Eines Tages in der Provence - Karine Lambert - E-Book

Eines Tages in der Provence E-Book

Karine Lambert

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Beschreibung

Ein beschauliches südfranzösisches Dorf ist in Aufruhr: Der prachtvolle alte Baum auf dem Marktplatz soll gefällt werden. Wo, wenn nicht in seinem wohltuenden Schatten, wird die Barbesitzerin Suzanne Pastis servieren, wo Manu Artischocken verkaufen? Der junge Clément liebt es, in den Ästen zu klettern, und die Schwestern Adeline und Violette tröstet nichts so sehr wie der Anblick der Blätter, die sich seit ihrer Kindheit im Sommerwind wiegen. Widerstand formiert sich unter den Dorfbewohnern. Und auch der Baum, der seit Jahrzehnten das Kommen und Gehen auf dem Platz verfolgt, wird von ihren Emotionen mitgerissen. Bestsellerautorin Karine Lambert erzählt warmherzig und voller Poesie von den großen und kleinen Wahrheiten des Lebens und unserer tiefen Verbindung zur Natur.

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Zum Roman

Ein beschauliches südfranzösisches Dorf ist in Aufruhr: Der prachtvolle alte Baum auf dem Marktplatz soll gefällt werden. Wo, wenn nicht in seinem wohltuenden Schatten wird die Barbesitzerin Suzanne Pastis servieren, wo Manu Artischocken verkaufen? Der junge Clément liebt es, in den Ästen zu klettern, und die Schwestern Adeline und Violette tröstet nichts so sehr wie der Anblick der Blätter, die sich seit ihrer Kindheit im Sommerwind wiegen. Widerstand formiert sich unter den Dorfbewohnern. Und auch der Baum, der seit Jahrzehnten das Kommen und Gehen auf dem Platz verfolgt, wird von ihren Emotionen mitgerissen.

Bestsellerautorin Karine Lambert erzählt warmherzig und voller Poesie von den großen und kleinen Wahrheiten des Lebens und unserer tiefen Verbindung zur Natur.

»Ein wunderschöner Roman, der nach Lavendel und Sommerregen duftet. Dieses Buch tut gut.«       ELLE.fr

Zur Autorin

Karine Lambert ist Fotografin und Schriftstellerin und lebt in Brüssel. Ob in Bildern oder Worten, immer erzählt sie von der Freude und der Liebe, von der Verletzlichkeit und der Fähigkeit, sich neu zu erfinden. Ihre Romane erscheinen in über 25 Ländern. Auf das preisgekrönte Debüt Das Haus ohne Männer folgte der SPIEGEL-Bestseller Und jetzt lass uns tanzen. Eines Tages in der Provence ist Karine Lamberts dritter Roman.

KARINE LAMBERT

ROMAN

Aus dem Französischen

von Pauline Kurbasik

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2018 by Calman-Lévy

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel Un arbre, un jour … bei Calmann-Lévy, Paris

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Uta Rupprecht

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München, unter Verwendung von Motiven von © Accent/Imagewell/Yorrico/zzveillust/Yurchenko Yulia/Robert Adrian Hillman/lupulluss/Kamieshkova/IR Stone/Viktoriya Belova/majivecka/anglore, shutterstock

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

e-ISBN 978-3-641-23391-4V002

www.diana-verlag.de

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Für einen Prinz der Worte,

eine Fee der Berge

und ein Licht in der Nacht.

Ewig allein

Im Winterfrost wie im Sommerschein,

Begrünten Stammes und fröstelnd nackt,

Von der Stille gekost, vom Wetter gepackt,

Ewig hält er das niedere Land

Mit der Größe und Wucht seines Lebens gebannt.

ÉMILE VERHAEREN,Der Baum

Übersetzt von Stefan Zweig

1. März

Aus zweiunddreißig Metern blicke ich auf sie hinab und sehe ihrem Treiben zu. Sie wohnt gleich neben mir in Nummer 27, ich sehe und beobachte sie durch die Fenster ihrer Wohnung in der dritten Etage, weide mich an ihrem Anblick. Heute ist es windig, die Vorhänge wehen und entblößen ab und zu ihren Nacken im Sonnenlicht. Warum zieht sie sich aus? Ihr Liebhaber ist noch nicht da. Manchmal taucht er auf, manchmal wartet sie auf ihn, und er kommt nicht. Sie seufzt. Einmal, dann noch einmal. Sie heißt Fanny.

