Unsichtbare Spuren - Andreas Franz - E-Book
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Unsichtbare Spuren E-Book

Andreas Franz

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  • Herausgeber: Knaur eBook
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2009
Beschreibung

Seit dem Selbstmord des fälschlich Angeklagten ist Hauptkommissar Sören Henning seines Lebens nicht mehr froh geworden: Schuldgefühle quälen ihn, seine Ehe ist darüber zerbrochen, und er ist wie besessen von dem Gedanken, den wahren Schuldigen zu fassen. Fünf Jahre später wird wieder ein junges Mädchen brutal ermordet aufgefunden. Und es mehren sich die Hinweise darauf, dass der Täter noch für weitere grausame Morde verantwortlich ist. Sören Henning wird zum Leiter einer Sonderkommission ernannt, die die Verbrechen aufklären und den Täter endlich dingfest machen soll. Im Zuge seiner Ermittlungen macht er eine beklemmende Entdeckung: Anscheinend greift sich der Mörder wahllos seine Opfer heraus und kann jederzeit wieder zuschlagen. Ein Täter, der nach dem Zufallsprinzip mordet? Da passiert ein neuer Mord – und Henning erhält ein Gedicht und einen kurzen Brief, die offenbar vom Täter stammen. Dem Kommissar wird klar, dass er selbst ins Visier des Serienkillers geraten ist, der ein perfides Spiel mit der Polizei zu spielen beginnt . . . Ein Krimi, der alle Andreas-Franz-Fans begeistern wird: nervenzerfetzend spannend, temporeich und bis ins Detail authentisch! Unsichtbare Spuren von Andreas Franz: Spannung pur im eBook!

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Seitenzahl: 639

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Andreas Franz

Unsichtbare Spuren

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

WidmungDezember 1999April 2000Donnerstag, 6. Mai 2004FreitagSamstagSonntagMontagDienstagMittwochDonnerstag

Für meine Frau Inge, ohne deren unendliche Geduld dieses Buch nie zustande gekommen wäre.

Und für meine Schwiegermutter Ulla Nöske aus Schleswig, die es bestimmt gerne gelesen hätte.

Freitag, 3. Dezember 1999

In der kalten und stürmischen Nacht vom 2. auf den 3. Dezember packte Sabine Körner heimlich ihre Reisetasche und den Rucksack mit den nötigsten Sachen, wartete bis ein Uhr und schlich sich, als sie sicher war, dass die andern schliefen, klammheimlich aus dem Haus. Sie nahm nicht den Vordereingang, wo die automatische Beleuchtung angehen würde, sobald sie über die Schwelle trat und damit in den Bereich des Sensors gelangte, sondern ging durch die Terrassentür, die sie nur anlehnte. Es wird schon nicht ausgerechnet heute jemand einbrechen, dachte sie für einen kurzen Moment, auch wenn es ihr im Grunde nicht viel ausgemacht hätte. Nicht nach diesen Wochen und Monaten und schon gar nicht nach diesem Tag. Sie wollte nur noch weg, an einen Ort, wo sie hoffentlich keiner finden würde. Sie hatte mit einer Bekannten in Flensburg telefoniert, von der in ihrer Familie keiner etwas wusste, weil sie sich übers Internet in einem Chatroom kennen gelernt hatten. Christiane war zwar schon Mitte zwanzig, aber sie hatte eine eigene Wohnung, wo Sabine so lange bleiben konnte, wie sie wollte. Das hatte Christiane jedenfalls bei einem Treffen vor ein paar Tagen gesagt, als sie sich in Hannover aufhielt und dabei einen Abstecher nach Kleinburgwedel machte. Sie könne jederzeit kommen, hatte sie gesagt. Christiane kannte Sabines Probleme, den ewigen Streit mit den Eltern, vor allem mit dem Vater, der seit einigen Jahren an der Flasche hing und seine Familie nur noch tyrannisierte. Sabine wunderte sich, dass er bei seinem Alkoholkonsum überhaupt noch arbeiten konnte, aber es schien nur eine Frage der Zeit, bis er seinen Job verlor. Das Schlimmste jedoch war, dass er in letzter Zeit auch noch gewalttätig geworden war, sowohl ihr als auch ihrer Mutter gegenüber, nur ihren Bruder Thomas verschonte er.

Aber auch ihre Mutter hatte sich verändert, war längst nicht mehr so zugänglich und offen wie früher. Sie schottete sich von der Außenwelt ab und tat so, als wäre zu Hause alles in bester Ordnung, wobei sie es sehr gut verstand, ihr hin und wieder blau geschlagenes Auge durch eine dunkle Sonnenbrille und mit viel Make-up zu kaschieren. Wenn sie geschlagen wurde, ließ sie es einfach über sich ergehen, als hätte sie es nicht anders verdient. Was ihren Vater so verändert hatte, wusste Sabine nicht, und sie wollte es auch gar nicht wissen. Ihre schulischen Leistungen hatten rapide nachgelassen, und wenn es so weitergegangen wäre, hätte sie dieses Schuljahr wiederholen müssen.

Das Fass zum Überlaufen hatte jedoch ein Vorfall gestern gebracht, als ihr Vater, wieder einmal betrunken, ohne ersichtlichen Grund fast alle Teller aus dem Küchenschrank gerissen hatte, während sie mit ihm allein zu Hause war. Anschließend wollte er Sabine verprügeln, doch sie schloss sich in ihrem Zimmer ein. Daraufhin hämmerte er gegen die Tür, und sie hoffte angsterfüllt, dass die Tür halten würde. Nach zehn endlosen Minuten gab er auf, und nach weiteren zehn Minuten wagte sie sich aus ihrem Zimmer und hörte ihn laut schnarchen.

