Und über uns das Blau des Himmels - Verena Rabe - E-Book
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Und über uns das Blau des Himmels E-Book

Verena Rabe

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Beschreibung

Zwischen Schicksal, Verrat und Hoffnung: Der bewegende Roman »Und über uns das Blau des Himmels« von Erfolgsautorin Verena Rabe als eBook bei dotbooks. Berlin, 1942. In den Sommern ihrer Jugend waren sie unzertrennlich, doch heute bewegen sie sich in verschiedenen Welten: Die bodenständige Marlis hilft im Laden ihrer Familie aus, während die schöne Johanna am Theater tanzt und begeistert. Doch eines Tages steht sie völlig verzweifelt vor Marlis’ Tür: Ein hochrangiger SS-Offizier erpresst Johanna, damit sie seine Geliebte wird. Tags darauf ist sie wie vom Erdboden verschwunden und hinterlässt Marlis eine Aufgabe, die ihr alles abverlangt. Auf der Suche nach Johanna muss Marlis gegen ihre eigenen Zweifel und bitteren Verrat ankämpfen – und verliert doch nie die Hoffnung, ihre Freundin retten zu können. Ein Roman, so berührend wie eine zarte Melodie, so aufwühlend wie eine tosende Sinfonie. Jetzt als eBook kaufen und genießen: »Und über uns das Blau des Himmels« von Erfolgsautorin Verena Rabe erzählt in der Tradition des Welterfolgs »Aimée und Jaguar« zwei große Frauenschicksale. Ein Roman über die Schrecken des Dritten Reichs, die auch heute noch in Schweigen gehüllt werden. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 506

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Über dieses Buch:

Berlin, 1942. In den Sommern ihrer Jugend waren sie unzertrennlich, doch heute bewegen sie sich in verschiedenen Welten: Die bodenständige Marlis hilft im Laden ihrer Familie aus, während die schöne Johanna am Theater tanzt und begeistert. Doch eines Tages steht sie völlig verzweifelt vor Marlis’ Tür: Ein hochrangiger SS-Offizier erpresst Johanna, damit sie seine Geliebte wird. Tags darauf ist sie wie vom Erdboden verschwunden und hinterlässt Marlis eine Aufgabe, die ihr alles abverlangt. Auf der Suche nach Johanna muss Marlis gegen ihre eigenen Zweifel und bitteren Verrat ankämpfen – und verliert doch nie die Hoffnung, ihre Freundin retten zu können.

Ein Roman, so berührend wie eine zarte Melodie, so aufwühlend wie eine tosende Sinfonie: Unter dem blauen Himmel des lettischen Badeortes Jurmala schließen zwei Mädchen eine Freundschaft, die in die Ewigkeit überdauert – und kämpfen als junge Frauen im Berlin der 40er Jahre gemeinsam für ihre Freiheit.

Über die Autorin:

Verena Rabe, geboren und aufgewachsen in Hamburg, liebt es zu reisen. Besonders europäische Küsten haben es der Seglerin angetan. Für ihre Geschichten unternimmt sie lange Recherchereisen und lässt die Orte, die sie beschreibt, intensiv auf sich wirken. Sie hat Geschichte studiert und als Journalistin gearbeitet, bevor sie Schriftstellerin wurde. Bisher hat sie acht Romane veröffentlicht. Verena Rabe lebt mit ihrem Mann in Hamburg, hat zwei erwachsene Kinder und verbringt viel Zeit in Berlin, ihrer zweiten Heimat.

Bei dotbooks veröffentlichte Verena Rabe ihre Romane »Merles Suche«, »Die Melodie eines Sommers«, »Elisas Versprechen«, »Das Glück in weißen Nächten«, »Charlottes Rückkehr« und »Thereses Geheimnis«. Die letzten beiden Romane sind auch im Doppelband erhältlich.

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Originalausgabe Februar 2019

Copyright © der Originalausgabe 2019 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Sabine Zürn

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock/AmyMeiPhotography, Malysheva Liudmyla, ilolab, pavila und Everett Historical

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96148-815-5

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Verena Rabe

Und über uns das Blau des Himmels

Roman

dotbooks.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Nachwort

Lesetipps

Prolog

Jurmala, 8. August 1944

Wenn man Glück greifen könnte, hätte ich jetzt beide Hände voll, dachte Johanna noch im Schlaf. Sie würde gleich die Augen öffnen und in den schönen, neuen, frühen Morgen starten, und sie würde noch das Gold und Silber in ihren Händen spüren, die mit Blumen geschmückten Ringe an ihren Fingern und Armreife um die Handgelenke, mit denen sie klimpern könnte, um allen zu zeigen, dass sie nicht länger vom Glück träumte, sondern dass es ihr wirklich begegnet war. Sie schlug die Augen auf und blinzelte in die Sonne, die durch das Fenster ihres kleinen Schlafzimmers direkt auf ihr Bett schien. Marlis lag neben ihr, das Gesicht abgewandt, und atmete gleichmäßig. Johanna wusste, dass sie ihre Freundin nicht aufwecken konnte, es sei denn, sie würde sich direkt an ihr Bett stellen und sie laut ansprechen, am besten mit »Feuer« oder »Fred braucht dich«. Aber es war erst sechs Uhr, und sie wollte niemanden wecken. Fred schlief sicher auch noch ruhig in seinem Gitterbett im kleinen Wohnzimmer. Es hatte Rollen, und so konnten sie es aus dem Schlafzimmer schieben, wenn er eingeschlafen war und sie allein sein wollten. Es war ein langer Abend gewesen. Sie hatten am Wasser gesessen und ein kleines Feuer gemacht, auf dem sie Fische grillten, die sie auf dem Markt in Maori gekauft hatten. Die im Feuer gerösteten Kartoffeln hatten sie mit Joghurt, sauren Gurken und Zwiebeln gegessen, so wie sie es beide gern mochten. Das Essen war zu viel und auch zu schwer gewesen, und so hatten sie die Flasche Wodka, die ihnen Mina bei ihrer Rückkehr nach Lettland geschenkt hatte und die sie auf dem Regal im Wohnzimmer aufbewahrten, geholt und einige Gläser getrunken, zwischendurch Fred ins Bett gebracht, der schon auf Marlis’ Knien eingeschlafen war. Sie hatten der Sonne zugesehen, wie sie sich bemühte, unterzugehen. Um Mitternacht war es dann endlich soweit gewesen, und sie war in einem Meer aus Rot am Horizont verschwunden. Sie löschten das Feuer mit Sand und nahmen alle Sachen mit in ihre Hütte. Dann waren auch sie ins Bett gegangen, eng aneinandergekuschelt, und hatten sich dann ganz sanft und ruhig geliebt, Herz an Herz, Hand in Hand. Es war wunderschön gewesen, und danach waren sie erschöpft, aber sehr glücklich eingeschlafen. Das Glück hatte Johanna durch die ganze Nacht getragen. Sie hatte auf seiner sanften Welle geschlafen, und jetzt fühlte sie sich erfrischt und immer noch glücklich. Sie stand leise auf und ging in die Wohnstube, um nach Fred zu sehen. Als sie sich über das Gitterbett beugte, in dem schon Mina gelegen hatte, überschwemmte sie eine neue Welle des Glücks. Dort schlief friedlich ihr Sohn, sein kleiner Körper, dem bisher nichts Böses widerfahren war, zeichnete sich unter der dünnen, kobaltblauen Baumwolldecke ab, er lag auf der Seite, genau wie Marlis. Seine dunklen Haare waren verwuschelt. Wir müssen sie mal wieder schneiden, dachte Johanna, oder besser, Marlis muss ihm mal wieder die Haare schneiden. Sie selbst würde es nicht können. Bei solchen Arbeiten würden ihre Hände allzu sehr zittern, und es wäre möglich, dass sie ihrem Sohn ins Ohr schnitt. Das Zittern war in ihrem ganzen Körper gewesen, als sie damals aus Berlin abfuhren. Marlis hatte im Zug ihre Hand gehalten, die ganze Strecke bis Riga, während sie sich mit Fred beschäftigte, der aber die meiste Zeit ruhig neben ihnen in seiner kleinen Tragetasche geschlafen hatte. Das Zittern hatte eigentlich erst nachgelassen und sich dann fast vollständig aus ihrem Körper zurückgezogen, nachdem sie in Jurmala tagelang den Strand hinauf- und hinuntergelaufen und von Marlis und Mina mit guten Lebensmitteln, wie die beiden es nannten, gefüttert worden war. Sauerrahm direkt aus der Molkerei, Kartoffeln vom kleinen Markt um die Ecke, auf dem die Bauern ihre Waren anboten. Rote-Bete-Suppe, die nur Mina so gut zubereiten konnte. Süße Hefeteigteilchen mit Zimt oder Beeren. Malzbrot, das Marlis gelernt hatte zu backen. Kefir mit Früchten, den Fred so liebte. Zu ihren langen Spaziergängen, bei denen sie Marlis oft begleitet hatte, wenn Mina sich um den kleinen Fred kümmerte, nahmen sie Schokolade mit, die sie aus Riga mitbrachten, wenn sie sich mal wieder in der Präfektur hatten melden müssen. Und sie tranken ihre geliebte Quittenlimonade aus Flaschen, die Marlis schon vor vielen Jahren an genau diesem Strand in ihrem Rucksack transportiert hatte.

