Unglaubliches überstanden - Klaus G. Förg - E-Book

Unglaubliches überstanden E-Book

Klaus G. Förg

0,0

Beschreibung

Als Eberhard Dennerlein 1936 in das Pionierbataillon 47 in München eintritt, legt er damit den Grundstein für sein weiteres Leben. Er verpflichtet sich, lebenslänglich der Wehrmacht zu dienen. Vom Unteroffizier steigt er auf zum Offizier und ist zunächst mit dem Bau von Brücken beauftragt, um dem Vormarsch in Polen den Weg zu bereiten. Bereits mit Anfang zwanzig wird er zum Kompanieführer ernannt. Nach Einsätzen in Holland, Belgien, Frankreich und später in Russland gerät er in russische Kriegsgefangenschaft. Während all dieser Zeit hat er in seinem Tagebuch seine Erlebnisse und Gedanken festgehalten, die so zu einem wichtigen Zeitdokument werden.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 390

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

 

 

 

 

Vollständige E-Book-Ausgabe der in der Edition Förg erschienenen Originalausgabe 2021

 

 

© 2021 Edition Förg GmbH, Rosenheim

www.rosenheimer.com

 

Umschlagfotos vorne und hinten: Edition Förg GmbH, Rosenheim

Bildnachweis: Alle Fotos stammen aus dem Privatarchiv von Eberhard Dennerlein mit Ausnahme Seite 155: Willy Steinberg, München

Lektorat und Satz: Dr. Helmut Neuberger, Ostermünchen

Bildbearbeitung: Dieter Stragenegg, Oberaudorf

 

eISBN 978-3-96600-022-2 (epub)

Worum geht es im Buch?

Klaus G. Förg

Unglaubliches überstanden

Eberhard Dennerlein erlebt den Einmarsch in Polen, führt seine Kompanie bei der Besetzung Hollands und Belgiens an und ist beim »Unternehmen Seelöwe« mit dabei. Dann führt sein Weg quer durch Frankreich, bevor er nach Osten versetzt wird, um den Vormarsch der Russen aufzuhalten. Sein Tagebuch ermöglicht bemerkenswerte Einblicke in den Alltag eines Offiziers im Zweiten Weltkrieg, der mit seinen Kameraden Unglaubliches überstanden hat.

Inhalt

Ein Porzellanfigürchen namens Bibelot

Schulzeit – und immer auf Achse

Beim Reichsarbeitsdienst (RAD)

Wehrmacht

Feldzug in Polen

Feldzug im Westen

Unternehmen Seelöwe

Intermezzo in der Heimat

Russland

Die letzten Kriegswochen

Flucht

In Gefangenschaft – Tabor (CSSR)

Der Transport

Im Lager Rustawi

Lager Rustawi 1947

Bulatschauri

Kiew

Heimkehr

Ein Porzellanfigürchen namens Bibelot

Dass ich als Kleinkind so zart wie ein Porzellanfigürchen war, möchte ich stark bezweifeln. Fotos aus jener Zeit beweisen eher das Gegenteil. Jedenfalls verpasste man mir diesen aus dem Französischen stammenden Spitznamen, der eigentlich »Schmuckstück« bedeutet. Wer diesen Namen erfunden hat und auch, ob man wusste, was das französische Wort »Bibelot« bedeutet, ist mir bis zum heutigen Tag verborgen geblieben. Derartige Ziergegenstände waren ja damals, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, sehr beliebt, und so standen unzählige Porzellanfigürchen auf Vertikos und Etageren herum. Sei’s drum. Wenn man mich mit einem beliebten Gegenstand betitelte, dann ist das ja positiv zu bewerten, und meine ersten Freunde wussten sowieso nicht, was dieser Name, der »Bibilo« ausgesprochen wurde, bedeutet. So konnte ich deshalb nicht gehänselt werden.

Geboren wurde ich im Hause meiner Großeltern an einem 8. September in der Mainstadt Aschaffenburg im nordwestlichsten Zipfel von Franken. Auf diesen Tag bin ich immer etwas stolz gewesen, ist er doch auch der Geburtstag der heiligen Maria. Das Jahr meiner Geburt, 1917, war dagegen weniger berauschend. Der Erste Weltkrieg ging in sein viertes Jahr, die Menschen hungerten. Weil es kaum etwas anderes als Kohlrüben zu essen gab, nannten die Menschen den darauffolgenden Winter »Kohlrübenwinter«. Diesem Mangel verdanke ich allerdings, dass meine Mutter mich fast neun Monate stillte. Man sagt, dass Menschen, denen solches widerfährt, von ausgeglichenem Temperament seien. Da kann ich meiner Mutter nur danken.

Wer lebte sonst noch in meinem Geburtshaus? Mein Vater Max war als Pionieroffizier im Krieg, meine Mutter somit »alleinerziehend«, jedenfalls in meinen ersten Lebensjahren. Diesen Begriff gab es damals allerdings noch nicht, und in der Tat war sie ja auch nicht allein. Sie hatte noch eine Schwester Elisabeth, von allen »Tant Lissele« genannt. Sie war stets eine liebe, mir herzlich zugetane Tante, die ich später oft in meinen Ferien besuchte. Mit ihren beiden Söhnen Hans-Helmut, der noch in den letzten Kriegstagen bei Berlin fiel, und dem jüngeren Hatto, später Professor für alte Geschichte, verstand ich mich immer glänzend. Onkel Walther, der Mann vom Lissele, arbeitete viele Jahre lang als Kinderarzt in Aschaffenburg. Er meinte manchmal scherzhaft, die halbe Stadt sei mit seiner Hilfe zur Welt gekommen.

Ein weiterer Bruder meiner Mutter hieß Engelbert, genannt Bert, war Tierarzt und damals schon verheiratet mit meiner Tante »My«. Und dann gab es noch den Onkel »Luc«, der als das schwarze Schaf der Familie galt. Er hatte eine Vorliebe für Autos, aber keinen richtigen Beruf. Soweit ich weiß, war er zuletzt der Fahrer eines SS-Obergruppenführers. Sein weiteres Schicksal ist unbekannt. Ich hatte ihn ungeachtet seines leichtsinnigen Lebenswandels ins Herz geschlossen, weil ich, als ich schon etwas größer war, gelegentlich auf seinem schweren Motorrad der Nürnberger Marke »Mars« mitgenommen wurde und mir dabei natürlich ungeheuer heldenhaft vorkam.

Die zentrale Figur im Haus war zweifellos mein Großvater Karl Haertle. Er zählte als Bezirkstierarzt des Landkreises Aschaffenburg zu den lokalen Honoratioren und prangte bei festlichen Anlässen in seiner bayerischen Beamtenuniform mit Zweispitz und Degen. Von seiner Umgebung wurde er respektvoll mit »Herr Rat« angesprochen. Er war ein liebenswerter, gutmütiger Mensch, zu dem ich mich oft flüchtete, wenn ich als kleiner Steppke wieder einmal glaubte, dass mir Unrecht angetan worden sei.

Max Dennerlein als Oberleutnant im Dezember 1914

Als mein Vater glücklich aus dem Krieg heimgekehrt war, bemühte er sich natürlich um ein gutes Verhältnis zu seinem Filius. Solange er mit mir spielte, nannte ich ihn »Max«. Wenn er aber strengere Saiten aufziehen zu müssen glaubte, lief ich zu meinem Großpapa und rief heulend: »Darf mich der Mann denn hauen?« Damals war ein Klaps auf den Popo noch gängige pädagogische Praxis und galt keineswegs als Zeichen von elterlicher Verrohung oder Ursache von psychischen Traumata.

