Universum in der Tasche - Michael Marcus Thurner - E-Book

Universum in der Tasche E-Book

Michael Marcus-Thurner

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Beschreibung

Spannende, humorige und auch mal bitterböse literarische Abenteuer mit stets unerwarteten Wendungen in einem bunten Sammelsurium verschiedenster Genres. Eine Countdown-Uhr, so groß wie ein Sonnensystem, soll als Abschreibungsposten für den universumsweiten Konzern dienen … Kommandantin Fleurquin hat Schwierigkeiten, ihr Raumschiff zu beschleunigen und muss deshalb eine Meuterei bekämpfen … Mit einem Dachbodenfund von unermesslichem Wert will Joe die Nase endlich seinen ewigen Konkurrenten Karl den Finger übertrumpfen … Ferdl, die Schnecke, kriecht auf Rettungsmission, denn es geht um nicht weniger als die Zukunft der universellen Wissenschaft … Und die Fragen, warum der Weihnachtsmann an seinem einzigen Arbeitstag schlecht gelaunt ist, wohin all die Einzelsocken verschwinden, und wer die Erde nun wirklich erschaffen hat, werden endlich beantwortet. Diese Werkausgabe enthält 21 Kurzgeschichten aus den Jahren 1995 bis 2023.

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Seitenzahl: 313

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Inhalt

Titelseite

Impressum

Vorwort

TEIL 1: Science Fiction

Info zu: Neulich, bei Otto

Neulich, bei Otto

Info zu: Die Sache mit den Fliegen

Die Sache mit den Fliegen

Info zu: Ferdl, der Rettungsschneck

Ferdl, der Rettungsschneck

Info zu: Das Uhrwerk

Das Uhrwerk

Info zu: Sprung 69

Sprung 69

TEIL 2: FANTASY

Info zu: Aus dem Leben des Thaddeslav Wyrmbrom

Aus dem Leben des Thaddeslav Wyrmbrom

Info zu: Zigaretten aus Wien

Zigaretten aus Wien

Info zu: Seraphe und Astaroth

Seraphe und Astaroth

TEIL 3: SONDERBARES

Info zu: Moorhuhnjagd, Version 4.0

Moorhuhnjagd, Version 4.0

Info zu: Die traurige Geschichte von Joe die Nase

Die traurige Geschichte von Joe die Nase

TEIL 4: MONSTER UND SCHLEIM

Info zu: Anpassung

Anpassung

Info zu: Genesis

Genesis

Info zu: Die Sockenwelt

Die Sockenwelt

TEIL 5: KRIMINELLES

Info zu: Scanning Pattern

Scanning Pattern

Info zu: Bar-Ablöse

Bar-Ablöse

TEIL 6: HORROR

Info zu: Das Leben – ein Alptraum

Das Leben – ein Alptraum

Info zu: Das Holländerdörfl

Das Holländerdörfl

TEIL 7: REISEGESCHICHTEN

Info zu: Nun ja

Nun ja

Info zu: Pagarissimo

Pagarissimo

TEIL 8: PERRY RHODAN

Info zu: Das letzte Gespräch

Das letzte Gespräch

Info zu: Schluckauf und Karottenschnaps

Schluckauf und Karottenschnaps

Danksagung

Titelseite

Michael Marcus Thurner
Universum in der Tasche

Spannende, humorige und auch mal bitterböse literarische Abenteuer mit stets unerwarteten Wendungen in einem bunten Sammelsurium verschiedenster Genres.

Eine Countdown-Uhr, so groß wie ein Sonnensystem, soll als Abschreibungsposten für den universumsweiten Konzern dienen …

Kommandantin Fleurquin hat Schwierigkeiten, ihr Raumschiff zu beschleunigen und muss deshalb eine Meuterei bekämpfen …

Mit einem Dachbodenfund von unermesslichem Wert will Joe die Nase endlich seinen ewigen Konkurrenten Karl den Finger übertrumpfen …

Ferdl, die Schnecke, kriecht auf Rettungsmission, denn es geht um nicht weniger als die Zukunft der universellen Wissenschaft …

Und die Fragen, warum der Weihnachtsmann an seinem einzigen Arbeitstag schlecht gelaunt ist, wohin all die Einzelsocken verschwinden, und wer die Erde nun wirklich erschaffen hat, werden endlich beantwortet.

Diese Werkausgabe enthält 21 Kurzgeschichten aus den Jahren 1995 bis 2023.

Anthologie • Werkausgabe fabEbooks

Impressum

© Fabylon Verlag 2023 Korrektorat und Redaktion: Uschi Zietsch Covergestaltung: Madeleine Puljic unter Verwendung eines Motivs von Arndt Drechsler-Zakrzewski Abb. Perry Rhodan™ mit freundlicher Genehmigung ISBN 978-3-946773-45-0 Originalausgabe. Alle Rechte vorbehalten. www.fabylon.de

Vorwort

Im zarten Alter von 32 Jahren schrieb ich meine ersten Geschichten, also im Jahr 1995. Anfangs drehten sich meine Storys ausschließlich um PERRY RHODAN, jener Serie, die seit 1961 läuft und läuft und läuft. Woche für Woche erscheint ein neuer Roman.

Ich hatte den Drang, Geschichten zu erzählen, die in den offiziellen Romanen nicht oder kaum vorkamen. Liebe und Sex waren bei PERRY RHODAN bestenfalls Randnotizen. Über Emotionen wurde generell nicht gerne geredet, hatte ich den Eindruck. Aus einem gewissen Frust heraus wollte ich also etwas sagen und in Form von Fan-Fiction der Serie neue Aspekte erschließen. Auch der Humor spielte von Anfang an eine Rolle in den meisten meiner Geschichten.

1996 wurde meine erste PERRY RHODAN-Story veröffentlicht (sie ist in dieser Sammlung unter dem Titel »Das letzte Gespräch« enthalten), 1998 gewann ich den dritten Platz bei einem Kurzgeschichten-Wettbewerb. Je mehr ich veröffentlichte, desto größer wurde meine Lust, mich auch außerhalb des Perryversums zu betätigen. Ich eroberte immer mehr Genres für mich.