Heute wird es sicher zu heiß für einen langen Spaziergang, dachte Johanna, als sie vor die Tür der Holzhütte trat. Vor ihr erstreckte sich ein Kiefernwäldchen. Sie hatte Feuer im Holzherd angefacht und sich einen Becher mit Tee aufgebrüht. Feuer machen konnte sie mittlerweile sehr schnell und mühelos. Marlis hatte es ihr als eines der ersten Dinge beigebracht, die sie in Lettland können musste.

Die Mücken würden sie heute sicher wieder sehr plagen, wenn sie die Tür zu ihrer Hütte und die Fenster nicht rechtzeitig verschlössen. Am besten wäre es sicher, Gazevorhänge vor die Fenster zu kleben, die die Mücken abhalten konnten, aber darum würden sie sich später kümmern. Jetzt wollte sie weiter dem Gefühl nachspüren, im Traum das Glück in den Händen gehalten zu haben. Vielleicht war das Glück auch eine Elfe in einem Kleid aus Blumen, roten Hortensien, Bauernrosen und Kornblumen, das sie mit Stolz trug. Vielleicht hatte das Glück einen geflochtenen Kranz aus Margeriten auf dem Haar. Vielleicht tanzte die Elfe gerade durch den Wald hinter dem Haus und sang. Vielleicht kann ich sie hören, wenn ich ganz still bin, dachte Johanna, setzte sich mit ihrem Becher Tee auf die blaue Bank vor dem Haus und lauschte in die Stille. Aber sie hörte nichts außer einigen Möwen, die sich jetzt, am frühen Morgen, noch am Strand vergnügen konnten, bevor die Krähen kamen und sie vertrieben. Laime, das hieß Glück auf Lettisch. Langsam kamen die lettischen Begriffe wieder, die sie in ihrer Zeit im Lager vergessen hatte. Laime, das passte in dieses wunderbare grüne Land. Laime. Ja, das ist es, was ich gestern Nacht erlebt habe, das reine Glück, das sich golden anfühlt und nach Blumen duftet.

Johanna nahm ihren dunkelgrünen Badeanzug, der neben dem Haus auf der Leine hing und prüfte, ob er trocken war. Sie wusste, dass sie nicht mehr würde schlafen können. Aber sie würde auch nicht darauf warten wollen, dass Marlis oder Fred aufwachten. Sie beschloss, an diesem schönen Morgen schwimmen zu gehen. Sie ging in die Küche, zog das weiße Baumwollnachthemd mit den Rüschen am Kragen und an den Ärmeln aus und legte es über den Stuhl. Dabei fiel ihr Blick auf den Kalender an der Wand. Heute war der 8. August 1944. Es würde ein wunderbarer Tag werden. Wenn sie zurückkam, würde sie Hefebrötchen backen, und dann würden sie die Himbeermarmelade, die sie in der vergangenen Woche eingekocht hatten, mit Sauerrahm essen und den Kaffee trinken, den Mina aus einer unbekannten Quelle bezog. Danach würden sie mit Fred in den Wald gehen und Blaubeeren und Pilze suchen.

Johanna band sich die Haare mit ihrem blauen Haarband zu einem Knoten. Sie zog ihren Badeanzug an und schlüpfte in die hellen Leinenschuhe, die noch von gestern Abend unter dem Tisch standen. Dann schlich sie ins Badezimmer und nahm ein weißes Handtuch vom Ständer. Sie sah ein letztes Mal auf die Uhr. Es war jetzt halb sieben. Sie würde nicht lange zum Strand brauchen. Sie war sich sicher, dass sie in dem kleinen Wäldchen niemandem begegnen würde. So früh war an diesem sowieso verlassenen Strandabschnitt selten jemand unterwegs.

Johanna hörte das Knacken der Wurzeln und Kiefernnadeln unter ihren Füßen. Sie sah in die Baumwipfel, in dieses wunderbar tiefe Grün, und sie bemerkte, dass einige Stämme in der Morgensonne rötlich leuchteten. Nein, sie würde hier niemals mehr weggehen, sie würde hierbleiben. Ganz egal, wer über das kleine Land herrschte. Es wäre ihr egal, denn kein Herrscher würde ihr die Natur wegnehmen können und den Frieden, den sie darin erleben konnte.

Außer den Möwen und Krähen, die sich um die Vorherrschaft an diesem Strand für diesen Tag stritten, sah Johanna niemanden. Sie lief eine kleine Düne hinunter bis zum Wasser, schlüpfte aus ihren Schuhen und legte ihr Handtuch ordentlich darüber. Sie zögerte kurz, weil das Wasser doch sehr kalt war, stand mit den Füßen im Wasser und wartete, bis das Prickeln aufhörte. Dann watete sie mit Storchenschritten auf die lange Sandbank hinaus. Ihre Beine wurden nass und fühlten sich kühl an. Zuerst war das unangenehm, doch dann genoss sie die Kälte auf ihrer Haut. Das Wasser ging ihr mittlerweile bis zum Bauchnabel, sie tauchte hinein und unter, öffnete ihren Mund. Heute war es gar nicht besonders salzhaltig. Dann stieß sie sich auf dem Sandboden ab und schwamm los. Die Ostsee war absolut glatt, kein Lüftchen kräuselte das Wasser. Sie schwamm gleichmäßig und ruhig hinaus, immer weiter, der Sonne entgegen. Ab und zu drehte sie sich auf den Rücken und sah zum Ufer zurück, um ein wenig zu verschnaufen. Aber so blieb sie nie lange. Sie spürte so viel Kraft in ihrem Körper. Sie wollte noch nicht umdrehen, sondern immer weiterschwimmen.

Kapitel 1

Jurmala, Sommer 1932

Es ist immer wieder das Gleiche, dachte Marlis. Ich wandere allein über den Strand. Jürgen und Michael hatten den Eltern zwar versprochen, bei ihr zu bleiben, aber waren kurz darauf abgehauen. Und nicht zum ersten Mal bedauerte Marlis, dass sie ein Mädchen war und nicht so schnell laufen konnte wie ihre Brüder.

Mama ahnt sicher nicht, dass Michael und Jürgen nicht auf mich achten, dachte Marlis. Aber eigentlich war das auch gut, denn sonst hätte ihre Mutter ihr wahrscheinlich verboten, stundenlang allein am Strand unterwegs zu sein.

»Du bist erst 11, da kannst du noch nicht auf dich aufpassen, außerdem bist du ein Mädchen«, hätte sie gesagt, und Vati hätte dazu genickt. Mädchen sein, pah, was sollte das eigentlich bedeuten, dachte Marlis. So wie die anderen Mädchen auf dem Schulhof der Höheren Mädchenschule Prenzlauer Berg Springseil und Gummitwist hüpfen und sich nach jedem Hüpfer die Zöpfe richten? Das fand sie furchtbar langweilig, und Zöpfe trug sie auch nicht, sondern ihren geliebten Pagenkopf, den sie unter Heulen und Zähneklappern bei ihrer Mutter durchgesetzt hatte.

»Du siehst damit so jungenhaft aus«, hatte Mama versucht zu protestieren, aber kein Glück damit gehabt. Ja, sie sah vielleicht so aus wie ein Junge, aber das wollte sie doch auch. Marlis wünschte sich nichts sehnlicher, als in der Schule keine Röcke tragen zu müssen, aber da gab es leider überhaupt keine Ausnahmen. Sie musste sich an die Schulordnung halten, und die war streng. Die Röcke mussten bis über die Knie reichen und die Blusen immer sauber und weißgestärkt sein. Was für einen Aufwand das bedeutete, konnte Marlis sich nur ungefähr vorstellen. Es interessierte sie auch nicht, sie bekam nur immer Mamas und Omas Gestöhne mit, wenn Waschtag war.

Marlis entdeckte Jürgen und Michael als kleine Punkte am Horizont. Irgendwann werden sie doch auf mich warten, das wusste sie. Die Zwillinge waren zwar erst 14, aber nicht vollkommen verantwortungslos. Nur, wenn sie die beiden dann endlich eingeholt hätte, würden die Jungs auch schon weitergehen, ohne ihr auch nur eine Minute zu geben, um Atem zu schöpfen. In der Schule war sie das schnellste Mädchen, noch schneller als die doofe Gertrud, die schon mal zu ihr gesagt hatte, dass sie nicht normal sei, weil ihre Nase lief, ihre Strümpfe meistens rutschten, sie keine Zöpfe trug und ihre Knie immer wieder aufgeschürft waren, weil sie manchmal nachmittags mit den Jungen auf dem Hof Fußball spielen durfte. Sie hatte Gertrud einmal die Zunge rausgestreckt, als sie an ihr vorbeilief. Der Tadel von Fräulein Franke war die Sache wert gewesen.