Noch einmal zurück zu meinem Großvater Karl, von dem ich auch einen meiner Vornamen habe. Er war nicht sehr groß, korpulent von Statur und trug einen kleinen »Embonpoint«. Heute würde man das als »Bäuchlein« bezeichnen. Er pflegte täglich am späten Vormittag in seiner Stammkneipe ein Schöppele Wein zu trinken. Mich nahm er gelegentlich mit, und ich durfte dabei auch ein Schlückchen trinken. Das hörte erst auf, als meine Mutter merkte, dass ich an solchen Tagen recht lustig und beschwingt heimkam und offensichtlich einen kleinen Schwips nach Hause brachte. Das hat mir aber offensichtlich nicht allzu sehr geschadet. Jedenfalls wurde ich nicht zum Abstinenzler erzogen, und dafür sei meinem Opa heute noch gedankt.

Als Tierarzt war mein Großvater natürlich viel unterwegs. Vor dem Krieg besaß er einen Zweispänner, in dem er zu den Höfen fuhr, auf denen gerade eine Kuh zu verkalben drohte oder ein Pferd lahmte. So fuhr er gemächlich die Landstraßen entlang und rief mal dem einen, mal dem anderen Bauern einen Gruß zu. Seine Pferde folgten dabei schön brav dem Straßenverlauf. Als fortschrittlicher Mensch schaffte er sich dann ein Automobil an und fuhr damit über Land. Dabei geriet er jedoch manchmal in den Straßengraben, denn das Auto fuhr stur geradeaus, wenn er seinen Kunden zuwinkte. Viel passiert ist dabei wohl nicht, denn die Geschwindigkeit war kaum höher als die des Pferdewagens. Also beschloss der Familienrat, einen Chauffeur einzustellen. Das funktionierte auch ganz gut. Dann aber kam der Krieg, und der Chauffeur wurde zum Militär eingezogen. Was nun? Die Pferde und die Kutsche waren ja abgeschafft worden.

Die Retterin in der Not war meine Mutter. Sie war damals mit meinem Vater erst verlobt – denn er war noch nicht im Hauptmannsrang und hätte für die Heiratserlaubnis eine Kaution von 10 000 Goldmark hinterlegen müssen, was er nicht konnte. Jedenfalls ließ sie sich zum Automobilchauffeur ausbilden – für eine Frau in der damaligen Zeit ein geradezu skandalöses Unterfangen. Neben dem Erlernen der Fahrkunst hatte sie sich einer wochenlangen Unterweisung in einer Werkstätte zu unterziehen, wo sie lernte, das Automobil zu zerlegen und wieder zusammenzubauen. Nach dieser sicher eher männlichen Ausbildung durfte sie zwar meinen Großvater chauffieren, aber unter den missbilligenden Kommentaren sowohl der Presse als auch der Bevölkerung. Man bezeichnete sie als »Mannweib«, weil sie noch dazu einen Lederanzug mit Hosen trug. Der war durchaus berechtigt, denn im Auto saß man damals völlig ungeschützt. Selbst das sogenannte Allwetterverdeck, eine Zeltplane, die man aufspannen konnte, wenn es ganz schlimm kam, schützte nicht vor Seitenwind. Auch wenn man befürchtete, diese Frau am Volant eines daher rasenden Automobils sei eine Gefahr für die Bevölkerung, gewöhnte man sich langsam an die Motorkutsche des Herrn Rat und seine Chauffeuse.

Schon bald nach meiner Geburt wurde ich auf den Dienstreisen meines Großvaters mitgenommen. Wenn es losging, legte man mich als Wickelbündel auf den Hintersitz. Meine Mutter erzählte mir, ich sei sofort in tiefen Schlaf gefallen, sobald der Motor ansprang. Während der ganzen Fahrtzeit hätte ich fest geschlafen und sei nur aufgewacht, wenn ich in den Zeiten, in denen mein Großvater seine Tierarztbesuche machte, die Brust bekam.

Das Auto meines Großvaters hatte noch keine elektrischen Scheinwerfer, sondern wurde mit Karbidlampen beleuchtet. Bei normalen Temperaturen funktionierte das gut. Wenn aber Frost herrschte – mein Großvater musste ja jederzeit ausrücken – konnte es geschehen, dass das zum Betrieb der Lampen erforderliche Wasser einfror. Das bedeutete, dass die Scheinwerfer nicht leuchteten. Also mussten wir den nächsten Bauernhof ansteuern und um ein paar Liter warmen Wassers bitten. Das wurde in die vereisten Lampen eingefüllt, und die Fahrt konnte weitergehen.

Meine Großmutter hörte auf den ungewöhnlichen Namen »Bibiana«. Sie war sicher eine gute Hausfrau in einem großen Haushalt, stand aber zeitlebens im Schatten meiner Urgroßmutter und wurde von dieser immer überwacht und dirigiert. Die Urgroßmutter schaute täglich in die Kochtöpfe und kritisierte, wenn ihr etwas nicht gefiel. Sie hatte einfach das Heft in der Hand. Ich kann mich noch sehr gut an sie erinnern: eine asketische, hagere Frau, zu der ich aber einen guten Draht hatte. Denn sie spielte gerne mit mir »Mensch ärgere dich nicht« oder »Halma«. Allerdings gehörte sie zu den Menschen, die nicht verlieren können. Wenn sie verlor, wollte sie nicht weiterspielen, ich aber schon. Also ließ ich sie oft absichtlich gewinnen.

Weihnachten kam näher. Wer durfte den Baum schmücken? Natürlich nur die Urgroßmutter! Sie stieg auf einen Schemel und fiel prompt herunter: Schenkelhalsbruch. Der zugezogene Arzt meinte: »Lasst die alte Frau doch in Frieden sterben.« Denn Operationen gab es damals noch nicht, und eine allgemeine Sepsis war das reguläre Ende. Aber meine Urgroßmutter erholte sich wieder, humpelte zwar, ging am Stock, aber gab ihr Regiment deswegen nicht ab.

Meine Mutter kehrte einmal im Winter von einer Fahrt mit meinem Großvater zurück. Wie üblich hupte sie bei der Rückkehr mit der Ballonhupe rechts außen an der Wagentür, worauf meine Urgroßmutter – kein anderer konnte das ja machen – die vereiste Rampe hinunterlief, um die Garagentür zu öffnen. Dabei rutschte sie aus und stürzte. Meine Mutter konnte den Wagen auf der Rampe nicht mehr zum Stehen bringen und streifte mit dem Kotflügel die Urgroßmutter. Bevor man aussteigen und ihr zu Hilfe kommen konnte, war sie schon verschwunden und hatte sich in ihrem Zimmer eingeschlossen. Am nächsten Morgen brachte man ihr wie gewohnt das Frühstück. Sie saß in ihrem Lehnstuhl und hatte einen Schwamm, mit dem sie ihre Blattpflanzen vom Staub zu reinigen pflegte, auf dem Kopf. Diesen Schwamm hatte sie in das nicht mehr sehr klare Wasser ihres Waschlavoirs getaucht und kühlte sich damit ihre Wunden vom Vortag. Wie bei einem skalpierten Indianer war ihre Kopfhaut auf einer ziemlich großen Fläche abgerissen. Ein anderer Mensch wäre an einer Blutvergiftung gestorben, nicht aber unsere Urgroßmutter!

Ihr Tod war wie ihr Leben. Sie pflegte sehr früh und sehr reichlich zu frühstücken. Daher brachte man ihr schon um fünf Uhr morgens ihr Frühstück, das aus Kaffee und Schwartenmagen bestand. So auch an ihrem Todestag. Als ihr »Tant Lissele« das Tablett ans Bett stellte, schlug sie ihr ein bisschen unwillig auf die Hand, sagte in ihrem fränkischen Dialekt: »Hobt ihr mich alt Fraa denn ganz vergess?«, drehte sich um und war tot. Sie war dem Vernehmen nach nie krank, nicht einmal ein Schnupfen soll sie jemals geplagt haben. Solche Menschen sind ausgestorben!