Sabine war einsfünfundsechzig groß, hatte kurzes blondes Haar, das ihrem Gesicht einen lebendigen Ausdruck verlieh. Sie war hübsch, auch wenn sie behauptete, in ihrer Klasse seien die meisten Mädchen viel hübscher, aber die Jungs verdrehten sich immer wieder die Köpfe nach ihr, und auch einige Mädchen waren neidisch auf ihre natürliche Schönheit. Eine Natürlichkeit und auch eine Offenheit, die einfach anziehend auf andere wirkte. Allerdings hatten ihre strahlend blauen Augen in letzter Zeit immer häufiger einen melancholischen Ausdruck, denn ihr Freund Kevin, mit dem sie fast zwei Jahre zusammen gewesen war und der ihr Halt gegeben hatte, war mit seinen Eltern nach Spanien gezogen, und nun gab es niemanden mehr, mit dem sie über ihre Probleme sprechen konnte. Sie hatten nur noch ein paarmal telefoniert, bis der Kontakt endgültig abbrach.

Als sie über die Terrasse lief, prasselte der Regen, getrieben von einem böigen Wind, gegen ihre Jacke. Sabine hatte die Kapuze ihrer Wetterjacke aufgesetzt und hielt den Kopf gesenkt, um dem Regen weniger Angriffsfläche zu bieten, aber es half nur notdürftig. Im Nu war sie durchnässt bis auf die Haut, vor allem ihre Beine und Füße, die nur durch eine Jeans und ein paar Turnschuhe geschützt waren. Aber sie hatte noch vor einer Stunde mit Christiane gechattet und ihr versprochen, spätestens am Freitagnachmittag bei ihr zu sein. Nach diesem letzten Chat hatte sie alles gelöscht, was auf ihren künftigen Aufenthaltsort hinwies. Sie lief eine Viertelstunde, bis sie an die Hauptstraße gelangte, wo auch jetzt noch reger Verkehr herrschte. Sabine streckte den Arm aus und hielt den Daumen hoch, bis nach etwa zehn Minuten ein Trucker anhielt und sie einsteigen ließ.

»Wo soll’s hingehen?«, fragte er.

»Flensburg.«

»Ich kann dich bis Neumünster mitnehmen.«

»Okay.«

Er war ein wortkarger Mann, der keine Fragen stellte. Sie fuhren gut drei Stunden, bis er sie an der Raststätte Brokenlande absetzte. In der Fahrerkabine war es warm gewesen, doch sie fror, als sie ausstieg, denn ihre Kleidung war noch nicht ganz trocken. Aber das machte ihr nichts aus, viel wichtiger war, dass sie ein neues Leben beginnen würde. Sie nahm ihre Tasche und den Rucksack und bewegte sich auf das Restaurant mit den großen gelben Lettern zu. Auf dem Parkplatz standen zahllose Trucks, im Innern der Raststätte herrschte reger Betrieb.

Sabine hatte sich im Laufe der vergangenen Monate fast siebenhundert Mark zusammengespart, zu wenig, um über einen längeren Zeitraum damit auszukommen. Sie hoffte jedoch, in Flensburg eine Stelle zu finden, auch wenn sie gerade erst siebzehn war und Arbeitsstellen, wie Christiane ihr gesagt hatte, in Norddeutschland rar waren. Aber sie würde es schaffen, da war sie sicher, und wenn Christiane Wort hielt, würde sie ihr auch bei der Jobsuche helfen.

Sabine betrat die Raststätte, überlegte einen Moment, ob sie es sich leisten konnte, und holte sich schließlich einen Kaffee und ein belegtes Brötchen. Sie betrachtete die Menschen um sich herum, aber sie traute sich nicht, auch nur einen von ihnen anzusprechen. Sie wollte sich noch einen Moment hier aufhalten und wärmen und dann wieder an den Parkplatz stellen, in der Hoffnung, jemand würde sie bis nach Flensburg mitnehmen.

Um halb sechs verließ sie die Raststätte. Es hatte aufgehört zu regnen, dafür blies ein stürmischer Wind über die Ebene. Nur kurz darauf hielt ein dunkelblauer Audi. Sie öffnete die Tür und fragte den Mann, den sie auf Mitte dreißig schätzte und der ein offenes, sympathisches Gesicht hatte, ob er zufällig nach Flensburg fahre. Er trug einen grauen Anzug, ein blaues Hemd und eine rote Krawatte und lächelte Sabine an.

»Nein, leider nur bis Schleswig, aber von dort ist es ja nur noch ein Katzensprung bis Flensburg. Steig ein. Ich heiße übrigens Georg. Und du?«

»Sabine.«

Sie verstaute ihre Sachen auf dem Rücksitz, schnallte sich an und legte den Kopf an die Nackenstütze. Sabine war müde und erschöpft und froh, so schnell wieder jemanden gefunden zu haben, der sie mitnahm.

»Was machst du um diese Zeit hier?«, fragte er.

»Ich bin schon seit ein paar Stunden unterwegs.«

»Wohnst du in Flensburg?«

»Nee, ich will nur ’ne Freundin besuchen.«

»Und warum fährst du nicht tagsüber?«

»Einfach so«, antwortete sie schulterzuckend.

»Bist du abgehauen?«

»Warum interessiert Sie das?«

»Du kannst mich ruhig duzen. Na ja, Erfahrung. Ich nehm öfter Anhalter mit, und wenn jemand in deinem Alter nachts unterwegs ist, hat’s meist zu Hause gekracht.«

»Hm.«

»Wie alt bist du?«

»Achtzehn«, log sie.

