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Das Wohl aller Menschen bei moralischen und politischen Entscheidungen zu berücksichtigen – das ist heute für viele zumindest als Ideal gerechtfertigt. Aber schon immer gegeben und universell verbreitet ist ein solches Menschheitsethos nicht. Wann und wo ist es also entstanden – und warum eigentlich? Ist es eine Besonderheit der jüdisch-christlichen oder der westlich-aufklärerischen Tradition? Und wie hängt seine Entstehung mit der Geschichte imperialer Weltherrschaft zusammen? In seinem faszinierenden Buch folgt Hans Joas diesem Menschheitsethos in globaler Perspektive.
Von der sogenannten »Achsenzeit« ausgehend, zeichnet er dessen Entstehung in der griechischen Antike, in Judentum und Christentum, in Indien und China nach und betrachtet es im Zusammenhang mit imperialen Reichsbildungen bis hin zum Kolonialismus, Faschismus und Kommunismus. Kann es einen Universalismus ohne Imperialismus überhaupt geben? Und wie steht der Islam zu den achsenzeitlichen Entwürfen eines Menschheitsethos? Joas' Antworten auf diese großen Fragen fügen sich zu einem Opus Magnum, mit dem er seine vielbeachteten Arbeiten zur Geschichte von Religion und politischer Macht krönt.
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Seitenzahl: 1391
Veröffentlichungsjahr: 2025
3Hans Joas
Universalismus
Weltherrschaft und Menschheitsethos
Suhrkamp
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2025
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2025.
© Suhrkamp Verlag GmbH, Berlin, 2025
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Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner
eISBN 978-3-518-78225-5
www.suhrkamp.de
5Für Marie und Matthias
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
Vorwort
Einleitung Die Menschheit und ihr Bewußtsein von sich selbst
Kapitel 1 Genealogie des moralischen Universalismus – Nietzsche, Weber, Troeltsch
1. Von der Genealogie der Moral zur Genealogie des moralischen Universalismus
2. Das Christentum unter den Weltreligionen
Kapitel 2 Die Entstehung des moralischen Universalismus
1. Jenseits der Dynamik der archaischen Imperien
2. Das antike Israel: Monotheismus und moralischer Universalismus
3. Das antike Griechenland: Philosophische Vernunftethik und moralischer Universalismus
4. Das antike China: Die universalistische Aufladung kultureller Wertmuster
5. Das antike Indien: Ethische Askese im Dienste des moralischen Universalismus
6. Die Stoa: Radikalisierung des moralischen Universalismus der griechischen Antike
7. Das Christentum: Radikalisierung des universalistischen Potentials des antiken Judentums?
8. Zusammenfassung
Kapitel 3 Imperialer Universalismus
1. Carl Schmitt und die Politische Theologie
2. Monotheismus als politisches Problem
3. Christliche Herrschersakralisierung: Bischof Eusebius und Kaiser Konstantin
4. Imperialer Konfuzianismus
Kapitel 4 Untergang des Imperiums – Rettung des Universalismus
1. Augustinus als ethischer und soziologischer Denker
2. Weder Sakralisierung des Imperiums noch Sakralisierung der Kirche
3. Opferkult: Ende oder universalistische Transformation
4. Der Buddhismus und der Zusammenbruch des Maurya-Reichs
Kapitel 5 Universalismus ohne Egalitarismus. Organische Sozialethik und die Metaphorik des Leibes Christi
1. Organische Sozialethik
2. Menschheitsideal und irdisches Gemeinwesen: Otto von Gierke
3. Die mittelalterliche Metaphysik der Geschichte und der Gesellschaft: Wilhelm Dilthey
4. Der Universalismus des mittelalterlichen Christentums und der Patriarchalismus der Liebe: Ernst Troeltsch
5. Asketische Berufsethik versus organische Sozialethik: Max Weber
6. Organische Sozialethik in Europa und Indien: Rationalisierungshindernis oder Reforminspiration
7. Corpus mysticum: Partikulare Sakralisierung unter Bedingungen des Universalismus
8. Universalmonarchie als Lösung? Dantes poetischer Universalismus
9. Personalismus und Universalismus
Kapitel 6 Der Humanismus und die doppelte Herausforderung des Universalismus: Frühneuzeitliche Staatsbildung und neu entdeckte Völker
1. Geographische Entgrenzung und der Kampf um ein neues Imperium
2. Katholizismus nach der Reformation: ein blinder Fleck der historischen Soziologie
3. »Alle Völker der Welt bestehen aus Menschen«: Las Casas und die Menschenrechte
4. Verwirklichte Utopie? Die Jesuiten in Paraguay und ein Humanist in Mexiko
Kapitel 7 Vom universalistischen Ethos zum Recht für die »Zivilisierten«. Die Zweideutigkeit der Revolutionen des achtzehnten Jahrhunderts
1. Die amerikanische Revolution und die Frage eines religiösen Ursprungs der Menschenrechte
2. Die Menschenrechte und der »okzidentale Rationalismus«
3. Die Französische Revolution und die Frage eines säkularen Ursprungs der Menschenrechte
4. Der globale Kontext der Revolutionen des achtzehnten Jahrhunderts
5. Die Revolution in Haiti: vergessen und wiederentdeckt
Kapitel 8 Der totalitäre Staat und die Entstehung einer transnationalen Menschenrechtsordnung
1. Faschistischer Imperialismus
2. Menschenrechte und Gewaltgeschichte
3. Die
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
: Entstehung und Folgen
Kapitel 9 Das Christentum zwischen Rassismus und seiner Bekämpfung: Martin Luther King und die amerikanische Bürgerrechtsbewegung
1. Rassismus als Erbe der europäischen Expansion
2. Eine »prophetische« Bewegung?
3. Gewaltfreie Aktionen und die Zuschreibung von Verantwortlichkeit
4. Transnationale Erfolgsbedingungen
Kapitel 10 Antikolonialer Widerstand und religiöse Vision: Mahatma Gandhi und die indische Unabhängigkeitsbewegung
1. Religion und Moral in Wechselwirkung
2. Indien: hierarchische Ordnung und moralischer Universalismus
3. Ahimsa und Satyagraha: Gewaltlosigkeit als Prinzip einer sozialen Bewegung
4. Gewaltlosigkeit und religiöser Pluralismus
Kapitel 11 Säkulare Utopie und Vernichtung aller Religion: Mao Zedong und der globale Maoismus
1. Marxistische Religionskritik und chinesische Religionsgeschichte
2. Kulturrevolution und Kampf gegen die Religion
3. Säkularer Universalismus ohne Sakralität der Person
4. Maoismus außerhalb Chinas
Kapitel 12 Ist der Islam ein Universalismus?
1. Fanatismus und Fatalismus. Die langsame Überwindung eines Feindbilds
2. Die Entstehung und Entwicklung des Islam im Kontext interimperialer Konflikte
Schluß Nach den Imperien oder vor ihrem neuen Kampf? Alte und neue Gefährdungen des moralischen Universalismus
1. Der Nuklearkrieg und die Vision einer Auslöschung der ganzen Menschheit
2. Drei normative Herausforderungen des moralischen Universalismus: partikulare Verpflichtungen, Überwindung des Anthropozentrismus, staatliche Souveränität
3. Universalismus ohne Imperialismus?
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Fußnoten
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Mit diesem Buch zur Geschichte des moralischen Universalismus bringe ich ein Arbeitsvorhaben zum Abschluß, das mich über einen Zeitraum von zehn Jahren hinweg nicht ausschließlich, aber doch vorrangig beschäftigt hat. Diese Bemerkung zielt nicht einfach auf den vorliegenden Band, sondern auf eine Sequenz von drei Büchern, die man – obwohl sie gewiß auch einzeln lesbar sind – als die Bände einer Trilogie betrachten sollte. Ihre Veröffentlichung begann mit Die Macht des Heiligen im Jahr 2017 und wurde mit Im Bannkreis der Freiheit von 2020 fortgesetzt. Obwohl ich bei manchen Anlässen den Zusammenhang der drei Bände durchaus öffentlich erwähnte, ist in den ersten beiden Bänden nicht ausdrücklich von ihm die Rede. Der Grund dafür lag einfach in meiner Scheu, Ankündigungen gedruckt zu sehen, an deren Verwirklichung einen das Leben hindern könnte. Der Preis für diese Zurückhaltung war allerdings, daß die einzelnen Teile manchmal in ihrem kompositorischen Sinn mißverstanden wurden. Deshalb ist es angebracht, an dieser Stelle ganz knapp den Zusammenhang zu erläutern.