So richtig heimelig wurde es in unserem Haus, wenn die Abenddämmerung hereinbrach. Wir hatten noch Gasbeleuchtung, und das Anzünden der Gaslampe im Wohnzimmer war eine besondere Zeremonie. Die Lampe, die an einer Eisenkette hing, wurde heruntergelassen, das Gas wurde aufgedreht und der Docht mit einem »Fidibus« angezündet. Diese Fidibusse durfte ich herstellen, meist indem ich Postkarten in lange Streifen schnitt. Ich reichte sie dem jeweiligen Anzünder, und wir warteten gespannt, bis der Glühstrumpf aufleuchtete. Dann wurde die Lampe wieder hochgezogen und erleuchtete das Zimmer mit ihrem magischen Schein. Gleichzeitig schaute ich gespannt auf das Telegrafenamt, das schräg gegenüber lag. Jedes Gespräch wurde damals ja noch von Hand vermittelt. Man hob ein hölzernes Hörrohr von dem an der Wand befestigten Apparat ab, dann meldete sich das »Fräulein vom Amt«, man nannte die gewünschte Rufnummer, und das »Fräulein« stellte durch entsprechendes Umstöpseln der vielen Leitungen die gewünschte Verbindung her. Diese Arbeitsplätze bildeten eine lange Reihe, und man konnte sie von unserer Wohnung aus sehen. Wenn nun der Abend kam, schalteten die Frauen über ihrem Arbeitsplatz Lampen mit grünem Schirm an. Die wurden damals schon mit Strom betrieben. Wenn dann die ersten Lämpchen leuchteten, rief ich verzückt: »Guckt alle her, das ›Güne‹ ist da!« Mit dem »R« tat ich mich noch längere Zeit schwer, denn das »Zungensegel« unter meiner Zunge musste erst gelöst werden.

Eine besondere Attraktion war der Blick vom ersten Stock unseres Hauses, das genau gegenüber dem »Ascheberger« Hauptbahnhof lag. Jedes Mal, wenn ein Zug ankam, strömten die Reisenden heraus, und ich konnte sie beobachten. Wenn Markttag war, kamen die Bäuerinnen aus der Umgebung mit ihren landwirtschaftlichen Produkten. Transportiert wurden diese in einem Korb, und diesen Korb trugen sie, wie sonst nur in südlichen Ländern üblich, auf dem Kopf. Damit der Korb nicht zu sehr auf den Kopf drückte, hatten sie ein kleines, rundes Kissen untergelegt. Ich habe immer wieder bewundert, wie sie dabei das Gleichgewicht hielten.

Mein Vater, der als Pionierhauptmann den Krieg unbeschadet überstanden hatte, war nach dem Waffenstillstand arbeitslos. Soldaten waren nicht mehr gefragt, schon gar nicht diejenigen, die nicht beim »Roten Soldatenbund« mitmachten. Dann aber wurde die Reichswehr aufgebaut, und die Aschaffenburger Zeiten näherten sich ihrem Ende. Mein Vater erhielt die Nachricht, dass er in Ingolstadt eine Reichswehrkompanie aufstellen solle. Mithilfe seiner alten Kameraden aus der Kriegszeit gelang ihm das auch. Es hieß aber Abschied nehmen von Aschaffenburg und »Auf nach Ingolstadt!« Dies war der erste unserer schier unzähligen Umzüge in den kommenden Jahren.

Schulzeit – und immer auf Achse

Nun waren wir also in Ingolstadt gelandet. Nachdem mein Vater die Pionierkompanie aufgestellt hatte und diese nach München verlegt worden war, wechselte er auf einen speziell für ihn geschaffenen Dienstposten. Er bekleidete hinfort bei der Standortkommandantur den Rang des »Pionieroffiziers vom Platz der Feste Ingolstadt«. Damit war er für den Zustand, die Pflege und Instandhaltung aller Ingolstädter Festungswerke verantwortlich, wobei er von einer sogenannten »Wallmeistergruppe« unterstützt wurde, die sich aus altgedienten Pionierfeldwebeln zusammensetzte. Ich war auch meinen Spielkameraden gegenüber mächtig stolz darauf, dass mein Vater über alle diese Anlagen herrschte.

Die ersten Nachkriegsjahre bis 1923 – ich war damals sechs Jahre alt – waren politisch ziemlich unruhig. Der sogenannte »Muttergottesgeneral« Ritter von Epp kämpfte mit seinem Freikorps gegen die Münchner Räterepublik und die kommunistischen Aufständischen an der Ruhr. Wir sangen voller Begeisterung das Kampflied der »Brigade Ehrhardt«, eines für seine Brutalität berüchtigten völkischen Freikorps: »Hakenkreuz am Stahlhelm, schwarz-weiß-rotes Band …«.

Besonders toll fand ich, dass ich eines Tages einen richtigen Stahlhelm unter der Ingolstädter Brücke fand, auf den vorne ein großes Hakenkreuz gemalt war. Für meine Freunde war ich, so schien es mir damals, mit diesem Besitz der Größte.

Noch ein Umstand machte mich stolz: Unsere Wohnung lag in der Theresienstraße, der Hauptstraße von Ingolstadt, genau gegenüber der Stiftskirche. Es war damals das einzige vierstöckige Haus der Stadt, und wir bewohnten den vierten Stock. Von dort hatte man einen herrlichen Blick über Stadt und Umgebung.

Die erste persönliche Erinnerung, die ich von Ingolstadt habe, ist der nächtliche Feuerschein eines brennenden Hauses, den ich von unserem Balkon aus beobachtete. Meine Mutter hatte mich wohl geweckt, um mir das Schauspiel zu zeigen. Ich muss davon sehr beeindruckt gewesen sein, weil es einen so nachhaltigen Eindruck auf mich hinterlassen hat. War das die Vorahnung künftiger Flächenbrände?

Es ging aber normalerweise friedlicher bei uns zu. Da war meine Puppe Wolfgang. »Buben spielen doch nicht mit Puppen!«, war die allgemeine Meinung. Ich aber liebte heiß und innig meinen Wolfgang, für den meine Aschaffenburger Tante Liesl immer neue Anzüge strickte.

Das volle Geläut des Münsters gegenüber unserem Haus beeindruckte mich tief, und auch vom Ritus einer Messe in dem hohen Haus war ich ergriffen, zumal meine Mutter mit mir vorne im Chorgestühl Platz zu nehmen pflegte, wo ich der heiligen Handlung ganz nahe war. Es endete jedoch mit einem Eklat: Genau während der Wandlung, als absolute Stille im Kirchenschiff herrschte, fragte ich angesichts der beiden Ministranten: »Du Mutti, sind das dem Herrn Pfarrer seine beiden Söhne?«

Seitdem saßen wir nicht mehr vorn im Chorgestühl. Jedenfalls gefiel mir das feierliche Zeremoniell am Altar. Wir hatten in dieser Zeit ein Dienstmädchen, wie man damals die Haushaltshilfen nannte. Mit ihr feierte ich »Messe«. Dazu waren auf einem Tisch ein Buch und ein Glas aufgebaut, das als Kelch diente. Ich hatte ein Betttuch umgehängt und zelebrierte unsere Messe. Die Franzi musste ab und zu das Buch von der einen auf die andere Seite tragen, ich verschränkte die Arme, wie ich es im Gottesdienst gesehen hatte, und beschloss die Messe mit den Worten: »Heiliger Sakradi!« Die Franzi verkniff sich das Lachen und machte es tapfer mit.

Die Zeit meiner Einschulung kam näher. Aber es gab da ein Problem: Meine Mutter, so hatte ich jedenfalls das Gefühl, hätte lieber ein Mädchen als einen Buben gehabt. Sie hatte mir nicht nur die Puppe geschenkt, ich musste obendrein auch noch mit einem Pagenkopf herumlaufen, der damals modischen Damenfrisur. Das kam mir immer wie ein Schandmal vor. Einmal war meine Mutter mit mir zum Einkaufen bei unserem Metzger. Der wollte mir ein Raderl Wurst schenken mit den Worten: »Da hast a Wurscht, Mädi.«

Ich stampfte vor Zorn mit dem Fuß auf, verschmähte die begehrte Wurst und verließ verärgert den Laden.