Marlis sah sich um. Sie liebte diesen Strand hier in der Rigaer Bucht, es war der schönste Strand, den sie kannte, und sie war sich sicher, dass es überhaupt keinen schöneren Strand irgendwo auf der Welt gab. Sie hörte ihre Brüder förmlich lachen, du kennst doch überhaupt keinen anderen Strand, sagten sie. Ja, vielleicht stimmte das, sie kannte nur noch den Strand bei Warnemünde. Dort waren sie mal mit der Bahn von Berlin aus hingefahren. Und den hatte sie nicht so gern gemocht wie diesen. Aber wie sollte sie auch anders denken. Seit sie sich erinnern konnte, fuhren sie im Sommer nach Jurmala, und es waren für sie die schönsten Wochen im Jahr. Sie hatte keine Schule, die sie nicht besonders mochte, sie musste nicht so lange stillsitzen oder nachmittags im Lebensmittelladen ihrer Mutter helfen. Und sie war nicht in der riesigen Großstadt Berlin.

»Hier kann den Kindern doch nichts passieren, außer dass ihnen eine Möwe auf den Kopf scheißt«, sagte ihr Vater lachend. »Ersaufen tun sie nicht, die schwimmen doch alle drei wie die Fische, und die Bucht kennen sie ganz genau.« Dabei streichelte er ihrer Mutter beruhigend über den Rücken. Marlis liebte es, wie sanft dann Mamas Augen blickten. Während der drei Sommerwochen im lettischen Jurmala waren Mama und Vati entspannter als in Berlin. Sie waren auch schon vor der Geburt der Zwillinge hier gewesen, erzählten sie manchmal mit einem Grinsen, und dann küsste Vati Mama, und das musste schon etwas Besonderes bedeuten, denn das taten sie sonst eigentlich nie vor den Kindern.

Marlis platschte durch das Wasser. Sie war hungrig und freute sich schon auf das Abendessen: Matjesheringe mit Sauerrahm und Kartoffeln. Ihre Brote, die sie sich beim Frühstück für den Ausflug geschmiert hatte, waren längst aufgegessen.

Jetzt sah sie, dass ihre Brüder stehen blieben, ihre Handtücher in den Sand warfen und ins Meer liefen. Wie sie es satthatte, immer als Letzte anzukommen, wenn sie mit den beiden unterwegs war. Bisher hatte sie kein Mädchen am Strand kennengelernt, das sie interessierte. Sie fand die meisten langweilig. Sie waren einfach zu sehr diese durchschnittlichen Mädchen, die sich nie was trauten. Ihre Brüder schien das nicht zu stören. Sie taxierten sie mit Blicken, und auch die Mädchen in den mit Rüschen besetzten Badeanzügen schienen sich seit Neuestem für Jürgen und Michael zu interessieren. Widerlich, dachte Marlis, wie konnte sich überhaupt jemand für diese schlaksigen, dürren Jungen interessieren? Alles an ihnen wirkte unbeholfen, spitz und kantig. Und besonders eigenartig wurde es, wenn Michael und Jürgen den Mund aufmachten. Manchmal waren ihre Stimmen dunkel und männlich, und dann gicksten sie plötzlich wieder und waren kaum zu verstehen. Und erst ihre Pickel. Aber all das schien die Mädchen am Strand dieses Jahr nicht zu stören. Marlis hatte Jürgen und Michael mal darüber reden hören, dass man verliebt sein konnte. Was auch immer das war, das musste aufregend sein, wenn die Jungen rote Ohren bekamen, sobald sie davon sprachen.

Marlis setzte sich an den Strand. Ihre Brüder waren sehr weit rausgeschwommen, das machte ihr Sorgen. Die Strömungen in der Bucht waren nicht zu unterschätzen. Vati hatte den Jungen das nicht umsonst verboten. Und wenn er das rausbekommen sollte, wäre es sicher vorbei mit dem freien Leben am Strand von Jurmala, und sie würden immer in der Nähe ihrer Eltern und von Tante Margarethe bleiben müssen. Mamas Schwester hatte keine Kinder, und manchmal hörte Marlis ihre Eltern darüber sprechen, wie bedauerlich das war. Aber Marlis hatte nicht den Eindruck, dass Tante Margarethe so unglücklich darüber war. Sie verbrachte meist den ganzen Sommer in Jurmala in ihrem weißen Holzhaus, das an einer ruhigen Straße in Maori lag, nur fünf Minuten vom Strand entfernt. Am Wochenende kam Onkel Anton aus Riga, wo er normalerweise seinen »Jeschäften nachjing«, wie Ida, die Köchin, immer sagte, die aus Königsberg stammte und als junges Mädchen zu den von Stettens nach Riga geschickt worden war. Marlis wusste, dass sie das gut fand, weil sie ihr das mal beim Kartoffelschälen erzählt hatte.

»Weißt du, die anderen aus dem Dorf sind jetzt als Mägde auf den Gütern und müssen ganz schön viel ertragen. Da bin ich doch froh, hier bei euch in der Küche zu sein.« Marlis wusste nicht genau, was Ida mit dem Ertragen meinte, aber traute sich nicht, nachzufragen. Genauso hatte sie jahrelang auch geglaubt, dass ihr Onkel Anton tatsächlich seinen Geschäften nachging, die aus irgendwelchen Gründen nicht an einem festen Ort waren, sondern auf Wagen von Pferden durch die Gegend gezogen wurden. Jetzt wusste sie natürlich, dass Onkel Anton Kaufmann war und mit vielen verschiedenen Dingen handelte.

Margarethe habe großes Glück gehabt, dass Herr von Stetten sie damals in Berlin ausgewählt hatte, fand Mama, obwohl sie nicht adelig war, und wenn sie böse auf Vati war, weil er sich wieder nur um seine Schüler kümmerte und keine Zeit hatte, ihr und Großmutter im Lebensmittelladen zu helfen, sagte sie das mit einem tiefen Seufzer.

Marlis schirmte die Augen gegen die Helligkeit der Sonne mit der Hand ab. Sie entdeckte ihre Brüder, die Richtung Ufer schwammen. Also konnte sie sich entspannen und legte sich zurück in den Sand, ließ die warmen Sandkörner durch ihre Finger rieseln und schloss die Augen. Wie sie diese Stille hier liebte. Hier war nur das Rauschen der Birken und Kiefern hinten im Wald zu hören, das Geschrei der Möwen, das Krächzen der Krähen und das leise Plätschern des Meeres.

Plötzlich hörte Marlis eine Mädchenstimme auf Lettisch ein Lied singen, das sie kannte. Ida sang dieses Lied manchmal in der Küche bei der Arbeit. Marlis verstand den Text nicht, aber das war ihr egal. Die Stimme des Mädchens tropfte in ihr Gehirn – so süß wie Honig, den sie auf ihr Butterbrot träufelte. Ihr Kopf fühlte sich plötzlich leicht an, und ihre Kopfhaut prickelte. Woher kam diese Stimme, wem gehörte sie? Marlis setzte sich auf und sah ein Mädchen mit langen braunen Haaren über den Strand tanzen. Sie trug ein weißes, knöchellanges Kleid, das beinahe wie ein Nachthemd aussah. Sie hob ihre Arme und drehte sich mit wehenden Haaren im Kreis. Sie macht wohl Ballettschritte und Sprünge, dachte Marlis. Sie hatte das mal auf dem Schulhof bei den Mädchen gesehen, mit denen sie eigentlich nie sprach. Da hatte sie die Schritte albern und affig gefunden, aber hier am Strand war das nicht so. Das Mädchen schien über den Strand zu schweben, sie sprang hoch und kam lautlos wieder auf. Ihre Haare schimmerten in der Sonne. Wie können Haare nur so glänzen, dachte Marlis. Das Mädchen tanzte weiter barfuß über den Strand und sang. Die Sonne ließ ihr weißes Kleid noch heller erscheinen. Sie sieht aus wie eine Fee, dachte Marlis und hoffte, dass sie nicht wieder so schnell verschwand, wie sie erschienen war, und dass ihre Brüder noch lange im Wasser planschten, was sie eigentlich immer taten, wenn die Ostsee so spiegelglatt war wie heute.

Jetzt kam das Mädchen näher und blieb vor ihr stehen. Mein Herz schlägt ja plötzlich schneller, ich bin doch gar nicht gerannt, dachte Marlis verwundert.

»Hallo«, sagte das fremde Mädchen auf Deutsch.