»Verstehe«, antwortete er nur und gab Gas. »Ich muss aber vorher noch kurz nach Eckernförde, hab dort einen Termin, der aber nicht lange dauert. Dann bring ich dich nach Schleswig.«

»Was machst du beruflich?«

»Ich warte und repariere Maschinen in Großbetrieben.« Immer wieder beobachtete er Sabine aus dem Augenwinkel, was sie jedoch nicht bemerkte.

Kurz hinter der hohen und langgezogenen Brücke über den Nord-Ostsee-Kanal fuhren sie bei der Ausfahrt Rendsburg/Büdelsdorf von der Autobahn und passierten nach weiteren zwanzig Minuten das Ortsschild von Eckernförde und bogen direkt danach rechts ab. An einem großen weißen Gebäude hielten sie. Georg sagte, bevor er ausstieg: »Das ist mein erster Kunde heute. Ich muss nur ein Ersatzteil wechseln. Halbe, höchstens Dreiviertelstunde.«

Er holte eine große schwarze Tasche aus dem Kofferraum und betrat das Gebäude. Noch war es dunkel, der Regen hatte wieder eingesetzt und hämmerte aufs Dach. Sabine war müde und schloss die Augen. Sie hörte ihren Herzschlag bis in den Kopf, alles in ihr vibrierte. Sie fragte sich, ob es richtig war, einfach abzuhauen, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Wenn sie merken, dass ich weg bin, werden sie sich Sorgen machen, zumindest Mama und Thomas. Aber das geschieht ihnen recht. Und wenn alles schief geht, fahr ich eben wieder heim.

Sie stellte die Musik lauter, um nicht einzuschlafen, gähnte herzhaft, klappte die Sonnenblende herunter und betrachtete sich im Spiegel. Sie legte etwas Make-up auf und bürstete sich das inzwischen trockene Haar.

Georg kam nach vierzig Minuten wieder und startete den Motor. Es war kurz nach sieben.

»Was ist das für eine Firma?«, fragte sie.

»Fleischgroßhandel. Davon gibt’s hier ’ne ganze Menge. Mein nächster Kunde sitzt in Böklund. Du kennst doch sicher die berühmten Böklunder Würstchen.«

»Klar.«

Der Morgenverkehr war dichter geworden. An einer Baustelle mussten sie fast zehn Minuten warten, bis sie endlich durchgewunken wurden. Am Ortsausgang von Eckernförde stand linker Hand ein Schild »Schleswig 19 km«.

»Hast du eigentlich genug Geld dabei?«, fragte Georg wie beiläufig.

»Geht so. Nicht gerade umwerfend viel, aber für eine Weile wird’s schon reichen.«

»Pass auf, du brauchst nur ja oder nein zu sagen, aber ich geb dir zweihundert Mark für ’ne kleine Gegenleistung.« Er sagte es, ohne Sabine dabei anzuschauen.

»Was für ’ne Gegenleistung?«, fragte sie, obwohl sie ahnte, was er damit meinte.

»Nur ’ne kleine Gefälligkeit. Du kannst doch bestimmt jeden Pfennig gebrauchen. Ich steh nun mal auf Frauen wie dich.«

Sabine sah Georg von der Seite an und antwortete: »Ich bin nicht so eine.«

»Das weiß ich selbst. Aber zweihundert Mark für höchstens eine halbe Stunde? Und ich tu dir auch bestimmt nicht weh, Ehrenwort.«

»Und was ist mit Kondomen?«

»Ich hab nicht damit gerechnet, dass jemand wie du in mein Auto steigt. Aber ich hab mich erst vor zwei Wochen von meinem Arzt durchchecken lassen, ich bin sauber. Und außerdem bin ich ein eher treuer Typ. Ich find dich nur unheimlich sexy, und dumm bist du auch nicht. Das gefällt mir an Frauen. Du weißt, was du willst.«

Sabine fühlte sich geschmeichelt, so etwas hatte noch keiner zu ihr gesagt. Dass sie hübsch ist, schon, aber das andere schien bisher keinem aufgefallen zu sein, im Gegenteil, immer wieder wurde sie als blöde Kuh oder hirnlos betitelt, vor allem von ihrem Vater. »Einverstanden. Bist du eigentlich verheiratet?«

»Schon, aber so toll läuft’s nicht zwischen uns. Ich bin viel unterwegs und … Ach, was soll ich dir Geschichten erzählen, die du wahrscheinlich sowieso nicht glaubst.«

»Warum sollte ich dir nicht glauben? Mir geht’s auch nicht besonders gut.«

»Tja, man kann nicht alles haben. Ich bin einigermaßen erfolgreich im Beruf, dafür hapert’s privat. Das Leben ist manchmal ungerecht. Wie bei dir auch, wenn ich dich recht verstanden habe?«

»Mein Vater ist nur noch besoffen und prügelt, und mit meiner Mutter kann ich nicht mehr reden. Die will nur nicht, dass ihre heile Welt kaputtgeht. Die Nachbarn sollen bloß nicht merken, was bei uns zu Hause abläuft.«

»Und was willst du jetzt machen?«

»Erst mal bei einer Freundin unterkommen und dann weitersehen. Ich geh auf keinen Fall mehr zurück. Die kommen auch ohne mich aus.«

Georg bog bei Ahrensberg ab und fuhr noch etwa einen Kilometer, bis er in ein einsames Waldstück unweit vom Internat Louisenlund kam. Er schob den Fahrersitz bis zum Anschlag zurück, zog die zweihundert Mark aus seinem Portemonnaie, reichte sie Sabine und sah sie erwartungsvoll an. Sie steckte das Geld ein und lächelte etwas verschämt, denn es war das erste Mal, dass sie mit einem Mann schlief, den sie noch gar nicht richtig kannte und der auch noch dafür bezahlte. Sie hatte überhaupt erst mit zwei Jungs geschlafen, das erste Mal mit vierzehn, danach ein paarmal mit Kevin.

