Unerwünscht und ungeliebt - Gert Rothberg - E-Book

Unerwünscht und ungeliebt E-Book

Gert Rothberg

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. »Tante Isi, Tante Isi!«, schallte es durch das Kinderheim Sophienlust. Im ersten Stock wurde eine Tür geöffnet. Denise von Schoenecker trat auf den Flur, ging bis zum Treppengeländer und sah in die Halle hinab. »Wo brennt es denn, dass ihr so schreit?« Sie strich sich über das schwarze Haar und lachte. Ihr Sohn Henrik kam die Treppe heraufgestürmt. »So komm doch schon, Mutti, sonst versäumst du ja den Märchenonkel. Schwester Regine hat schon das Radio eingeschaltet. Gleich gehts los.« Er kehrte wieder um, noch bevor er die Mutter erreicht hatte. »Ja, beeile dich, Tante Isi«, riefen die anderen Kinder in der Halle. Dann verschwanden sie im Aufenthaltsraum. Denise von Schoenecker sah auf die Uhr und lächelte. Nun, es dauerte noch zehn Minuten, bis der Märchenonkel vom Stuttgarter Rundfunk seine Geschichte erzählen würde, aber natürlich waren die Kinder schon ungeduldig und in gespannter Erwartung. Als Denise den Aufenthaltsraum betrat, legten einige der zwanzig Kinder den Finger auf den gespitzten Mund. Denise nickte. Ja, sie wollte leise sein. Schnell setzte sie sich an einen der Tische.

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Seitenzahl: 155

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Sophienlust Extra – 143 –Unerwünscht und ungeliebt

Unveröffentlichter Roman

Gert Rothberg

»Tante Isi, Tante Isi!«, schallte es durch das Kinderheim Sophienlust.

Im ersten Stock wurde eine Tür geöffnet. Denise von Schoenecker trat auf den Flur, ging bis zum Treppengeländer und sah in die Halle hinab. »Wo brennt es denn, dass ihr so schreit?« Sie strich sich über das schwarze Haar und lachte.

Ihr Sohn Henrik kam die Treppe heraufgestürmt. »So komm doch schon, Mutti, sonst versäumst du ja den Märchenonkel. Schwester Regine hat schon das Radio eingeschaltet. Gleich gehts los.«

Er kehrte wieder um, noch bevor er die Mutter erreicht hatte.

»Ja, beeile dich, Tante Isi«, riefen die anderen Kinder in der Halle.

Dann verschwanden sie im Aufenthaltsraum.

Denise von Schoenecker sah auf die Uhr und lächelte. Nun, es dauerte noch zehn Minuten, bis der Märchenonkel vom Stuttgarter Rundfunk seine Geschichte erzählen würde, aber natürlich waren die Kinder schon ungeduldig und in gespannter Erwartung.

Als Denise den Aufenthaltsraum betrat, legten einige der zwanzig Kinder den Finger auf den gespitzten Mund. Denise nickte. Ja, sie wollte leise sein. Schnell setzte sie sich an einen der Tische.

Da klang auch schon die sympathische Stimme von Eugen Luchs, dem Märchenonkel, aus dem Rundfunkgerät.

»Meine lieben kleinen Freunde, hier bin ich nun wieder: Habt ihr schon auf mich gewartet?«

Ein vielstimmiges Ja schallte durch den Aufenthaltsraum des Kinderheims. Die kleine Karin drehte sich zu Schwester Regine um und fragte: »Kann das der Märchenonkel jetzt hören?«

Schwester Regine schüttelte den Kopf. »Nein, hören kann er es nicht, aber er weiß ja, wie sehr ihr euch auf ihn freut. Pass auf, er spricht schon weiter.«

»Ich hatte euch das letzte Mal versprochen, heute von einem ganz großen, schweren und plumpem Tier zu erzählen. Von einem Elefanten. Und zwar von einem besonders gescheiten. Er hieß Timbo und war noch sehr jung. Ich habe ihn im Zirkus gesehen. Damals war ich noch ein kleiner Junge und lebte auf der Hallig Hooge. Davon habe ich euch ja schon erzählt. Nun, wenn man jahraus, jahrein auf einer so einsamen Insel mitten im großen Wasser lebt, dann sehnt man sich oft nach dem Festland. Es ist dann immer ein ganz gewaltiges Ereignis, wenn man die Insel einmal verlassen darf. Wird einem aber gar noch ein Zirkusbesuch versprochen, dann ist man noch zappeliger als vor Weihnachten.