Seit heute früh weht der Wind herrlich warm. Niemand hat damit gerechnet, der März hat gerade erst begonnen, die Zikaden singen, und die Schwalben machen bereits ab und zu auf mir halt. Sie suchen sich hartnäckig meine dünnsten Zweige aus. Wie ich diese sanfte Berührung liebe, wenn sie sich niederlassen, die Liebkosung ihrer Krallen, wenn sie auf und ab wippen. Die Jahreszeit der Liebenden vergeht so rasch. Vögel, Katzen, Hunde, Zikaden, Bienen, alle sind vom nahenden Frühling im Glückstaumel, und ich spüre ganz unten in meinen Wurzeln Leidenschaft, eine köstliche Aufregung. Wie sie sehne ich mich nach dem Frühling.

Überschwang liegt in der Luft. Vor dem Spiegel streicht Fanny sich anmutig eine Strähne ihres braunen Haars hinters Ohr. Mit dem Kajalstift zieht sie eine Linie, die das Gelbe im Grün ihrer Augen betont. Sie setzt verschiedene Varianten ihres Lächelns auf, welches wird sie ihm schenken? Ich befürchte, dass ein Mann sie eines Tages entführen wird. Ihr Liebhaber ist harmlos, er kommt vorbei, bleibt nie länger als nötig und geht wieder.

Er klingelt. Sie erbebt.

Die Süße der Mimose, die Glyzinie und ihr berauschender Honigduft sind betörend. Über den Blättern meiner zerzausten Baumkrone – der Baumpfleger hat meinen Schnitt wieder einmal vermasselt – strahlen weiße Wölkchen am blauen Himmel.

Ihr Liebhaber kommt herein, streift flüchtig ihre Wange, dann zieht sie den Vorhang zu, und ich sehe nichts mehr.

Der Kirchturm schlägt Mittag. Eine Meise zwitschert. Ich spüre einen Lufthauch, dabei ist alles ruhig. Seit ein paar Monaten hat die Bar PMU, die Bar mit Lottoannahme und Sportwetten, wieder geöffnet, die Leute schlendern umher, und mein Schatten tanzt auf den ockerfarbenen Fassaden der Häuser mit den graublauen Fensterläden.

Die Haustür fällt ins Schloss, und ich sehe ihren Liebhaber in eine Gasse entschwinden. Hinter dem Fenster richtet Fanny sich vor dem Spiegel das Haar und schlüpft in ein Kleid. Mir kommt es vor, als ob sie freier atmete, wenn er wieder weg ist. Die Laken sind zerwühlt.

Der Winter hat verloren, überall treiben Knospen, es grünt. Ununterbrochen zwitschern die Spatzen, das Lachen wird heller. Der Frühling ist endlich da. Ich freue mich über diesen Sieg, obwohl mir das Treiben der Menschen weiterhin ein Rätsel ist.

Fanny kommt mit dem leichten Schritt einer Verliebten aus dem Haus. Als sie klein war, hat sie in der heißesten Zeit des Tages ihr Gummiband zwischen zwei Stühlen gespannt und allein im Schatten meines Laubdaches gespielt. Sie ist schön geworden wie eine Kornblume.

François Lebrun

Er hat es versprochen, sobald sein Kind auf der Welt ist, wird François mit dem Rauchen aufhören. Bis dahin genehmigt er sich drei Zigaretten täglich, nicht eine mehr. Wenn er den Gulli auf der Hauptstraße gereinigt und den Vorplatz der Kirche gefegt hat, raucht er die erste. Seine Arbeit führt ihn zunächst mitten auf den Platz. Unterwegs grüßt er bekannte Gesichter. Er kennt jeden Pflasterstein, jedes Gässchen seines Dorfes, und bei der Vorstellung, einmal wegzugehen, überkommt ihn die Angst. Dort, wo er geboren wurde, will er bleiben. Geburt, Leben und Sterben, alles am selben Ort.