»Machst du’s auch mit dem Mund?«, fragte Georg vorsichtig und öffnete seine Hose.

»Wenn du willst«, antwortete Sabine und begann ihn zu befriedigen. Nach ein paar Minuten fasste er sie sanft beim Kopf und sagte mit belegter Stimme: »Du bist heiß. Komm, zieh die Hose aus und setz dich auf mich drauf.«

Sie folgte seiner Aufforderung, er tat ihr nicht weh, aber es ging alles sehr schnell. Nach kaum zehn Minuten zog sie sich wieder an und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. Sie fühlte sich nicht schmutzig, denn Georg war nett und hatte sein Versprechen gehalten. Und außerdem lebte sie ab jetzt ohnehin ihr eigenes Leben. Und die zweihundert Mark waren ein schneller Nebenverdienst gewesen, damit würde sie leicht und locker eine, vielleicht auch anderthalb Wochen über die Runden kommen. Sie hätte es nicht mit jedem gemacht, ganz bestimmt nicht, aber bei ihm hätte sie sich vorstellen können, es wieder zu machen. Auch ohne Geld. Und wenn er gesagt hätte, sie solle bei ihm bleiben, so hätte sie es sich überlegt. Sie war frei, und keiner würde ihr mehr Vorschriften machen, mit wem sie sich traf oder abgab.

Georg startete den Motor, hielt inne, stieg aus, rannte zum Kofferraum und stieß einen derben Fluch durch die Zähne.

»Verdammte Scheiße, jetzt hab ich meinen Koffer dort stehen lassen.« Er knallte die Klappe zu und sagte zu Sabine: »Hör zu, es tut mir leid, aber ich muss zurück nach Eckernförde. Das mit dem Koffer ist mir wirklich noch nie passiert. Ich setz dich vorne an der Straße ab, da nimmt dich bestimmt gleich jemand anders mit. Sind ja nur noch ein paar Kilometer bis Schleswig. Tut mir echt leid, ich hätte dich sogar … Ah, Scheiße! Schlimm?«, fragte er und gab ihr einen Kuss auf die Stirn und umarmte sie.

»Kein Problem. Danke, dass du mich überhaupt bis hierher mitgenommen hast.«

Sabine stieg an der Bundesstraße aus. Georg sagte, während er hinter den Fahrersitz griff und einen Schirm hervorzog: »Hier, nimm den, damit du nicht zu nass wirst …«

»Und was ist mit dir?«

»Ich kauf mir einen neuen. War echt schön mit dir. Tschüs und toi, toi, toi. Und pass vor allem gut auf dich auf.«

Sie stand keine zwei Minuten an der Straße, als ein dunkelgrüner Ford anhielt.

»Wohin?«

»Flensburg.«

»Meine Richtung«, sagte der Mann freundlich. Er wirkte nicht sonderlich groß, was jedoch täuschen konnte, denn wenn jemand saß, war es schwer, die Größe zu bestimmen. Er hatte ein offenes Gesicht, kurze braune Haare und braune Augen, wohlgeformte, sehr gepflegte Hände, und er schien kräftig zu sein, auch wenn er nicht dick war. »Pack dein Zeug einfach auf den Rücksitz. Wie heißt du?«

»Sabine. Und du?«

»Nenn mich Butcher.«

»Du fährst nach Flensburg?«

»Hm. Muss aber vorher noch einen kleinen Abstecher machen, jemandem was vorbeibringen.«

»Das kenn ich schon. Der, der mich vorhin mitgenommen hat, musste auch über Eckernförde fahren«, sagte sie lachend. »Und jetzt hat er seine Tasche dort vergessen und musste umkehren, sonst hätte er mich bis nach Schleswig mitgenommen.«

»Wo kommst du her?«, fragte er, den Blick stur und konzentriert geradeaus auf die nasse Straße gerichtet.

»Aus der Nähe von Hannover.«

»Hm.« Er bog bei Haddeby links ab, wo sich in etwa vierhundert Meter Entfernung ein großer Parkplatz befand, der in den Sommermonaten meist stark frequentiert war. Jetzt jedoch war kein Fahrzeug dort zu sehen.

»Wo sind wir hier?«, fragte Sabine misstrauisch.

»Wikingermuseum«, antwortete er nur, drehte eine Runde auf dem riesigen Parkplatz, der ringsum von blattlosen Bäumen, die wie Skelette wirkten, und leichten Hängen umgeben war, was jetzt zu dieser Jahreszeit und bei diesem Wetter die ganze Szenerie noch düsterer erscheinen ließ, als sie ohnehin schon war.

Sabines Herzschlag beschleunigte sich. Sie fühlte sich unwohl, vor allem auch, weil Butcher mit einem Mal nichts mehr sagte und seine Miene einen dumpfen Ausdruck bekam. Sie wagte kaum zu atmen, stieß aber hervor, wobei ihre Stimme leicht schrill klang und das Lachen gekünstelt wirkte: »Wikingermuseum. Ist bestimmt toll dort, oder? Du warst doch bestimmt schon oft dort, oder? Oder?!«

»Hm.«

»Ist das jetzt offen? Ich hab mich schon immer für Geschichte interessiert, in der Schule ist das neben Deutsch mein Lieblingsfach.«

Er reagierte nicht, er schien gar nicht wahrzunehmen, was Sabine sagte.