Gott sei Dank, dachte Marlis. Sie konnte zwar einige Brocken Russisch, die sie aufgeschnappt hatte, aber Lettisch so gut wie gar nicht.

»Schön, dass du da bist. Ich wusste, dass heute jemand Nettes zu mir an den Strand vor unserem Haus kommt«, sagte das Mädchen.

Eigenartig, dachte Marlis. Wer sagt so was? Aber trotzdem gefiel es Marlis auch. Sag noch was, dachte sie. Ich mag deine Stimme. Sie streichelt mich innen in den Ohren. Marlis stand auf, weil sie es nicht mochte, wenn jemand auf sie hinuntersah, und das Mädchen machte keine Anstalten, sich zu ihr in den Sand zu setzen. Sie reichte ihr bis zur Nase und war viel schmaler als sie selbst. Neben ihr wirke ich wie ein Junge, dachte Marlis, und das gefiel ihr. Aber gleichzeitig fiel ihr ein, dass sie ihre Haare zum letzten Mal am Abend vorher gekämmt hatte und ihr Pagenkopf sicher ziemlich unordentlich aussah. Das geheimnisvolle Mädchen musterte sie.

»Weißt du eigentlich, dass deine Augen manchmal grün und manchmal blau sind«, sagte sie nach einer Weile.

Und deine sind so braun, wie ich es noch nie vorher gesehen habe, dachte Marlis. Sie merkte, wie ihr heiß wurde. Sicher wurde sie auch rot. Das passierte ihr manchmal in der Schule, wenn alle sie anstarrten.

»Sagst du auch mal irgendetwas, oder kannst du mich nicht verstehen?«, fragte das Mädchen mit den langen braunen Haaren jetzt.

»Nein, ich kann dich verstehen«, stammelte Marlis. »Ich heiße Marlis.« Das Mädchen rollte das R. Das hörte sich drollig und sehr süß an.

»Johanna«, sagte das Mädchen und streckte ihr die Hand entgegen. Sie war klein und zart. Marlis ergriff sie vorsichtig, weil sie Angst hatte, sie sonst zu zerdrücken. Sie wurde durch einen ziemlich festen Händedruck von Johanna überrascht. Es tat sogar ein bisschen weh.

»Das hätte ich jetzt nicht gedacht«, rutschte es Marlis heraus.

»Was?«, fragte Johanna und sah sie spöttisch an. »Dachtest du, ich wäre schwach, weil ich kleiner bin als du?«

»Ehrlich gesagt, ja«, meinte Marlis.

»Da hast du dich wohl geirrt. Ich bin zwölf, und du?«, sagte Johanna grinsend.

»Ich elf, aber nicht mehr lange«, sagte Marlis. Mehr brachte sie nicht heraus.

Jürgen und Michael tauchten plötzlich neben ihnen auf. Marlis hatte sie ganz vergessen und wünschte sich augenblicklich, dass sich der Boden auftun und sie verschlucken würde. Sie wollte allein mit Johanna am Strand bleiben und sie ganz für sich haben. Aber ihre Brüder verschwanden nicht einfach, so sehr sie sich das auch wünschte, sondern bauten sich vor Johanna auf. Sie streckten ihre Brust raus und standen ganz gerade. Ihr seht immer noch aus wie kleine, dumme Jungen, dachte Marlis, in euren verschlissenen, karierten Badehosen und wie ihr eure Badetücher nervös zerknüllt. Außerdem zitterten sie vor Kälte und ihre Lippen waren blau. Wie Mädchen, dachte Marlis abfällig. Leider schien Johanna das gar nicht so zu stören. Interessiert sah sie von einem Jungen zum anderen.

»Habt ihr Hunger? Wollt ihr Kuchen und Limonade, oder vielleicht doch lieber Tee?«, fragte Johanna mit einem schnellen Seitenblick auf Jürgens Unterarme, die mit Gänsehaut bedeckt waren.

»Wir müssen uns erst mal umziehen. Wir haben unsere trockenen Sachen da hinten hingelegt«, sagte Jürgen und wies auf einen unordentlichen Kleiderhaufen im Sand.

Jetzt erst bemerkte Marlis, dass ihr Kleid und ihre Unterwäsche nicht in ihr Handtuch eingewickelt waren. Sie hatte sie vergessen. Was sollte sie tun? Es wäre ja so peinlich, wenn die drei anderen angezogen im Garten säßen und sie in ihrem Badeanzug, den sie jetzt überhaupt nicht mehr schön fand. Er war blau-weiß gestreift und auch schon verschlissen.

»Macht nichts, wenn du kein Kleid mithast. Ich kann dir eins von mir leihen«, sagte Johanna, als ob sie ihre Gedanken lesen könnte. Langsam wurde sie ihr unheimlich.

»Für Marlis ist es kein Problem, wenn sie im Badeanzug bleibt, nicht, Mausi?«, sagte Jürgen und bemühte sich, seine Stimme besonders tief klingen zu lassen.

Marlis funkelte ihn böse an. Warum nannte er sie vor Johanna so? Sie mochte es überhaupt nicht, wenn er sie Mausi nannte. Das durften nur Mama und Vati. Und außerdem war es sehr wohl ein Problem, wenn sie als Einzige im Badeanzug blieb.

»Also abgemacht«, sagte Johanna. »Ihr zieht euch um, und dann gehen wir in unseren Garten.« Sie wandte sich an Marlis.

»Und ich hole dir von mir ein Kleid. Das wird dir bestimmt passen.«

Marlis nickte. Die Vorstellung, gleich ein Kleid zu tragen, das Johanna gehörte, machte sie plötzlich froh.

Jürgen und Michael zogen ab, ohne auch nur kurz zu protestieren. Marlis pfiff anerkennend durch die Zähne. Sie hätte ihre Brüder nie so herumkommandieren dürfen.

»Oh, das möchte ich auch lernen«, sagte Johanna. »Zeigst du mir, wie man pfeift?«

Marlis nickte. Sie fühlte sich immer noch unsicher in der Nähe dieses Mädchens, das vollkommen anders war als alle Mädchen, die sie bisher kennengelernt hatte. Sie sah aus wie eine Fee, war aber sehr selbstbewusst.

Die Jungs mussten sich in rasendem Tempo angezogen haben, so schnell waren sie wieder da.

»Kommt«, sagte Johanna und ging in Richtung Kieferböschung, die überall an diesem Abschnitt der Küste an den Strand anschloss. Sie gelangten durch ein Tor in einen Garten. Auf einem Rasenstück stand eine Gruppe von gusseisernen Stühlen um einen Tisch mit verschnörkelten Beinen herum. In einem großen Beet wuchsen Rosen in allen nur vorstellbaren Farben. Sie dufteten intensiv süßlich. Marlis hatte noch nie so einen Garten gesehen. In Berlin sah sie aus den Wohnzimmerfenstern auf die Kastanienallee und aus ihrem Schlafzimmerfenster in den Innenhof. Auch Tante Margarethes und Onkel Antons Garten in Jurmala war klein im Gegensatz zu diesem hier. Ida zog dort Kräuter und hatte an der Hauswand ein paar Blumen angepflanzt, wo der Wind von der Ostsee sie nicht zerrupfen konnte.

Dieses Haus war aus Holz, wie die meisten hier in der Gegend, aber nicht wie üblich weiß oder rostrot angestrichen, sondern gelb. Wie viele Leute wohnen hier wohl?, fragte sich Marlis. Es sah ziemlich groß aus.

»Im Sommer sind meine Mutter und ich fast immer allein hier, und natürlich Mina, die sich um uns kümmert«, sagte Johanna in diesem Moment. Sie kann wirklich meine Gedanken lesen, dachte Marlis schon fast gar nicht mehr erstaunt. Wenn dieses eigenartige Mädchen, das mit ihrem Blick irgendetwas machte, dass sich ihr Magen flatterig anfühlte, jetzt einen Zauberstab hervorgeholt hätte und dann ein Kleid auf sie zugeschwebt wäre, hätte das Marlis auch nicht besonders überrascht.

Sie folgte ihr und den Jungs, die natürlich wieder schneller waren, auf die hintere Veranda und von dort in das Haus.

»Wartet hier«, sagte Johanna und huschte fast lautlos die Eichentreppe in den ersten Stock hoch. Sie kam mit einem Kleid herunter, das ebenso weiß war wie das, was sie trug.

»Du kannst es ja über deinem Badeanzug anziehen«, sagte sie. Marlis tat es und war froh, dass es ihr nicht zu eng war. Johanna reichte es bestimmt zu den Waden, ihr knapp über die Knie. Gegenüber hing ein Spiegel an der Wand in der Diele. Marlis warf einen Blick hinein. Johanna stellte sich neben sie und hakte sie ein.

»Jetzt sehen wir aus wie Schwestern«, sagte sie.

In der großen, hellen Küche war eine runde Frau im schwarzen Hauskleid mit weißer Schürze dabei, einen Berg Kartoffeln zu schälen, der sich auf der hölzernen Arbeitsplatte vor ihr auftürmte.