2002 wagte ich den Schritt in die Selbstständigkeit als Autor. Sagen wir mal so: Es war mehr als gewagt, was ich da tat. Es gab nicht die geringste Sicherheit, dass ich Erfolg haben würde. Aber irgendwie klappte es, und schon bald schrieb ich bei mehreren Heftromanserien mit. Publikumsverlage nahmen mich mit eigenen Science-Fiction-Projekten ins Programm, auch in der Fantasy und im Horror-Genre konnte ich reüssieren.

Ich war stets darauf bedacht, mir ein möglichst breites Spektrum an Geschichten zu erschreiben. Von der Kurzgeschichte über die Novelle bis zum dicken, fetten Roman. Von der Science-Fiction über die Fantasy zum Horror, vom Krimi zum Thriller. Auch wildeste Pornographie habe ich ausprobiert – und nein, ich schäme mich keineswegs dafür.

Es gibt von mir Geschichten, die ausschließlich im E-Book-Format erschienen sind. Das Skript zu einem PC-Spiel. Textteile eines Kabarettprogramms. Artikel, die in der Sekundärliteratur verortet sind. Ich war redaktioneller Mitarbeiter eines E-Book-Portals. Auch Exposés schreibe ich immer wieder mal. Nach meinen Handlungsvorgaben entstehen also Geschichten, die von Kollegen verfasst wurden.

Manchmal bin ich todernst, dann wieder wahnwitzig. Schleimige Monster kriechen bei mir aus irgendwelchen Ritzen, in meinen Dystopien ist alles nur grau und schrecklich und furchterregend.

Humor ist mir ein ganz wichtiges Element. Es ist zugegebenermaßen sehr schwer zu handhaben. Ich entschuldige mich an dieser Stelle dafür, sollten mein Sinn für Witz und Sarkasmus nicht jedermanns Geschmack treffen. Ich bin in Sachen Humor eher plump, wie auch im Bereich der zwischenmenschlichen Annäherungen. In Geschichten wie »Sprung 69«, die ebenfalls in dieser Anthologie vertreten ist, treibe ich die Sache mit dem Sex auf die Spitze, im wahrsten Sinn des Wortes.

Leserinnen und Leser tauchen mit diesem Büchlein also in einen Mischmasch an Erzählwelten ein. Sie bekommen ein buntes Universum zur Verfügung gestellt, das sie sich in die Tasche stecken können.

Ich wünsche viel Spaß beim Lesen.

Wien, im März 2023

TEIL 1: Science Fiction

Info zu:Neulich, bei Otto

Diese Geschichte entstand bei einem Wochenend-Schreibseminar in der Steiermark im Sommer 2002. Sie war Teil einer Übung. Innerhalb von zwei, drei Stunden hatte ich meine vage Idee einigermaßen ausformuliert und durfte sie unseren Lehrern präsentieren. Auf die Pointe bin ich heute noch stolz.

Einer der Vortragenden war Klaus N. Frick, schon damals Redakteur bei Pabel-Moewig, jenes Verlags, der PERRY RHODAN herausgibt.

Wenige Wochen danach erhielt ich von ihm ein Mail mit der Frage, ob ich mir vorstellen könnte, bei einer Miniserie des Verlags (»ATLAN-Centauri«) mitzuschreiben.

Die Geschichte um Otto wurde im Oktober 2003 in der Literaturzeitschrift »phantastisch!« erstveröffentlicht.

Neulich, bei Otto

Fultan Zwolf richtete seine Sinnesäste auf den Menschen aus und zerstrahlte ihn.

Widerlicher Gestank breitete sich aus, der Fultan entfernt an die Kloaken seiner Gelegehäuser erinnerte.

Der zanidische Aufklärer sah sich in dem engen und dunklen Zimmer um, registrierte beiläufig die spartanische Einrichtung und ärgerte sich über die ungewohnt kantige Formgebung, deren Anblick in seinen Facettenaugen schmerzte. Ein eckiger Tisch von eckigen Sesseln umgeben, auf denen eckige Papierstücke lagen …

Natürlich hatten ihn seine Auftraggeber über die dominante Spezies der kleinen, blauen Weltenkugel informiert und ihm auch viel über deren Kultur und Lebensumstände vermittelt. Die ungewohnten Sinneseindrücke, mit denen er seit seiner Landung konfrontiert war, verunsicherten ihn dennoch.

Der süßliche Geruch, die schwere, kaum atembare Luft, eine zu hohe Schwerkraft und die für sein Empfinden zu scharfen Ecken und Kanten machten ihm zu schaffen.

Rundungen und weiche Formen standen im Zentrum zanidischer Lebensphilosophie. Es kam auf Lieblichkeit und Harmonie an. Auf Empfindungen, die auf der Erde kaum Platz fanden.

Fultan ließ die drei Sinnesäste in einer leichten Konzentrationsübung gegeneinander kreisen und atmete tief durch. Seine chitingepanzerten Stimmlamellen knatterten lautstark.

Dann richtete der Zanide seine Äste wieder auf jene Position aus, an der der Mensch gestanden hatte. Er fühlte die langsam verblassenden Kraftlinien seines Opfers und zerrte es aus dem Limbus der Körperlosigkeit zurück. Der Mensch entstand aufs Neue.

*

Otto Zapletal hatte Schmerzen. Wahnsinnige Schmerzen, die aus dem Zentrum seines Leibes emporstiegen und die Haut in Brand zu setzen drohten. Gierig japste er nach Luft. Seine Muskeln versagten, er stürzte haltlos zu Boden und blieb dort mit unkontrolliert zitternden Gliedern liegen.

»… antworte mir, Menschenwurm!«

Die harte, monotone Stimme seines Gegenübers drang durch die Schmerzwellen in sein umnebeltes Bewusstsein. Otto machte flache, hastige Atemzüge und krümmte sich. Nach einer Weile ließen die Krämpfe nach. Noch nie zuvor hatte er solche Pein erlebt – und er hatte schon viel erlebt!

Otto hob mühsam den Kopf und erblickte das über zwei Meter große Lebewesen, das im Halbdunkel vor ihm stand.

Ein Kostüm!, schoss es ihm durch den Kopf. Das muss ein Kostüm sein!

Die Gestalt war in ständiger Bewegung. Graue Fühler zuckten auf Otto zu. Zwei lange, warzenübersäte Tentakel tasteten über den Boden und sonderten schleimige Flüssigkeit ab. Der schlanke Rumpf kreiste unaufhörlich gegen den Uhrzeigersinn.