»Interessierst du dich auch so für Geschichte?«, fuhr sie unbeirrt fort, in der Hoffnung, das, wovor sie sich am meisten fürchtete, würde nicht eintreten, während ihr Herz bis zum Hals klopfte. »He, sag schon, du auch? Ich meine Geschichte.« Und als er wieder nicht antwortete, sagte sie kehlig: »Warum halten wir hier?«

Es war fünf vor acht, und kein Mensch weit und breit zu sehen. Kein Mensch, kein Haus, nicht einmal ein Tier. Dafür regnete es unaufhörlich in Strömen, der Wind heulte und drückte gegen das Auto.

»Was willst du hier?«, fragte Sabine ängstlich, nachdem Butcher den Motor und das Licht an der dunkelsten Stelle des Parkplatzes ausgeschaltet hatte, wo das Fahrzeug mit der Umgebung praktisch verschmolz.

»Ausziehen!« Er klang gefährlich ruhig.

»Lass mich raus«, sagte Sabine mit heiserer Stimme. Ihre eben noch vorhandene unterschwellige Angst wandelte sich in Panik vor dem Mann mit den dunklen Augen, die nichts Freundliches mehr hatten, obwohl er sie kaum ansah, nur leicht von der Seite, während seine Finger das Lenkrad umklammerten.

»Ausziehen!«, herrschte er sie diesmal schärfer an, ohne dabei zu laut zu werden.

»Lass mich gehen, bitte«, flehte Sabine, deren Herz immer schneller raste.

Er lockerte den Griff um das Lenkrad und wollte etwas aus dem Seitenfach ziehen, doch sie war schneller, stieß blitzschnell die Tür auf und ließ sich hinausfallen. Und dann rannte sie. Sie rannte und schrie, doch jeder Laut wurde von dem ihr entgegenschlagenden Wind verschluckt. Mit einem Mal spürte sie, wie etwas fast ihren Rücken zu zertrümmern schien. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel mit dem Gesicht voran zu Boden. Als sie sich umdrehte, sah sie nur noch etwas Schwarzes auf sich zukommen, immer und immer wieder, bis sie die Besinnung verlor.

Butcher schaute emotionslos auf sie hinab, auf den blutverschmierten Kopf, dessen Gesicht kaum noch zu erkennen war, die verdreckten Haare und das unnatürlich weit aufgerissene linke Auge, und sagte leise: »Dumm gelaufen. Wird wohl nichts mit Flensburg.«

Er begab sich zurück zum Wagen, fuhr bis zu der Stelle, wo Sabine lag, hielt an, vergewisserte sich, dass er auch allein war, durchsuchte ihre Kleidung und ihr Gepäck, fand die neunhundert Mark und steckte sie zusammen mit einer weißen Tennissocke, die er ihr ausgezogen hatte, ein. Er fasste Sabine bei den Fußgelenken und schleifte sie zu einem nur wenige Meter entfernten Gebüsch, wobei ihr Kopf ein paarmal hin und her pendelte, wenn sie über Unebenheiten im Boden gezogen wurde. Die Reisetasche und den Rucksack warf er neben sie. Er nahm ein Messer und stach in beide Augen. Abschließend veränderte er ihre Lage und machte drei Fotos von dem Mädchen, das seine Hilfe erbeten hatte. Ein letzter Blick auf Sabine, er drehte sich um, setzte sich in seinen Wagen und fuhr wieder auf die Bundesstraße 76. Niemand hatte ihn gesehen.

Freitag, 15.50 Uhr

Da ist jemand im wahrsten Sinn des Wortes ausgetickt«, murmelte Sören Henning, Hauptkommissar und leitender Ermittler bei der Mordkommission Kiel, während der Regen gegen seine Kleidung peitschte, die Jeans und die Regenjacke, deren Kapuze er über den Kopf gezogen hatte. Obwohl sie für Delikte in und um Schleswig nicht zuständig waren, wurden sie gebeten, den Fall zu übernehmen, da die Kollegen vom K 1 in Flensburg bis auf zwei von einem Grippevirus befallen waren. »Wer richtet jemanden so zu?« Er begab sich in die Hocke und schaute auf das zertrümmerte Gesicht der Toten mit den Höhlen, in denen bis vor kurzem noch Augen waren. »Welche verdammte Drecksau macht so was?« Er sagte es, ohne dabei seine Stimme zu erheben.

»Keine Ahnung, aber auf jeden Fall muss der Typ über eine gewaltige kriminelle Energie verfügen«, bemerkte Lisa Santos ratlos, angehende Oberkommissarin und Kollegin von Henning. »Weiß man schon, wer sie ist?«, fragte sie einen Beamten der Spurensicherung, die seit einer halben Stunde vergeblich den aufgeweichten Boden absuchten.

»Sabine Körner, Kleinburgwedel. Siebzehn Jahre alt.«

»Kleinburgwedel?«

»Gleich bei Hannover.«

»Wer hat sie gefunden?«

»Ein Ehepaar, sitzt dort drüben im Streifenwagen. Waren hier spazieren und haben sie mehr zufällig entdeckt. Wie so oft war’s der Hund.«

»Wer geht denn bei diesem Schweinewetter spazieren? Was ist mit Spuren?«, fragte Henning.

»Es schüttet ja schon seit gestern Abend ununterbrochen, da ist alles weg. Tut mir leid«, erwiderte der Angesprochene. »Das Einzige, was wir gefunden haben, ist dieser Stein. Lag direkt neben ihr. Da klebt auch noch ein bisschen Blut dran. Damit hat er aller Wahrscheinlichkeit nach zugeschlagen.«

Henning und Santos betrachteten den Stein. »Das ist doch kein normaler Stein. Wo kommt der her?«, fragte Lisa Santos verwundert.