»Da biste ja, Marielchen«, sagte Mina. »Und wen hast du uns denn da mitgebracht?«

Jürgen und Michael machten einen formvollendeten Diener und stellten sich vor, wie Marlis das noch nie bei ihnen erlebt hatte. Das ist doch ein bisschen übertrieben, dachte sie. Aber auch sie machte einen Knicks und nannte ihren Namen. Mina hatte etwas Respekteinflößendes an sich.

»Das sind meine neuen Freunde«, sagte Johanna stolz. Das freute Marlis. Sie hatte eigentlich keine Freundin in Jurmala und in Berlin auch nicht viele.

»Kannst du uns Kuchen und Limonade geben? Ich glaube, sie haben Hunger.«

»Kindchen, wie heißt es?«, sagte Mina in strengem Ton.

»Oh, Entschuldigung, bitte, natürlich«, antwortete Johanna schnell. Mina redet mit ihr wie mit einer Tochter, dachte Marlis. Aber was wusste sie schon davon, wie man mit Hausangestellten umging. In Berlin hatten sie niemanden, nur einmal in der Woche kam Else und half Mama und Oma bei der Wäsche. Ansonsten machten sie alles allein. Dass es normal war, in gewissen Kreisen Dienstboten zu haben, hatte sie erst von Tante Margarethe gelernt und sofort gewusst, dass sie wohl nie zu diesen gewissen Kreisen gehören würden. Vati regte sich immer mal wieder darüber auf, dass Margarethe eine Köchin und eine Magd für sich arbeiten ließ.

»Sie ist doch gesund, sie kann doch auch kochen und den Haushalt führen«, schnaubte er dann. Aber Mama wusste ihn schnell wieder zu beruhigen.

»Mein Lieber, stell dir mal vor, sie hätte keine Hilfe, dann müsste ich auch in den Ferien in der Küche stehen und ihr sicher die ganze Zeit helfen. Und wir hätten keine Zeit für uns«, sagte sie und lächelte verschmitzt.

»Das wäre wirklich sehr schade«, sagte Vati und seine Stimme wurde plötzlich genauso samtig wie der rote Stoff des Holzsessels mit der hohen Lehne und den Holzschnitzereien, der bei Tante Margarethe im Kaminzimmer stand.

»Ich mach euch gleich was, muss nur die Kartoffeln zu Ende schälen. Deine Mama bekommt heute Abend Gäste, und da habe ich noch viel zu tun. Aber setzt euch schon mal in den Garten. Ich bring euch dann alles. Es ist noch Kuchen da von der Teegesellschaft von vor zwei Tagen.«

»Danke, Mina«, sagte Johanna, fasste Marlis an der Hand und zog sie wieder auf die Veranda hinaus. Die Jungs trabten hinter ihnen her. Ihre kleine Hand in meiner fühlt sich so gut an, dachte Marlis.

Sie setzten sich auf die Korbstühle auf der Veranda.

»Wo sind deine Eltern denn?«, fragte Michael, und Marlis schämte sich dafür, dass ihr Bruder immer so neugierig sein musste.

»Meine Mama ruht sich aus, und mein Vater ist in Riga. Er kommt nur am Wochenende, wenn er nicht andere Verpflichtungen hat. Er ist Professor für Nationalökonomie an der Herder Universität«, sagte Johanna stolz. »Er hat immer fürchterlich viel zu tun. Und meine Mama ist Schauspielerin und Sängerin.«

»Wohnst du immer in Jurmala?«, fragte Jürgen.

»Nein, nur im Sommer. Ich gehe in Riga zur Schule. Glücklicherweise haben wir im Sommer ganz lange Ferien. Wisst ihr, im Winter wird es hier ziemlich früh dunkel, und es kann ganz schön ungemütlich sein.«

»Selbstverständlich«, sagte Michael, als ob er schon mal im Winter in Lettland gewesen wäre. Aber Tante Margarethe hatte ihnen das schon oft erzählt, wenn sie im Winter nach Berlin kam, um der Dunkelheit zu entgehen. Sie wohnte dann natürlich nicht bei ihnen in der Wohnung, die fand sie irgendwie gemütlich und so überschaubar, sondern im Savoy, und lud sie immer einmal zu Kakao und Kuchen in die Hotelhalle ein.

»Woher kommt ihr eigentlich?«, fragte Johanna.

»Aus Berlin«, sagte Marlis und hoffte, das Mädchen damit beeindrucken zu können.

»Ja, da war ich auch schon öfter, meine Mutter ist da geboren und in Grunewald aufgewachsen, bevor sie meinen Vater kennenlernte.«

Ich sollte wohl nicht sagen, wo wir in Berlin wohnen, dachte Marlis. Prenzlauer Berg war im Gegensatz zu Grunewald absolut nicht die Erste Adresse in Berlin.

»Unser Vater ist Lehrer an einer Jungenschule in Prenzlauer Berg«, sagte Michael jetzt. »Er unterrichtet Mathematik und Physik. Und meine Oma und Mutter betreiben einen Lebensmittelladen, der läuft richtig gut.«

Gott sei Dank kam jetzt Mina mit einem Krug Limonade und dem Kuchen auf die Veranda. Was war ein Lebensmittelladen schon gegen eine Mutter, die Schauspielerin war?

»No, das sieht ja bei euch gemütlich aus. Ich habe auch Sahne geschlagen. Ihr braucht was auf die Rippen, Jungchens«, sagte sie.

»Danke, Mina«, sagte Johanna.

»Dann werde ich mich ja jetzt mal sputen. Deine Mutter wacht bald auf, und du weißt ja, wie unjemeetlich sie werden kann, wenn dann nicht alles zur Genüge vorbereitet ist.«

Der Apfelkuchen war der beste Apfelkuchen, den Marlis bisher gegessen hatte, und die Limonade schmeckte nach Quitte und Zitrone. Später, an den langen dunklen Winterabenden in Berlin, in denen Marlis’ Vater immer öfter mit gramzerfurchter Stirn in sein kleines Arbeitszimmer verschwand, weil das für ihn Unfassbare eingetreten war, dass Adolf Hitler Reichskanzler geworden war und die Nationalsozialisten die Macht in Deutschland übernommen hatten, dachte sie oft an den Geschmack dieser Zitronen- und Quittenlimonade und die sonnenhellen Tage in Jurmala. Nach ihrer ersten Begegnung hatte sie jeden Tag mit Johanna verbracht, sie waren durch die Wälder gestreift, hatten sich gegenseitig all ihre Lieblingsplätze gezeigt und waren am Strand entlanggegangen. Wenn es regnete, hatten sie oft in Johannas Zimmer gesessen, und sie hatte Marlis ein Buch vorgelesen. In diesem dunklen Winter in Berlin, in dem alle viel unglücklicher waren als im Sommer in Lettland, träumte Marlis sich oft an den Strand von Jurmala zurück und stellte sich sehnsüchtig vor, Johanna endlich wiederzusehen.

***

Sommer 1936, Jurmala

Wie jedes Jahr ging Marlis als Erstes am Strand entlang zu Johannas Haus. Ihr Herz raste nach kurzer Zeit. Sie ärgerte sich, dass sie so untrainiert war. Sie hatte im Frühjahr nicht genug Zeit gehabt, ihre Runden auf dem Sportplatz zu drehen. Die Prüfungen hatten ihr keine Luft gelassen. Und sie spielte schon lange nicht mehr Fußball im Innenhof. Sie nahm sich vor, in Jurmala jeden Tag am Strand entlangzulaufen. Aber selbst als sie zu Johannas Haus gelangte und einem Moment wartete, bevor sie die Gartentür aufstieß, verschwand das Herzklopfen nicht. Marlis hatte sich nicht angekündigt. Seit Wochen stellte sie sich vor, was für ein überraschtes Gesicht Johanna machen würde. Und sie hatte sich auf die strahlenden Augen ihrer Freundin gefreut. In Jurmala wurden die Türen im Sommer nicht abgeschlossen. Mina war zu dieser Tageszeit auf dem Markt, so konnte Marlis sich unbemerkt hineinschleichen. Sie musterte sich im Spiegel in der Halle. Sie war so stolz auf ihre weiße Marlene-Dietrich-Hose mit den weiten Beinen und den dazu passenden blau-weißen Pullover aus feiner Baumwolle, den Oma ihr gestrickt hatte. Die weiße Segeltuchhose hatte sie ihr auch genäht und dabei augenzwinkernd gesagt, dass sie damit in Jurmala sicher viele Jungen beeindrucken würde. Ja, das möchte ich, hatte Marlis gedacht, aber so sehr sie sich bemühte, das auch gut zu finden, es war ihr nicht gelungen. Jetzt wartete sie mit wild schlagendem Herzen auf der Veranda, strich vorsichtig den Sand von ihren Segeltuchschuhen, fuhr sich durchs Haar und hoffte, dass ihre Frisur jedenfalls heute nicht schon wieder zerzaust war. »Du siehst sehr besonders aus«, hatte Johanna zu ihr gesagt. »Ganz anders als die Mädchen bei mir in der Schule.« Bei ihr in Berlin war es genauso. Und sie wollte anders sein als die anderen Mädchen. Gerade heute. Auch wenn ihr das in der Schule keine Freundinnen einbrachte. Sie hatte sich bisher standhaft dagegen gewehrt, beim Bund Deutscher Mädel mitzumachen, obwohl es in ihrer Klasse immer mehr wurden, und ihre Deutschlehrerin jedes Mal, wenn wieder ein Mädchen eingetreten war, voller Stolz einen Haken hinter dem Namen auf der Liste machte, die neben der Tafel an der Wand hing, damit sie alle immer sehen konnten. Vati und Mama hatten Marlis gesagt, dass sie nicht mitmachen musste. Sie lieferten ihr sogar die nötigen Ausreden. Sie müsste nach der Schule im Laden helfen und hätte auch abends oft noch was zu tun. Und am Sonntagvormittag gingen sie in die nahegelegene evangelische Zionskirche in den Gottesdienst. Das war in ihrer Familie Pflicht, und ihre Eltern ließen sich das auch nicht durch die Nationalsozialisten nehmen. Marlis war froh, jetzt aber erst einmal in Jurmala zu sein. Hier gab es keinen Drill, wie er unter den Schülerinnen immer beliebter wurde, hier gab es nicht so viele Uniformen. Hier gab es kein Stillsitzen in der Schule und Schuften im Laden. Und hier gab es vor allem Johanna.