»… ich sagte: Antworte mir, Mensch!«

Die Stimme kam aus der Mitte des Rumpfes!

Otto empfand keine Angst; er spürte auch keine Abscheu. Der Schmerz war mit einem Mal wie weggeblasen. Ein Riegel hatte sich vor seine Empfindungen geschoben, und mit plötzlicher Klarheit erkannte er, dass er unter Schock stand.

»Das nächste Mal wirst du mir antworten, Mensch!«, hörte er die Stimme des Wesens. Dann richteten sich die drei grauen Fühler auf ihn, verschränkten sich ineinander – und mit einem Gefühl des Bedauerns starb Otto zum zweiten Mal.

*

Der Mensch reagierte sehr langsam und verstand ihn offensichtlich nicht. Funktionierte etwa die Sprachmodulation lückenhaft? Nein, ausgeschlossen! Der Mensch wollte ihn nicht verstehen.

Der Zanide atmete zornig durch und rotzte Putzschleim auf den Boden des abstoßend eckigen Raumes. Fultan Zwolf würde die Gangart verschärfen müssen.

*

Otto Zapletal wurde wiedergeboren, wurde in eine Existenz aus Verkrampfung und Atemlosigkeit, aus Scham und Hass und Angst zurückgerufen. Wieder lag er da, am selben Fleck wie zuvor. Um seine Leibesmitte breitete sich warme Flüssigkeit aus. Otto brüllte, stöhnte und schnappte nach Luft, nach Leben.

»… wirst du mir endlich sagen, was ich wissen muss?«

Otto begriff nicht. Er verstand bloß Wortfetzen. War dieses Wesen ein verkleideter Mensch, oder gaukelte ihm seine Fantasie etwas vor? Es wollte Informationen von ihm und merkte nicht, dass die Pein in Ottos Körper jede normale Reaktion, jede Antwort verhinderte. Er war gestorben, hatte sich im Nichts aufgelöst – und war nach einer nicht messbaren Zeitspanne ins Leben zurückgeholt worden. Ein unglaubliches, ein unfassbares Erlebnis!

»Kann nicht … antworten!« Ottos Stimmbänder versagten. Die Augen brannten, sein Magen revoltierte.

»Du willst nicht«, stellte das Wesen emotionslos fest.

»Warte … warte!«, krächzte Otto. »Nur einen Moment!«

Sein Gegenüber ließ die drei Tentakel schlaff zu Boden fallen.

Er – oder es – verstand also.

Otto würgte und erbrach. In mehreren Schüben kam Unverdautes hoch, und nachdem er seinen Magen entleert hatte, fühlte er sich endlich, endlich besser.

Unsicher rappelte er sich hoch, sah sein Gegenüber, dieses Ding aus einem Alptraum an. Was wollte es von ihm hören? Was suchte es hier? Warum hatte es ausgerechnet ihn gefunden?

Einerlei. Otto lächelte, sammelte seine Kräfte und begann zu schreien, so laut er konnte. »Leck mich am Arsch, du hässliche Sau!«, brüllte er dem Monstrum entgegen, spuckte es an, machte obszöne Gesten und tat so, als wollte er es attackieren.

Die drei Tentakel seines Gegenübers zeichneten seltsame Muster in die Luft, und Otto starb zum dritten Mal.

Mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen.

*

Fulton Zwolf musste wohl Zeit und Geduld aufbringen. Er würde die Informationen, die er für seinen Auftraggeber besorgen sollte, über kurz oder lang erhalten. Dieses Menschenwesen würde noch ein Dutzend Mal sterben, wenn es denn sein musste.

Mit einem Tentakel wischte er verärgert einige Zettel vom Tisch und schleuderte die kantigen Sessel angewidert aus seinem Sichtbereich.

Ein Blatt schwebte langsam zu Boden, während er sich auf die Wiederbelebung seines Opfers vorbereitete.

Hätte Fulton Zwolf die winkligen Schriftzeichen, mit denen es eng bedruckt war, entziffern können, wären ihm Zweifel an dem baldigen Erfolg seiner Mission gekommen, denn bei dem Papierbogen handelte es sich um eine Anzeigenseite des Österreichischen Kontakt-Magazins.

Ich, der geile Otto aus Wien-Penzing, bin Masochist aus Passion, stand da geschrieben. Lass mich dein dankbarer, schmerzerfüllter 24/7-Sklave sein. Keinerlei finanzielle Interessen.

Info zu:Die Sache mit den Fliegen

Ich verbrachte in den Achtzigerjahren enorm viel Zeit im »Blauen Café«. Das Kellerlokal hatte nicht nur unter Motorradfahrern einen besonderen Ruf. Die Sperrstunde wurde oftmals von zwei Uhr auf drei, vier oder fünf Uhr in den Morgen verlegt. Oftmals half ich dem Besitzer, das Lokal aufzuräumen, das Geschirr abzuwaschen, die Küche zu reinigen, Bierfässer zu schleppen. In den handylosen Achtzigern hatte meine Freundin die Festnetz-Telefonnummer vom Blauen Café, weil sie mich ab 19 Uhr mit sehr großer Wahrscheinlichkeit dort erreichen würde.

Die folgende Story (entstanden etwa 2001) ist also meinem liebsten Rückzugsort und dem Besitzer des Blauen Cafés gewidmet. Nicht alles, was mich mit diesem Lokal verbindet, sehe ich heute positiv. Aber es ist nun mal ein wichtiger Teil meiner persönlichen Lebensgeschichte.

Darüber hinaus wurde ich von den humoristischen Kurzgeschichten des amerikanischen SF-Autors Spider Robinson inspiriert. Sie spielten in »Callahan’s Saloon«, in dem man durchaus einmal eine Zeitreise antreten konnte oder mit Aliens konfrontiert wurde, die an einem Tullamore Dew nippten.

Die Sache mit den Fliegen

Du willst wissen, wie ich IHN kennenlernte? Und du bist Journalist?

Geld? Damit kannst du mich nicht locken. Ich gebe dir das Interview unter einer Voraussetzung: Dass du alles so abdruckst, wie ich es dir sage. Ohne Wenn und Aber, ohne Kommentar.

Du bist einverstanden? Und du gibst mir dein Ehrenwort als Journalist?

Na gut, dann setz dich nieder. Bestellen wir uns etwas. Wein? Oder Bier?