Weil ich wegen meiner Haartracht künftige Verwicklungen mit meinen Klassenkameraden befürchtete, steckte ich mich hinter meinen Vater. Der hatte ein Einsehen, und wir schlossen ein Komplott. Eines Nachmittags nach der Schule ging ich zu meinem Vater in dessen Büro. Gemeinsam suchten wir einen Friseur auf, der mir meine Lockenpracht auf normale Bubenlänge kürzte. Erleichtert lief ich zu meiner Mutter, die gerade hoch oben auf einer Leiter in unserem Garten bei der Zwetschgenernte war. Ich stand unter dem Baum und sagte, weil sie keine Anstalten machte, mich zu begrüßen: »Was ist, Mutti?«

Da merkte sie, dass dies ihr geschorener Sohn war und wäre beinahe vom Baum gefallen. Die Haare aber blieben kurz. Allerdings wurde ich beim nächsten Kinderfasching noch einmal als Page verkleidet, aber mit einer Perücke im Pagen-Look. Ich habe es überstanden!

An Ostern des Jahres 1924 wurde ich also in der Katholischen Knabenschule zu Ingolstadt eingeschult. Wir lernten die damals aktuelle deutsche Kurrentschrift.

Genau ein Jahr später wurde mein Vater an die Infanterieschule nach Ohrdruf in Thüringen versetzt, allerdings nur für ein halbes Jahr. Das war ein Truppenübungsplatz, an dem die Offiziersanwärter der Reichswehr ausgebildet wurden. Mein Vater war als Pionierlehrer tätig. Aus dieser Zeit stammt sein Spitzname »Schlammlatte«, unter dem er überall bekannt war. Noch zu Zeiten, als ich selbst schon Offizier war, wurde ich von älteren Kameraden bei der Nennung meines Namens angesprochen: »Ach, sind Sie nicht der Sohn von der Schlammlatte?«

Damit hatte es folgende Bewandtnis: Beim sogenannten Behelfsbrückenbau, der mit Balken und Bohlen betrieben wird, wird der untere waagerechte Balken eines Schwelljochs Schlammlatte genannt, weil er das Einsinken in den Untergrund verhindern soll. Und da mein Vater sehr schlank und groß war und diese Bezeichnung doch etwas ungewöhnlich klang, bekam er, da er sie den Offiziersanwärtern beibrachte, diesen Namen. Und da alle künftigen Offiziere von ihm unterrichtet wurden, kannte auch jeder ihn und seinen Spitznamen.

Für mich bedeutete der Umzug nach Thüringen einen Schulwechsel. Dort lernten die Kinder inzwischen die von dem Grafiker Ludwig Sütterlin 1911 im Auftrag der preußischen Regierung entwickelte Schulausgangsschrift. Das war zwar auch eine deutsche Schrift, aber sie hatte im Gegensatz zu der zuvor gelernten viele Rundungen und war rechtsläufig. Also totale Umstellung! Und in Erdkunde gab es plötzlich »Thüringen« statt »Bayern«.

Es gab aber dort auch viel Positives. Der Truppenübungsplatz bot uns Kindern jede Entfaltungsmöglichkeit für »Räuber und Gendarm«-Spiele. Und wir waren stolz, wenn wir bei den in die Unterkünfte zurückkehrenden Fahnenjunkern den Helm oder gar das Gewehr ein Stück tragen durften.

Noch einen Vorteil brachte das Soldatenleben mit sich: Meinem Vater stand ein Dienstpferd zu, das an seinen Dienstposten gekoppelt war. Außerdem besaß er ein Privatpferd, denn private Autos gab es damals kaum. Das Dorf Ohrdruf lag etwa vier Kilometer vom Lager entfernt, und häufig kam unser Bursche Sesselmann morgens vor Schulbeginn mit beiden Pferden zu unserer Wohnbaracke. Da er die Tiere ohnehin bewegen musste, ließ er mich auf eines aufsitzen und ritt mit mir fröhlich zur Schule. Der Schulranzen wippte auf dem Rücken und die Stricke mit Schwämmchen und Tafellappen flatterten. Mein Pferd war mit einem Beizügel am anderen befestigt, so konnte nichts passieren, und ich habe auf diese Weise im wahrsten Sinn des Wortes spielend das Reiten gelernt.

Das sogenannte gesellschaftliche Leben war äußerst unkompliziert. Wenn zum Beispiel ein Ehepaar Gäste zu sich einladen wollte, hieß es: »Stühle mitbringen!« Denn die Wohnbaracken waren streng nach Vorschrift und Bewohnerzahl möbliert. Einem Drei-Personen-Haushalt standen drei Stühle zu. Basta! Dazu ein Schrank oder ein Tisch. Aber ich glaube, gerade dieses einfache Leben brachte die Menschen viel näher zusammen, zumal Radio und Fernsehen noch unbekannt waren. Also musste man die Abende gemeinsam verbringen.

In diesem Sommer bekam ich meinen ersten Heuschnupfenanfall, eine Krankheit, die mich Jahrzehnte lang plagen würde. Wir Kinder spielten auf einer Wiese. Ein Mädchen hatte ein Sträußchen aus blühenden Grasrispen gesammelt und stupfte sie mir in die Nase. Ich antwortete jedes Mal mit einem »Hatschi!«. Doch plötzlich war mein »Hatschi« nicht mehr freiwillig, sondern entlud sich zwanghaft. Ich litt seitdem immer während der Gras- und Getreideblüte daran. Antiallergika gab es damals noch nicht, man bekam Protargol in Nase und Augen geträufelt. Daran habe ich noch heute eine unangenehme Erinnerung.

Als ich etwa 15 Jahre alt war, wollte ich mir wieder ein Fläschchen Protargol kaufen. Der Apotheker schaute mich strafend über seine Nickelbrille an und sagte: »So jung und schon so verdorben.« Ich wusste nicht, wie mir geschah. Erst später erfuhr ich, dass es als quecksilberhaltiges Medikament auch zur Behandlung von Geschlechtskrankheiten verwendet wurde.

Der rund um Ohrdruf gelegene Thüringer Wald lud zu schönen Spaziergängen und Ausflügen ein, zu Fuß und auch mit dem Rad. Ich besaß damals noch kein eigenes und saß auf einem Kindersattel auf der Längsstange des Rades meines Vaters. Bei allen Steigungen versuchte ich, meinen Vater durch wechselseitiges Drücken auf die Beine etwas zu entlasten. So durchstreiften wir so gut wie jedes Wochenende die nähere Umgebung. Und bei dieser Gelegenheit habe ich dann auch das Radfahren gelernt.

Auf dem kargen Boden des Truppenübungsplatzes gediehen prächtige Champignons. Ich glaube, mich niemals mehr so viel wie damals von Pilzen ernährt zu haben. Meine Mutter, die ja immer sehr gesundheitsbewusst war, schickte uns regelmäßig zum Schwammerlsuchen. Da wir nicht alle verzehren konnten, wurden sie geputzt, auf Schnüre aufgereiht und getrocknet. Im Winter gab es davon dann leckere Pilzsuppen.

Der ereignisreiche Sommer 1925 in Ohrdruf ging schnell vorüber, und wir zogen wieder zurück nach Ingolstadt: gleiche Wohnung, gleiche Umgebung, gleiche Schulklasse. Aber wir wussten: Im nächsten Frühjahr würde es wieder nach Thüringen gehen! Mein Klassenlehrer schrieb mir im März 1926 ins Zeugnis: »Ein gescheiter Knabe mit feiner Empfindung und reger Empfänglichkeit für alle Eindrücke«. Na, bitteschön!

Meine erste Freundin hieß Ursula Feyerabend

Dann wieder nach Ohrdruf, wie gehabt. Gleiche Umgebung, gleiche Schulklasse. Und erneut die Schreibschrift umstellen mit dem Resultat: »Sauklaue!«

Im Herbst 1926 zeichnete sich eine neue Situation ab: Die sogenannte Infanterieschule, die nur im Sommer existierte und der Ausbildung junger Offiziere diente, wurde nach Dresden verlegt. Später wurde sie als Kriegsschule bezeichnet. Also wieder Koffer packen und diesmal mit dem ganzen Hausrat nach Dresden!