Die ersten beiden Bände hatten den Zweck, die beiden einflußreichsten Erzählmuster zur Geschichte des Verhältnisses von »Religion« und »Macht« in Frage zu stellen. Im ersten Fall ging es um Max Webers Behauptungen über einen welthistorischen Prozeß fortschreitender Entzauberung, der bei den alttestamentlichen Propheten begonnen und die moderne europäische Säkularisierung ermöglicht, ja unausweichlich gemacht habe. Im zweiten Fall ging es um das von Hegel in klassischer Weise durchdachte 14Muster, dem zufolge Religionen im allgemeinen in einem Spannungsverhältnis zur politischen Freiheit stünden – allerdings mit einer großen Ausnahme, nämlich dem Christentum. Hegel schrieb dem protestantischen Christentum, und nur diesem, im Gegensatz zu den allgemeinen Tendenzen sogar eine spezifische Affinität zur politischen Freiheit zu, ja eine konstitutive Rolle für ihre Institutionalisierung. Meine Einwände gegen beide Geschichtserzählungen sollen hier nicht wiederholt werden. Es ging mir jeweils neben der Kritik immer auch schon um die Andeutung einer Alternative. Im Schlußkapitel des ersten Bands war deshalb ausführlich von den historischen Ansätzen zur Überwindung »kollektiver Selbstsakralisierung« die Rede, im zweiten Band von der notwendig werdenden Verschiebung der Fragestellung in Richtung einer Globalgeschichte des moralischen Universalismus. Ebendiese ist jetzt das Thema des vorliegenden Buches, das den Anspruch erhebt, diese Alternative ausführlich zu präsentieren.
Die Gewichte von Kritik und Alternative waren in den ersten beiden Bänden unterschiedlich gelagert. Im ersten Band wurden durch die Kontrastierung von Weber mit dem Werk von Ernst Troeltsch und durch die Relativierung seiner Behauptungen im Kontext der Forschungen über eine »Achsenzeit« in der Weltgeschichte zwar die Grundlagen einer Alternative angedeutet, aber nicht ausgeführt. Im zweiten Band galt die ganze Rekonstruktion einer Geschichte der Religionstheorie im zwanzigsten Jahrhundert der Grundlegung einer Alternative zu Hegel und Nietzsche, aber die Argumente fanden sich verteilt auf die Interpretation von Religionsdenkern und nicht in einer fortlaufenden historisch-analytischen Darstellung zusammengeführt.
Was meine eigene Entwicklung betrifft, gehen die Ursprünge dieses Vorhabens weit zurück. Mein Buch Die Sakralität der Person von 2011 ist in vielerlei Hinsicht schon eine methodische Vorbereitung des vorliegenden Buches. Auch damals ging es mir darum, neben unbestreitbaren Tendenzen der Säkularisierung neue Sakralisierungen nicht aus dem Auge zu verlieren und da15bei besonders auf die politisch relevanten wie die der »Nation« oder der »Person« zu achten. Historisch aber war die Argumentation damals auf die Geschichte der Menschenrechte vom späten achtzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts beschränkt. Das neue Buch setzt tiefer an, insofern es auf den »moralischen Universalismus« zielt und nicht einfach auf die »Menschenrechte«. Die Notwendigkeit dieser Erweiterung habe ich schon 2014 am Ende des Vorworts zur Taschenbuchausgabe hervorgehoben. Gewiß sind die Menschenrechte nämlich eine moderne Artikulationsform des moralischen Universalismus, aber eben eine historisch spezifische, durchaus von politischem Mißbrauch gefährdete.
Auch noch in einer anderen Hinsicht hat dieses Buch Ursprünge, die weiter zurückliegen. Die Stoffaneignung und Forschung hätte nicht im Zeitraum weniger Jahre stattfinden können, etwa dem seit Abschluß des zweiten Bands. Ich könnte zu jedem Kapitel Angaben machen, aus welcher Lebensphase mein Interesse stammt. Für die Geschichte des Christentums in seiner Tiefe und Breite habe ich mich interessiert, seit ich überhaupt in dieser Weise denken kann. Die Geschichte der USA (Kap. 9) und besonders die der Schwarzen dort beschäftigt mich seit meinem ersten Aufenthalt im Land als Doktorand 1975/76, die Indiens seit Reisen in den 1980er Jahren (Kap. 2.5, 5.6, 10), die Chinas (Kap. 2.4, 11) erst seit bald nach der Jahrtausendwende, seither aber durch Aufenthalte im Land zu Vorträgen und Buchvorstellungen besonders intensiv. Auch für alle anderen Themenkomplexe ließen sich solche Angaben machen – was umgekehrt bedeutet, daß auch mögliche blinde Flecken aus biographischen Konstellationen herrühren dürften.
Das Buch liegt, was seine disziplinäre Zuordnung betrifft, auf dem Gebiet der historischen Soziologie. So erklärt sich auch, daß sein Aufbau den konventionellen Vorstellungen von Geistesgeschichte nicht entspricht. Man erwartet von einer Geschichte des moralischen Universalismus vielleicht Kapitel zur Reformation und zur Aufklärung und möglicherweise sogar separat zur 16Philosophie von Immanuel Kant. All dies wird hier nicht geboten, da der Leitfaden ein anderer ist. Aus Gründen, die im Buch erläutert werden, liegt er in der Geschichte der Imperien, der Ansprüche auf Weltherrschaft, und nicht dort, wo von der Selbstentfaltung eines Menschheitsethos die Rede sein könnte. Das heißt aber nicht, daß nicht zahlreiche Bezüge zu Philosophie und Theologie in die historisch-soziologische Darstellung eingebaut würden. Auch auf literarische Texte wird immer wieder verwiesen, wenn diese für meinen eigenen Denkfortschritt wichtig waren.
Den Schwung zur schriftlichen Ausarbeitung habe ich immer wieder auch durch ehrenvolle Einladungen zu Vorträgen und Vortragsreihen erhalten. Besonders wichtig war in diesem Fall die Einladung der Klassik Stiftung Weimar, im Jahr 2018 als Distinguished Fellow des Kollegs Friedrich Nietzsche Vorträge über »Religion und Imperium« zu halten. Dem damaligen Präsidenten Hellmut Seemann möchte ich meine anhaltende Dankbarkeit dafür ausdrücken. Ebenfalls förderlich war die Einladung auf die Internationale Gastdozentur am Jacob-Fugger-Zentrum der Universität Augsburg im Juli 2022, bei der ich einige Kapitel in Vortragsform vorstellen konnte. Hier gilt mein besonderer Dank der wissenschaftlichen Geschäftsführerin Dr. Andrea Rehling. Im Jahr 2023 schließlich durfte ich als Fellow der Kollegforschungsgruppe »Universalismus und Partikularismus in der Zeitgeschichte« während dreier Monate an der Universität München Gedanken aus meiner Arbeit zur Diskussion stellen und vielfältige Anregungen aufnehmen. Mein Dank gilt den drei Leitern Martin Schulze Wessel, Kiran Patel und Andreas Wirsching. Als anregend empfand ich immer auch die Fragen und Stellungnahmen von Studierenden, die meine Vorlesungen zu Teilen des Buches an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität gehört haben.
Ohne den Rat von Freunden und Kollegen würden Bücher schlechter ausfallen. Ich danke denjenigen, die einzelne Kapitel oder Unterkapitel hilfreich kommentiert haben, an den entsprechenden Stellen im Buch. Besonders herausheben aber muß und 17möchte ich Wolfgang Huber, den Berliner Theologen und ehemaligen evangelischen Bischof. Seinem eigenen Denken ist ein ganzes Kapitel im Bannkreis der Freiheit gewidmet. Nur er hat alle drei Bände vor der Veröffentlichung vollständig gelesen und mit größter Sorgfalt und imponierendem Scharfsinn auf korrekturbedürftige Stellen aufmerksam gemacht sowie Verbesserungen vorgeschlagen. Huber ist ein Mann vieler Talente, woran niemand zweifelt, der ihm einmal begegnet ist. Vielleicht ist aber nicht allen klar, daß an ihm auch ein erstklassiger Lektor verlorengegangen ist.