Also. Die Geschichte begann hier, in diesem Lokal …

*

Das Café hat keinen Namen. Manche nennen es das Blaue Café wegen des farbigen Schildes, das du sicherlich draußen gesehen hast. Aber unter Stammgästen wird es nur Café genannt.

Ich schweife ab? Nein. Ich will dir begreiflich machen, unter welchen Umständen wir IHN kennenlernten. Die Atmosphäre spielte eine wichtige Rolle, und das Café nahm dabei eine wichtige Rolle ein.

Es ist nicht bloß ein Ort, an dem man sich trifft und unterhält. Schau dich mal um, was hier so alles passiert: das Pärchen dort in der Ecke, das sich verliebt in die Augen blickt. Die beiden Jungs am runden Tisch, die Schach spielen und dabei die Welt ringsum vergessen. Die ältere Dame an der Bar, die in ihrer Zeitschrift versunken ist. Fällt dir etwas auf?

Nein, natürlich nicht. Du bist fremd hier, du kannst es nicht spüren. Ich werde dich jetzt in das Geheimnis des Cafés einweihen: Das Lokal ist eine Zeitmaschine.

Du lachst?

Du hältst mich für eigentümlich, nicht wahr? Du brauchst es gar nicht leugnen, ich sehe es dir an. Aber horch mir zu und widerlege mich, wenn du kannst.

Das Café ist eine Zeitmaschine, aber natürlich bloß im übertragenen Sinne. Die Gäste kommen hierher, um einsam und verlassen über ihre Sorgen nachzudenken. Sie plaudern zu zweit oder in Gruppen. Sie streiten und sie lieben sich, sie lernen neue Leute kennen oder trennen sich von ihnen. Sie gestalten dabei ihre eigenen Zeitabläufe, die sich von jenen der Welt dort draußen gehörig unterscheiden. Äußere Einflüsse gibt es kaum. Die einzige Uhr über dem Tresen ist defekt. Beide Zeiger deuten stets auf die Zwölf. – Ich frage mich schon seit Jahren, ob damit Mittag oder Mitternacht gemeint ist. Doch letztlich spielt es keine Rolle.

Der einzige Eindringling in die abgeschottete Welt der Gäste ist der Barkeeper. Ja, richtig. Er heißt Manfred, besser gesagt: Mandi.

Seit den Ereignissen mit IHM arbeitet er nicht mehr all zu oft. Leider …

Einerlei.

Du wirst jetzt sagen, dass nach meiner Definition jedes öffentliche Lokal eine Zeitmaschine ist. Damit hast du recht. Aber es gibt eine wichtige Nuance, die du nicht überall finden wirst. Das Blaue Café ist für seine Stammgäste eine Art heiliger Ort, ein Sanctum Sanctorum. Wir spüren, ob jemand alleine sein will oder Gesellschaft benötigt.

Neue Gäste, die zufällig hierher finden, fühlen sich entweder sofort heimisch oder werden wie Fremdkörper abgestoßen. Die sieht man garantiert nur einmal im Café.

So wie dich, zum Beispiel. Ich merke es dir an. Du sitzt da, als hättest du saure Zitronen gegessen. Ich bin lange genug Gast und habe ein feines Gespür für Neue entwickelt.

Aber jetzt schweife ich wirklich ab.

Also: An jenem Abend, als ER das Café betrat, spürte ich augenblicklich, dass ein Fremdkörper in unsere Zeitblase vorgedrungen war.

*

ER betrat das Lokal nicht, ER war einfach da.

Ich unterhielt mich gerade mit Mandi an der Bar über Fußball. Er wollte mir wieder einmal einreden, dass seine Blau-Gelben besser wären als meine Grün-Weißen. Wir heckten soeben die Bedingungen für eine kleine Wette aus, als wir IHN sahen.

Falsch. Wir übersahen IHN.

Mandi erschrak. Es erachtete es als eine seiner wichtigsten Pflichten, Gäste beim Betreten des Blauen Café ab- und einzuschätzen. Er besaß ein geübtes Auge und filterte jene Leute aus, die die Harmonie in den Wirtsräumen beeinträchtigten. Doch diesmal versagte unser Wirt. Fassungslos blickte Mandi IHN an, als ER neben uns wie aus dem Nichts auftauchte.

»Guten Abend, moine Herren.«

Nein, ich mache keine Scherze. ER sagte tatsächlich moine. Diese blasierte Sprache, meist mit einem nasalierenden Singsang verbunden, ist hier häufig anzutreffen. Sieh dich um, und du wirst einige Tintenburgen in der Umgebung entdecken: Innenministerium, Landwirtschaftskammer, Arbeiterkammer, Parteizentralen und so weiter.

Du glaubst mir schon wieder nicht, hm? Aber ich sage dir, man lernt im Laufe der Jahre den beruflichen oder privaten Hintergrund der Besucher rasch einzuschätzen.

Die Leute vom Fitness-Studio gegenüber rufen stets laut »Hi!«, wenn sie die Treppe herunterkommen. Darüber hinaus laufen sie das ganze Jahr über mit melanomverdächtiger Bräune umher. Die Jungs vom Security-Haufen, die sich regelmäßig im Café treffen, grüßen gar nicht, gehen steif wie Bretter und zucken bestenfalls nervös mit den Augenlidern, wenn man sie anspricht. Echt harte Jungs, höhö.

Mitglieder des Clubs der einsamen und eisernen Jungfrauen – ja, da hinten an dem großen Tisch sitzen sie – kichern ihre Begrüßungen und halten dabei immer eine Hand vors Gesicht, damit die Schminke nicht verrutscht. Die Studenten der Akademie zeigen mit ihren Fingern das Victory-Zeichen und lächeln ein wenig einfältig, wenn sie wieder mal zu viel von ihrem Kraut geraucht haben. Ein Kawasaki-Fahrer braucht nichts zu sagen, den erkennt man augenblicklich an den öligen und schmutzstarrenden Händen. Und wenn ein Exekutor das Café betritt, reicht ein Blick zu Mandi. Der bekommt dann das nervöse Zucken in den Mundwinkeln. Muss so eine Art Allergie sein.

Wo war ich? Ach ja: ER sagte »moine« Herren, und wir wussten, dass ER nur Beamter sein konnte. Mandi und ich wechselten Blicke. Der Abend hatte so nett begonnen – und nun das.