Ja, ich konnte schon tagelang vorher kaum noch schlafen, so sehr freute ich mich auf die Tiere im Zirkus. Und als es dann endlich so weit war, gefiel mir am besten der kleine Elefant Timbo.«

Seinem Elefantenalter nach brauchte er noch gar nicht zur Schule zu gehen, aber er war trotzdem ein Rechenkünstler. Darauf schien er sehr stolz zu sein. Das sah man ihm an, als er in die Manege kam. Vor dem roten Samtvorhang mit den goldenen Tressen blieb er stehen und trompetete laut zu den vielen Kindern auf den Bänken hin. Dann trottete er in die Mitte der Manege. Seine Mutter Rani folgte ihm mit dem Mann, der Timbo dressiert hatte. Er hieß Fernando.

Alle Kinder rückten schon unruhig auf den Plätzen hin und her. Sie waren schrecklich neugierig auf Timbos Rechenkünste.

Der Elefant stand jetzt seelenruhig vor Fernando und sah ihn an.

Fernando sagte: »So, Timbo, nun zeige den Kindern, dass du wirklich ein Rechenkünstler bist. Wie viel ist eins und eins?«

Timbo sah aus, als würde er gleich vor Stolz platzen. Seine kleinen Augen verschwanden beinah zwischen den Falten seiner wulstigen Haut. Er stampfte zweimal mit seinem dicken Fuß in den Sand der Manege.

Wir Kinder freuten uns, jubelten und klatschten in die Hände.

Jetzt rief Fernando: »Timbo, wie viel ist zwei und zwei?«

Timbo konnte es kaum erwarten, auf seine Art zu antworten. Er stampfte viermal mit dem Fuß auf, dass der Sand nur so wirbelte.

Seine Mutter Rani stand still neben ihm. Sie beobachtete ihn mit besorgten Augen, wie jede Mutter das tut, wenn ihr Kind eine Prüfung zu bestehen hat.

Jetzt stellte Fernando dem jungen Elefanten die nächste Aufgabe. »Timbo, pass jetzt gut auf, ganz besonders gut. Jetzt kommt das Einmaleins«, Fernando sah uns Kinder an und sagte stolz: »Ja, ja, Kinder, ihr könnt es glauben, Timbo kann multiplizieren. Da staunt ihr aber, was?« Er sah den jungen Elefanten wieder streng an und fuhr fort: »Also, Timbo, wie viel ist ein mal eins?«

Timbo stampfte einmal fest auf. Dazu machte er ein sehr lässiges Gesicht. So, als wollte er sagen: Was ist das schon für mich?

Nun fragte Fernando: »Timbo, wie viel ist zwei mal zwei?«

Timbo hob den Fuß. Aber er ließ ihn in der Luft hängen, zögerte. Er schien jetzt nachdenken zu müssen.

Das erschreckte uns Kinder. Wir fühlten mit Timbo. Zu gut wussten wir, wie peinlich es in der Schule war, wenn man stecken blieb.

Aber jetzt erlöste Timbo uns aus unseren Ängsten. Er stampfte viermal mit dem Fuß in den Sand.

Und das stimmte ja, denn zwei mal zwei ist vier.

Fernando tätschelte Timbos runzeligen Rücken. »Sehr gut, Timbo. Und nun weiter! Die Kinder wollen ja noch mehr von deinen Rechenkünsten sehen. Timbo, zeige uns, wie viel drei mal drei ist. Hast du verstanden? Drei mal drei.«

Timbo hob den Fuß. Er schaute seine Mutter an, danach Fernando. Dann blickte er hilfeflehend zu uns Kindern auf den Bänken.

Wir pressten aufgeregt die Hände aneinander. Warum zögerte Timbo so lange? Hatte er vergessen, wie viel drei mal drei ist?

Doch jetzt begann er zu stampfen. Endlich! Wir zählten mit. Eins – zwei -drei vier – fünf – sechs. Danach blieb Timbos Fuß am Boden.