»Da hinten sind ’ne ganze Menge davon. Scheint so, als ob am Parkplatz was gemacht werden soll«, sagte der Beamte der Spurensicherung und deutete auf den aufgeschichteten Steinhaufen, der in einiger Entfernung schemenhaft auszumachen war.

»Irgendwas in ihren Taschen, das uns weiterhelfen könnte?«

»Nur Klamotten, ein Buch und Schminkzeug.«

»Na dann, ab mit ihr in die Rechtsmedizin. Sie scheint aber nicht vergewaltigt worden zu sein. Sie ist vollständig bekleidet, bis auf …« Henning fasste mit einer Hand an sein Kinn und sagte weiter: »Wo ist die linke Socke?«

»Keine Ahnung. Wir suchen sie, aber es könnte sein, dass …«

»Dass was? Sie nicht hier umgebracht wurde? Na ja, auszuschließen ist es nicht, obwohl, sie wurde mit einem dieser Steine erschlagen, also wird es wohl doch hier passiert sein. Egal, sucht die Socke. Wenn ihr sie nicht findet, kann man nichts machen.«

Henning erhob sich wieder und wandte sich an den neben ihm stehenden Arzt. »Wie lange ist sie schon tot? Ungefähr.«

»Bei dem Wetter schwer zu beurteilen. Irgendwo zwischen acht und zwölf Stunden, würde ich mal schätzen. Genaueres kann aber erst nach der Autopsie gesagt werden.«

»Und wie lange dauert es, bis wir das Ergebnis kriegen?«

»Vielleicht morgen, aber eher am Sonntag. Wird ein langes Wochenende. Noch was?«

»Schickt mir das Ergebnis so schnell wie möglich. Und untersucht die Kleine auf Fremd-DNA, ihr wisst schon. Auch wenn’s nicht so aussieht, als ob sie vergewaltigt wurde.«

»Hätten wir sowieso gemacht.«

Henning sah seine Kollegin an und sagte: »Ich hoffe, die finden was. Ansonsten haben wir schlechte Karten.«

Lisa Santos entgegnete trocken: »Tja, sieht im Moment nicht gut aus. Fahren wir, für uns gibt’s hier nichts weiter zu tun.«

Sören Henning stand zu diesem Zeitpunkt kurz vor seinem achtunddreißigsten Geburtstag. Er war verheiratet und hatte zwei Kinder, Elisabeth, acht, und Markus, zwölf Jahre alt. Seit knapp drei Jahren Hauptkommissar, bearbeitete er Mord- und Vermisstenfälle, wobei die Vermisstenfälle bei weitem überwogen, doch in der Regel recht schnell aufgeklärt werden konnten. Bei der Mehrzahl der Vermissten handelte es sich um Kinder und Jugendliche, die sich wegen häuslicher Differenzen abgesetzt hatten, aber meist schon bald wiedergefunden wurden. Nur einige dieser Verschollenen blieben bis heute verschwunden, darunter drei junge Frauen und ein Mann, von denen angenommen wurde, dass sie sich vielleicht ins Ausland abgesetzt oder unter falschem Namen und mit falschen Papieren irgendwo in Deutschland untergetaucht waren, denn die Nachforschungen hatten ergeben, dass alle vier massive private und zum Teil auch berufliche Probleme hatten. Am meisten Sorge bereiteten ihm jedoch drei Kinder im Alter zwischen acht und elf Jahren, zwei Mädchen und ein Junge, von denen seit vier beziehungsweise sechs Jahren ebenfalls jede Spur fehlte. Als hätten sie sich in Luft aufgelöst. Doch Henning gab die Hoffnung nicht auf, sie wiederzufinden, auch wenn die Wahrscheinlichkeit mit jedem Tag ein wenig mehr schwand.

Henning war einsachtzig groß, schlank und hatte hellbraunes, ins Rötliche gehendes, sehr kurz geschnittenes Haar und strahlend blaue Augen, die jeden sofort an Terence Hill erinnerten, auch wenn Henning keinerlei sonstige Ähnlichkeit mit dem Schauspieler aufwies. Sein Vorgesetzter schätzte ihn wegen seines Einsatzes, einige Kollegen standen ihm jedoch reserviert gegenüber, weil er mitunter recht dominant war und ungern andere Meinungen zuließ.

Auch mit Lisa Santos geriet er hin und wieder aneinander, was vor allem an ihrem Temperament lag, das sie von ihrem spanischen Vater in die Wiege gelegt bekommen hatte. Sie war fast einen Kopf kleiner, hatte halblange dunkelbraune Haare und ausdrucksstarke haselnussbraune Augen und einen vollen Mund. Sie war gerade dreißig geworden und ausgesprochen hübsch, und kein Außenstehender hätte bei ihr vermutet, dass sie eine enorm durchsetzungsfähige und im Nahkampf erprobte Polizistin war. Doch jene Gauner, die bereits mit ihr Bekanntschaft gemacht hatten, hielten lieber Distanz zu ihr. Sie hatte eine kleine Wohnung in der Innenstadt von Kiel. Ihre Eltern lebten in Schleswig, wo sie auch ein Restaurant mit vorwiegend spanischen Spezialitäten betrieben. Mindestens dreimal pro Woche besuchte sie ihren Heimatort, manchmal half sie im Lokal aus, einfach, weil es ihr Spaß machte, aber auch, weil sie gerne mit ihren Eltern zusammen war.