In seinem Werkzeugkasten: ein Metermaß, ein Bleistift, ein Hammer und zwei Nägel. Um achtzehn Uhr wird François daheim sein. Er braucht seinen geregelten Tagesablauf, den Lohnzettel am Ende des Monats und die Zahlungen in die Rentenkasse wie andere ihre Freiheit. Vor dem einzigen Baum bleibt er stehen, entrollt den Aushang und hämmert ihn an den Stamm der Platane, tritt einen Schritt zurück, um sicher zu sein, dass der Zettel gerade hängt, und geht zufrieden seines Weges.

Autsch! Traktiert da etwa wieder ein Grünspecht mein Nervensystem?

Clément Pujol

Clément ist gerade nach Hause gekommen und nimmt sein Zeugnis aus der Schultasche. Natürlich hat die Lehrerin »schwätzt zu viel« geschrieben, doch er ist stolz auf seine gute Note in Französisch, seine Eltern werden sich freuen.

Sie giften sich wieder einmal in der Küche an. Sein Vater möchte ein neues Auto kaufen, seine Mutter ist dagegen, so viel Geld auszugeben, und der Ton wird schärfer. Jedes Mal bekommt Clément dann dieses flaue Gefühl im Bauch. Jedes Mal bedauert er, keine Geschwister zu haben, mit denen er seinen Kummer teilen kann. Er hält sich die Ohren zu, dann rennt er aus dem Haus und sucht die wohltuende Ruhe der Platane. Er entdeckt einen Zettel am Stamm, liest ihn, versteht nicht gleich, liest ihn erneut und bleibt einige Sekunden wie erstarrt vor dem Baum stehen. Sein Vater und seine Mutter streiten über belangloses Zeug, dabei passiert hier gerade etwas Schreckliches. Er reißt den Zettel ab, knüllt ihn zusammen, wirft ihn so weit weg wie möglich und stößt, um sich Mut zu machen, einen gellenden Schlachtruf aus wie ein Wikinger beim Angriff. Wie oft werden sich seine Eltern noch streiten, bis sie sich trennen? Heute war mindestens der hundertdreiundfünfzigste Streit. Und – das steht außer Frage – wenn sie von dem Aushang erfahren, wird er beim Abendbrot das Thema sein, und sie werden sich wegen der Platane anmaulen. Sein Vater wird sagen: Öfter mal was Neues, seine Mutter wird darauf beharren, dass alles beim Alten bleiben soll.

Adeline Bonnafay

Misstrauisch hat die alte Dame den Jungen von ihrem Fenster aus beobachtet. Es ist der Kleine mit den schwarzen Haaren aus Hausnummer 43, der zu jeder Jahreszeit Turnschuhe und seinen ausgeblichenen Rucksack trägt. Was heckt er nun wieder aus? Sie mag keine Kinder, die zu schnell groß werden und altklug daherreden. Dieser Clément hat immer Flausen im Kopf, und weil er zu häufig allein durch die Straßen streunt, vergisst er, was sich gehört. Wenn der Gemeindearbeiter eine Ankündigung am Baum befestigt hat, dann sicher aus gutem Grund.

Adeline klammert sich ans Geländer und steigt die Treppe vorsichtig hinunter, damit sie auf den ausgetretenen Stufen nicht ausrutscht. Mit winzigen Schritten trippelt sie zur Platane und bückt sich mühsam – der Boden wird auch jeden Tag unerreichbarer –, bekommt den Zettel zu fassen und richtet sich wieder auf. Soso! Was wird ihre Schwester wohl dazu sagen? Mit dreiundneunzig wirkt Violette noch unberechenbarer als mit zwanzig. Der Aushang befindet sich nun zusammengeknüllt in ihrer Tasche. Sie wird mit niemandem darüber sprechen. Schon gar nicht mit der Bäckerin, der Königin der Plaudertaschen. Oder erst dann, wenn ihr der Boden ihrer Aprikosentarte endlich einmal gelingt. Adeline ist verrückt nach Geheimnissen und hütet sie erst wie einen Schatz, um sie dann jedem zu verraten, der ihr zuhört.