Dort erwartete uns eine schöne Wohnung im Norden der Stadt, wo drei Mehrfamilienhäuser für die Offiziere der Schule bereitstanden. Da trafen sich natürlich die alten »Ohrdrufer« wieder, auch wir Kinder. Neben der Siedlung lag der Jägerpark. Dort wohnten in mehr oder weniger behelfsmäßigen Unterkünften sozial schwache Familien. Wir nannten sie Kommunisten, und so ganz falsch war diese Einschätzung wahrscheinlich nicht. Wir Offizierskinder lieferten uns täglich Straßenschlachten mit den Kindern vom Jägerpark, ausgetragen mit Bohnenstangen als Lanzen und Zaunlatten als Schwertern. Dabei gab es oft blutige Köpfe, und wir gingen nie einzeln, sondern nur in Gruppen zur Schule.

Die zweite Hälfte meines dritten Grundschuljahres musste ich natürlich wieder an einer anderen Schule verbringen, und zwar an einer Privatschule mit Lehrerseminar. Ich glaube, dass ich dort allerhand gelernt habe, zumindest in der Geographie des Landes Sachsen – und auch die sächsische Sprache. Dort wurde mir eine hohe Ehre zuteil: Als die neue Schule für Offiziersanwärter vom damaligen Reichspräsidenten Generalfeldmarschall von Hindenburg feierlich eingeweiht wurde, hatte ich die Aufgabe, ihm vor versammelter Mannschaft einen Blumenstrauß zu überreichen, natürlich im damals obligatorischen Matrosenanzug.

Mein drittes Schuljahr ging im Frühjahr 1927 abrupt zu Ende, denn meine Schule stellte ihren Betrieb ein. Was nun? Mein Vater versuchte, für mich eine Ausnahmeregelung für die Aufnahme am Gymnasium aufgrund meiner besonderen Situation zu erwirken, was tatsächlich gelang. Allerdings gegen eine Gebühr von drei Reichsmark. So bekam ich für drei Reichsmark ein ganzes Schuljahr geschenkt! Mein Vater versprach mir, bei zu erwartenden künftigen Schulwechseln und der erhöhten Gefahr des Sitzenbleibens kein böses Wort zu verlieren. Es war aber nicht nötig, denn ich habe bis zum Schluss Klasse für Klasse durchgehalten. Ich musste noch eine ärztliche Untersuchung und einen Sondertest über mich ergehen lassen und war dann stolzer Gymnasiast mit einer farbigen Mütze auf dem Kopf, wie es damals noch Brauch war.

Die Hoffnung auf eine längere Verweildauer in Dresden erfüllte sich wieder nicht. Laut Entlassungszeugnis des Bischöflichen St. Benno Gymnasiums war dort am 29. November mein letzter Schultag. Diesmal ging es nach Schwaben, nach Ulm. Mein Vater wurde »Major beim Stabe« des dortigen Pionierbataillons 5. Das entspricht heute der Funktion eines stellvertretenden Bataillonskommandeurs. Der Zeitpunkt für unseren Umzug erwies sich als äußerst ungünstig. Es war der berüchtigte kalte Winter 1927/28. Der Vormieter hatte unsere Wohnung in Neu-Ulm zwar geräumt, aber in einem total verwahrlosten Zustand hinterlassen. Die elektrischen Leitungen hingen wie Girlanden von der Decke, und die Wände mussten dringend gestrichen werden. Aber der Möbelwagen stand schon vor der Tür, man musste einziehen.

Zu allem Überfluss bekam ich eine üble Grippe mit hohem Fieber. So wurde für mich ein Zimmer mit einem Kohleofen beheizt, in dem mein Bett als einziges Mobiliar stand. Drumherum werkelten Maler, Elektriker und sonstige Handwerker. In meinem Krankenzimmer wurden auch die Kakteen meines Vaters und die Blattpflanzen meiner Mutter abgestellt, weil es der einzige beheizte Raum war und eine Außentemperatur von minus zwanzig Grad herrschte. Manche Pflanzen haben es nicht überstanden. Ich schon!

Unsere Wohnung lag, aufgestockt auf ein altes Fabrikgebäude, in Neu-Ulm. Zwischen Ulm und Neu-Ulm fließt die Donau. Sie trennt Württemberg von Bayern. Und wie! Für die Ulmer begann der Balkan bereits in Neu-Ulm. Auf meinem Schulweg überquerte ich täglich diese Grenze. Sie war durch einen roten Strich auf Fahrbahn und Bürgersteig mitten auf der Donaubrücke markiert. Unsere Wohnung lag also nicht nur auf dem »Balkan«, sondern auch unmittelbar neben dem Güterbahnhof. Vor unseren Fenstern wurden jeden Tag Güterzüge zusammengestellt und rangiert. Ich höre heute noch die Rufe »Oane – a halbe!«, und dann kam das »Rumms«, wenn der rollende Waggon auf den stehenden auflief. Wir nahmen diese Geräusche schon bald nicht mehr wahr, aber wir wachten auf, wenn am Samstagabend der Rangierbetrieb eingestellt wurde und Ruhe herrschte.

Es war schwer, mitten im Schuljahr in eine neue Klasse versetzt zu werden. Man galt zunächst als Fremdling. Es verwunderte deshalb nicht, dass beim ersten Schulausflug in die Umgebung die Klasse beschloss, mich in Klassenkeile zu nehmen. Als der Lehrer gerade mal nicht präsent war, stürzten sich alle auf mich und versuchten, mich zu verdreschen. Es gelang mir, an ihre Fairness zu appellieren, sodass ich nacheinander mit jedem Einzelnen kämpfen durfte. Den größten Brocken haben sie sich bis zum letzten Kampf aufgehoben. Er war zwei Jahre älter als wir anderen, weil er schon zweimal durchgefallen war, brachte mich in den Schwitzkasten und ließ nicht mehr los. Die Klasse triumphierte.

Später fragte ich die Klassenkameraden, warum sie mich denn so in die Mangel genommen hätten. Die verblüffende Antwort: »Woischt, du bisch a Preuß, und Preußa wöllet mer dahanna itta.« Auf Hochdeutsch: »Weißt du, du bist ein Preuße, und Preußen wollen wir hier nicht.«

Auf dem Weg zum Schwimmen mit meiner Mutter Fanny

Da kam also ein sächsisch sprechender Bayer nach Württemberg und wurde als vermeintlicher Preuße verdroschen!

Von da an hieß es: »Schwäbisch lernen!« Auf diese Weise spreche ich noch heute Sächsisch ebenso gut wie Schwäbisch. Meine Integration in die Klasse machte in dem Maße meiner Schwäbischkenntnisse Fortschritte. Der Kerl, der mich bei der Klassenkeile bezwungen hatte, wurde sogar mein bester Freund.

Ulm entpuppte sich als ein ebenfalls sehr schöner Standort. Wir machten viele Ausflüge auf die Schwäbische Alb und zum Blautopf. Hier verbrachten wir die für eine Offiziersfamilie enorm lange Zeitspanne von dreieinhalb Jahren, also von Herbst 1927 bis Frühjahr 1931. Der Grund unseres neuerlichen Standortwechsels war die Versetzung meines Vaters nach München. Er wurde dort Kommandeur des Pionierbataillons 7.

Der Umzug war schon reine Routine. Diesmal bezogen wir eine schöne Wohnung in der Ainmillerstraße in Schwabing. Als Schule bot sich das in der Nähe liegende und sehr renommierte Maximiliansgymnasium an. Also ging mein Vater mit mir zum Schuldirektor, um mich anzumelden.

