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In ihrem autobiographischen Roman erzählt Wioletta Greg in unvergesslichen poetischen Bildern eine mal groteske, mal herzzerreißende Coming-of-Age-Geschichte im Polen der 1970er- und 1980er-Jahre. Seit 1981 herrscht das Kriegsrecht unter General Jaruzelski, aber die großen politischen Ereignisse wirken sich nur gebrochen auf das Leben im schlesischen Dorf Hektary aus. Dort, in einer ganz wunderbar vermittelten Atmosphäre aus Alltag in der Großfamilie, Mit ländlichen, fast heidnischen Bräuchen, einem sehr schlichten Katholizismus und kruden Sozialismus, schlägt sich die vitale, schlagfertige und neugierige Wiolka mit ihrer Mutter herum, entdeckt ihre Sexualität, nicht immer ganz freiwillig, und bemüht sich um den geliebten Vater, der viel zu früh stirbt. Als es heißt, der Papst wolle bei seinem historischen Polenbesuch auch an Hektary vorbeifahren, herrscht im Dorf Aufregung wie nie zuvor. Der Papst nimmt am Ende einen anderen Weg.
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Veröffentlichungsjahr: 2018
Wioletta Greg
Unreife Früchte
Roman
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall
C.H.Beck
In ihrem autobiographischen Roman erzählt Wioletta Greg in unvergesslichen poetischen Bildern eine mal groteske, mal herzzerreißende Coming-of-Age-Geschichte im Polen der 1970er- und 1980er-Jahre. Seit 1981 herrscht das Kriegsrecht unter General Jaruzelski, aber die großen politischen Ereignisse wirken sich nur gebrochen auf das Leben im schlesischen Dorf Hektary aus. Dort, in einer ganz wunderbar vermittelten Atmosphäre aus Alltag in der Großfamilie, Kargheit, ländlichen, fast heidnischen Bräuchen, einem sehr schlichten Katholizismus und kruden Sozialismus, schlägt sich die vitale, schlagfertige und neugierige Wiolka mit ihrer Mutter herum, entdeckt ihre Sexualität, nicht immer ganz freiwillig, und bemüht sich um den geliebten Vater, der viel zu früh stirbt. Als es heißt, der Papst wolle bei seinem historischen Polenbesuch auch an Hektary vorbeifahren, herrscht im Dorf Aufregung wie nie zuvor. Der Papst nimmt am Ende einen völlig anderen Weg.
Wioletta Greg (eigentlich: Grzegorzewska), 1974 in Koziegłowy (Polen) geboren, lebt seit 2006 in Großbritannien, inzwischen in Essex. Sie hat sieben Gedichtbände und bislang drei Romane veröffentlicht, «Unreife Früchte» erschien unter dem Titel «Swallowing Mercury» auf Englisch in Großbritannien und in den USA und stand auf der Man Booker International Longlist 2017, außerdem war sie für den Griffin Poetry Prize und den polnischen Nike Preis nominiert, sie ist in zahlreiche Sprachen übersetzt.
Renate Schmidgall übersetzte u.a. Werke von Paweł Huelle, Jacek Dehnel, Andrzej Stasiuk und Wisława Szymborska und Adam Zagajewski. Sie erhielt mehrere Preise, zuletzt 2017 den Voß-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Sie lebt in Darmstadt.
Das Kirmesmädchen
Die Jesus-Tombola
Tischlein, deck dich
Der Wimpelabend
Das Mädchen mit den Farben
Das Bild kommt
Pfingsten
Der Osterpascha
Spinnen aus Jerusalem
Wellen
Gienek, der Mähdrescherfahrer
Deckel mit Löchern
Das Geheimnis der Schneiderin
Der Leberfleck
Die Frau mit dem Hund
Sauerkirschen
Die Phillumenistin
Gesammelte Werke
Dolce vita
Herrscher über den Schrott
Zorros Rückkehr
Verspätete Fütterung der Bienen
Unreife Äpfel
Neonlicht über dem Jupiter
Am Fenster unseres aus Stein gemauerten Hauses hing fast zwei Jahre lang eine kleine Taufdecke, geschmückt mit Immergrün und vergilbtem Asparagus. Die Decke verlockte mich mit einem Röschen in der Mitte, und ich hätte sie gern für mein Puppenbett benutzt, aber Mutter erlaubte mir nicht, ihr zu nahe zu kommen.