François Lebrun

Als François von seiner Frühstückspause zurückkommt – er isst gern unter der Statue im Park –, geht er zum Baum. Vielleicht hat er nicht richtig hingeschaut. Nein, er hat sich nicht getäuscht, der Aushang ist verschwunden! Wenn der Bürgermeister nun hier vorbeikommt, könnte er denken, er hätte seine Arbeit nicht erledigt. »Ohne Fleiß kein Preis«, hatte ihm sein Vater wieder und wieder eingeschärft. In seiner Jugend hatte François darüber nachgedacht, sich als Klempner selbstständig zu machen wie sein Vater. Letztendlich war er dann aber in den öffentlichen Dienst eingetreten, er ist lieber Angestellter, folgt Anweisungen, führt die ihm zugeteilten Aufgaben gut aus. Dieser Vorfall bringt seinen ganzen Tagesablauf durcheinander. Umgehend eilt er zurück zum Rathaus und druckt einen neuen Aushang. So etwas muss man gleich erledigen.

Sorgfältig hängt er den Zettel auf.

ANKÜNDIGUNG FÜR DIE ANWOHNER DES PLATZES

Auf Anordnung der Gemeindeverwaltung

wird dieser Baum am 21. März gefällt.

Bitte entfernen Sie Fahrräder von der Straße

und halten Sie die Fenster geschlossen.

An diesem Tag kein Verzehr auf der Terrasse.

Ablauf des Vorgangs:

17. März: Ausästung

21. März: Fällen

30. März: Entfernung der Wurzeln.

Suzanne Fabre

Es ist zweiundzwanzig Uhr. Die letzten Gäste auf der Terrasse sind gerade gegangen. Suzanne trocknet sich an der Schürze die Hände ab und hängt sie an die Tür, dann zieht sie den Rollladen herunter und schaut in die Krone der Platane. Sie geht langsam hinüber, lehnt sich an den Stamm, zündet sich die einzige Zigarette ihres endlos langen Tages an und genießt diesen Augenblick der Ruhe. Als Wind aufkommt, glaubt sie, den riesigen Baum flüstern zu hören. Ein Blätterrascheln in der Abendbrise? Sie streift mit den Fingern über die Rinde, schließt die Augen. Wie lange hat sie Joe, ihren Mann, schon nicht mehr berührt? Ob der Baum wohl ihre Liebkosungen spürt? Ob es ihm gefällt? Sie schrammt sich die Hand auf. Da entdeckt sie die Ankündigung. Beim Lesen hat sie einen Kloß im Hals, und ihr kommen die Tränen. Sie reißt den Zettel ab, flucht und drückt die Zigarette aus. Warum nur wird ihr alles Gute weggenommen? Das letzte Mal hat sie geweint, als sie Joe ins Rehazentrum gebracht hatte.

Seltsamer Tag. Zunächst hat der Junge, der so zart ist wie ein Zweiglein im Wind, einen Schrei ausgestoßen. Die Rinde auf seinen Wangen – sie sagen Haut dazu – sah feucht aus. Und dann hat Suzanne, die neue Inhaberin der Bar, eine Sekunde lang das Gleichgewicht verloren. Jedes Mal, wenn ich besorgt bin, ziehen sich meine Wurzeln zusammen. Wie an dem Tag, als man mich – zu jung – verpflanzt hat, das ist mehrere Jahrzehnte her. Ich zähle nicht mehr.

2. März

Manu

Manu lädt in aller Ruhe die Kisten ab. Vor einem Monat hat ihn ein Gemüsebauer aus der Umgebung mit dem Verkauf seiner Artischocken auf dem Markt betraut – donnerstags und samstags ganztägig und an den anderen Tagen für ein Stündchen. Ein Glücksfall, er war nämlich gerade auf der Suche nach einer Gelegenheitsarbeit. Er baut seinen Stand unter der Platane auf. Félix hat darauf bestanden, dass er mindestens die Hälfte verkauft. Das lässt sich machen, kein Grund zur Eile. Manu wiegt einige Artischocken in der Hand, und beim Gedanken, die Blätter in Vinaigrette zu tunken, läuft ihm das Wasser im Mund zusammen. Er hat gestern Abend die Würstchen und Eier aufgegessen, die er noch im Lieferwagen hatte, doch mit ein wenig Glück spendiert ihm die Barbesitzerin für vier Artischocken das Tagesgericht.