Marlis schlich leise durch die Diele und versuchte, nicht die Bodenbretter zu treffen, die knarrten, als sie die Treppe hochging. Das war so schön an diesem Haus. Einerlei, was draußen passierte, wie sehr sich die Welt in Deutschland veränderte, hier blieb alles beim Alten. Gerade hatte die Welt die Olympischen Spiele in Berlin gefeiert. Deutschland war eigentlich noch nicht aus diesem Taumel erwacht. Marlis hatte nicht viel von dem ganzen Trubel mitbekommen. Die Karten für die Veranstaltungen im Stadion waren für sie zu teuer gewesen. Sie war nur einige Male Unter den Linden entlanggegangen, hatte sich an der festlichen Stimmung erfreut und war gleichzeitig durch das Meer von rot-weißen Hakenkreuzfahnen und der Begeisterung, die alle jetzt für das Deutsche Reich empfanden, verunsichert gewesen. Ihre Eltern waren ganz und gar nicht damit einverstanden, was geschah, und sie war es natürlich auch nicht. Viele Juden, die sie kannten, hatten ihre Arbeit verloren, einige kommunistische Freunde aus der Gegend waren verhaftet und in Arbeitslager gebracht worden. Sie waren zwar alle zurückgekommen und sprachen nicht über ihre Zeit im Lager, aber Marlis merkte an ihren erloschenen Blicken, wenn sie sich unbeobachtet fühlten, dass mit ihnen etwas nicht in Ordnung war. Wie konnte es sein, dass viele Leute die Rassengesetze, die im Herbst 1935 in Kraft getreten waren, zu begrüßen schienen? Man durfte nicht mehr lieben, wen man wollte? Das wurde einem vom Gesetz vorgeschrieben? Auch wenn Marlis noch nie jemanden geliebt hatte, ahnte sie, dass man Liebe nicht steuern oder mit dem Kopf bestimmen konnte, wen man liebte.

Sie schlich die Treppe mit dem wunderschönen roten Läufer hinauf und hoffte, dass Johanna nicht auch weggegangen war. Sie hörte jemanden leise lachen. Sie ist zu Hause, dachte Marlis, und ihre Aufregung wurde stärker. Gleich sehen wir uns wieder. Wie lange habe ich auf diesen Moment gewartet. Und sie wird umfallen, weil ich in den Sachen so gut aussehe. Die weiß gestrichene Tür zu Johannas Zimmer war geschlossen. Marlis musste sich beherrschen, um sie nicht aufzureißen. Sie wusste, dass Johanna es nicht mochte, aber anklopfen wollte sie auch nicht. Sie öffnete die Tür. Johanna drehte sich zu ihr um und sah sie erstaunt an.

»Hallo, Marlis«, sagte sie, kam aber nicht wie sonst auf sie zu, um sie in die Arme zu nehmen.

»Hallo, Marlis«, sagte jetzt auch eine andere Stimme. Jürgen schob sich in ihr Blickfeld. Was machte er hier? Sie verstand nicht. Warum war ihr Bruder hier? Jetzt kam Johanna auf sie zu, aber Marlis wich einen Schritt zurück. Warum waren ihre Haare zerzaust? Hatte Jürgen das gemacht? Was war los? Johanna war doch ihre Freundin, nur ihre.

Jürgen räusperte sich.

»Ich bin nur schnell mit dem Rad vorbeigekommen und habe ihr das Buch gebracht, das sie sich von mir gewünscht hatte«, sagte er verlegen. Jetzt erkannte Marlis das schmale Buch mit dem Ledereinband auf dem Bett. Es waren Rilke-Gedichte, die ihre Mutter so liebte. Hatte er etwa ihre Ausgabe aus Berlin mitgenommen?

»Die Ausgabe hat mir Jürgen in Berlin gekauft, ist das nicht großartig, ich hatte meine verloren«, sagte Johanna. Warum hörst du nicht endlich auf, meine Gedanken zu lesen, dachte Marlis.

»Sie hatte doch im Juni Geburtstag, und da wollte ich ihr etwas schenken. Und das Buch bekommt man leichter in Berlin als in Riga«, erklärte Jürgen.

»Ich habe mich riesig gefreut. Du weißt doch, wie sehr ich Rilke mag«, sagte Johanna.

Ja, das wusste Marlis. Voriges Jahr hatte Johanna den ganzen Sommer damit verbracht, einige auswendig zu lernen und sie auch ihr beizubringen.

Du musst das Leben nicht verstehen,dann wird es werden wie ein Fest.Und lass dir jeden Tag geschehenso wie ein Kind im Weitergehenvon jedem Wehensich viele Blüten schenken lässt.

Warum mussten ihr diese Zeilen ausgerechnet jetzt einfallen? Johanna hatte die Gedichte so oft aufgesagt, dass sie die meisten jetzt selbst auswendig konnte. Hatte ihre Freundin etwa auch mit Jürgen über Rilke gesprochen? Voriges Jahr hatte sie doch kaum Zeit mit ihm verbracht. Er hatte nur Augen für Ilga gehabt, die auf dem Markt Blumen verkaufte. Aber jetzt stand er mit roten Ohren neben Johanna und schien Ilga vollkommen vergessen zu haben.

»Ich wollte auch gerade gehen«, sagte Jürgen. »Tschüss, Johanna, wir sehen uns sicher bald.«

»Ja, Jürgen«, flötete Johanna mit einem neuen, sanften Ton in der Stimme, den Marlis noch gar nicht kannte.

»Wollen wir runtergehen? Ich habe Durst«, fragte sie Marlis. Es ist ihr plötzlich unangenehm, mit mir in diesem Zimmer allein zu sein, dachte Marlis. Sie nickte. Aber sie wollte eigentlich gar nicht weg, es war so schön hier. Es gab so viel zu sehen. Am meisten faszinierte Marlis die Sammlung der bunten Glasfiguren von Swarovski: Vögel, Schmetterlinge, Blumen. Sie waren sicher ein Vermögen wert. Aber Johannas Eltern erfüllten ihr jeden Wunsch, bis auf den, viel für sie da zu sein. Das dachte Marlis jedenfalls manchmal bei sich, aber sie hütete sich, so etwas anzusprechen. Johanna wäre sehr traurig geworden und hätte sehr wahrscheinlich geweint. Und das wollte Marlis auf jeden Fall vermeiden. Denn wenn ihre Freundin weinte, wurde sie selbst auch unendlich traurig, und das tat sehr weh.

Die Glasfiguren standen auf einer zierlichen weißen Kommode neben dem Frisierspiegel, und Marlis hätte sie gern berührt, genauso wie die Bürste, mit der sich Johanna jeden Abend hundertmal die Haare kämmte.

»Sonst glänzen sie nicht, und es ist doch schön, wenn sie glänzen«, hatte sie einmal gesagt, als Marlis sie damit aufzog. Und es stimmte ja. Marlis fand es schön, wenn Johannas Haare in der Sonne glänzten.