Wir Kinder sprangen von den Bänken auf. Wir schrien: »Timbo, falsch, falsch. Schnell, du musst noch dreimal stampfen.«

Doch Timbo verstand uns nicht. Wir sahen ihm an, dass er sehr aufgeregt war.

Fernando schüttelte den Kopf. »Aber Timbo, hast du mich falsch verstanden? Ich habe gefragt: Wie viel ist drei mal drei?« Fernando sprach nun die Zahlen noch deutlicher aus. »Also los, Timbo, noch einmal.«

Timbo sah immer unglücklicher aus. Gar nicht mehr wie ein Wunderkind oder wie ein Rechenkünstler. Eher wie ein Schüler, der von seinem Lehrer getadelt wurde.

Aber jetzt begann er zu stampfen. Wieder zählten wir Kinder mit. Diesmal sehr laut. »Eins – zwei – drei – vier – fünf – sechs. Weiter Timbo, weiter. Noch dreimal.«

Timbo schüttelte den Kopf. Er sah sich vorwurfsvoll um und wollte darauf beharren, dass drei mal drei sechs ist.

Fernando war sehr enttäuscht. Er rief uns Kindern zu: »Sagt Timbo, wie viel drei mal drei ist.«

Ein Weilchen blieb es mucksmäuschenstill unter dem Zirkuszelt, dann schrien wir im Chor: »Sechs. Drei mal drei ist sechs.«

Fernando sah sich verblüfft um. Er schien an unseren Rechenkünsten zu zweifeln. Doch dann schlug er sich an die Stirn. Endlich hatte er begriffen, dass wir Timbo nur aus der Patsche helfen wollten.

Timbo hatte das schneller erfasst als Fernando. Er trompetete so glücklich durch das Zirkuszelt, dass es zu wackeln begann. Und seine Mutter Rani unterstützte ihn dabei. »Wir Kinder verstanden das Dankeschön des Rechenkünstlers Timbo. Und wir waren noch glücklicher als er, denn es macht Freude, jemandem zu helfen, statt ihn auszulachen. Denkt doch einmal darüber nach, ob das stimmt.«

Während die Kinder von Sophienlust noch ganz gebannt von der neuen Geschichte des Märchenonkels auf ihren Plätzen saßen, hatte sich Schwester Regine erhoben. Sie ging auf den Zehenspitzen zur Tür.

Dort stand ein kleines Mädchen, das die Kinderschwester nicht kannte. Sie zweifelte, dass es nur deshalb an der Tür stehen geblieben war, weil es ebenfalls den Märchenonkel hatte hören wollen. Das Kind sah verängstigt aus.

Es war ein allerliebstes Mädchen. Es hatte kastanienbraunes Haar, zur Stirn hin kurz geschnitten, im Nacken aber lang und mit einer roten Schleife zusammengebunden. Rot war auch das kurze Trägerröckchen über der weißen Bluse.

Blaugraue Augen sahen Schwester Regine scheu an. Die junge Frau legte den Arm um das Mädchen und fragte: »Wer bist du denn?«

Das Mädchen schluckte zweimal, bevor es antwortete: »Ich bin die Sonny.«

Schwester Regine lächelte. »Dann heißt du wohl Sonja?«

Das Mädchen kam zu keiner Antwort. Die Kinder hatten es jetzt entdeckt und kamen neugierig an die Tür gelaufen. Mit ihnen Denise von Schoenecker. »Haben wir Besuch bekommen, Schwester Regine?«, fragte sie und neigte sich zu dem Mädchen hinab. »Wer bist du und wie heißt du?«

»Sie heißt Sonny«, sagte Schwester Regine, als sie sah, dass das Kind unter den vielen neugierigen Blicken immer verschüchterter wurde.

Doch jetzt holte die Kleine tief Luft und sagte stolz: »So hat mich mein Vati immer gerufen.«

»Aber sicher hast du noch einen anderen Namen. Ich möchte ihn gern wissen.« Das sagte Denise von Schoenecker in ihrer weichen, mütterlichen Art. Sie spürte, dass man dieses Kind nicht noch mehr verängstigen durfte. Es sah ohnehin aus, als wollte es jetzt weglaufen.