Seit 2014 wird meine Arbeit durch die Porticus-Stiftung großzügig unterstützt; von 2016 bis 2022 galt das auch für die Mittel des mir verliehenen Max-Planck-Forschungspreises. Auch dies beides ist an dieser Stelle dankend hervorzuheben. Ohne diese doppelte Unterstützung hätte ich den Mut und langen Atem für dieses Arbeitsvorhaben wahrscheinlich nicht aufgebracht. Mein Mitarbeiter Jan Philipp Hahn hat alle auf ihn übertragenen Aufgaben mit vorbildlicher Klugheit, Sorgfalt und Zuverlässigkeit erledigt; dafür gebührt ihm großer Dank. Philipp Hölzing, mein Lektor im Suhrkamp Verlag, hat mit hoher Sensibilität für meinen Text und auf der Grundlage seiner Kenntnisse zur Geschichte des Kosmopolitismus Wichtiges zur Verbesserung beigetragen. Christian Scherer danke ich, wie schon bei den beiden vorhergehenden Bänden der Trilogie, für die hervorragende Arbeit an den Registern und alle weitere Unterstützung. Mein Dank gilt meinem Sohn Christian Joas, der trotz seiner vielfältigen beruflichen Aufgaben auf dem Gebiet der Geschichte der Naturwissenschaften und als Familienvater immer ein offenes Ohr für meine Interessen hat und mir sogar eine allzeit verfügbare Computer-Hotline bietet, ebenso und ganz besonders meiner Frau Heidrun für ein halbes Jahrhundert der Nähe, des immerwährenden Gesprächs und der geteilten Lebensfreude. Gewidmet ist das Buch unseren Enkelkindern, in der Hoffnung auf eine gute Zukunft für sie und die ganze Menschheit.
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Menschen gibt es auf der Erde nach unserem derzeitigen Wissensstand seit etwa 2,7 Millionen Jahren. Seit sich die Homo sapiens genannte Stufe der Primatenentwicklung von ihren vermutlichen Ursprüngen in Ostafrika aus über den ganzen Globus ausbreitete, lebten die Menschen jedoch lange Zeit in abgegrenzten sozialen Verbänden, ohne viel über diejenigen wissen zu müssen, die andere Siedlungsgebiete bevölkerten. So erstaunlich die globale Ausbreitung angesichts der Schwierigkeiten von Wanderungsprozessen über weite Entfernungen erscheint, so wenig kann es überraschen, daß kein oder nur wenig Kontakt über große Distanzen erhalten blieb und sich bei Begegnung oder Wettstreit auch immer wieder Verständnislosigkeit und Feindseligkeit zwischen diesen Verbänden entwickelte. Man kann deshalb zwar von einer Geschichte der Menschheit sprechen,[1] wenn man auf sie als ganze zu blicken versucht. Aber während des größten Teils dieser Geschichte hatte diese Menschheit kein Bewußtsein von sich selbst als einer einheitlichen Spezies. Die Tierwelt, die dem jeweiligen Verband von Menschen wohlvertraut war, mochte immer wieder als näher zum eigenen Wesen gehörig erscheinen als etwa die Menschen eines anderen Stammes. Eindeutig dürfte dies nie gewesen sein, weil sexuelle Anziehung und be20stimmte andere Verständigungsmöglichkeiten die engen Grenzen kleiner Sozialverbände auch immer wieder überschritten haben dürften. Über den genauen Charakter der stets schon auftretenden Ahnungen vom gemeinsamen Menschlichen soll an dieser Stelle nicht spekuliert werden. Wichtiger als der Gesichtspunkt, ob eine rudimentäre Einsicht in das gemeinsame Menschliche immer vorhanden war und welche kulturellen Gestalten diese Einsicht annahm, ist vielmehr die Frage, wie es eigentlich dazu kam, daß sich eine gewissermaßen bloß kognitive oder empirische Vorstellung von der Einheitlichkeit der Menschengattung auch normativ auflud, so nämlich, daß ein moralischer Maßstab entstand, der bei den Entscheidungen von Individuen und Kollektiven zu berücksichtigen ist. Wie kam es dazu, daß nicht nur das Wohl nahestehender Menschen zählte, nicht nur das der Angehörigen des eigenen Sozialverbands, sondern auch das anderer, ja aller Menschen? Wann in der Menschheitsgeschichte entstand die Grundidee eines solchen »Menschheitsethos«? Wo entstand diese und aus welchen Konstellationen von Macht und Kultur heraus? Das muß die Ausgangsfrage sein, wenn dieses Menschheitsethos, das auch als moralischer Universalismus oder universalistische Moral bezeichnet wird, nicht nur philosophisch gerechtfertigt oder moralischen Überlegungen zugrunde gelegt, sondern selbst historisch untersucht werden soll.
Diese Ausgangsfrage wurde in den christlich geprägten Ländern, sofern sie überhaupt gestellt wurde, traditionell mit einem Verweis auf das Wirken Jesu Christi und die Evangelien beantwortet; seit einigen Jahrzehnten hat sie aber eine komplexere Form angenommen. Es wird zunehmend versucht, der kulturellen und religiösen Vielfalt der Welt besser gerecht zu werden, als es einem ausschließlich auf Europa oder das Christentum gerichteten Blick gelingen kann. Diese neue Art der Fragestellung hatte sich seit dem späten achtzehnten Jahrhundert angebahnt, wurde aber erst in den Schriften des bedeutenden deutschen Philosophen Karl Jaspers, die nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft und des Zweiten Weltkriegs erschienen, in 21wirklich inspirierender Weise artikuliert.[2] Seine Antwort auf die Frage nach der Entstehung dessen, was wir Menschheitsethos oder moralischen Universalismus nennen wollen, lautet, daß dieser zwischen 800 und 200 vor unserer Zeitrechnung entstanden sei, und zwar in mehreren Kulturen – dem antiken Judentum, Griechenland, China, Indien und vielleicht Iran – mehr oder minder gleichzeitig, ohne daß ein direkter Einfluß der einen Kultur auf die andere in ausschlaggebender Weise bisher habe festgestellt werden können.
Jaspers prägte für den Zeitraum, den er ins Auge faßte, den Begriff »Achsenzeit«. Er wollte damit einerseits an die Geschichtsphilosophie Hegels anknüpfen, der als protestantischer Christ vom neuen Prinzip der Trinität als der »Angel« (nicht »Achse«) der Weltgeschichte gesprochen hatte.[3] Andererseits aber wollte Jaspers, der auch zutiefst vom Protestantismus geprägt, aber selbst kein bekennender Christ war, gerade weg von der Zentrierung der Geschichtsbetrachtung auf den christlichen Glauben und hin zu einer stärkeren Berücksichtigung nicht-christlicher und nicht-europäischer Traditionen sowie post-christlicher moralischer Überzeugungen. Während sogar die westliche Zeitrechnung sich so auf das Christus-Ereignis bezieht, daß die Jahre in Relation zu ihm, vor oder nach der Geburt Christi, gezählt wer22den, dachte Jaspers über einen alternativen Bezugspunkt mit normativem Gehalt nach, der auch außerhalb Europas (und Amerikas) einleuchten könnte. Die Entstehung der Vorstellung von der einen Menschheit, so seine Vision, könnte ebendiese Eigenschaft haben und in einer Zeit weltweit verständigungsfördernd und friedensstiftend wirken, die von den Verheerungen des Weltkriegs und des Rassenwahns geprägt war. Mit diesem Schritt könnte dann auch denjenigen Gedankengängen prägnantere Gestalt gegeben werden, die sich verstreut bei den verschiedensten Denkern und Gelehrten finden, seit der französische Sanskrit-Forscher und Iranist Abraham Hyacinthe Anquetil-Duperron kurz vor 1800 erstmals auf Ähnlichkeiten zwischen den hebräischen Propheten, griechischen Philosophen, Buddha, Konfuzius und Zarathustra hingewiesen hatte.