Die ersten drei Kunden tauchen auf, immer dieselben, und Manu fragt sich, ob sie extra vor der Arbeit vorbeikommen, um eine größere Auswahl zu haben. Rechts von seinem Stand hat der Olivenölkönig seinen Stammplatz, ein Verkaufstalent vor dem Herrn. Ein altes Scheunentor auf zwei Fässern dient ihm als Tisch, und die rustikale Aufmachung scheint allen zu gefallen. Er bietet den Kunden zum Probieren Fougassestückchen an, die sie ins Öl tunken. Weiter hinten steht die Käsehändlerin, eine kräftige Frau mit rauer Stimme und kastanienbraunem Haar, das bereits grau wird. Manu kann sich gut vorstellen, wie sie ihre Schafe herumscheucht. Jules ist der Älteste. Wenn man ihm glauben darf, bietet er seine Salatköpfe schon seit Urzeiten an. Zwölftausendvierhundertfünfunddreißigmal am selben Ort, zur selben Zeit. Da wird einem ja schwindelig!

Manu ist gerade fünfundzwanzig geworden und zieht seit drei Jahren durchs Land. Er ist nicht reich, aber es fehlt ihm an nichts, solange er halbwegs über die Runden kommt und eine Matratze in seinem Lieferwagen hat. Frei wie ein Vogel, von Dorf zu Dorf, sich treiben lassen. Er wird vielleicht eine Weile in der Gegend bleiben. Er dreht sich eine Tüte, lehnt sich gegen den Baumstamm und nimmt gemächlich einen Zug.

Raphaël Costes

Raphaël steht steif vor dem Bronzeschild mit der Aufschrift »Jacques Dumoulin – zugelassener Psychologe«, streckt die Hand nach der Klingel aus und tritt dann einen Schritt zurück. Seit vier Monaten kommt er zweimal pro Woche die sechs Kilometer aus seinem Dorf zu Fuß hierher. Den ganzen Tag über beugt er sich über die Münder seiner Patienten, mit feinen Bewegungen und genauer Technik. Sein Körper braucht diese langen Spaziergänge an der frischen Luft zur Entspannung, Raphaël geht so oft wie möglich zu Fuß.

Der Termin ist um sechzehn Uhr, und Jacques Dumoulin ist stets pünktlich. Unweigerlich wiederholt sich das gleiche Szenario. Raphaël spricht von seiner ständigen Unentschlossenheit, dann unterbricht er sich und sieht aus dem Fenster, er betrachtet die Platane.

Schon als Kind gab er auf die Frage, was er später einmal werden wolle, nie die gleiche Antwort. Schon als Kind wusste er in der Patisserie um die Ecke nicht, ob er ein Éclair au chocolat oder eine Génoise aux framboises nehmen sollte. Peinliche Minuten, in denen er das Für und Wider abwog. Crème oder Obst? Für ihn ist das Leben wie diese japanischen Restaurants, wo Sushi und Sashimi auf einem Laufband vorbeiziehen: Bevor man sich entscheiden kann, sind sie wieder weg, und es tauchen schon die Yakitoris und die Teppanyakis auf, was die Unsicherheit unerträglich macht.

»Mit einundvierzig Jahren solltest du langsam mal aus deiner Studentenbude ausziehen«, erklärt ihm seine Mutter fast täglich. Schon als Kind saß er in der Schule am liebsten immer am selben Pult. Wo soll er wohnen, wenn er sich dazu durchringt, auf seine Mutter zu hören? Auf dem Dorf oder in der Stadt? Er hat am Platz ein Plakat mit der Aufschrift »Zu vermieten« gesehen. Eine größere Wohnung mit hübscher Aussicht, aber will er wirklich so nah bei seinem Psychologen wohnen und riskieren, ihm beim Bäcker und in Shorts über den Weg zu laufen?

»Erst gestern wieder …«

»Erst gestern wieder, ja?«, unterbricht ihn Dumoulin.