Diese Schreibtischtäter mieden das Café gewöhnlich wie der Teufel das Weihwasser. Sie passten nicht hierher, sie fühlten sich unwohl. Kein Wunder. Ab und zu konnte es im Café ein wenig … ungeregelt zugehen.

Warum schüttelst du den Kopf? Du hast versprochen, dir meine Geschichte anzuhören.

SEINE Stimme war eintönig, fast ohne Betonungen. SEIN gestelztes Benehmen hob unsere Laune auch nicht gerade. Das Beamtentum war IHM ins Gesicht gestempelt. Korrekte Kurzhaarfrisur, dicke, runde Hornbrillen mit wässrigen Augen dahinter, eine abgezirkelte, leicht angegraute Rotzbremse, die Wangenhaut unrein und voller Pickel, ein Ansatz zum Doppelkinn.

Schau nicht so entsetzt, Junge. Schönheit war ER keine.

Nach meiner kurzen Musterung grüßte ich ihn mit »Hallo«, so leise wie möglich, in der Hoffnung, dass ER uns in Ruhe lassen würde.

Aber ER ließ sich nicht beirren. »Darf ich mich zu Ihnen gesellen, moine Herren? Ich bin ein wenig müde und würde mich über ein freundschaftliches Schwätzchen froien.«

Mandi bekam erst jetzt den Mund zu. Es hatte ihn wirklich getroffen, dass er IHN nicht schon beim Betreten des Lokals bemerkt hatte.

»Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«, fragte Mandi.

Beabsichtigt oder nicht – er verfiel in die gestelzte Redeweise unseres merkwürdigen Gastes.

»Warum nicht, Herr Wirt? Ein kloines Glas Mineralwasser, wohl temperiert und mit viel Kohlensäure, wenn es geht, bitteschön.«

Mandi atmete tief durch. Ich ahnte, dass er darüber nachdachte, den Kerl kurzerhand vor die Tür zu setzen. Doch er fing sich wieder, nickte freundlich und machte sich an die Arbeit. Ich blieb indes mit dieser personifizierten Beamten-Karikatur alleine.

Ich fühlte mich unwohl. Jawohl, unwohl, das kannst du ruhig schreiben. ER hatte eine negative Ausstrahlung. Nein, nicht negativ, das ist das falsche Wort. ER verursachte ein Unwohlsein, das man fühlt, wenn man in eine Decke beißt. Es stellen sich einem die Nackenhaare auf, ohne dass man dagegen etwas tun kann.

»Mein Name ist Carl V.«, sagte er. »Carl mit C geschrieben, haha.«

Mit SEINEM Humor stand es also auch nicht zum Besten.

»Angenehm.« Ich beschränkte mich auf jenes Mindestmaß an Höflichkeit, in der Hoffnung, dass ER mich bald in Ruhe lassen würde.

»Wissen Sie, eigentlich bin ich kein besonders geselliger Mensch, aber manchmal benötige ich doch jemanden, mit dem ich moine Sorgen teilen kann.«

Innerlich schrieb ich den Abend ab, der so ruhig und friedlich begonnen hatte. ER ließ sich einfach nicht abwimmeln.

Ich wollte IHM gerade ins Gesicht sagen, dass ER sich Duweißtschonwohin begeben sollte, als Mandi mit dem Glas Mineralwasser zurückkam. Er kannte mein Temperament und versuchte, beschwichtigend einzugreifen.

Er stellte das Getränk vor IHM ab und fragte: »Wo drückt Sie denn der Schuh, Carl?«

»Ach, wissen Sie, es ist dieses Problem mit meinen Schilddrüsen.« ER nippte mit gespitzten Lippen am Wasser. ER umklammerte das Glas mit einer kleinen, blassen Hand, die fein manikürt war. In diesem Moment hätte ich meine gesamten Besitztümer darauf verwettet, dass dieser Mensch in seinem Leben nie etwas Schwereres als einen Bleistift gehalten hatte.

ER schwafelte drauf los. Er redete von Beschwerden im Kehlkopfbereich, hormonellen Schwankungen, medizinischen Eingriffen, Substitutionsbehandlungen, alternativen Heilmethoden und unendlich langweiligem medizinischen Blabla. Ich gab mir nicht die Mühe, SEINEN endlosen Ausführungen zu folgen. Das zweite, dritte und vierte Glas Rotwein, das Mandi in rascher Folge vor mir abstellte, tat seine Wirkung. Dazu kam SEINE eintönige Stimme. Meine Augenlider wurden immer schwerer und ich gähnte unverhohlen.

»Vielen Dank für diesen medizinischen Exkurs, Herr Carl. Aber eigentlich kommt man ins Café, um unangenehme Sachen wie Krankheiten, berufliche Schwierigkeiten oder Eheleben hinter sich zu lassen. Also: Wenn es für Sie kein dringenderes Problem gibt als die Entfernung Ihrer Schilddrüsen, würde ich Sie bitten, in Zukunft mit dem Garderobenständer dort hinten in der Ecke zu sprechen. Der interessiert sich mit Sicherheit mehr für Ihr Krankheitsbild. Ich hingegen würde mich gerne dem wunderbar süffigen Viertel Wein widmen, das hier vor mir steht und auf meine ungeteilte Hingabe wartet.«

Ich redete mich trotz der warnenden Blicke Mandis immer mehr in Rage. Ich fühlte mich um meine Zeit betrogen und missachtete alle Regeln der Höflichkeit.

Aber ER ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

»Ich verstehe Ihre Ungeduld. Aber ich komme bereits zum Kern der Sache.«

»Na, dann aber rasch!«

Ich setzte das Glas an die Lippen – das vierte oder das fünfte? – und schmeckte das reife Aroma des Weines, während ER mit seiner Erzählung fortfuhr.

»Nun, um es kurz zu machen: seitdem moine Schilddrüsen teilentfernt wurden, kann ich mir wünschen, was ich will, und es geht in Erfüllung. Was für ein grausames Schicksal.«

Was für ein Timing! Als hätte er bloß darauf gewartet, dass ich am Roten nippte! Ich prustete drauflos, vom Wein blieb nicht viel im Glas zurück. Der Rebensaft verteilte sich gleichmäßig über Hände, Ärmel und Bar.

Ich verschluckte mich und musste heftig husten. Mandi klopfte mir bereitwillig – und übertrieben kräftig – mit seinen bratpfannengroßen Händen auf den Rücken, während ich versuchte, meinen Körper zwischen Lachen, Weinen und Ersticken auszubalancieren.