»Ja, ich heiße noch Rotter. Und ich bin fünf Jahre alt.«

Die Kinder tuschelten miteinander. Einige waren Sonny ganz nahe auf den Leib gerückt. Deshalb sagte Denise leise: »Schwester Regine, ich nehme Sonny mit. Beschäftigen Sie die Kinder inzwischen.« Sie nahm das Mädchen an die Hand und führte es in ihr Zimmer. Dort drückte sie es in einen Sessel. »Komm, Sonny, sei jetzt ganz lieb und erzähle mir, woher du kommst und was du hier bei uns willst.«

»Hierbleiben will ich.« Das kam wie aus der Pistole geschossen aus Sonnys Mund.

Denise lächelte. »Bei uns hier in Sophienlust? Ich hätte nichts dagegen, dass du hierbleibst, aber dann muss ich ja erst recht wissen, woher du kommst und zu wem du gehörst.«

Das Kind sah sie mit großen Augen an. »Ich gehöre zu niemandem.« Es starrte durch das Fenster. »Und mich will auch niemand. Nur verkaufen möchten sie mich.«

»Verkaufen?« Denise war erschrocken. Die Worte des Kindes klangen zu ernst, als dass sie darüber hätte hinweggehen können. »Kinder werden doch nicht verkauft.«

»Doch. Das weiß ich. Manuel und Ingrid sind auch verkauft worden.« Sonnys Stimme klang nun sehr bestimmt.

»Wer ist Manuel und Ingrid, Sonny?«

»Zwei Kinder aus meinem Heim. Immer kommen dort Leute, die Kinder kaufen wollen. Wir müssen uns dann alle in einer Reihe aufstellen, und die Leute suchen sich ein Kind heraus. Ich habe immer geschrien und mit den Füßen getrampelt, damit sie mich nicht kaufen wollen.«

Denise stand auf und neigte sich zu dem Mädchen. »Du bist also in einem Heim?«

»Ja, im Kinderheim Cäcilie. Kennst du das, Tante?«

»Ich habe schon davon gehört. Es liegt bei Burgendorf, nicht wahr?« Als Denise das fragte, meinte sie schon genau zu wissen, von welchem Kinderheim das kleine Mädchen sprach. Dieses Heim hatte einen denkbar schlechten Ruf. Vor Kurzem erst war durch die Presse gegangen, dass dort die Kinder nicht nur misshandelt, sondern auch verschachert wurden. »Verkauft«, wie Sonny es nannte. Offiziell wurden für die Waisenkinder Adoptiveltern gesucht. Aber für die Heimleitung kamen nur solche Ehepaare infrage, die gut bezahlen konnten. Man verlangte dann sehr hohe Summen zur Abdeckung jener Kosten, die während des Aufenthaltes des Kindes im Heim entstanden sein sollten. Sicher war es nur eine Frage der Zeit, dass dieses Heim geschlossen wurde. Doch noch schien man das schmutzige Geschäft mit dem »Verkauf« der Kinder zu machen.

»Ja, bei Burgendorf, Tante. Ganz nahe am Wald, Ich …« Das Kind brach ab. Es sah zur Tür.

Eine sehr junge zierliche Frau war eingetreten. »Störe ich dich, Mutti?«, fragte sie.

»Nein, gar nicht, Andrea. Komm, setze dich. Wir haben einen überraschenden Besuch bekommen.« Kurz erklärte Denise von Schoenecker das, was sie bis jetzt von dem kleinen Mädchen erfahren hatte.

Andrea war ein spontanes, warmherziges Geschöpf, das an dem Schicksal der Kinder von Sophienlust immer Anteil nahm. So sah sie auch jetzt das kleine Mädchen mitfühlend an. Und schon sprudelte sie hervor: »Da hast du ganz recht gehabt, dass du nach Sophienlust gekommen bist, Sonny. Das hätte ich an deiner Stelle auch getan. Ich würde mich gewiss nicht verkaufen lassen. Noch dazu an irgendwelche Leute, die ich gar nicht mag.« Andreas Stimme wurde leiser, als sie fragte: »Hast du denn keine Eltern mehr, Sonny?«