In einem weißen Holzregal neben ihrem Bett standen ihre Bücher. Wenn sie nicht gerade unterwegs war, las Johanna immer. Zuerst hatte Marlis das befremdlich gefunden, weil sie selbst wenig Lust hatte, einen Roman zu lesen, wenn sie nicht unbedingt musste. Es gab doch immer so viel Spannenderes zu tun, als sich in die Welt von fiktiven Figuren zu vertiefen. Aber dann hatte Johanna angefangen, ihr auf den Spaziergängen am Strand von den Geschichten zu erzählen und ihre liebsten Gedichte aufzusagen, die sie scheinbar mühelos lernte. Und jetzt las auch Marlis manchmal im Winter einen Roman, den ihr Johanna empfohlen hatte, besonders dann, wenn die Sehnsucht nach der Freundin so stark wurde, dass es wehtat.

Johanna liebte nicht nur Rilke-Gedichte, sie las die Romane von Alfred Döblin und Jane Austen, aber auch Werke von Schriftstellern, die jetzt im Deutschen Reich verboten waren. Heinrich Heine, Else Lasker-Schüler, Franz Kafka.

Marlis konnte sich noch sehr gut an den Tag erinnern, als sie die Bücher hatte brennen sehen.

Ihre Freundin Juliane hatte sie aufgeregt nach der Schule in ihrem Laden besucht, wo sie, wie fast jeden Nachmittag, mithalf.

»Marlis, sie wollen Bücher verbrennen, die Studenten, ganze Berge, kannst du dir das vorstellen?«

Nein, das konnte sie nicht, sie glaubte es ihrer Freundin auch nicht. Und so beschlossen sie, sich am frühen Abend davonzustehlen und sich das Spektakel anzusehen. Marlis wusste, dass sie am nächsten Tag sicher viel Ärger bekommen würde, wenn sie jetzt einfach verschwand, aber sie musste es tun. Von der Idee, dass Menschen einen Scheiterhaufen aus Büchern errichten konnten, war sie gleichzeitig abgestoßen und angezogen. Sie stellte sich vor, wie hell so ein Feuer lodern müsste, dass das sicher fantastisch aussehen würde. Sie liebte es selbst, Feuer zu machen, durfte es aber eigentlich fast nie. Das ist nichts für Mädchen, sagten Michael und Jürgen, wenn sie von ihnen dabei erwischt wurde, wie sie mit Papier und ein wenig Holz im Innenhof zündelte, und in der Regel nahmen sie ihr dann auch die Streichhölzer weg, und sie musste erst einmal abwarten, bis sie im Laden neue mitgehen lassen konnte. Es war nicht weit bis zur Oranienburger Straße. Juliane hatte herausgefunden, dass dort Lastwagen mit unzähligen Büchern auf die Studenten warteten. Marlis wollte gar nicht wissen, woher sie diese Informationen immer hatte.

Es war genau so, wie Juliane vorhergesagt hatte. Unzählige Studenten und Professoren in ihren Talaren gingen hinter den Lastwagen her, die sich in Richtung Opernplatz in Bewegung setzten. Viele trugen Fackeln, eine Blaskapelle spielte. Die Stimmung war wie bei einem Volksfest. Absolut gruselig, dachte Marlis. Viele grölten und brüllten sich in Stimmung. Waren es die Studenten, die brüllten und sich begeisterten, oder die vielen Uniformierten? Marlis wusste schon, welche das waren, SS und SA. Obwohl Hitler erst seit vier Monaten Reichskanzler war, hatte Marlis das Gefühl, dass sie überall auf diese Uniformierten stieß, und das machte ihr Angst. Aber das Brüllen, die Fackeln, die vielen Menschen, die einen Zug bildeten, und die Tatsache, dass sie als junge Mädchen mit Sicherheit nicht hier sein sollten, regte Marlis auch auf. Endlich passierte etwas. Das war etwas anderes als ihr langweiliger Alltag, der nur durch die wunderbaren Ferien in Jurmala unterbrochen wurde.

Marlis und Juliane versuchten, dem Zug zu folgen, aber es wurde immer schwieriger, weil immer mehr Menschen die Straßen säumten. Dennoch schafften sie es, bis zum Opernplatz vorzudringen. Und da beobachteten sie, wie der Scheiterhaufen aus Büchern gebaut und immer größer wurde.

Dann begann die Zeremonie. Marlis konnte sich natürlich nicht an alle Feuersprüche erinnern, die ausgerufen wurden, bevor die Scheiterhaufen in Brand gesteckt wurden, aber zwei hatte sie besonders im Gedächtnis behalten. Der zweite Rufer brüllte über den Platz, dass es durch Mark und Bein ging:

»Gegen Dekadenz und moralischen Verfall! Für Zucht und Sitte in Familie und Staate! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Heinrich Mann, Ernst Glaeser und Erich Kästner.«

Sie erinnerte sich auch an den siebten Rufer und den frenetischen Jubel danach:

»Gegen literarischen Verrat am Soldaten des Weltkrieges. Für Erziehung des Volkes im Geist der Wahrhaftigkeit! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Erich Maria Remarque.«

Im Westen nichts Neues, das Lieblingsbuch ihres Vaters, der als Pazifist aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt war, wie so viele, die sie kannten. Machte er sich jetzt strafbar, weil er dieses Buch sicher nicht den Flammen übergeben würde?

»Marlis, bist du noch da?« Johanna schnipste mit den Fingern vor ihrem Gesicht herum. Jetzt bemerkte sie, dass sie immer noch gegenüber von Johannas Bücherregal stand und es anstarrte. Das passierte ihr in der letzten Zeit häufiger, sie konnte von einer Sekunde auf die andere plötzlich vollkommen abwesend sein, besonders dann, wenn die Wirklichkeit für sie zu schmerzhaft war. Und das war sie. Johanna hatte sich allein mit Jürgen in ihrem Zimmer getroffen. Ihr Bruder hatte ihrer Freundin Rilke geschenkt. Und sie war vollkommen ausgeschlossen gewesen in diesem Moment.

Zögernd ging Marlis hinter Johanna die Treppe hinunter. Ihrer Freundin – war sie überhaupt noch ihre Freundin? – fielen noch nicht einmal die neue Hose und der Pullover auf. In der Küche setzten sie sich an den Holztisch. Hier hatte Mina ihnen in den vergangenen Jahren Kakao und Butterbrote serviert, wenn Marlis bei ihnen übernachtet hatte. Die Nächte in diesem Haus gehörten zu Marlis’ schönsten Erinnerungen an Jurmala. Sie durfte auf dem Sofa in Johannas Zimmer schlafen, das sehr bequem war, und sie redeten nachts noch lange miteinander. Manchmal war Marlis erst im Morgengrauen eingeschlafen.

Aber dieses Jahr war alles anders. Sie saßen zwar auf ihren angestammten Plätzen, Johanna hatte ihnen Quittenlimonade eingeschenkt, sie aßen Kuchen. Aber nichts war mehr so wie vor einem Jahr. Etwas stand groß und breit zwischen ihnen, und Marlis konnte nicht genau sagen, was es war, aber sie ahnte, dass es sich nicht überwinden ließ und es auch nicht nur etwas mit Jürgens Besuch zu tun hatte.

»Ich bin noch so müde. Möchtest du einen Kaffee? Ich mache uns einen«, sagte Johanna. Marlis verstand nichts mehr. Seit wann trank Johanna Kaffee? Das tat sie doch auch nicht. Was war mit Johanna in den vergangenen Monaten geschehen? Ihre Freundin wirkte plötzlich so erwachsen, und neben ihr kam sich Marlis unendlich jung vor. Gut, sie selbst war noch 15 und Johanna schon 16. Aber es waren doch nur noch drei Monate, und dann wäre sie auch 16. Kein Grund, plötzlich die Erwachsene zu spielen. Denn erwachsen waren sie doch noch lange nicht.

Was war in diesem Winter in Riga mit Johanna geschehen? Marlis scheute sich zu fragen, obwohl sie es unbedingt wissen wollte. Vielleicht würde das, was Johanna ihr dann erzählte, zu schmerzhaft sein.

»Hast du schon mal jemanden geküsst?«, fragte ihre Freundin unvermittelt.

»Nein«, sagte Marlis. Und ich will auch niemanden küssen, schon gar keinen Jungen.

»Ich schon. Es war toll. Wir waren im Januar Schlittschuh laufen, und dann habe ich jemanden kennengelernt. Er studiert Medizin, Karl. Er hat mich gestützt, als ich fast gefallen bin, und dann ist er mit mir einige Runden über den See gelaufen. Ein unglaublich guter Eisläufer.«

Marlis’ Herz schmerzte plötzlich. Sie wollte nicht weiter zuhören, aber wusste, dass sie es als gute Freundin tun musste.