«Fass das Deckchen nicht an, Loletka, es ist ein Andenken, wir nehmen es ab, wenn Papa wiederkommt», sagte sie. Und einer Freundin aus der Nachbarschaft, die für einen Moment – das heißt für zwei Stunden – vorbeischneite, erzählte sie, wie ihr einen Monat nach der Verhaftung meines Vaters wegen Fahnenflucht und zwei Wochen vor dem Entbindungstermin eine Arbeit in der Baufabrik zugewiesen worden war. Dort musste sie im Rahmen des neuen Fünfjahresplans in einer Brigade von einem Dutzend Arbeiterinnen Gehwegplatten und Pflastersteine herstellen, damit die Gemeinde rechtzeitig neue Plätze vor den Amtsgebäuden, Schulen und Gesundheitszentren bauen konnte. Mutter hielt die Arbeit im Frost schließlich nicht mehr aus, versteckte sich hinter dem Betonmischer, und nachdem das Fruchtwasser in einen Eimer mit Kalk gelaufen war, fuhr man sie in den Kreißsaal.
Es war Februar, als sie mich nach Hause brachte. Sie hatte immer noch Nachblutungen, legte sich aufs Bett, wickelte das nach Schleim und Urin stinkende Päckchen aus, um zu sehen, ob ich heil war, rieb den Stumpf meiner Nabelschnur mit Enzian ein, band mir ein rotes Bändchen gegen bösen Zauber ums Handgelenk und schlief für ein paar Stunden ein. Es war die Art von Schlaf, während dessen der Mensch entscheidet, ob er geht oder noch einmal zurückkehrt.
Papa war immer noch nicht da. In einer Schuhschachtel vermehrten sich seine Briefe, die er mit Zeichnungen von Tieren und Pflanzen verziert hatte, die Blätter im Kalender nahmen ab, und nur noch ein dünner Stapel Tage trennte uns vom Jahresende. Weitere Monate vergingen. In der Diele schlüpften die Küken der Ente, Mama brachte sie zusammen mit der Entenmutter in den Schweinestall, von dort hatten sie es nicht weit in den Hof zu einem in der Mitte durchgeschnittenen Reifen, der mit Wasser gefüllt war. Großvater fing an, neue Fensterläden für den Dachboden und Kufen für mein Schaukelpferd zu hobeln. Großmutter flocht aus Bast farbige Hähne. Zwischen den Fensterrahmen erwachten die Fliegen. Als das Taufdeckchen ausgebleicht und die Blättchen des Immergrüns auf den Fenstersims gefallen waren, kam ein hagerer Mann mit gelocktem Haar und einem kleinen Schnurrbart zu uns ins Haus. Als er mich sah, weinte er den ganzen Tag, und er beruhigte sich erst wieder, als Polen in der Fußball-Weltmeisterschaft zu spielen begann.
Im Juni fuhren wir auf die Kirchweih zur Basilika des heiligen Antonius. Die Prozession begann. Aus der Kirche kam der Priester, hinter ihm bestickte Fahnen und als Prinzessinnen verkleidete Damen, die aus Stroh geflochtene Lämmer und Kränze trugen. Die Kommunionsmädchen schütteten ihnen Lupinenblüten vor die Füße. Ich schaute wie gebannt – und als Mutter in ihrem Täschchen nach Kleingeld für die Kollekte suchte, ließ ich ihre Hand los und lief der Prozession nach, als wäre sie ein Königsgefolge. Erst an einem Stand mit einem aufgeblasenen silbernen Wal blieb ich stehen. Der Wal konnte nicht in die Wolken davonfliegen. Die Sonne hielt ihn in violetten und roten Kreisen gefangen, sie blendete mich und brannte auf den Wangen. Vergoldete Menschen verschwanden zwischen Autos und Fuhrwerken und hinterließen lange Schatten auf einer Mauer.