Sonny legte den Kopf schief und biss sich auf die Unterlippe. Dann kam ein Seufzer über die Kinderlippen. »Ich habe schon noch Eltern, aber sie wollen mich nicht mehr. Meine Mutti ist davongelaufen. Irgendwohin. Sie mochte nicht mehr bei meinem Vati und bei mir sein. Mein Vati ist gelähmt. Er kann nur im Rollstuhl sitzen. Deshalb hat er mich in das Kinderheim gebracht. Er kann sich nicht mehr um mich kümmern. Das sagt er.« Jetzt neigte sich das Kind vor, seine graublauen Augen funkelten erregt, die Stimme klang voll Eifer. »Dabei würde ich mich ja um ihn kümmern. Ich konnte schon seinen Rollstuhl fahren und die Wohnung sauber machen. Ich hätte auch noch kochen gelernt.«

Sonny zuckte die Schultern. »Aber darauf wollte Vati nicht warten. Er sagte, im Kinderheim dürfen sie mich verkaufen, damit ich wieder Eltern habe. Aber die will ich alle nicht.«

Sonny schwieg einen Moment und sah zu Denise empor. »Bist du die Tante Isi?«, fragte sie.

Als Denise nickte, sprach Sonny schnell weiter: »Dann nimmst du doch hier die Kinder auf. Bitte, bitte, lass mich in Sophienlust bleiben. Ich will nicht mehr zurück.« Jetzt rollten Tränen über die Kinderwangen. »Gestern schlug mich Schwester Berta wieder so sehr mit dem Ledergurt. Und nur, weil ich durch das Loch in der Hecke zu meinem Freund gegangen war. Ich musste doch zu ihm. Er wollte mir ja helfen.«

Andrea hockte sich vor das Kind und drückte es an sich. »Weine doch nicht, Sonny. Bitte, weine nicht. Du musst bestimmt nicht mehr von hier fort.« Bittend sah Andrea ihre Mutter an.

Denise lächelte beschwichtigend. »Aber es muss dich doch jemand nach Sophienlust gebracht haben, Sonny. Von Burgendorf bis hierher kann so ein kleines Mädchen, wie du es bist, nicht zu Fuß gehen.«

»Wir sind ja auch mit der Eisenbahn gefahren, Tante.«

»Wer ist wir?«, fragte Denise.

Jetzt senkte das Mädchen den Kopf. »Mein Freund. Aber ich darf ihn nicht verraten. Das habe ich versprochen. Er hat mir schon immer von Sophienlust erzählt. Und er hat mir das Ehrenwort gegeben, dass hier die Kinder nicht verkauft werden.« Sonny wischte sich mit dem Arm die Tränen vom Gesicht. Ihre Stimme wurde immer flinker. »Mein Freund hat mir erzählt, dass sich hier alle vertragen, dass man hier auch zur Schule fahren kann. Und dass es hier ein Tierheim gibt. Es heißt Waldi & Co. Ja, ja, das hat er gesagt. Stimmt das auch?«

Andrea von Lehr lachte. »Das stimmt ganz gewiss. Ich muss es wissen. Das Tierheim gehört nämlich mir und meinem Mann. Er ist Tierarzt.«

Sonny atmete befreit auf. Zum ersten Mal stand ein zaghaftes Lächeln auf ihrem Gesicht. »Dann hat er doch nicht gelogen.«

»Wer?«, fragte Denise.

Sonny blickte zu Boden und kämpfte mit sich. »Mein Freund heißt Peter Hinta. Er ist schon zehn Jahre und hat von diesem guten Kinderheim hier gehört.«

»Wo ist denn Peter?«, fragte Andrea.

»Er ist schon wieder zurückgefahren, damit er zu Hause nicht geschimpft bekommt. Peter hat gesagt, ich werde schon hierbleiben dürfen.«

Denise von Schoenecker lauschte auf den Flur hinaus. Aus der Halle waren aufgeregte Stimmen zu hören, auf der Treppe polterte es, als komme jemand in langen Sprüngen emporgehetzt.

Noch bevor Denise auf den Flur hinausgehen konnte, wurde die Tür aufgerissen. Nick kam herein und rief: »Ein Glück, dass du da bist, Andrea. Komm gleich mit. Auf der Straße ist ein Hund überfahren worden. Ein lieber kleiner Pudel. Du musst ihn gleich zu Hans-Joachim bringen. Er …« Nick erschrak. Ein spitzer Aufschrei hatte ihn unterbrochen. Ein kleines Mädchen klammerte sich plötzlich an seinen Arm.