Die These von Jaspers ist nun keineswegs unkontrovers, ganz im Gegenteil. Fast alles an ihr ist umstritten.[4] Das beginnt bei Auseinandersetzungen darüber, was Jaspers selbst genau gemeint habe und was eigentlich das Wesen dieses angeblichen achsenzeitlichen Durchbruchs sein solle, ob es wirklich im Sinne eines moralischen Universalismus oder einer Vorstellung von Transzendenz oder wie sonst bestimmt werden soll. Die Gleichzeitigkeit der Veränderungen in den verschiedenen Kulturen wird ebenso bezweifelt wie das völlige Fehlen von Einflüssen zwischen ihnen. Manche stellen in Frage, ob wir überhaupt über ein Wis23sen verfügen oder jemals verfügen werden, das hier empirisch solide Antworten erlaubt. Von vielen der genannten achsenzeitlichen Gestalten ebenso wie von den beiden großen nachachsenzeitlichen »Religionsstiftern« Jesus Christus und Mohammed haben wir keine eigenen Schriften, sondern nur später niedergelegte und kanonisierte Fixierungen mündlicher Traditionen. Über all diese Argumente und Gegenargumente ist an dieser Stelle nicht im einzelnen zu rechten. Mir geht es jedenfalls nicht darum, einen »Mythos der Achsenzeit« wider bessere empirische Einsicht zu verbreiten. Ich finde es aber unumgänglich, auf Jaspers' Idee nicht so zu reagieren, daß die ihn umtreibende Problematik dabei in Vergessenheit gerät. Wir müssen zumindest Jaspers' Antwort wieder in eine Fragestellung zurückverwandeln, und während das »Wesen« der Achsenzeit selbst wie auch das »Wesen« jeder Religion vieldeutig sein mag, muß es möglich sein, einen der Bestandteile zu isolieren und für sich ins Zentrum zu rücken. Das soll hier in Gestalt der Frage nach der Entstehung des moralischen Universalismus geschehen.
In drei Hinsichten ist es nötig, die damit angedeutete Fragestellung und die Richtung, in der hier nach einer Antwort gesucht werden wird, sofort schärfer zu konturieren.
Erstens kann der Verdacht entstehen, daß die möglichen Antworten auf diese Frage nur Pseudoantworten sein werden. Das ist dann der Fall, wie durchaus in vielerlei Hinsicht bei Jaspers selbst, wenn der Durchbruch zu Transzendenz und Menschheitsethos letztlich als mysteriös stehen bleibt – in Analogie zur Vorstellung einer göttlichen Offenbarung, die eben an Orten und Zeitpunkten erfolgen kann, die Gott in seinem unerforschlichen Ratschluß festgelegt hat und die sich dem menschlichen Nachdenken grundsätzlich entziehen. So mußte ja die Geburt Jesu gerade in einem abgelegenen Winkel des römischen Kaiserreichs erscheinen, wenngleich christliche Denker schon bald damit begannen, im Zusammenhang der Herrschaft von Kaiser Augustus, einer Volkszählung und Steuerschätzung der Bewohner und der Geburt des Messias tiefsinnige Zusammenhänge heils24geschichtlicher Art zu konstruieren.[5] Durch Jaspers könnte nun das Mysterium der Offenbarung zwar multipliziert, aber nicht weniger undurchdringlich gemacht worden sein. Solche Zweifel können vielleicht etwas zurückgedrängt werden, wenn der spezifische Zugriff des vorliegenden Buches hier ganz vorläufig näher gekennzeichnet wird. Klammern wir nämlich die Geschichte von Religion und Moral für einen Moment methodisch ein und blicken ganz »materialistisch« auf die Geschichte der Menschheit, dann stellt sie sich uns vor allem als eine Geschichte der Produktionsweisen und Produktionsverhältnisse dar, auch ihres Wechselspiels und der spezifischen Rolle, die stabilisierte Ordnungen von Macht und Herrschaft, »Staaten« etwa in ihren archaischen und modernen Formen, spielen. Niemand wird es dann falsch-spekulativ finden, zu den grundlegenden Einschnitten in der Geschichte der Menschheit ihre Seßhaftwerdung und ihren Übergang zur Landwirtschaft, die Herausbildung größerer Märkte oder gar eines Weltmarkts und die Industrialisierung zu rechnen, ebenso aber die Herausbildung des archaischen wie des modernen Staats. Vom moralischen Universalismus wird in solch materialistischer Betrachtung nicht wirklich die Rede sein; er mag als bloßes »Überbauphänomen« abgetan werden, normativ sympathisch vielleicht, aber in seiner Wirkung begrenzt oder vernachlässigbar.[6] Genau an dieser Stelle aber ist der spezifische Zugriff dieses Buches, auch im Kontrast zur gerade skizzierten Denkweise, zu verorten. Eine theoretische Schlüsselthese der folgenden Ausführungen wird nämlich sein, daß wir die Geschichte des moralischen Universalismus nur verstehen können, wenn 25wir sie in ständiger Wechselwirkung mit dem betrachten, was ich als politischen Universalismus bezeichne. Dieser Begriff ist unüblich und bedarf deshalb kurz der Erläuterung.[7]
Meine Wortschöpfung »politischer Universalismus« zielt auf das Phänomen, daß archaische Staaten sich durch ihre höhere Organisationsfähigkeit von nicht-staatlich verfaßten Nachbarvölkern und -stämmen unterscheiden und gleichzeitig in sie eine Tendenz zum Übergriff auf andere Territorien eingebaut ist. Das liegt daran, daß sie Ressourcen verbrauchen, die in ihrer eigenen Produktion immer knapp bleiben und die sie sich durch Aneignung zusätzlichen Landes und zusätzlicher Steuer- oder Tributleistungen von dessen Bevölkerung zu verschaffen versuchen. In den archaischen Staat ist damit eine Tendenz zur Expansion eingebaut, für die es keine natürlichen Grenzen gibt. Wenn ihm die Expansion gelingt, ist der archaische Staat deshalb auf die Bildung eines Imperiums hin angelegt, nicht auf die Selbstbescheidung in einer Ordnung einander wechselseitig anerkennender Staaten. Selbstverständlich gibt es Grenzen der Expansion des einen Imperiums in den Expansionstendenzen anderer Imperien, und die momentanen Expansionsgrenzen können von ihnen auch wechselseitig anerkannt werden. Die Imperien können durch innere Zerfallstendenzen der mit Macht und Gewalt zusammengerafften Territorien oder durch Niederlagen gegen Nomadenvölker gefährdet werden, welche sich dann vielleicht ganz einfach der Strukturen des Imperiums bemächtigen. Auf die Unterscheidung dieser vielfältigen Varianten kommt es hier 26zunächst nicht an. Entscheidend ist nur die These, daß wir den moralischen Universalismus als Produkt der Auseinandersetzung mit diesem politischen Universalismus verstehen müssen. Dieses Produkt kann je nach Art der äußeren Bedrohung durch ein Imperium oder der Gefährdung eines Imperiums von innen heraus ganz verschiedenen Charakter annehmen, etwa als Übersteigerung des eigenen Gottes über alle fremden Götter und Herrscher hinaus oder als rückwirkende Idealisierung eines früheren Herrschers oder einer vergangenen Herrschaftsordnung. Wenn hier von einem Produkt der Konfrontation mit dem politischen Universalismus der Imperien gesprochen wird, dann ist damit allerdings nicht eine automatische Hervorbringung gemeint. Es geht vielmehr um kreative Prozesse, um die Entstehung von etwas Neuem, dessen Ausgangsbedingungen wir rekonstruieren können, das aber selbst, weil es eben etwas schöpferisch Neues ist, auf diese Bedingungen nicht begrenzt bleibt, sondern auch unter anderen Umständen als denen seiner Entstehung angeeignet werden kann. Insofern ist die »materialistische« Rekonstruktion der Bedingungen ebenso wichtig wie die »idealistische« Berücksichtigung von Idealen und ihrer Bedeutung im menschlichen Handeln.[8]
Ein zweiter Punkt ist von ähnlich großer Bedeutung für ein Verständnis der Vorgehensweise in diesem Buch. Immer wieder wird gegen die These von der Achsenzeit der doppelte Einwand erhoben, daß die angeblich radikalen Neuerungen dieser Zeit weder alle Menschen gleichmäßig betrafen noch nach ihrer Entstehung in dem Ausmaß erhalten blieben, daß das Alte nach dieser Neuerung keine Rolle mehr gespielt hätte. Beide Sachverhalte sind unbestreitbar; jedoch ist es überraschend, daß der Einwand so erhoben wird, als sei er nicht schlicht für alle historischen Wandlungsprozesse zu berücksichtigen. Niemand, der 27in Buddha, Jesus Christus oder Mohammed eine fundamentale religiöse Umwälzung am Werk sieht, meint doch, daß mit einem Schlag alle Menschen in bestimmten Kulturen Buddhisten, Christen oder Muslime geworden seien. Kaum jemand meint auch, daß deren Zahl nie wieder zurückgehen könne. Empirisch ist die quantitative Erfassung der genauen Zahl und Art der Anhänger hier so angebracht wie dort, wo es darum geht, wer etwa in Europa oder Nordamerika im achtzehnten Jahrhundert wirklich von den Ideen der Aufklärung ergriffen wurde oder im westlichen Deutschland nach 1945 von den Werten der Demokratie. Aber faktische Einschränkungen in der Verbreitung eines neuen Ideals dürfen von der Bedeutung von dessen Existenz auch nicht ablenken.