»Erst gestern wieder habe ich gedacht, dass die Platane etwas ist, auf das ich mich verlassen kann.«

»Verlassen … In jeder Sitzung kommen wir auf den Baum zu sprechen.«

Zum ersten Mal fragt sich Raphaël, was er hier eigentlich will. Sechzig Euro, ohne im Mindesten voranzukommen, immer geht es um den Baum!

François Lebrun

François bleibt vor Staunen der Mund offen stehen. In seiner gesamten Laufbahn, seit seinem ersten Arbeitstag mit siebzehn Jahren, ist ihm so etwas noch nicht untergekommen. Dort, wo die Ankündigung war, hängt nun an einem der Nägel ein beiger Umschlag, der an einen françois lebrun adressiert ist. Ohne das große F und L kommt er sich gleich einige Zentimeter kleiner vor. Verstohlen blickt er nach rechts, nach links, dann nimmt er den Brief vom Baum und öffnet ihn. Auf einem dünnen, unordentlich zurechtgeschnittenen Stück Packpapier steht nur ein handgeschriebener Satz: Bäume fällen bringt Unglück!

Eine Drohung! Die Ankündigung wurde nicht nur zweimal abgerissen, sondern auch noch durch eine anonyme Nachricht ersetzt. Das war also kein Zufall. François unterdrückt das Zittern, das seine Beine befällt, und steckt dann heimlich, still und leise den Umschlag in die Tasche seiner Latzhose. Wer will ihm was? Gewiss beobachtet ihn jemand aus einem der Fenster, selbst die Platane scheint über ihn zu spotten. Ihm ist, als würde man mit dem Finger auf ihn zeigen, fast als wäre er schuldig, dabei hat er nur Anweisungen befolgt. Regelmäßige Arbeitszeiten geben ihm Halt. Wenn er jetzt auch noch ständig überprüfen muss, dass er nicht hinter seinem Rücken sabotiert wird, ist sein Tag erst um einundzwanzig Uhr zu Ende. Die Energie, die er dafür aufwenden müsste, wäre François egal, aber Überstunden sind ihm ein Gräuel. Seine stets tadellose Arbeit könnte ihm eine Medaille einbringen. Eine Auszeichnung als bester Arbeiter der Region wäre eine große Ehre. Das lässt er sich nicht von einer gemeinen Platane vermiesen.

Er will nur noch nach Hause, endlich seine Ruhe haben, seiner Frau einen Kuss auf den Hals geben und sich mit dem Lokalblatt auf dem Sofa ausstrecken. Und ausnahmsweise – muss er eben doch mal Überstunden machen – wird er heute Nacht wiederkommen und das Todesurteil mit mindestens acht Nägeln befestigen. François Lebrun ist kein Mann, der sich unterkriegen lässt.

Adeline Bonnafay

Violette macht wunderbare Entenstreifen und geröstete Feigen mit Honig und Rosmarin. Adeline bleibt beim Kochen in der Küche, auf dem Hocker neben dem Kühlschrank, aber nicht, weil ihre Schwester Hilfe nötig hätte, sondern weil sie ihre Anwesenheit schätzt. Violette, mit Männerhaarschnitt, kocht in altmodischer Herrenkleidung – ausgestellte Hose und Hemd mit gestärktem Kragen, Krawatte und Weste. Und einmal im Monat kürzt die Friseurin ihren Schnitt um einen Zentimeter. Die Kinder, allen voran Clément, dieser Lausebengel, nennen die Schwestern hinter ihrem Rücken kichernd Monsieur und Madame Bonnafay.

Mit einundneunzig und dreiundneunzig Jahren haben Adeline und Violette vergessen, dass sie einmal Träume hatten. Unerwartete Dinge bringen sie durcheinander, deswegen wiederholen sie immer dieselben Handgriffe und zanken sich mit viel Talent und Erfahrung. Sie verstehen es vortrefflich, aus einer Mücke einen Elefanten zu machen, aus einer Kleinigkeit einen Schlagabtausch.