»Ist es Joggen? Ist mein Joggeli überfahren worden?«, fragte Sonny.

Nick wusste mit dieser Frage nichts anzufangen. Deshalb fragte Andrea:

»Hast du einen kleinen Pudel, Sonny?«

Das Mädchen nickte. »Ja, mein Joggeli. Ist er tot?«

»Wenn wir noch lange hier herumstehen, wird er tot sein.« Nick wurde ungeduldig. »So komm doch schon, Andrea.«

»Ich gehe mit.« Sonny ergriff Andreas Hand. »Ja, nimm sie mit, Andrea«, bat Denise von Schoenecker. »Am besten, gleich mit zur Praxis, falls es wirklich ihr Hund ist. Ich komme dann nach und hole Sonny bei dir ab.«

Während Andrea mit dem Kind über die Treppe ging, fragte sie: »Wo hattest du deinen Joggeli denn gelassen?«

Das Mädchen schluckte. Mit großen Augen sah es Andrea an. »Ich hatte ihn so gut unter einem Busch versteckt. Er sollte auf mich warten. Ich wusste ja nicht, ob ich ihn mitbringen darf. Alle wollten mir Joggeli wegnehmen. Schwester Berta auch. Sie sagt, er ist nur ein Hundevieh. Dabei hat mir mein Vati Joggeli ins Heim geschickt. Ganz bestimmt war es mein Vati.«

Sofort war zu sehen, wo der kleine Pudel lag. Ein Pulk Kinder stand auf dem Rasen.

Nick hatte die Kinder schon beiseitegeschoben und bückte sich nun zu dem Hund hinab. Aber er kam nicht mehr dazu, ihn hochzuheben. Die kleine Sonny kniete schon auf dem Rasen und wollte sich über den weißen Pudel werfen, Andrea hielt sie zurück und schob sie zu Nick. Dann bückte sie sich zu dem Hund hinab. Sein Atem ging flatternd, seine braunen Augen klagten, und nun jammerte er verhalten. Als Andrea ihn auf den Arm nahm, jaulte er laut auf.

»Er muss etwas am rechten Hinterbein haben«, sagte Nick.

»Komm mit, Sonny«, bat Andrea. »Du brauchst keine Angst um deinen Joggeli zu haben. Schau, er blutet ja nirgends. Wenn sein Hinterbein gebrochen ist, braucht er nicht zu sterben. Mein Mann ist ein ganz tüchtiger Tierarzt. Er kriegt deinen Joggeli schon wieder hin.« Andreas Stimme klang aufmunternd, aber auch in ihren Augen stand Angst.

Inzwischen war auch Denise von Schoenecker aus dem Kinderheim gekommen. Sie legte den Arm um ihren großen Sohn. »Nick, bitte, bleibe hier. Ich brauche dich.«

Die Kinder standen am Tor von Sophienlust und sahen dem Wagen nach, mit dem Andrea von Lehn, die kleine Sonny und der Pudel verschwanden.

*

Denise von Schoenecker sprach mit ihrem Mann Alexander über den Fall der kleinen Sonny. Sie wusste, sie hätte sofort bei der Polizei melden müssen, dass das Kind in Sophienlust war, aber sie hatte das nicht übers Herz gebracht. Auch angerufen hatte sie im Kinderheim Cäcilie nicht.

Ihr Mann war darüber nicht sonderlich erbaut. Er fürchtete Schwierigkeiten für sich, in dieser Stimmung war Denise inzwischen auch. Sie wusste, dass sie Sonny nur dann in Sophienlust behalten konnte, wenn das kleine Mädchen Schutz brauchte. Deshalb hatte Denise die junge Ärztin Dr. Angela Haller gerufen. Diese vertrat Dr. Anja Frey, die eigentliche Betreuerin der Kinder von Sophienlust.

Ehe Dr. Angela Haller kam, holte Denise die kleine Sonny bei den von Lehns ab. Der Pudel musste vorläufig im Tierheim bleiben. Er hatte ein Bein gebrochen, Sonny sprach immerzu von ihm, obwohl sie ihn in guter Obhut wusste.