Und obwohl Sören Henning und Lisa Santos, die beiden so unterschiedlichen Charaktere, bisweilen ebenso unterschiedlicher Meinung waren, so bildeten sie doch ein hervorragendes Team, das zusammen mit den Kollegen eine überdurchschnittlich hohe Aufklärungsquote aufzuweisen hatte.

Der Regen, der für ein paar Minuten nachgelassen hatte, hatte wieder zugenommen, als sie sich auf die Fahrt zurück nach Kiel machten. Jetzt im Winter waren die Straßen fast leer, ganz anders als im Sommer, wenn die Touristen in Strömen über das Land zwischen den Meeren hereinbrachen, die Ferienzimmer und Hotels zwischen Juni und August zum größten Teil ausgebucht waren und auch die zahlreichen Campingplätze entlang der Ostsee sich großen Zuspruchs erfreuten.

»Was ist deine Meinung?«, fragte Henning, während sie an Ahrensberg vorbeikamen und die Scheibenwischer gegen den Regen ankämpften.

»Ich hab noch keine Meinung. Ich frag mich nur, was die Kleine hier gemacht hat. Ausgerissen?«

»Möglich. Oder sie wollte jemanden besuchen. Das heißt, sie könnte getrampt sein. Jemand nimmt sie mit und bringt sie um. Wäre ja nicht das erste Mal.«

»Das ergibt aber keinen Sinn, schließlich wurde sie nicht vergewaltigt. Zumindest müssen wir davon ausgehen. Sie war bekleidet, als sie gefunden wurde«, bemerkte Lisa Santos und sah aus dem Seitenfenster, wo die triste Landschaft an ihr vorüberzog. »Ich möchte nicht diejenige sein, die ihren Eltern die Nachricht überbringt. Siebzehn Jahre alt, das ganze Leben noch vor sich. Und dann kommt so ein Arschloch daher und macht alles kaputt. Ich hab so was zum Glück noch nie machen müssen. Und warum hat er ihr die Augen ausgestochen?«

»Manche Killer sind der irrigen Meinung, dass sich ihr Bild in den Augen der Opfer festgebrannt hat wie auf einem Film. Deshalb stechen sie sie aus. Andere tun’s, weil sie den Anblick der toten Augen nicht ertragen können. Egal, wir kriegen ihn. Irgendjemand hat ihn gesehen«, entgegnete Henning mit stoischer Ruhe, die Lisa Santos manchmal in Rage brachte, auch wenn sie es nicht zeigte. Er wusste, was jetzt in ihr vorging, und er konnte es ihr nicht verdenken. Auch er war aufgewühlt von dem Anblick der Leiche, aber er war ein Pragmatiker, der zwar des öfteren mit dem Kopf durch die Wand wollte, doch wenn es darauf ankam, kühl und nüchtern an die Fälle heranging, während Lisa sich gerne auf ihre Intuition und ihr Gespür verließ, ohne dabei den Verstand außen vor zu lassen. Aber vielleicht war diese Gegensätzlichkeit genau das, was sie und ihn so unschlagbar machte.

»Wenn sie seit acht bis zwölf Stunden tot ist, ist die Wahrscheinlichkeit gleich null, dass irgendwer die Tat beobachtet hat. Es war dunkel, es hat die ganze Nacht geschüttet wie aus Kübeln … Lass den Mord heute früh um sechs geschehen sein, da ist keine Sau in der Gegend. Wir können froh sein, dass sie jetzt schon gefunden wurde und nicht erst in ein paar Tagen oder Wochen.«

Sören Henning erwiderte nichts darauf. Insgeheim musste er Lisa Recht geben, auch wenn er die Hoffnung hatte, dass wenigstens die rechtsmedizinische Untersuchung ein verwertbares Ergebnis erbrachte.

Von Kiel aus informierten sie die zuständigen Kollegen in Hannover, die den Eltern von Sabine Körner die grausame Mitteilung überbringen mussten, dass ihre Tochter einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen war. Noch am selben Abend wurde in mehreren Radio- und TV-Sendern um Hinweise gebeten, die zur Aufklärung des Mordes dienlich sein könnten. Doch nicht ein einziger Anruf ging bei der Polizei ein.

Um halb zehn fuhren Henning und Santos nach Hause, er zu seiner Familie, die ihn bereits erwartete, weil seine Tochter Elisabeth ihren achten Geburtstag feierte, Lisa Santos in ihre kleine, aber gemütliche Zweizimmerwohnung, wo sie sich als Erstes ein heißes Bad einließ, denn ihre Kleidung war nass, sie hatte kalte Füße, und überhaupt fror sie. Sie drehte die Heizung auf, zündete Kerzen an und machte sich, bevor sie ins Wasser stieg, eine große Tasse heißen Tee. Während sie badete, dachte sie an das Mädchen, das so bestialisch ermordet worden war. Und sie hoffte, dass der Autopsiebericht ein brauchbares Ergebnis brachte, auch wenn sie dies für eher unwahrscheinlich hielt. Ein Gefühl sagte ihr, wer immer das gemacht hatte, hatte es nicht zum ersten Mal getan. Sie schloss die Augen und dachte an das Gespräch mit ihrem Vorgesetzten Volker Harms, der sie heute Morgen um halb neun in sein Büro zitiert hatte, um ihr zu sagen, dass er sie zur Beförderung vorgeschlagen hatte. Oberkommissarin sollte sie werden, und das mit dreißig. Sie hatte sich riesig gefreut, doch diese Freude hatte durch den Mord an Sabine Körner einen kräftigen Dämpfer erhalten.