Der mysteriöse Fremde stand nach wie vor regungslos neben mir und beobachtete mich. Trotz meines Zustandes spürte ich SEINE Blicke auf mich gerichtet – und das war kein angenehmes Gefühl, glaub es mir.

Sobald ich wieder atmen konnte, hakte ich nach, mit Tränen in den Augen: »Nicht, dass wir einander missverstehen, Carl. Ich glaubte, soeben gehört zu haben, dass alle Ihre Wünsche in Erfüllung gehen.«

»Nein.«

Ich wurde unsicher. »Na, da bin ich ja beruhigt!«

»Ich sagte: Ich kann mir wünschen, was ich möchte. Loider geht nicht alles gemäß meinen Vorstellungen in Erfüllung.«

Nun wurde auch Mandi unruhig. »Ein guter Scherz in Ehren, lieber Carl, aber das geht nun wirklich zu weit.« Mandi machte sich den Spaß, IHN dabei als Tsarl anzusprechen. Du verstehst – mit C am Anfang.

ER lächelte humorlos. »Ich verstehe Ihr Misstrauen, Herr Wirt. Aber glauben Sie mir, ich kann mir wünschen, dass etwas passiert, und im nächsten Moment wird der Wunsch zur Realität. Doch moine Gabe hat einen Haken.«

ER legte eine Kunstpause ein, wohl in der Hoffnung, dass wir IHN mit Fragen löchern würden. Aber den Gefallen taten wir ihm nicht. Der Kerl nervte. Zuerst langweilte ER uns mit einer ellenlangen Einleitung, und dann gab ER eine Geschichte zum Besten, die den alten Münchhausen im Grab zum Rotieren gebracht hätte.

ER brach das Schweigen. »Würden moine Wünsche alle in Erfüllung gehen, so wie ich es wollte, hätten wir das Paradies auf Erden.«

In Gedanken widersprach ich heftig. Wahrscheinlich würden wir dann alle in Büros sitzen, fahle Zimmerpflanzen gießen und rund um die Uhr Bleistifte spitzen. Brrr!

»Moine Gabe wirkt unglückseligerweise – wie soll ich es ausdrücken – also, moine Gabe wirkt absolut. Sobald ich etwas will, ist es Wirklichkeit. Koiner außer mir weiß, dass es ein Vorher gegeben hat. Die Änderungen werden von niemandem bemerkt, und damit sind die neuen Umstände Tatsache. Ein woiteres Problem ist natürlich, dass moine Wunschvorstellungen eine ungeahnte Eigendynamik entwickeln. Sie müssen das so sehen: Wenn ich mir heute wünsche, dass eine bestimmte Personengruppe an einem Virus zugrunde gehen soll, so ist das im nächsten Moment passiert. Ich kann diese Entscheidung aber nicht mehr rückgängig machen. Viren haben bekanntermaßen die unangenehme Eigenschaft, sich blitzschnell zu vermehren, permanent zu mutieren und sich geänderten Lebensumständen anzupassen. Binnen Zehntelsekunden wären sie außerhalb moiner Kontrolle, denn ich könnte mir ja nur diejenigen wieder wegwünschen, die ich kurz zuvor geschaffen hatte. Um die neuen Virenstämme ebenfalls wegzuwünschen, müsste ich sie benennen können. Sie sehen, ich muss mit meiner Gabe äußerst sorgfältig umgehen!«

»Lächerlich!« Ich wurde wütend. »Eine solche Gabe könnte die Welt, wie wir sie kennen, von einem Moment zum anderen verändern. Aus Christen würden Moslems werden, ohne dass wir etwas bemerkten. Bei allem Respekt, Herr V., bei Ihnen im Oberstübchen, da piepst eine ganze Vogelkolonie.«

»Das ist ja moin Problem. Keiner schenkt mir Glauben! Ich wünsche mir, dass alle Menschen dieser Welt ab nun Kuhschwänze tragen, und es passiert. Koiner weiß mehr, wie es vorher war.«

»Natürlich tragen wir allesamt Kuhschwänze«, warf Mandi mit bitterbösem Gesicht ein. »Wie sollten wir sonst die Fliegen vertreiben?«

Pfeifend ließ ich meinen Schweif durch die Luft sausen, um ein Fliegengeschwader von meinem Hinterteil zu verjagen.

»Sehen Sie! Und jetzt … Ach was, Sie glauben mir ja doch nicht.« Verärgert, kaum noch hörbar, murmelte ER einige Worte über die Entfernung von Kuhschwänzen. Natürlich veränderte sich nichts. Menschen mit Kuhschwänzen? Was für eine lächerliche Vorstellung!

»Sie können sich natürlich nicht mehr daran erinnern, aber für etwas mehr als zehn Sekunden besaß jeder Mensch dieser Erde einen Kuhschwanz.« ER ließ uns nicht zu Wort kommen, und fuhr mit ungewohnt harter Stimme fort: »Und natürlich haben sich in diesen wenigen Sekunden der veränderten Realität auch die Umstände geändert. Das ist der Fluch meiner Wünscherei! Oder woher, glauben Sie, kommen die Fliegenschwärme in Ihrem werten Betrieb, Herr Wirt? Mit dem Wunsch nach Kuhschwänzen schuf ich einen Grund dafür, den ich ebenfalls zur Realität werden ließ. Ich kann ja schwerlich sagen, dass ich mir alle Fliegen dieser Welt wegwünsche!«

Tatsächlich. Das Blaue Café war voll mit Fliegen, das Brummen der Störenfriede war überdeutlich zu hören.

Nicht, dass ich diesem Giftzwerg auch nur ein Wort geglaubt hätte. Aber immerhin, ER hatte meine Aufmerksamkeit. Auch wenn ich genau wusste, dass die Fliegen das Café schon immer bevölkert hatten.