Ein halbes Jahrhundert haben sie Seite an Seite in der Schneiderei Les ciseaux d’or, die goldene Schere, verbracht, haben Stoffe zugeschnitten, genäht, Löcher geflickt und Garne und Stoffe für eine nicht abreißende Kundschaft aus den Nachbardörfern ausgewählt. Weil ihre Hände zu sehr zitterten und ihre Augen schlechter wurden, mussten sie eines Abends den Tatsachen ins Auge blicken; sie nähten den Anzug für den Schwiegersohn der Apothekerin fertig und räumten die Nadeln weg. Bis zum letzten Scherenschnitt haben sie ihren Beruf geliebt und die Arbeit genossen. Von jenem Augenblick an spielte das Fernsehen die Hauptrolle in ihrem Leben.

Die Feigen sind inzwischen geviertelt und mit Honig bestrichen.

»Die Platane auf dem Dorfplatz soll gefällt werden«, sagt Adeline.

»Ja, ich habe fünfzehn Männer mit einer riesigen Axt gesehen. Ein Kamerateam hat sie gefilmt.«

Manchmal hat sie genug von den Fantasiegebilden ihrer Schwester. Was wird sie noch alles erfinden? Ein Filmteam! Violette denkt sich ständig Geschichten aus. Natürlich hat sie das Brautkleid für die Hochzeit der Königin der Niederlande geschneidert, natürlich hat Coco Chanel sie angefleht, nach Paris zu kommen, natürlich kocht sie ganz hervorragende Kaulquappenschwänze in Madeirasoße. Man kann nicht behaupten, dass es im Alter besser wird.

Während Violette Rosmarinblätter abzupft, betrachtet Adeline die Platane durchs Fenster.

»Der Baum wird sterben, wenn wir nichts tun.«

Violette geht zu ihr, nach einer theatralischen Pause deklamiert sie: »Mir ist das egal, ich steh schon mit einem Fuß im Grab.«

»Dieser Baum begleitet uns seit unserer Geburt und hat uns immer die Treue gehalten. Er verdient unsere Dankbarkeit.«

Der Duft gerösteter Kartoffeln erfüllt die Küche.

»Ich denke, das wird ein Gedicht.«

»Was?«, fragt Adeline völlig entnervt.

»Meine Ente.«

Heute ist mein Glückstag. Manu, der junge Händler mit dem glatten, ausgemergelten Gesicht, den großen Händen und einer Art Zopf, der oben am Kopf von einem dicken Haarband zusammengehalten wird, raucht lieber, als Artischocken zu verkaufen. Hmmm! Welch köstlich herber und süßer Duft! Das Harz pulsiert in meinen Adern, meine Blätter tanzen wild, meine Wurzeln entspannen sich. Die Rauchringe nehmen mich mit auf die Reise, ein Trip zu den Wolken und zurück.

Fanny Vidal

Die junge Frau sitzt auf dem Badewannenrand und reißt das Etikett ihres neuen fliederfarbenen BHs mit den Zähnen ab. Eines Tages wird sie sich noch einen ausbrechen. Warum nimmt sie sich nie die Zeit, eine Schere zu suchen? Hoffentlich gefällt er Aurélien. Als sie ihn im Zug von Paris nach Avignon kennengelernt hat, dachte sie, es würde bei einer flüchtigen Begegnung bleiben. Sie spricht fast nie Fremde im Zug an, doch er las einen Roman von Mondiano, den sie kurz zuvor ausgelesen hatte. Gerade, als er sein Buch wegpacken wollte, nahm sie allen Mut zusammen und sagte: »Ich mag den Anfang wirklich gern«, und er gab völlig überraschend zurück: »Meinen Sie unser Kennenlernen?« Groß, brünett, mit Adlernase und nach Limette und Pampelmuse duftend. Er bat sie, die Augen zu schließen und anhand seiner Beschreibung des Kirchturms die Stadt zu erraten, durch die sie fuhren. Und dann herauszufinden, dass sie gerade einen Fluss überquerten, weil er von Forellenfischerei sprach. Zuletzt musste sie mithilfe seiner pseudo-metaphorischen Hinweise seinen Beruf erraten. Er war ein Meister des Vergänglichen, schuf die Kulissen für Luftschlösser, befestigte Kronleuchter von zehntausend Watt und machte aus Plunder Träume. Sie sagte: Raumausstatter, er entgegnete: Szenograf, da verriet sie ihren Beruf, Foodstylistin. Bereits vor Lyon hätte sie ihn am liebsten geküsst.