ohne Fantasie ließen ihm Raum für ungewöhnliche Begegnungen. Bald kannte er jede einzelne Schuppe der Python im Käfig Nummer 37, an dem er jeden Morgen vorbeiging, kannte die Wasserschildkröte mit dem verbundenen Fuß und den Bengalischen Tiger mit den Schnurrhaaren, die sich wie zu einem Lächeln aufrichteten. Staunend stürzte er sich in diesen Dschungel mitten in der Stadt, wo es nach Sägemehl und Mäusekot roch, auf der Suche nach dem weißen Raben, den noch nie zuvor ein Mensch zu Gesicht bekommen hatte. In diesem kleinen Paradies fühlte er sich zu Hause.

Zwischen der leisen Eleganz der Giraffen und den schelmischen Affen verstrichen sieben Jahre. Eines Tages erhielt er eine Karte, die zwischen Postanweisungen und Werbung für den neuen riesigen Supermarkt gerutscht war, sie war in Mouzaïa in Algerien abgestempelt: Ich komme zurück. Ich vermisse Vincennes, und nicht nur Vincennes. Nora.

3

Sie waren lange nicht mehr hier, Madame Delorme. Ich hätte Rumpsteak oder schöne Kalbsschnitzel für Sie. Zwei, wie immer? In dünnen Scheiben?«

»Heute nur eins, bitte.«

»Und etwas anderes für Ihren Mann?«

Es geht ihr nicht leicht von den Lippen: verstorben, entschlafen, tot. Sie mag diese endgültigen Begriffe und die darauf folgenden betretenen Gesichter nicht. Die Trauer lastet auf ihr, und sie vermisst eine Handreichung, wie sie damit umgehen soll.

»Danke, nein, er ist verreist.«

In Maisons-Laffitte kannte jeder Notar Delorme. Der Metzger würde sehr schnell von ihrer Lüge erfahren, aber im Augenblick kann sie sich der Wirklichkeit noch nicht stellen. Sie wäre gerne unsichtbar gewesen, um ihre Verunsicherung nicht zeigen zu müssen.

Sie sucht im Portemonnaie nach dem Geld, das ihr Frédéric für alltägliche Besorgungen gegeben hat, genauso, wie Henri es immer gemacht hatte. Wenn sie eine größere Anschaffung plant, muss sie sie ihm zur Genehmigung vorlegen, weil der Sohn von nun an ihr Vermögen verwaltet. Sie solle doch bitte die Kassenzettel aufbewahren. Und wenn sie sich nun einmal einen Jasmintee mit einem Schokoladen-Éclair gönnen möchte?

»Vergessen Sie Ihr Fleisch nicht. Einen schönen Tag noch.«

»Danke, Ihnen auch.«

Der Vormund war ihr entrissen worden, fortan würde sie lernen müssen, ohne ihn auszukommen. Schritt für Schritt. Nur ein Teller auf dem Tisch, ein Löffel, eine Gabel, ein Messer, ein Glas, nur eine Serviette im silbernen Serviettenring und ganz allein im großen Esszimmer. Nach einer Woche beschloss sie, die Mahlzeiten von nun an in der Küche einzunehmen, den freitäglichen Fisch ersetzte sie durch Muschelnudeln mit Butter, die er nicht gemocht hatte. Sie stellte das Radio an, um die Stille zu übertönen, und stocherte im Essen herum. Schließlich warf sie die restlichen Nudeln in den Mülleimer, fluchte ein paarmal und wunderte sich dann über sich selbst.

Henri hatte immer schweigend und einem festen Ritual folgend die Spülmaschine eingeräumt, die dann nur für das bisschen Besteck und Geschirr angeschaltet wurde. Zuerst die Gläser, dann die beiden Teller, einer hinter den anderen, danach nur noch die Messer und Gabeln, ordentlich nebeneinander. Das Abwaschen hatte er ihr verboten, weil Spülmittel die Hände rissig machte. Sie verstand es als Liebesbeweis.

Sanft streicht sie sich über die Finger und sagt sich, sie hätte Handschuhe anziehen können. Nun ist es zu spät. Sie schaut auf das Spülbecken, als wäre das Leben dort zu Ende.

Wie viele Stunden muss sie vor dem Schlafengehen totschlagen? Er war immer gegen Fensterläden gewesen, selbst Vorhänge an der Terrassentür wollte er nicht. Die großen Bäume hinten im Garten werfen beängstigende Schatten. Vielleicht versteckt sich dort jemand? Vielleicht klopft mitten in der Nacht jemand ans Fenster? Ein Unbekannter, der das Gesicht gegen die Scheibe drückt. Als Henri noch lebte, hatte sie diese Furcht nicht gekannt, diese Erinnerung an Ängste aus Kindertagen. Eines Tages hatte sie mit Hélène Verstecken gespielt. Nach einer Viertelstunde hatte sie die Schwester immer noch nicht gefunden, und sie setzte sich tränenüberströmt auf den Boden, überzeugt davon, Hélène nun für immer verloren zu haben. Kindheitsängste bleiben ein Leben lang.

Sie war von ihrem Elternhaus direkt in das Haus ihres Mannes gezogen, ihr Leben war ohne Sorgen und stürmische Leidenschaften dahingeplätschert.

Was, wenn die Sicherung herausspringt?

Wenn sie das Marmeladenglas nicht aufmachen kann?

Wenn sie im Bad ausrutscht?

Umziehen will sie trotzdem nicht, vor allem ein Zusammenleben mit ihrem Sohn kann sie sich nicht vorstellen. Am vergangenen Wochenende hat er erzählt: »Caroles Tante lebt mit anderen Menschen gleichen Alters in einem Seniorenheim. Dort ist sie nicht so allein. Und wir machen uns weniger Sorgen.« Was werden sie wohl mit ihr machen? Wird sie eines Morgens auf die Straße gestellt, wenn der Sperrmüll abgeholt wird?

Als könnte er ihre Gedanken lesen, hat er hinzugefügt: »Aber Maman, es ist doch zu deinem Besten.«

Von da an verkriecht sie sich zu Hause. Sie sucht aus ihrer Bibliothek die ersten Romane von Françoise Sagan heraus und probiert mit jeder Seite aufs Neue, nicht mehr an den Brief von der Bank zu denken: Ab dem 1. Oktober werden Ihnen sämtliche Informationen auf elektronischem Weg zugestellt: Bitte teilen Sie uns Ihre E-Mail-Adresse mit. Sie kommt sich ganz verloren vor in dieser Welt, mit der sie nicht mehr Schritt halten kann. Vorige Woche hatte der Geldautomat ihre Karte geschluckt. Kopflos hatte sie anschließend auf dem Eingabefeld herumgetippt, ohne Erfolg. In der Schlange hinter ihr rief eine Frau: »Hey! Geht’s vielleicht ein wenig schneller, Oma?« Wen kann sie um Hilfe bitten? Madame Leonard steht nicht mehr hinter ihrem Schalter. Marguerite wüsste so gerne, wie es Floriane geht, der Enkeltochter in Ludovics Alter.