Beim Anblick meiner Ulmer Zeugnisse begann sich seine Stirn zu runzeln, und er meinte, solch schwache Schüler könne er nicht aufnehmen. Ihm war nicht bewusst, dass in Württemberg ein anderes Notensystem gebräuchlich war als in Bayern. In Ulm war die Note 8 »vorzüglich« und die 1 »ganz ungenügend«. In Bayern war die Note 1 die beste und die 5 die schlechteste. Meine Noten schwankten zwischen 3 und 6, was »nicht ganz genügend« bis »gut« entsprach. Nachdem dieses Missverständnis aufgeklärt war, wurde ich in Gnaden in das »Max«, wie es liebevoll genannt wurde, aufgenommen.

Das Eingewöhnen in die Klasse bereitete im Gegensatz zu Ulm überhaupt keine Schwierigkeiten. Es gab da eine Clique von Schulkameraden, die alle in Schwabing wohnten. Wir waren per Rad unterwegs und versammelten uns vor Schulbeginn bei »Bitz« Lempp, dem Sohn des Besitzers der Buchhandlung »Bücher-Kaiser« im Rathaus. Von dort radelten wir freihändig und zu dritt oder zu viert an den Schultern eingehängt durch Schwabings Straßen bis zur Schule. Das war damals natürlich auch schon verboten, aber angesichts des minimalen Autoverkehrs ohne weiteres möglich.

Mittlerweile war der Friedensvertrag von Versailles, der oft auch als »Schandvertrag« bezeichnet worden ist, faktisch Makulatur. Hitlers Vertragsbrüche begeisterten die Massen, eine nationale Welle schwappte über das ganze Land. Im Nachhinein kommt einem das Ganze verrückt vor und das, was einmal daraus geworden ist, schien damals undenkbar. Wie angespannt die politische Lage trotz aller Begeisterung wirklich war, beleuchtete ein Vorfall, den ich aus nächster Nähe miterlebt habe:

Als mein Vater um die Jahreswende 1932/1933 als Kommandeur des Pionierbataillons 7 und gleichzeitig Kasernenkommandant die vorgeschriebenen Sicherheitsmaßnahmen für die Kaserne überprüfen wollte, löste er eines Tages mittels eines Stichwortes den Alarm aus. Er hatte dies von einer Telefonzelle aus getan und blieb zunächst unauffindbar. In der Folge wurde die Truppe in Alarmbereitschaft versetzt, es folgten aufgeregte Telefongespräche mit den anderen Münchener Garnisonen, die sofort mobil machten. Das »Braune Haus«, die NSDAP-Zentrale, bekam das Ganze auch mit und reagierte mit Alarmierung von SA und SS. Jeder glaubte, der andere bereite einen Putsch vor. Die Wogen wurden erst langsam wieder geglättet, als mein Vater auf dem »Schlachtfeld« erschien und sich das Ganze als ein Probealarm entpuppte. So misstrauisch begegneten einander damals die regulären und paramilitärischen Verbände.

Meine Hoffnung, bis zum Abitur in München und im »Max« bleiben zu können, zerschlug sich leider. Wieder einmal stand eine Versetzung ins Haus. Im Frühjahr 1934 wurde mein Vater zum »Höheren Pionieroffizier beim Heeresgruppenkommando II«, befördert. Es gab in der damaligen Wehrmacht zwei solche Gruppenkommandos, eines in Ost und eines in West. Das »Westliche« war in Kassel stationiert. Also ab nach Kassel!

Dort angekommen, trat ich dem Wilhelmsgymnasium bei und wurde im April 1935 in die Oberprima, also die Abiturklasse, versetzt. Dass ich als Zugereister zum Klassensprecher – damals hieß das Klassenführer – gewählt wurde, machte mich schon ein wenig stolz.

Im September fuhren die vier Oberklassen unseres Gymnasiums für vier Wochen zu einem Arbeitslager auf die Nordseeinsel Borkum. Das waren etwa sechzig Schüler samt dem Schuldirektor und allen dazugehörigen Lehrern. Ich gehe deshalb etwas ausführlicher auf dieses Unternehmen ein, weil es zeigt, wie wir, noch dazu mit Elan und Begeisterung, in das Dritte Reich und den Nationalsozialismus als Weltanschauung hineingeraten sind.

Wir fuhren je zur Hälfte mit der Bahn und per Rad, streng gegliedert in Marschgruppen mit den jeweils eingeteilten Führern und Unterführern. Das Haus Waterdelle, in dem wir wohnten, hatte den Charakter einer Jugendherberge. Über dem Ganzen stand das Motto: »Seid allezeit fröhlich!«

Frühmorgens pfiff der eingeteilte Tagesführer mit der Trillerpfeife zum Wecken, dann schlüpften wir schnell in die Badehosen, und es ging im Laufschritt zum nahe gelegenen Meer. Am Strand folgten erst Gymnastik, dann Schwimmen und sofort wieder »zurück marsch-marsch!«. Nach dem Waschen hieß es zum Flaggenappell im Viereck antreten. Dabei mussten wir uns die Hände reichen und im Chor skandieren:

»Führer! Wir wollen wahrhaftig sein!

Führer! Wollen voller Tatkraft sein!

Führer! Unser Leben soll Deutschland sein!«

Anschließend gab es Frühstück und Unterricht, der in den verschiedenen Fächern von Griechisch bis zur Mathematik unserem Umfeld angepasst war. Der Stundenplan hieß nicht mehr Stundenplan, sondern nach militärischem Vorbild Dienstplan. Zweimal wurden wir mitten in der Nacht alarmiert und mussten ein bis zwei Stunden auf der Insel umhermarschieren. Der Turnlehrer, der uns geführt hatte, schickte uns mit markigen Worten zurück in die Betten: »Dieser Nachtmarsch ist eine kleine militärische Vorübung. Der Militärdienst ist Dienst an Volk und Vaterland. Mancher wird vielleicht sagen, er hätte lieber schlafen mögen. Wer so spricht, ist ein Jämmerling!«

Bald nach unserer Rückkehr nach Kassel und dem Fortgang des normalen Schulbetriebes begannen für mich die Vorbereitungen für das vorgezogene Abitur. Diejenigen, die sich als Offiziersanwärter meldeten und angenommen wurden, machten ihr Abitur schon im vorhergehenden Dezember, um dann noch ein Vierteljahr Arbeitsdienst anstelle des üblichen halben Jahres abzuleisten. Zu den Vorbereitungen gehörte die Ausarbeitung eines Vortrags, für den ich als Thema die neuen Reichsautobahnen wählte. Es war immerhin ein Projekt, das viele Arbeitsplätze schuf und in seinem System des kreuzungsfreien Verkehrs ohne Beispiel war.

Zusätzlich musste ich mich verschiedenen Prüfungen unterziehen, zunächst im April bei meinem anvisierten Truppenteil, dem Münchener Pionierbataillon, dann Ende Mai bei einer speziellen Prüfungsanstalt zur sogenannten »Psychotechnischen Prüfung«, die drei Tage dauerte. Großer Wert wurde dabei auf die körperliche Leistungsfähigkeit gelegt. Es gab aber auch knifflige Fragen in verschiedenen Sachgebieten von Geschichte bis Mathematik, die uns vorgelegt wurden. Diese Tests habe ich bestanden.

Durch dieses vorgezogene Abitur habe ich also Ende Dezember 1935 mein Abitur nach weniger als zwölf Jahren abgeschlossen, und das ungeachtet aller Schwierigkeiten, die sich durch die häufigen Schulwechsel ergeben haben. Dazwischen machte ich noch den Führerschein der Klasse 3 für PKW und war natürlich stolz auf dieses Papier, das zu erwerben mir meine Eltern zum 18. Lebensjahr ermöglichten.