Berechtigt ist ebenso die Frage, was aus dem moralischen Universalismus nach seiner Entstehung eigentlich wurde. Nur nach seiner Entstehung zu fragen und dann seine weitere Wirkkraft im ursprünglichen Sinn als gesichert zu unterstellen wäre offensichtlich naiv. Das ist insbesondere deshalb der Fall, weil es in der Geschichte eben typischerweise nicht bei einer Entgegensetzung von moralischem und politischem Universalismus blieb, sondern der letztere oft das Potential des ersteren für seine Zwecke erkannte und in Anspruch nahm. Der moralische Universalismus kann die Grundlage radikaler Kritik am politischen Universalismus sein, das Menschheitsethos also dem Herrschaftswillen der Imperien Widerstand leisten. Aber die Imperien können auch ihre Existenz und Expansion mit ebendem Pathos rechtfertigen, das in der Orientierung auf die Menschen außerhalb der Grenzen und auf alle Menschen steckt. Die Christianisierung des Römischen Reiches und der imperiale Konfuzianismus Chinas können dies unmittelbar anschaulich machen. Von der Achsenzeit bis zur Gegenwart werden in diesem Buch alle behandelten historischen Formen des moralischen Universalismus in diesem Spannungsfeld mit den Formen des politischen Universalismus interpretiert. Das reicht vom soeben kurz erwähnten »imperialen Universalismus« Roms und Chinas über die Rettung 28des Universalismus im Fall einer Krise oder des Zusammenbruchs eines Imperiums und die Kompromißbildungen in Gestalt einer »organischen Sozialethik« z. B. im europäischen Mittelalter[9] bis hin zu dessen modernen Formen. Zu diesen zählt zentral die Geschichte der Menschenrechte in ihrer Verflechtung mit der Geschichte des Absolutismus, des Kolonialismus und Imperialismus sowie der Totalitarismen des zwanzigsten Jahrhunderts. Auch die beunruhigende Frage, ob die Ordnung, in der es zum ersten Mal zu einer transnationalen Verrechtlichung des moralischen Universalismus kam, also in unserer Gegenwart seit dem Zweiten Weltkrieg, wirklich glaubwürdig und stabil ist, wird am Schluß nicht ganz zu umgehen sein.
Als dritter Gesichtspunkt ist hervorzuheben, daß es bei einer Geschichte des moralischen Universalismus, wie sie hier versucht wird, um die Geschichte eines Ideals geht. Das soll heißen, daß zwischen diesem und der sozialen Wirklichkeit natürlich immer zu unterscheiden ist. Nicht nur diese Wirklichkeit im Sinne idealfreier Verhältnisse in ihrem Unterschied zum Ideal ist aber historisch von Bedeutung. Ideale sind kein »Luxus, den der Mensch entbehren könnte«, schrieb der Klassiker der französischen Soziologie Émile Durkheim,[10] sondern sie sind eine Bedingung für die Existenz von Gesellschaften. Zu einer Gesellschaft gehören das Ideal und die Idee, die sie von sich selbst hat, als zentrale Kennzeichen und Funktionsbedingungen hinzu. Kein Kollektiv kann ohne ein Selbstbild auskommen, und in jedes Selbstbild sind Vorstellungen von Idealität eingeschlossen. Darin liegt die Chance zur Selbstveränderung in Richtung einer besseren Verwirklichung der Ideale, aber auch die Gefahr 29einer bloß instrumentalisierenden Verwendung der Ideale für die Selbstsakralisierung einer bestehenden Gesellschaft.
Die Geschichte eines Ideals zu schreiben heißt nun aber keineswegs notwendig, sie als eine Geschichte der immer größeren Annäherung an das Ideal aufzufassen. Das wäre die »Hegelsche Versuchung«, von der Paul Ricœur gesprochen hat,[11] die Falle einer teleologischen Geschichtsbetrachtung, gegen die etwa der deutsche Historismus seit Ranke, aber auch der amerikanische Pragmatismus immer starke Einwände hatten. Die Falle besteht darin, daß bestimmte Epochen, aber auch historische Akteure »nur als Vorbereitungsstufen für ein in der Historie doch nie auffindbares Absolutes«[12] betrachtet werden. Das aber ist mehr oder minder bewußt auch überall dort der Fall, wo etwa die Genese der »Moderne« der Leitfaden der Geschichtsschreibung ist, insofern es dabei nie nur um die konstitutiven Veränderungen geht, die zu einer neuen historischen Epoche geführt haben, sondern angesichts der Werthaltigkeit des »Moderne«-Begriffs immer auch um das Schicksal von Werten oder Idealen. Wie Ernst Troeltsch sich in seiner Geschichte des Christentums weigerte, diese im Sinne einer schrittweisen Verwirklichung christlicher Ideale zu schreiben, um nämlich die Frage offenzuhalten, ob alle (oder keine) der vom Christentum gestützten Ordnungen sich tatsächlich christlich rechtfertigen lassen, so muß auch eine Geschichte des moralischen Universalismus, die über die Geschichte des Christentums und Europas hinausgreift, die Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit im Blick behalten können und darf bei aller historischen Reflexion auf die Ideale selbst keine Ordnung jemals ganz mit ihnen identifizieren. Nur dann wird 30sie keine Geschichte der Sieger sein und so auch die partiell rechtfertigungsfähigen gesellschaftlichen Verwirklichungen der Ideale als immer von Rückschlägen gefährdet und damit als kontingent betrachten können. Die Aufmerksamkeit vermag sich bei dieser Vorgehensweise auf die nicht ausgeschöpften Gehalte der Ideale und deren weitere geschichtliche Wirkungen zu richten. Bestimmte historische Veränderungen werden dabei durchaus als »Fortschritt« interpretiert werden können. Diese einzelnen Fortschritte dürfen aber nicht zu einer übergreifenden Geschichte des Fortschritts zusammengefaßt und die erreichten Fortschritte nicht als ein für allemal gesichert angesehen werden. Die Geschichte eines bestimmten Ideals ist selbstverständlich nur eine der Möglichkeiten, die Geschichte in den Blick zu nehmen. Sie wird auch die Debatten über das Verhältnis dieses Ideals zu anderen Idealen sowie die Kritik an einer möglichen kulturellen oder historischen Einseitigkeit der Orientierung an genau diesem Ideal nicht vermeiden können. Von solchen Debatten hängt dann ab, ob die Geschichte dieses Ideals bloß als eine neben vielen anderen erscheint oder ob sie für die wertbezogene Auseinandersetzung der jeweiligen Gegenwart eine zentrale Bedeutung annehmen kann.
Das hier angedeutete Programm wird in der folgenden Durchführung in diesem Band klarere Konturen gewinnen, als dies durch bloß methodologische Reflexionen möglich wäre. In drei Hinsichten aber soll einleitend noch näher charakterisiert werden, wie die gigantischen Ausmaße des zu berücksichtigenden Stoffes hier handhabbar gemacht werden sollen.