Unter einem Baum stand ein Lama mit räudigem Fell. Aus seinem Maul tropfte Speichel. Leute näherten sich, warfen Geld in eine Büchse, die mit einer Kette am Zaun befestigt war, und setzten Kinder auf den Rücken des Tieres, auf dem eine gemusterte Decke lag; ein Herr mit Strohhut knipste sie mit einem schlauen Apparat, der sofort die Abzüge ausspuckte. Das Lama schaute traurig unter den langen Wimpern hervor. In seinen Augen drehten sich abgebrannte Blitzbirnchen. Ich wollte seine zerfranste Mähne streicheln, aber in diesem Moment schoss jemand aus einer Spielzeugpistole. Das erschrockene Lama machte einen Sprung, und ich flüchtete unter den nächstgelegenen, mit Wachstuch bedeckten Stand. Draußen raschelte Verpackungsfolie, Trompeten, Pfeifen, aufgezogene Spieldosen und Mundharmonikas ertönten. Ich hielt mir die Ohren zu und saß unter dem Stand, von dem Wachstuch tropfte Himbeersaft direkt auf mein neues Kleid.
Um meine Zöpfe herum begannen Wespen zu kreisen wie gestreifte Piranhas, sie tranken den Saft aus den Röschen des Musters auf meinem Kleid und wurden immer größer. Eines der Ungetüme setzte sich auf meinen Kopf und brummte mir ins Ohr. Ich legte mich auf die trockene Erde und weinte: «Mama, Mama! Die Wespen wollen mich entführen!» Aber Mama war nicht da.
Das Wachstuch schob sich zur Seite, der Herr mit dem Schnurrbart erschien.
«Hier bist du, mein …» Er zog mich unter dem Stand hervor und nahm mich in den Arm. «Mein Kirmesmädchen, wie kommst du denn hierher? Ich hab dich überall gesucht.»
«Lass los, Papa, lass los!», kreischte ich fröhlich und wischte heimlich meine verrotzte Nase am Revers seines Jacketts ab. Der Herr mit dem Schnurrbart, wahrscheinlich glücklich, dass ich ihn zum ersten Mal Papa genannt hatte, hob mich hoch und wirbelte mich durch die Luft. Ich kniff die Augen zusammen und lachte laut. Die Sonne stach auf die Wespen ein, sie schrumpften auf ihre normale Größe und flogen durch die violetten und roten Kreise davon. Das Licht kitzelte mich wie das Wasser während des Bades im Zuber auf dem Hof. Ich war hungrig geworden und begann auf dem Gürtel meines Kleides herumzukauen. Aus der dunklen Nische der Haltestelle neigte sich mir Mamas Kopf entgegen, um den eine Schnur von Brezeln hing.
Trotz Mamas Verbot begann ich, mit Blacky zusammen zu schlafen. Blacky roch nach Heu und Milch und hatte auf dem Hals eine schneeweiße Karte von Afrika. Er kam nachts zu mir, legte sich auf das Federbett, schnurrte und bewegte die Pfoten, als wollte er einen Hefeteig kneten. Seit ich ihn auf dem Dachboden gefunden hatte, lebte ich mit ihm in einer seltsamen Symbiose: Ich trug ihn wie einen Säugling in meinem Pullover, ich stibitzte für ihn die Sahne aus der Kredenz, und sonntags gab ich ihm mein Flügelchen aus der Hühnersuppe ab.
Den ganzen Sommer strich ich mit ihm durch die Felder. Blacky zeigte mir eine andere Geometrie der Welt, eine, in der nicht die mit Disteln und Gänsefuß bewachsenen Raine, die gepflasterten Wege, die Zäune, die gemähten oder von Menschen ausgetrampelten Pfade die Grenzen markierten, sondern das Licht, die Geräusche und die Elemente. Mit Blacky lernte ich, in Hohlblocksteine und Heumieten zu kriechen, auf Apfel- und Kirschbäume zu klettern, in Brombeerhecken versteckte Kalksteingruben zu umgehen, Hornissennester, Moraste und Schlingen im Getreide zu meiden.
Nach Weihnachten begann Blacky, mir aus dem Weg zu gehen. Er tauchte nur noch kurz bei uns auf, legte eine halbtote Maus auf die Schwelle, als wollte er sich mit dieser Geste für seine Abwesenheit entschuldigen. Am ersten Tag der Winterferien verschwand er für immer. Ich suchte ihn unter den Zeltplanen und in den leeren Nutria-Boxen von Onkel Lolek, wo er gerne ganze Tage verschlafen hatte, aber er war nirgends zu finden.