In meinem Abiturzeugnis steht, und das ist typisch für die damalige Zeit: »Gesund und kräftig, körperlich gut durchgebildet. Immer gleichbleibend ruhig und freundlich; mit festen Grundsätzen. Gut begabt und dementsprechend gute Erfolge. Besitzt das Reichsjugendsportabzeichen und das A-Sportabzeichen für Gleitflieger. Mitglied der HJ-Fliegergefolgschaft (Kameradschaftsführer).« Es folgen die einzelnen Noten. Dabei: »Physikalische Arbeitsgemeinschaft: gut (Fluglehre). Er hat die Reifeprüfung gut bestanden. Zusatz: Er verwaltete mit außerordentlicher Zuverlässigkeit längere Zeit die erdkundliche Kartensammlung der Schule.«

Zur Flieger-HJ kam ich nicht aus politischer Begeisterung. Vielmehr gab es eine Art Gruppenzwang, mit dem die Jugendlichen in die politischen Jugendorganisationen gedrängt wurden. Irgendwie musste man einfach dabei sein. Und die normale HJ war mir mit Exerzieren und Heimabenden zu blöde. Da erfuhr ich, dass es auch eine HJ-Gefolgschaft gab, in der die Jungen Segelfliegen lernen konnten. Ich also nichts wie hin! Es erwies sich als ein richtiger Glücksfall. Ich wurde angenommen, und wir übten an jedem Wochenende, soweit es das Wetter erlaubte, auf dem Dörnberg bei Kassel mit selbstgebastelten Segelflugzeugen. Das »selbstgebastelt‘‘ war nur möglich, weil ein großer Teil der Kameraden im Reichsbahnausbesserungswerk Kassel als Lehrlinge angestellt war. Und die bauten mit Anleitung unsere »fliegenden Kisten«, primitive Holzgestelle mit Tragflächen.

Der Flugbetrieb bei dieser völlig neuen Sportart verlief folgendermaßen: Oben auf der Hangkuppe war das Flugzeug aufgestellt, mit der Nase gegen den Wind. Der Pilot, der gerade dran war, wurde auf seinem Sitz, der völlig im Freien lag, angeschnallt. Am Sporn der Maschine saßen mehrere Kameraden und hielten sie fest. Auf das Kommando: »Ausziehen!« fingen die übrigen an einem doppelten Gummiseil zu ziehen an, dann folgte das Kommando: »Laufen!«. Das Seil spannte sich auf etwa dreißig Meter. Der Flugleiter rief »Los!«, die Haltemannschaft ließ los, das Flugzeug schnellte auf seinen Kufen nach vorn, das Gummiseil klinkte sich aus, und man schwebte in der Luft. Nun hieß es Kurs halten, langsam auf Landekurs gehen, und nach ein paar Hopplern war man wieder am Boden. Es erfolgte dann der Rücktransport des Flugzeugs, an dem sich die ganze Mannschaft beteiligte. Ein zweiräderiger Handwagen wurde heruntergefahren, das Flugzeug aufgebockt und im Handzug wieder den Hügel hinaufgeschoben.

Beim Reichsarbeitsdienst (RAD)

Zuerst einmal musste ich meinen Pflichtarbeitsdienst absolvieren. Ich bekam meinen Einstellungsbefehl nach Schlüchtern in der Rhön – wie sich herausstellte, ein gottverlassenes Nest, dessen Bedeutung allein darin bestand, dass es ein Eisenbahnknotenpunkt war, an dem zwei D-Zug-Linien sich kreuzten. Dort wies die Strecke eine so starke Steigung auf, dass die Züge bergauf eine zusätzliche Schublokomotive benötigten.

Die Weihnachtsferien wollte ich als frischgebackener Abiturient noch zum Schifahren ausnützen und ging daher auf die »Pionierhütte« am Ross- und Buchstein südlich des Tegernsees. Die Hütte trug diesen Namen, weil sie auf eine Anregung meines Vaters hin als Ausbildungszentrum für den Gebirgsdienst der Pioniere samt Anfahrtsweg durch Arbeitseinsätze der Kompanien des Pionierbataillons 7 gebaut worden war. Die drei Gebäude konnten eine komplette Kompanie aufnehmen. Als Hüttenwart fungierte ein ehemaliger Feldwebel. Da der Weg für Fahrzeuge zu schmal und zu steil war, gehörte zum ständigen Inventar auch ein Muli, der Verpflegung und sonstiges Material von Wildbad Kreuth hinaufzutragen hatte. Zusammen mit meinen Eltern traf ich dort viele alte Bekannte aus München, für Spaß war also gesorgt.

Für den Silvesterabend hatten sich ein paar junge Leutnants etwas Besonderes ausgedacht: Sie hatten Leuchtpistolen mit einer Menge Leuchtmunition dabei. Um Mitternacht gab es einen großen Feuerzauber, der die Rehe im Wald sicher erschreckt hat. Ich war natürlich mitten dabei, und zufällig drückte ein Leuchtraketenschütze unmittelbar neben meinem Ohr ab. Es knallte so laut, dass mein Trommelfell überdehnt wurde. Von diesem Augenblick an hörte ich nichts mehr, und mit dieser Behinderung fuhr ich am 1. Januar 1936 mit meinen Siebensachen zu meinem neuen Standort.

Dort stieß ich auf dieselben Schwierigkeiten wie damals beim Schulwechsel in Ulm: Die Mannschaft war schon ein Vierteljahr beisammen. Nun kam ein Neuling hinzu, von dem man munkelte, dass er nur die Hälfte des Arbeitsdienstes ableisten müsse, weil er Offizier werden wolle. Also was Besseres! Vielleicht irgend so ein arroganter Adeliger mit einem Monokel im Auge!

Der »Kammerbulle« sah meine Klamotten, die schifahrermäßig in einem Rucksack untergebracht waren, und war sehr zugeknöpft bei der Ausgabe der Uniformstücke. Ich bekam ein Paar uralte, gebrauchte Knobelbecher, an denen innen am Knöchel Lederflicken angenäht waren, die mir bei jedem Schritt Schmerzen verursachten. Dass die Stimmung gegen mich auch von oben her angeheizt wurde, war mir klar, als ich erfuhr, dass unser Lagerkommandant, ein Feldmeister, unehrenhaft aus der Reichswehr ausgeschieden war, weil er Untergebene misshandelt hatte. Da musste schon allerhand passiert sein, denn zimperlich war der Umgangston dort wahrhaftig nicht!

Jeden Samstagvormittag war der sogenannte »Appell« angesagt. Wir mussten mit all unseren Klamotten antreten und wurden bis zur letzten Hosennaht gefilzt. Wer auffiel, durfte übers Wochenende nicht in Urlaub. Ich konnte machen, was ich wollte, ich fiel immer auf und wusste bald: Da steckte System dahinter!

Meine Situation veränderte sich schlagartig zum Besseren, ohne dass ich das zunächst erwartet hätte, und das kam so: Es gab im Lager noch keine WCs, sondern nur Plumpsklos. Wenn die Grube voll war, musste sie von uns geleert werden – natürlich am Samstag, natürlich von den »Aufgefallenen«, und selbstverständlich war auch ich dabei.

Der Betondeckel der Grube wurde geöffnet, ein Mann fischte mit einem Schöpfeimer, der an einer Stange befestigt war, die Scheiße heraus und kippte sie in Eimer. Die anderen trugen dann jeweils zwei davon in den lagereigenen Garten zum Düngen. Als man mit der Schöpfkelle nichts mehr erwischen konnte, sich aber noch Reste in der Klogrube befanden, befahl der diensthabende »Vormann«, dass ein Freiwilliger hinabsteigen sollte, um den Rest zusammenzukratzen. Einer Eingebung folgend, meldete ich mich. Großes Staunen! Der Offiziersanwärter meldet sich zu dieser, im wahrsten Sinn des Wortes, Scheißarbeit! Ich zog mich bis auf die Unterhose aus, schlüpfte in ein Paar Holzpantinen, zündete mir eine dicke Zigarre an und stieg paffend in den Orkus hinab. Nach getaner, zugegebenermaßen unappetitlicher Arbeit kam ich wieder hoch, ging zum Duschen und bekam sogar noch Sonntagsurlaub. Was ich nicht erwartet hatte: Diese Tat sprach sich schnell im Lager herum, und von da an hat mich keiner mehr gehänselt!