Ein erster Punkt ist fast so offensichtlich, daß er vielleicht gar keiner Erwähnung bedarf. Niemand kann sich ernsthaft das Ziel setzen, die Geschichte aller zu berücksichtigenden religiösen und säkularen Traditionen souverän zu überblicken und allen Epochen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, auf die hier Licht fallen muß. Es kann deshalb nicht um eine durchgehende Geschichtserzählung gehen, die nur dilettantisch ausfallen könnte. Der hier beschrittene Weg besteht vielmehr darin, in jedem Ka31pitel eine klare theoretisch entwickelte Frage als Ausgangspunkt zu wählen und den Stoff der Geschichte für eine Beantwortung dieser Frage zu verwenden. Das ist nicht quellenbasierte Forschung im Sinne der Historikerzunft, sondern eher Soziologie – Soziologie aber wiederum nicht im Sinne der unhistorischen Erzeugung von Annahmen über gesetzesförmige Kausalzusammenhänge oder übergreifende Entwicklungstrends wie notwendig fortschreitende Rationalisierung, funktionale Differenzierung oder Modernisierung. Die theoretischen Fragen werden vielmehr selbst am Leitfaden der Entstehung und des weiteren Schicksals des moralischen Universalismus entwickelt.
Zweitens sind es vor allem zwei klassische Gestalten der Ideen- und Wissenschaftsgeschichte, auf die ich bei der Formulierung der theoretischen Fragen und der Suche nach deren Bearbeitung so weit es geht zurückgreife: Max Weber und Ernst Troeltsch. Dem Klassiker der Soziologie Max Weber und dem in der Soziologie ganz und in der Theologie partiell in Vergessenheit geratenen Ernst Troeltsch spreche ich größte Bedeutung für das hier verfolgte Projekt zu. Wie gleich im folgenden Kapitel deutlich werden wird, ist es mir auch wichtig, in beider Hintergrund als Anregung und Abstoßpunkt das Denken Friedrich Nietzsches wahrzunehmen. Diesem schreibe ich eine Pionierrolle bei der Zurückweisung teleologischen Geschichtsdenkens und augenöffnende Gedankengänge zur historisch kontingenten Entstehung von Werten zu. Was er dabei allerdings über das Judentum und das Christentum behauptete, wurde weder von Weber noch von Troeltsch bejaht. Im Gegenteil, beide formulierten äußerst gewichtige Einwände und entwickelten in ihren Lebenswerken jeweils wesentlich auch eine Alternative zu Nietzsche.
Im Blick auf Ernst Troeltsch läßt sich in äußerster Kürze und dem Folgenden vorausgreifend sagen: Er entfaltete eine historische Soziologie des Christentums, die für mein eigenes Projekt in vieler Hinsicht vorbildlich ist. Eine große Schwäche Troeltschs sehe ich allerdings in der Art und Weise, in der er sich zu den anderen großen Religionen der Welt äußerte. Für deren Verständ32nis kann sein Werk zwar zum Teil methodisch, gewiß aber nicht substantiell den Leitfaden darstellen.
Bei Max Weber dagegen ist kaum nachdrücklich genug die große Leistung zu würdigen, mit der er die »westliche« Entwicklung der Absicht nach umfassend in der indischen, chinesischen und islamischen Geschichte zu spiegeln versuchte. Zwar blieb die Beschäftigung mit der Geschichte des Islam bei ihm in den Anfängen stecken. Auch sind viele seiner Behauptungen im einzelnen, ob zum Islam, zu China oder Indien, heute nicht mehr zu verteidigen. Manche seiner Aussagen werden wegen Webers kanonischem Status im Fach Soziologie anhaltend hin und her gewendet, ohne dies recht zu verdienen. Aber Webers Abhängigkeit von einem überholten Forschungsstand werden ihm nur kleingeistige Kritiker vorhalten. So wichtig empirische Korrekturen sind, ist es, wie mir scheint, noch wichtiger, grundsätzliche Distanz zu seiner übergreifenden Fragestellung zu gewinnen. Nur dann kann aus Verbesserungen im Detail ein insgesamt angemesseneres Geschichtsbild als das Webersche entstehen. Wie sich zeigen wird, nötigt die Frage nach der Geschichte des moralischen Universalismus von vornherein dazu, sich der kulturellen Vielfalt von dessen Quellen anders bewußt zu werden, als es die Frage nach der Entwicklung des »okzidentalen Rationalismus« tut. Es wird weniger darum gehen, warum andernorts etwas nicht entstand, was sich im Westen entfaltete, und mehr darum, die Errungenschaften des Westens in ihrer Gefährdung zu erkennen und die Potentiale der nicht-westlichen Erfahrungen und Traditionen für den moralischen Universalismus zutiefst ernst zu nehmen. Weber hatte, wie seine berühmte »Zwischenbetrachtung« zeigt, durchaus Sinn für die welthistorische Bedeutung jeglicher Universalisierung von Brüderlichkeitsethik. In seiner Beschäftigung mit dieser bog er seine Ideen aber gleich wieder so zurecht, daß sie in das Narrativ fortschreitender Entzauberung und Rationalisierung paßten.[13]
33In seinem monumentalen Alterswerk hat Jürgen Habermas ebenfalls nicht den moralischen Universalismus, den er als Philosoph und politischer Intellektueller so leidenschaftlich vertritt, zum Leitfaden gemacht, sondern die »säkulare Rationalität«. Dies geschah deshalb, weil er in dieser die Gewähr für den moralischen Universalismus sieht, was die Religionen schon mit dem ersten Schachzug der Auseinandersetzung in die Defensive drängt.[14] Karl Jaspers' Zugriff, der eine Pluralität religiöser und säkularer Formen des moralischen Universalismus unterstellte, ist in dieser Hinsicht ergebnisoffener und näher am hier verfolgten Projekt.
Da aus Weber und Troeltsch nicht für alle Kapitel dieses Buches die leitende theoretische Fragestellung zu gewinnen ist – nicht für den Islam beispielsweise, nicht für die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts –, werden auch andere soziologische Theorien und Denker verschiedener Disziplinen für diesen Zweck herangezogen – von Carl Schmitt und Erik Peterson zu Ernst Kantorowicz und Étienne Gilson, von Reinhold Niebuhr und Marshall Hodgson zu Shmuel Eisenstadt und Robert Bellah. Daraus ergibt sich wie nebenbei auch mancher kleine Beitrag zur Theoriegeschichte. Aber dieses Interesse ist hier sekundär gegenüber dem primären an der Geschichte des moralischen Universalismus. Es wäre allerdings naiv, so zu tun, als könnten wir auf diese Geschichte ohne Reflexion auf die bereits vorliegenden Geschichtsbilder einfach zugreifen.
Immer wieder wurde bereits angedeutet, bisher aber nicht klar benannt, daß eine Geschichte des moralischen Universalismus eine Globalgeschichte sein müsse und sich nicht beschränken dürfe auf eine europäische, »westliche« oder »jüdisch-christliche« 34Geschichte. An dieser Stelle ist – als dritter Punkt der Vorklärungen – nun darzulegen, mit welchen kompositorischen Entscheidungen dieses Ziel erreichbar gemacht werden soll. Hierzu die folgenden Bemerkungen.
Die Entstehung des moralischen Universalismus in der Achsenzeit ist, wie bereits gesagt, der Ausgangspunkt der historischen Darstellung. Da die These lautet, daß dieser im antiken Israel, Griechenland, Indien und China entstanden sei, werden wir es hier mit den Quellen aller großen religiösen Traditionen der Welt zugleich zu tun bekommen. Israel und Griechenland sind auch die Quellen für Christentum und Islam, aber diese beiden größten »Universalreligionen« der Gegenwart sind nicht selbst in der Achsenzeit entstanden. Während auf die Besonderheiten des Christentums in seiner Ablösung vom Judentum schon im Zusammenhang mit der Frage der Entstehung des moralischen Universalismus eingegangen wird, soll die kontroverse Frage, ob der Islam tatsächlich eine Form des moralischen Universalismus darstellt, in einem separaten Kapitel an späterer Stelle erörtert werden (Kap. 12).