»Wir haben uns dann am nächsten Nachmittag wieder dort getroffen. Er ist schon zweiundzwanzig. Ich habe ihm nicht gesagt, dass ich fünfzehn war, und er hat nicht gefragt. Es war traumhaft schön. Er hat mich an die Hand genommen, und ich habe mich so gut gefühlt. Es hat überall gekribbelt, als wir gemeinsam Hand in Hand über das Eis geglitten sind. Ich hätte sterben können vor Glück in diesem Moment.«

Sei nicht so theatralisch, hätte Marlis am liebsten gesagt. Sterben vor Glück, nur weil man Hand in Hand mit jemandem Schlittschuh lief? Das war doch einfach nur blöd. Aber sie hielt sich zurück. Johannas Augen glänzten, und sie hatte rote Wangen.

Jetzt erzählt sie mir gleich, wie er sie geküsst hat, Karl, was für ein doofer Name, dachte Marlis. Und ich will gar nicht wissen, wie der sie geküsst hat. Ich will, dass es überhaupt nicht geschehen ist.

»Dann hat er mich zum Punsch eingeladen, da war sogar Alkohol drin. Ich habe natürlich nichts gesagt, aber ich war ziemlich schnell beschwipst. Erinnerst du dich daran, wie wir die Eierlikörgläschen ausgeleckt haben, die Mina noch nicht abgespült hatte? Da haben wir uns doch so schummerig gefühlt. So ging es mir an diesem Tag mit Karl auch. Und es war einfach himmlisch.«

Das mit den Eierlikörgläsern war vor zwei Jahren gewesen. Johannas Mutter hatte mal wieder eine Teegesellschaft gegeben, und nach einigen Stunden waren alle Gäste gemeinsam ins Kasino gezogen. Mina war kurz zu einem Spaziergang an den Strand gegangen, sicher, um ihren Freund zu treffen, bevor sie sich an den Abwasch machte. Und Marlis und Johanna hatten die Gelegenheit genutzt, waren in den Salon geschlichen und hatten alle Eierlikörgläser mit der Zunge ausgeleckt. Einige waren sogar noch halb voll gewesen. Danach hatten sie sich nach oben in Johannas Zimmer geschlichen und sich auf ihr Bett gelegt. Dicht nebeneinander, hatten die ganze Zeit gekichert und sich gekitzelt, bis Marlis so heiß geworden war, dass sie ins Badezimmer laufen und den Kopf unter kaltes Wasser halten musste. Johanna hatte es ihr nachgemacht, aber Marlis wusste nicht, ob ihr genauso warm gewesen war oder sie es einfach nur lustig gefunden hatte.

»Wir haben uns dann die Schlittschuhe ausgezogen und sind noch ein wenig durch die Altstadt gelaufen. Es war wunderbar. Ich fühlte mich so erwachsen. Wir haben eine heiße Schokolade getrunken und Zimtkringel gegessen. Und dann hat er mich in einen Hauseingang gezogen und auf den Mund geküsst«, erzählte Johanna weiter.

Hör auf damit, dachte Marlis. Ich will mir die Ohren zuhalten. Ich will das nicht wissen. Wie konnte Johanna nur so offen darüber reden? Marlis kannte keinen Menschen außer ihrer Freundin, der überhaupt über so etwas sprach. Aber das lag sicher daran, dass sie so oft die Gespräche der Freunde ihrer Mutter belauschte, fast alles Künstler. Die waren schon immer viel offener in solchen Dingen. Marlis nicht, ihre Eltern nicht, und ihre Brüder schon gar nicht. Niemand, den sie kannte in Prenzlauer Berg. Aber auch das war immer faszinierend an Johanna gewesen. Sie wirkte frei, sie scherte sich um gar nichts, nicht, was ihre Eltern über sie dachten. Nein, es war anders. Ihren Eltern spielte sie das kleine, unschuldige Mädchen in den weißen Kleidern mit den wunderbaren, glänzenden Haaren perfekt vor. Sie hätten auch sicher nicht geglaubt, dass ihre Tochter schon von einem jungen Mann geküsst worden war, wenn es genau vor ihren Augen geschehen wäre. Hatte Johanna nie gehört, dass so etwas in die Ehe gehörte?

»Hast du ihn danach dann wiedergesehen?«, fragte Marlis.

»Na ja, eigentlich gar nicht. Er ist nicht mehr zum Schlittschuhlaufen gekommen, und ich hatte auch keine Zeit mehr.«

»Dreckskerl«, rutschte es Marlis heraus.

Johanna sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. Ihre Augen funkelten plötzlich vor Empörung.

»Das ist doch Blödsinn. Er war kein Dreckskerl. Er war himmlisch. Jetzt weiß ich, wie man küsst.«

»Aber das tut kein deutsches Mädchen«, rutschte es Marlis heraus.

»Ich bin kein deutsches Mädchen«, sagte Johanna. »Und was ist bloß mit dir los, Marlis? Bist du jetzt eine von denen geworden? Ich dachte, du hasst die Nationalsozialisten. Du klingst aber genau wie die.«

Marlis erschrak. Johanna hatte recht. So etwas bekamen sie beim Bund Deutscher Mädel gepredigt. Ein deutsches Mädchen muss rein sein und duldsam und sich auf jeden Fall für die Ehe mit einem guten, arischen Mann aufbewahren.

»Deine Mutter ist Deutsche«, sagte Marlis, obwohl sie das eigentlich gar nicht wollte.

»Mein Vater ist ein Wirtschaftsprofessor aus Riga, schon vergessen?«, antwortete Johanna spitz.

»Aber er ist Deutschbalte«, sagte Marlis automatisch. Das will ich doch gar nicht sagen, dachte sie. Aber sie wollte Johanna auch dafür bestrafen, dass es ihr so wehtat, dass ihre Freundin einen Jungen geküsst hatte.

Sie starrten sich schweigend an.

»Weißt du was, Marlis, ich brauche dir gar keine Rechenschaft abzulegen. Es hat mir gefallen, und ich werde es wieder tun, das verspreche ich dir. Vielleicht sogar schon diesen Sommer. Und wer weiß, Jürgen würde mich sicher gerne küssen, was meinst du?«

»Nicht mein Bruder!«, hätte Marlis am liebsten gerufen, aber sie blieb stumm.

Johannas Stimme schnitt jetzt wie eine kaputte Glasscheibe in ihr Herz. Marlis konnte sie nicht ansehen. Warum tat es so weh? Und warum zitterten ihre Hände plötzlich? Sie legte sie flach auf die Tischplatte, damit es nicht auffiel. Sie musste so schnell wie möglich hier weg, aber sie konnte sich nicht bewegen. Wird sie mir jetzt auch noch sagen, dass wir uns diesen Sommer weniger sehen?

»Wir treffen uns weiter, natürlich Marlis, und ich freue mich schon darauf. Aber vielleicht nicht mehr jeden Tag. Jürgen möchte sicher ab und zu allein mit mir sein. Das verstehst du doch? Wir finden für dich sicher auch jemanden, so hübsch wie du aussiehst. Was für eine tolle Hose, und dieser wunderbare Pullover. Schade, dass ich keine Großmutter habe, die so was für mich strickt«, seufzte Johanna.

Deine Großmutter kauft dir die schicksten Kleider in Riga oder bringt sie dir aus Berlin mit, wenn sie mal dort ist, dachte Marlis. Tu nicht so, als ob du meine Sachen wirklich bewunderst.

»Nein, im Ernst. So etwas gibt es nicht in Geschäften. Steh doch mal auf. Ich möchte es mir noch mal genau anschauen.«

Marlis gehorchte Johanna und drehte sich für sie in der Küche des gelben Hauses. Ihre Freundin pfiff durch die Zähne, das hatte Marlis ihr vor drei Jahren beigebracht.

»Du wirst sehen, die Jungen werden dich anstarren, wenn du das auf der Promenade trägst.«

»Ich muss los, Tante Margarethe beim Kirschenpflücken helfen«, sagte Marlis. »Hab’ ich ganz vergessen.«

»Ist gut«, sagte Johanna. »Wir sehen uns später. Aber zieh dich um, bevor du in die Bäume steigst.«

Marlis nickte und traute sich nicht, Johanna zum Abschied zu umarmen wie sonst immer. Sie schaffte es bis an den Strand, bevor die Tränen kamen. Sie weinte den ganzen Weg nach Hause. Und manchmal war ihr Schluchzen so laut, dass sie Angst hatte, die Leute, die an ihr vorbeigingen, würden es hören.

Glücklicherweise waren alle weg, als sie im Haus ihrer Tante ankam. Sie stieg in ihre kleine Kammer unter dem Dach, die sie immer bewohnte, wenn sie in Jurmala war, und warf sich auf das Bett. Dort blieb sie mit geschlossenen Augen bewegungslos liegen und versuchte zu schlafen oder zumindest zu dösen. Denn dann würde sie den Schmerz nicht mehr spüren, der unaufhörlich in ihrem Inneren wühlte. Aber es half nichts. Sie konnte nicht einschlafen, sie konnte sich nicht vor dem Schmerz verstecken. Sie wusste, dass sie Johanna heute verloren hatte und dass es das Schlimmste war, was sie bisher erlebt hatte.

***