Mein Image sollte sich aber noch weiter verbessern. Für den Sommer war ein großes Manöver geplant, und zwar im Umkreis der Rhön. In dem landwirtschaftlich wenig genutzten Gebiet würden sich die Flurschäden in Grenzen halten. Der Stab des Heeresgruppenkommandos in Kassel bereitete vor Ort die beabsichtigten Gefechtshandlungen vor. Mein Vater, inzwischen schon Generalmajor, war für den Pionierbereich verantwortlich und bereiste das vorgesehene Manöverfeld. So kam er auch nach Schlüchtern. Er wusste ja von meinem Verbleib, rief im Arbeitsdienstlager an und fragte an, ob er mich besuchen könne. Das löste eine unerhörte Aktivität im Lager aus: Ein General besichtigt unser Lager! Alles auf Vordermann bringen, Stuben schrubben und so weiter. Ich wurde nochmals auf saubere Uniform und Stiefel überprüft und dann kam der große Augenblick: Mein Vater fuhr am Lagertor vor, nahm seinen Sohn in Empfang und brachte ihn in ein Schlüchterner Café, wo wir uns ungestört eine Stunde unterhalten konnten. Zurück am Lagertor, stand der Feldmeister in devoter Haltung bereit und bot meinem Vater an, ihm das Lager zu zeigen, doch der lehnte dankend ab mit dem Hinweis auf andere Verpflichtungen. Von dieser Stunde an hat mich sogar mein Arbeitsführer korrekt behandelt.

Was hatten wir in Schlüchtern zu tun? Jeden Morgen rückten wir in geschlossener Kolonne aus. Es ging auf den Drasenberg, ein paar Kilometer entfernt, wo wir die Aufgabe hatten, Meliorationsarbeiten für die Landwirtschaft zu leisten. Wir mussten Feldwege an- oder im Rahmen der Flurbereinigung Felder zusammenlegen. Jede Arbeit wurde von Hand mit dem Spaten und mit Loren zum Erdtransport durchgeführt.

Apropos Spaten: Jeder von uns Arbeitsmännern hatte einen Exerzierspaten. Der durfte ja nicht zur Arbeit verwendet werden, sondern war stets auf Hochglanz poliert. Damit wurden Spatengriffe eingeübt, so ähnlich wie Gewehrgriffe im Heer.

In meine Dienstzeit fiel eine besondere Veranstaltung in Fulda – es könnte wieder einmal zu Hitlers Geburtstag gewesen sein. Zuvor exerzierten wir wesentlich häufiger als üblich und vernachlässigten dafür unsere eigentliche Arbeit. Ich weiß noch: Wir marschierten im Gleichschritt durch Fulda und präsentierten dann unsere Spaten. Das muss ganz gut geklappt haben. Und wirklich: Wenn plötzlich hundert Spatenblätter auf Kommando gedreht werden und in der Sonne blinken, ist das schon ein Effekt. Und auf derlei Inszenierungen verstanden sich unsere damaligen Oberen in perfekter Weise.

Das Vierteljahr im Arbeitsdienst ging zu Ende. Ende März wurde ich entlassen mit dem Vermerk: »Zum Vormann geeignet«. Vormann war das, was beim Militär dem Gefreiten entsprach. Da stand mir ja noch eine große Laufbahn bevor, so dachte ich damals, ohne zu wissen, was wirklich auf mich zukommen würde.

Wehrmacht

Im April 1936 trat ich in das Pionierbataillon 47 in München ein. Das war eine wirkliche Zäsur in meinem Dasein, denn ich verpflichtete mich auf Lebenszeit. In einer Baracke am Rande des Oberwiesenfeldes in der Nähe des bekannten Moosacher Gaskessels wurden alle Offiziersanwärter von Bayern zusammengezogen. Es waren etwa dreißig. Dort wurden wir, abgeschieden von den übrigen Truppenteilen des Bataillons, nach allen Regeln der Kunst geschliffen. Rückblickend muss ich heute feststellen: Die Ausbildung war zwar hart, aber nicht gemein oder verletzend. Und wenn unser Gefreiter Stöffler aus der Pfalz am Abend einen Eimer Wasser in unser Zimmer goss und rief »Die Bud werd g’schrubbt«, dann nahmen wir das gelassen hin.

Zwischendurch wurden wir vereidigt und zum »Fahnenjunker-Gefreiten« befördert. Gleichzeitig mussten wir die Führung einer Pioniergruppe von zwölf Mann übernehmen. Damit waren wir auch in das Unteroffizierskorps aufgenommen, mussten uns allerdings den damals geltenden Ritualen unterziehen: Es gab etwa zwölf Unteroffiziere in einer Kompanie. Zu der Zeremonie kam jeder mit einem Glas Schnaps zu mir, um mir zuzuprosten. Jeder hatte eine andere Sorte. Ich bekam ein Tablett mit zwölf Schnäpsen und musste nun jedem mit »seinem« Schnaps Bescheid geben. Das war die Härteprobe. Ein Blödsinn, aber so war es eben. Ich habe die Prüfung zwar bestanden, war aber drei Tage lang krank.

Es folgte der tägliche Dienst, der die mir anvertraute Pioniergruppe befähigen sollte, all das zu leisten, was Pioniere alles können müssen: Brücken bauen, Sprengdienst, Sperrdienst mit Minen und Sprengladungen. Es war ein interessantes Tagesprogramm. Eine Abwechslung brachte die Teilnahme an einer »Lehrsperrübung« im Raum Landshut. Dort wurde uns vorgeführt, wie man sich vor dem angreifenden Feind durch Sperren kräftesparend verteidigen konnte. Natürlich war da auch wieder mein Vater beteiligt. Er leitete die ganze Übung, wusste, dass sein Söhnchen auch in der Nähe war, und fragte in aller Unschuld nach, ob er mich denn einmal sprechen könne.

Die Reaktion war die gleiche wie beim Arbeitsdienst: Mein Spieß, der einzige Preuße in unserer Kompanie, ließ mich zu sich kommen, verkündete mir, der Herr General wünsche mich zu sprechen, und befahl, ich solle mich in 15 Minuten appellfähig machen. Ich bürstete also meine Uniform auf, wichste meine Stiefel und meldete mich wieder bei meinem Kompaniefeldwebel. Natürlich wurde ich einiger angeblicher Mängel wegen noch einmal zurückgeschickt. Also erneut antreten: »Warum nicht gleich!« Dabei hatte ich nichts mehr zu meiner weiteren Verschönerung getan.

Ein Kübelwagen brachte mich nach Landshut in die Gaststätte, wo der Kommandostab untergebracht war. Ein Offizier, sozusagen der Türsteher, empfing mich ziemlich unwirsch und fragte, was ich denn hier wolle.

»Herrn General Dennerlein sprechen!«

Sein Gesicht versteinerte sich. »Wieso?«

»Ich bin sein Sohn.«

Sein Gesicht hellte sich auf. »Einen Moment, ich melde Sie dem Herrn General!«

Ich wartete eine Weile, dann kam mein Vater heraus ins Foyer. Ich machte stramm mein »Männchen«. Wir zogen uns dann eine Weile zurück, plauderten wie Vater und Sohn, kamen wieder hervor ins Foyer, ich salutierte wieder und verabschiedete mich von ihm.

Im Januar 1937 wurde ich an die Kriegsschule Dresden abkommandiert. Die kannte ich ja schon, bloß aus einer anderen Perspektive. Wir lernten alles, was ein Offizier wissen musste oder was man glaubte, dass er wissen müsse, von der Taktik bis zum Veterinärwesen. Ein spezielles Fach war das Heerwesen. Dahinter verbarg sich alles, was mit dem Wort »Etikette« zu umschreiben wäre. Und das waren zum Teil verstaubte Gepflogenheiten, die selbst damals uns junge Menschen zum Lachen reizten.