In jedes Kapitel vergleichende Darlegungen zu allen großen religiösen Traditionen aufzunehmen wäre schematisch und belastend. Es wäre auch verfehlt, die einzelnen Kulturräume voneinander zu isolieren und nicht auf ihre vielfältigen kulturellen, aber auch politischen, ökonomischen und militärischen Verflechtungen zu achten. Deshalb wird hier ein anderes Vorgehen gewählt. Der Konfuzianismus wird außer im Achsenzeit-Kapitel (Kap. 2) auch im Kapitel über »imperialen Universalismus« (Kap. 3) behandelt, der Buddhismus außer im Zusammenhang der Achsenzeit auch in dem Kapitel, in dem Augustinus im Zentrum steht. Das geschieht wegen der Fragen, die sich beim Zusammenbruch des einzigen Imperiums (von Kaiser Ashoka) ergaben, in dem der Buddhismus zwar keine Staatsreligion war, aber doch vom Kaiser unterstützt und privilegiert wurde (Kap. 4). Der Hinduismus schließlich wird im Vergleich mit dem lateinischen Christentum des europäischen Mittelalters 35kurz unter der Formel »organische Sozialethik« behandelt, was dabei aber nur einen unter mehreren Aspekten wie denen des Verhältnisses von Kaisertum und Papsttum oder des Personalismus darstellt (Kap. 5). Das gewählte Vorgehen verrät, daß bei allem Ehrgeiz hinsichtlich des interreligiösen Vergleichs der Leitfaden weitgehend in der Geschichte des Christentums liegt – was angesichts seiner überragenden welthistorischen Bedeutung durchaus zu rechtfertigen ist, aber auch den einfachen Grund hat, daß dort der Schwerpunkt der Kenntnisse des Verfassers liegt. Die Beweislast, daß daraus eine Verzerrung der Wahrnehmung der anderen Traditionen resultieren könnte, liegt auf seiten derer, die dies behaupten wollen.
Nur insofern kann man dem Vorgehen eine Abhängigkeit von den Siegern der Geschichte vorwerfen, als völlig oder fast völlig untergegangene Traditionen, die auch Anspruch auf Berücksichtigung erheben könnten, nicht auftauchen. Dies gilt etwa für die zarathustrische Religion Persiens oder den Manichäismus, der nur hinsichtlich der Auseinandersetzung mit Augustinus kurz gestreift wird.
Was nun die Geschichte von der Frühen Neuzeit bis zum zwanzigsten Jahrhundert betrifft, dienen zwei eher ungewöhnliche Schritte dem globalgeschichtlichen Ziel. Zum einen wird in der Frühen Neuzeit nicht vornehmlich die Reformation behandelt, sondern der Humanismus der Renaissance, und dieser wiederum nicht hauptsächlich in seinen großartigen europäischen Repräsentanten wie Erasmus von Rotterdam oder Thomas Morus. Mehr auch als Pico della Mirandola, dessen Name in der Geschichte der »Menschenwürde« häufig auftaucht, wird die Aufmerksamkeit hauptsächlich dem berühmten Dominikanermönch Bartolomé de Las Casas gelten, neben ihm aber auch einem in Europa kaum bekannten, aus Spanien stammenden Juristen und Bischof von Michoacán in Mexiko (Vasco de Quiroga). An deren Denken und Wirken wird die konkrete Konfrontation von frühneuzeitlichem Denken mit kolonialer Gewalt darzustellen sein (Kap. 6). Zum anderen wird bei den beiden großen Revolu36tionen des späten achtzehnten Jahrhunderts – der amerikanischen und der französischen –, die für die Geschichte der Menschenrechte und ihre Institutionalisierung in einzelnen Staaten so zentral sind, stärker, als es konventionell üblich ist, die koloniale und globale Dimension herausgearbeitet. Die amerikanische Revolution zeigt sich dann als eine Revolution einer kolonialen Elite, die bei allem universalistischen Pathos etwa der Unabhängigkeitserklärung von 1776 am radikalen Antiuniversalismus von Sklavenwirtschaft, Rassismus und rücksichtsloser Verdrängung der »native Americans« festhielt, und auch die Französische Revolution zeigt ihr eigentliches Gesicht erst, wenn die Ambivalenzen des Agierens der Republik in den Kolonien und die nachrevolutionären Kriege in Europa mitbedacht werden (Kap. 7). Auch die kurze Einbeziehung der dritten Revolution jener Epoche, nämlich der in Haiti, wird bei einer globalgeschichtlichen Perspektive unabweisbar.
In der Darstellung der Geschichte des moralischen Universalismus im zwanzigsten Jahrhundert wird es einerseits um die Geschichte der Menschenrechte gehen und andererseits um drei Fallstudien großer außereuropäischer Umwälzungen, von denen aus Licht auch auf diese Geschichte fällt. Allgemein akzeptiert ist es, die entscheidende Rolle des Motivs einer Überwindung von Nationalsozialismus und Faschismus für die Entstehung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 hervorzuheben und dabei auch nichtwestliche und nichtchristliche Akteure wahrzunehmen und zu würdigen. Das heißt aber nicht, daß überall ein Bewußtsein dafür besteht, wie sehr sich in Faschismus und Nationalsozialismus eigene antiuniversalistische, z. B. rassistische Formen des Imperialismus fanden und ihr Selbstverständnis aus dem Konflikt mit westlich-universalistischen und marxistischen Imperien ableiteten. Für die Verknüpfung der Geschichte des moralischen Universalismus mit der Geschichte der Imperien ist deshalb ein Blick auf die Geschichte des faschistischen Imperialismus Deutschlands und Italiens und seines Bündnisses mit Japan ein wichtiger Gesichtspunkt (Kap. 8). 37Die drei Fallstudien schließlich gelten der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung (Kap. 9), der antikolonialen Bewegung Indiens (Kap. 10) und der chinesischen »proletarischen« Kulturrevolution (Kap. 11). Die genauen Gründe für die Wahl dieser drei Fälle sollen erst in den entsprechenden Kapiteln erläutert werden. In äußerster Verknappung sei nur erwähnt, worum es dabei gehen wird: im ersten Fall um eine wesentlich christlich-prophetisch inspirierte Bewegung des zwanzigsten Jahrhunderts gegen eine ebenfalls als christlich gerechtfertigte rassistische Ordnung, dann um eine antikoloniale Bewegung, in der Gandhi und seine Mitstreiter das universalistische Potential der spirituellen Traditionen Indiens gegen den heuchlerischen Universalismus des britischen Kolonialreichs wendeten, und schließlich um einen marxistisch geprägten, radikal säkularistischen Universalismus, der sich in einer bestimmten Phase den tödlichen Kampf gegen alle Religion zum Ziel gesetzt hatte und selbst zum globalen Vorbild wurde.
Das Buch endet mit einem Schlußteil, der sich zunächst knapp der Frage zuwendet, ob nicht auch die Gefahr einer Auslöschung allen menschlichen Lebens in einem Nuklearkrieg, symbolisiert in den Namen der japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki, für eine Geschichte des moralischen Universalismus von zentraler Bedeutung ist. Dann geht es um die Herausforderungen einer an Menschenrechten orientierten Politik in einer Welt von Staaten auf drei Politikfeldern (Migration, Verhältnis zu nichtmenschlichen Lebewesen, Frieden), womit in realistischer Weise und ohne moralischen Überschwang auch auf die Chancen und Gefahren einer Politik unter den Prämissen des moralischen Universalismus eingegangen werden soll. Ganz am Schluß steht die Frage, wie der moralische Universalismus gegen die immer drohende Gefahr gesichert werden kann, zur Rechtfertigungsideologie in einem Kampf der Imperien zu werden.
Diese Studien ergeben zwar – wie gesagt – keine fortlaufende Geschichtserzählung, aber doch, so hoffe ich, ein Ganzes. Mit 38ihnen soll sowohl theoretisch als auch historisch ein zusammenhängender, wenngleich empirisch in alle Richtungen erweiterbarer Gedankengang vorgetragen werden, wie es sich mit der Globalgeschichte des moralischen Universalismus verhält.
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In der Einleitung zu diesem Buch[15] wurde schon das Programm entwickelt, um das es in den folgenden Kapiteln gehen wird. Zwei Punkte nötigen aber dazu, vor dem Einstieg in die historischen Darstellungen noch einmal innezuhalten. Zum einen bedürfen einige der verwendeten Schlüsselbegriffe noch etwas genauerer Erläuterung; zum anderen muß besser erklärt werden, warum die Wahl von Max Weber und Ernst Troeltsch als klassischen Bezugsautoren für die gesamte Argumentation nicht willkürlich ist und warum dennoch auch an sie nur sehr gebrochen angeknüpft werden kann.