Mandi setzte das Gespräch fort. »Na schön, Herr V., wir haben genug von ihrer angeblichen Gabe und Ihren Problemen gehört. Aber wie können wir Ihnen helfen? Es gibt gewiss einen Grund dafür, dass Sie mit uns reden wollen.«

»In der Tat, ich brauche einen Rat.« V. nippte an seinem Mineralwasser. »Moine Fähigkeit mag ihre Vorteile besitzen, aber etwas kann und konnte sie mir nie geben: Zufriedenheit. Anerkennung. Liebe. Das sind Gefühle, die mir für immer verschlossen bleiben. Natürlich, ich kann mir alles, was ich will, erwünschen. Aber wie erreiche ich, dass ich um moiner selbst geliebt und geachtet werde?«

Ein Seufzer, der fast so etwas wie Mitleid in mir erweckte, hauchte sein zartes Leben im frisch gefüllten Glas unseres merkwürdigen Gesprächspartners aus. Ich wurde unruhig. Der Bursche war reif für die Klapsmühle. Die andere Möglichkeit – nämlich die, dass er die Wahrheit sagte – wollte ich nicht einmal ansatzweise in Erwägung ziehen.

Da stand er nun, der Anti-Mensch in Person, lebendig gewordene Langeweile. Und diese Trauergestalt behauptete, die Welt nach ihren Wünschen formen zu können?!

Ich suchte ratlos den Blickkontakt zu Mandi. Der wirkte nachdenklich.

Nun muss ich erwähnen, dass mein Stammwirt ein Übermaß an Einfühlungsvermögen besaß. Das musste er auch, das gehörte zu seinem Beruf als Steward in unserer Zeitmaschine.

Mandi dachte ernsthaft nach. Und wenn es ihm auch nur darum ging, IHN loszuwerden – er beschäftigte sich mit dem Problem.

»Carl, ich kann Ihre Probleme nur schwer nachvollziehen. Sie wollen, dass man Sie um Ihrer selbst mag und schätzt?«

»Ja, ja!«, ereiferte sich V. »Ich möchte Anerkennung, Aufmerksamkeit, Liebe und dergleichen spüren.«

Mandi kräuselte die Stirn und starrte auf einen imaginären Punkt an der schmutzig-grauen Decke. Ich stellte mir vor, wie sich die Zahnräder in seinem Kopf schwerfällig drehten. Das war so seine Art. Er hatte schon längst eine Lösung, aber er wälzte sie noch ein wenig im Sud seiner Gedanken, piekste sie von allen Seiten und schleifte sie ein wenig ab.

Dann winkte er IHN näher an sich heran und flüsterte IHM ins Ohr.

Ich sag dir, es können nicht mehr als ein paar Sätze gewesen sein, aber es war zu laut im Café, um die Worte verstehen zu können.

ER blickte verdutzt und begann dann selig zu lächeln. »Wie kann ich Ihnen danken, Herr Wirt?«, fragte er voll Überschwang. »Das ist eine ausgezeichnete Idee!«

»Nun, da fiele mir schon was ein.« Mandi lächelte hinterfotzig in meine Richtung und flüsterte IHM noch ein paar Worte ins Ohr.

ER nickte hektisch, verlangte die Rechnung, rundete großzügig von acht Euro auf acht Euro zwanzig auf, schüttelte uns beiden die Hand und verließ fluchtartig das Café.

»Mandi, was hast du ihm erzählt? Los, sag schon!«

Mandi ließ mich geschlagene zehn Minuten lang bitten und betteln, bevor er antwortete. »Mit ein wenig Einfühlungsvermögen erkennt man V.’s Problem; aber das kann man von dir ja nicht verlangen.«

»He!«

»… In seinem Streben, die Welt zu verbessern, hat er doch immer nur seine persönliche Befriedigung in den Vordergrund gestellt. Die Welt hatte so zu funktionieren, wie ER es wollte. Das habe ich ihm begreiflich gemacht. Die Achtung der Menschen erreicht man aber nicht, indem man sie von oben her reguliert oder beeinflusst, sondern indem man ihnen dient.«

Ich war verwirrt. »Das hört sich nett und schön an, ist aber bloß Blabla. Sag mir endlich, was du ihm für einen Rat gegeben hast.«

»Denk dran, dass wir es mit einem Spinner der Oberliga zu tun hatten. Mit seiner Ich-Bezogenheit und dem absoluten Mangel an Fantasie hat V. sicherlich noch nie darüber nachgedacht, ob es uns herkömmlichen Erdenwürmern recht sein würde, manipuliert zu werden. Also habe ich ihm vorgeschlagen, den Spieß umzudrehen. Er sollte den Menschen helfen und ihnen die Sorgen abnehmen. Kurz und bündig: Er sollte sich wünschen, uns zu erlösen.«

»Wie bitte?!« Ich verschluckte mich ein zweites Mal an diesem Abend.

Mandi blieb gelassen. »Ich riet ihm, zum Stephansdom zu gehen, ins Zentrum der Stadt, und sich dort an die Arbeit zu machen. Er sollte Schuld und Sünde von uns allen auf sich nehmen.«

Es dauerte eine Weile, bis ich den Mund wieder zubekam. »Und bei all dem hast du ein ernstes Gesicht behalten? Du schickst den Menschen auf den Olymp der Lächerlichkeit und bleibst hier regungslos stehen? Der arme Tropf steht jetzt wahrscheinlich vor der Stephanskirche, wartet auf göttliche Absolution – und wir diskutieren hier noch? Auf, auf, das möchte ich sehen!«

»Nein.« Mandi sagte das Wort mit unmissverständlicher Strenge. »Es ist eine Sache, sich über einen Menschen lustig zu machen. Die Schadenfreude aber auch noch zu zelebrieren – das gehört sich nicht.«

Er war eine moralische Autorität, der Herr Wirt. Ich duckte mich unter seinen bösen Blicken, nuckelte an einem frischen Glas Rotwein und bemühte mich vergeblich, wieder ein Gespräch in Gang zu bringen.

*

Tja, und damit endet die Geschichte. Du weißt ohnedies, was danach passierte.

Knappe zehn Minuten später standen wir alle wie auf Kommando auf und marschierten Richtung Stephanskirche. Als ich ankam – ich hatte Mandi aus den Augen verloren – war der Platz trotz der späten Stunde gesteckt voll. Ich konnte aus der Ferne gerade noch erkennen, wie ER SEINE Arme ausbreitete. Ich spürte, wie mein Kopf auf einmal leicht wurde, wie eine Riesenlast von mir abfiel. Das Gefühl dauerte wenige Sekunden, dann kam dieser schreckliche Augenblick der Stille. Alles schien den Atem anzuhalten, die gesamte Schöpfung. Diese schreckliche Ruhe … brrr!