Auf der begrifflichen Ebene ist es am dringendsten, den Titelbegriff dieses Buches, nämlich »Universalismus«, genauer zu bestimmen. Er taucht zweifach und in unterschiedlicher näherer Qualifizierung auf, als moralischer und als politischer Universalismus. In beiden Verwendungsweisen ist es nicht so, daß einfach die Gültigkeit ein und derselben Moral, politischen Ordnung oder Herrschaft in der ganzen Welt unterstellt würde. Zwar gibt es nach meiner Auffassung durchaus anthropologische Universalien, also Grundstrukturen des Organismus Mensch und seiner Umweltbezüge, aber diese sind hier nicht gemeint und werden nicht behandelt. Auch die kritische Verwendung des Begriffs »Universalismus« in Diskursen über kulturellen Plu40ralismus zielt auf eine ganz andere Problematik als die hier verfolgte,[16] nämlich auf die Ignoranz gegenüber der Vielfalt der Kulturen und die nivellierende Wirkung, die der Überlegenheitsanspruch einer Kultur gegenüber anderen auslösen kann. Es ist auch nicht gemeint, daß bestimmte Züge von Moralität vielleicht allen Kulturen und Epochen gemeinsam sind. Zwar spricht viel dafür, in Grundstrukturen der Reziprozität, wie sie die berühmte »Goldene Regel« ausdrückt, oder in Vorstellungen über Fairneß ein anthropologisch universales Phänomen zu sehen; aber dies hilft analytisch meist nicht viel weiter, weil es in allen Kulturen interpretatorische Vorkehrungen gibt, um die Anwendung der Prinzipien auf bestimmte Kategorien von Mitmenschen, etwa auf Landsleute oder Erwachsene oder Freie oder Männer, einzuschränken und andere wie Fremde, Kinder, Sklaven und Leibeigene oder Frauen damit auszuschließen. Hier kann es allerdings, wenn diese Einschränkungen und Ausschlußmechanismen in Frage gestellt werden, einen fließenden Übergang zur Verwendung des Begriffs »moralischer Universalismus« geben.
Als »moralischer Universalismus« wird im folgenden eine moralische Orientierung bezeichnet, die das Gute nicht nach seiner Nützlichkeit für eine partikulare Menschengemeinschaft bemißt und die das für an sich gut Gehaltene auch daraufhin befragt, was es für andere Menschen außerhalb einer bestimmten Gemeinschaft bedeutet. Für moralische Universalisten ist also eine Vorstellung von Menschheit leitend, die alle partikularen Kollektive wie Familie, Stamm, Volk, Staat, Nation, Religionsgemeinschaft überschreitet. Es handelt sich um einen normativ aufgeladenen Begriff von »Menschheit«, der auch noch über die gegenwärtig lebenden Menschen hinaus auf die Existenzbedin41gungen der zukünftigen Menschen und die Leiden von Menschen in der Vergangenheit zielen kann. In Ideen Immanuel Kants über die Universalisierung von Handlungsmaximen im Überprüfungsverfahren des kategorischen Imperativs hat die Intuition des moralischen Universalismus, die lange vor Kant schon der Sache nach vorlag und auch auf andere Weisen artikuliert werden kann, eine ihrer klarsten philosophischen Ausdrucksformen gefunden.
Um Mißverständnisse zu vermeiden, ist es in einem nächsten Schritt nützlich, zwischen »Trägern« und »Adressaten« dieses moralischen Universalismus zu unterscheiden. Als »Träger« werden im folgenden nicht, wie es der juristische Sprachgebrauch nahelegen könnte, diejenigen bezeichnet, die etwa Anspruch auf die Berücksichtigung ihrer Rechte erheben könnten, sondern – im Anschluß an die Religionssoziologie Max Webers – diejenigen sozialen Gruppen, welche die Geltung einer Moral oder Religion verfechten. Mit »Adressaten« sind diejenigen gemeint, auf die eine Moral oder Religion als zu berücksichtigende Menschen zielt. Anschaulich wird die Dringlichkeit dieser Unterscheidung, wenn wir uns klarmachen, wie klein die Zahl derer sein kann, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten Kultur von einem Menschheitsethos, d. h. dem moralischen Universalismus, ergriffen sind. Wenn es im zweiten Kapitel dieses Buches um die Ablösung des Christentums vom Judentum geht, wird unter Bezug auf die »Apostelgeschichte« aus dem Neuen Testament von der Zahl von etwas über 200 frühen Christen die Rede sein. Die genaue Zahl ist dabei nicht das Wichtigste. Es geht nur darum, klarzumachen, daß die Behauptung einer anthropologischen Universalie auf Milliarden Erdenbürger zielt, wohingegen der moralische Universalismus diese Menschen zwar alle zu »Adressaten« seiner moralischen Reflexionen macht, der Kreis der »Träger« des moralischen Universalismus aber sehr viel weniger Menschen umfaßt, wenn auch heute gewiß viel mehr als 200.
Weil die Träger des moralischen Universalismus immer eine 42bestimmte kulturelle und nationale Prägung aufweisen, sind sie stets in der Gefahr, nur ihre spezifische kulturelle Form des moralischen Universalismus anzuerkennen, statt sich um das Bündnis mit den Vertretern anderer Formen zu kümmern. Aus dem Motiv, dieser Gefahr nicht zu erliegen, erwächst der Nachdruck, der hier auf eine globalgeschichtliche Behandlung, ebenso aber auf die Berücksichtigung sowohl religiöser wie säkularer Formen des moralischen Universalismus gelegt wird.
Neben den moralischen Universalismus stelle ich, mit einem neu geprägten Begriff, den »politischen Universalismus«. Hier geht es um die Weltherrschaftsansprüche von Imperien, ihre Versuche zur machtgestützten Vereinheitlichung der Welt, die freilich auch nie ganz ihr Ziel erreichen, da jeder solche Versuch bei allen partiellen Erfolgen auch den Widerstand anderer Universalismen oder eines Anti-Universalismus auslöst. In concreto zwischen moralischem und politischem Universalismus zu unterscheiden ist oft analytisch schwierig und nicht ohne Werturteile möglich. Denken wir nur an das Verhältnis universalistischer und pseudo-universalistischer Dimensionen in der Außenpolitik der USA, der großen imperialen Macht der letzten Jahrzehnte.[17] Der angeblich den politischen Universalismus anleitende moralische Universalismus ist meist weder pure Heuchelei und ideologische Verkleidung nationaler Interessen noch wirklich so edel und frei von partikularen Interessen, wie er sich gibt.
In diesem Buch ist immer wieder explizit nicht von der »Geschichte« des moralischen Universalismus die Rede, sondern von seiner »Genealogie«. Das Motiv für diese keineswegs selbstverständliche Wortwahl liegt im Widerstand gegen teleologische Geschichtsrekonstruktionen und der entschiedenen Absicht, die 43Vergangenheit in ihrer Kontingenz zu erkennen. Unsere Gegenwart ist zwar Resultat der Vergangenheit, aber das Ausmaß, in dem die Vergangenheit gerade zu unserer Gegenwart führen mußte, ist keineswegs von vornherein klar oder durch übergreifende historische Gesetzmäßigkeiten oder Entwicklungstrends festgelegt. Der Begriff geht in diesem Sinne auf Friedrich Nietzsche und insbesondere seine Schrift über die Entstehung der jüdischen und der christlichen Moral mit dem Titel Zur Genealogie der Moral zurück. Im radikalen Unterschied zu Nietzsche spreche ich von einer »affirmativen Genealogie«, da es mir – im vorliegenden Fall des moralischen Universalismus – gerade nicht um dessen pauschale ideologiekritische Infragestellung geht, sondern um seine reflektierte Verteidigung und Stärkung. Bekanntlich kann die Erinnerung an die Entstehung eines Ideals und das Gedenken an die Opfer vergangener Gewalttaten und früheren Unrechts uns zutiefst ergreifen und dazu aufrufen, die Wiederkehr solchen Leids zu verhindern.[18]