Und erst, als wir über IHN herfielen, IHN zerrissen und zerfetzten, endete dieser Moment innerer Ruhe.

*

Willst du noch ein Achtel? Nein? Macht nichts, ich muss ohnehin gehen.

Was ich fühlte? Dumme Frage! Das, was alle Menschen der Welt spüren konnten. Wir wurden von all unseren Lasten befreit. Aber ob wir auch glücklich waren?

Nein.

ER hatte uns etwas genommen, das zu uns gehörte.

Erst, als wir IHN töteten, war dieses Vakuum wieder gefüllt. Die Schuld war zurück.

Lass nur, ich übernehme die Rechnung. Natürlich glaube ich nicht an IHN. Vielleicht hatte dieser Kerl, den sie vor zweitausend Jahren ans Kreuz nagelten, eine ähnliche Krankheit in den Schilddrüsen sitzen. Er machte seine Sache auch nicht besser, würde ich mal sagen.

Das Einzige, was mich wirklich beunruhigt, ist, dass die Grün-Weißen schon mal besser in der Tabelle dagestanden sind. Und es ist seltsam, dass die Blau-Gelben heuer die Meisterschaft gewonnen haben. Was sich Mandi bloß von IHM gewünscht hat?

Zahlen, bitte! Und unternehmt endlich etwas gegen diese Scheiß-Fliegen!

Info zu:Ferdl, der Rettungsschneck

Der Ferdl begleitet mich nun schon sehr lange. 2001 reichte ich seine Geschichte für den Reader eines Schreibcamps in Wolfenbüttel ein. Vortragender damals war Uwe Anton, der die Geschichte sehr mochte und mir in meiner Karriere als Autor ein schönes Stück weiterhalf.

Ich hatte es zu dieser Zeit mit überdrehten Figuren, mit gestelzter Sprache und mit dem Humor. Die technischen Hintergründe einer Story waren mir weitgehend egal, auch der Inhalt und selbst die Pointe standen nicht unbedingt im Vordergrund. Ich wollte Lacher provozieren und absurde Geschichten schreiben.

Aus dieser Phase bin ich schon lange wieder raus. Auch die Sprache, die ich damals verwendete, ist nicht mehr zeitgemäß. Aber die Grundidee der Ferdl-Geschichte, die mag ich immer noch sehr.

Ferdl, der Rettungsschneck

Professor Tabors große Leidenschaft, die Schneckenzucht, war Zielscheibe von Spott und Häme des wissenschaftlichen Teams auf dem Raumschiff EFERDING. Und ganz besonders hatte man es auf die arkturische Purpurschnecke abgesehen, das Lieblingskind des Xenobiologen.

Während Professor Tabor fasziniert und angespannt beobachtete, wie der etwa sechs Zentimeter große Schneck namens Ferdl eine kerzengerade Silberspur über seinen Schreibtisch legte, spöttelte man mehr oder weniger offen über das ausgefallene Hobby. Welcher normale Mensch hielt sich einen Schneck als Haustier?

»Lacht nur, ihr Ignoranten!«, hielt Tabor seinen Kollegen mit unterdrückter Wut entgegen. »Der Purpurschneck ist eine der komplexesten und edelsten Lebensformen im bekannten Universum. Sein Orientierungssinn ist einzigartig, niemand passt sich besser an wechselnde Umweltbedingungen an und niemand kann mit seinen Energiereserven besser haushalten als dieses kleine Geschöpf!«

Professor Kerstensand, Leiter des wissenschaftlichen Teams der EFERDING, entgegnete mit einem süffisanten Lächeln: »Mag ja sein, werter Kollege. Aber ist dieser Schneck für ein Haustier nicht ein wenig zu klein? Und: führen Sie Ferdl an der Leine Gassi?«

Woraufhin der beleidigte Xenobiologe langsam von Pi bis zur Eulerschen Zahl zählte, gedanklich einen algorithmischen Mesonensturm auf das Haupt seines Vorgesetzten niederdonnern ließ und die Tür des Forschungsraumes lautstark hinter sich zuknallte.

*

Das Kaiserreich der Menschen war gewaltig groß geworden. Es dehnte sich mittlerweile über dreiundzwanzig Galaxien aus. Der Kaiser selbst, eine übermächtige Vaterfigur und mit uneingeschränkten Machtbefugnissen ausgestattet, dirigierte von der fernen Erde aus seine Flotten.

Ihre Besatzungen hatten, einer Laune des Allerhöchsten folgend, einem Gerücht nachzuforschen. Angeblich existierte irgendwo auf einem einsamen, verlassenen und sterbenden Planeten ein Superrechner, der Antworten auf alle Fragen der Menschheit geben konnte. Und so rasten unzählige Raumschiffe durch das Weltall, landeten hie und da auf Planeten mit sterbenden Sonnen, überprüften dies und das und hetzten bald darauf weiter, der nächsten Welt entgegen.

Den meisten Raumfahrern war die Sinnlosigkeit ihrer eintönigen Arbeit bewusst. Aber was sollte man machen? Kaiser war nun mal Kaiser, und wenn er sich noch so verrückt gebärdete.

*

Feldwebel Skäs mochte diese Welt nicht.

Er hatte die kleine Raumlinse, ein Beiboot der EFERDING, sicher auf dem Planeten ZX-10 gelandet. Die vier Forscher waren, aufgescheuchten Hühnern gleich, in allen Himmelsrichtungen verschwunden, und seufzend hatte er sich mit seinen beiden Raumkadetten daran gemacht, das mobile Forschungslabor wie schon x-mal zuvor aus formenergetischen Materialien nach den Wünschen der Wissenschaftler aufzubauen. Er kannte die Liste auswendig; selbst arkturischen Blattspinat für die hässliche Schnecke von Professor Tabor hatte er ausreichend mitgenommen.

»Verdammte Weißbärte«, fluchte der Feldwebel den Forschern hinterher, während er im beginnenden Sandsturm den schweren Formprojektor in Stellung brachte. Immerhin: Wenn der Aufbau beendet war, hatten er und seine Soldaten mindestens zwei Tage lang Ruhe. Erfahrungsgemäß benötigten die Wissenschaftler so lange, bis sie ihre Neugierde mit dem Ziehen von Bodenproben, Beobachtungen und Vermessungen einigermaßen befriedigt hatten.