Sonntag, 5. Dezember 1999

Der Bericht der Rechtsmedizin traf am Vormittag ein. Sören Henning und Lisa Santos hatten bereits ungeduldig darauf gewartet und lasen ihn gemeinsam. Henning sah Lisa von der Seite an und meinte mit einer Spur von Triumph in der Stimme: »Mein lieber Scholli, das ging aber fix. Wir haben den Mistkerl. Der hat wohl nicht damit gerechnet, dass wir seine Daten gespeichert haben. Ein Hoch auf die moderne Kriminaltechnik. Und der Typ ist alles andere als ein Lamm. Zwei Jahre wegen Vergewaltigung, liegt allerdings schon sechzehn Jahre zurück. Dann wollen wir uns den Kerl mal vorknöpfen.«

»Das hätte ich nicht gedacht«, sagte Lisa und schenkte sich einen Kaffee ein. »Ich meine, dass wir den Fall so schnell lösen. Wo wohnt er?«

»Moment«, sagte Henning und gab die Daten ein. Lisa sah ihm über die Schulter. »Pinneberg. Den holen wir uns gleich jetzt. Aber vorher brauchen wir noch einen Haftbefehl.« Er rief beim zuständigen Haftrichter an, schilderte in kurzen Worten, was die Ermittlungen im Mordfall Sabine Körner ergeben hatten, worauf der Richter sagte, Henning und Santos könnten den Haftbefehl in einer halben Stunde bei ihm abholen.

Sie brauchten eine Stunde von Kiel bis nach Pinneberg, dann hielten sie vor dem Einfamilienhaus mit der Doppelgarage. Es war kalt und windig, als sie an der Tür klingelten. Ein Mann kam heraus. Henning hielt seinen Ausweis hoch. »Kripo Kiel, Mordkommission. Herr Nissen, Georg Nissen?«, fragte er obligatorisch.

»Ja, was ist?«

»Hauptkommissar Henning, meine Kollegin Frau Santos. Sie sind vorläufig festgenommen.« Er zog den Haftbefehl aus der Jackentasche. »Ich muss Sie über Ihre Rechte belehren. Sie haben das Recht, die Aussage zu verweigern, allerdings kann alles, was Sie von nun an sagen, gegen Sie verwendet werden. Haben Sie das verstanden?«

Nissen sah die Beamten entgeistert an. »Moment! Was ist hier eigentlich los? Warum werde ich festgenommen? Was hab ich verbrochen?«

»Das müssten Sie doch am besten wissen. Ich sage nur Sabine Körner.«

»Ich …«

»Wenn Sie sich bitte Schuhe anziehen würden und eine Jacke, alles andere kriegen Sie von uns gestellt.«

»Was ist mit Sabine?«

»Herr Nissen, das wissen Sie doch genau. Sie werden gleich genügend Zeit auf dem Präsidium haben, uns die Details zu schildern. Wenn Sie sich bitte beeilen wollen.«

Von hinten kam eine Frau, die die Beamten kritisch musterte. »Wer ist das?«, fragte sie ihren Mann und legte einen Arm um ihn, als wollte sie ihn beschützen.

»Polizei. Ich habe keine Ahnung, was die von mir wollen. Sie sagen, ich bin verhaftet, aber ich weiß nicht, warum.«

»Ihr Mann ist verdächtig, eine gewisse Sabine Körner getötet zu haben. Die Beweislast ist erdrückend«, sagte Henning kühl.

»Das ist lächerlich, Georg könnte keiner Fliege was zuleide tun«, fuhr sie die Beamten entrüstet an, woraufhin ihr Mann nur den Finger auf den Mund legte.

»Da sind wir anderer Ansicht, vor allem, da Ihr Mann ja nicht unbescholten ist. Können wir?«

»Schatz, ich bin bald wieder da, das ist alles ein riesengroßer Irrtum. Ich habe niemanden umgebracht.«

»Ich glaube dir. Und ich werde dir einen guten Anwalt besorgen.« Und zu Henning: »Und was soll das heißen, mein Mann ist nicht unbescholten?«

Henning nahm die Handschellen und sagte: »Hat er Ihnen das noch gar nicht gebeichtet? Hände auf den Rücken, wir wollen doch nicht, dass Sie im Auto Blödsinn machen.«

Georg Nissen drehte sich wie in Trance um und schüttelte immer wieder nur den Kopf. »Das ist verrückt, das ist total verrückt! Ich …«

»Auf geht’s, wir haben unsere Zeit auch nicht gestohlen.«

Sonntag, 17.30 Uhr

Ich habe Sabine nicht umgebracht«, beteuerte Georg Nissen zum wiederholten Male und schüttelte den Kopf. Schweiß hatte sich auf seiner Stirn, in den Handflächen und unter den Achseln seines Hemdes gebildet, auf dem sich zwei große Flecken abzeichneten. Seit über zwei Stunden wurde er abwechselnd von Sören Henning und Lisa Santos verhört, wobei die Fragen zunehmend schärfer wurden.

Henning, der allmählich ungeduldig wurde, stützte sich auf den Tisch, während Lisa Santos an die Wand gelehnt dastand, die Arme über der Brust verschränkt und die Vernehmung aufmerksam verfolgte. Besonders aber beobachtete sie die Reaktionen von Georg Nissen auf die Fragen, seine Mimik, seine Gestik, wie er sprach.

»Herr Nissen, Sie haben vor sechzehn Jahren schon einmal eine Frau vergewaltigt und sind dafür verurteilt worden. Was Sie in der Zwischenzeit getrieben haben, entzieht sich unserer Kenntnis, aber eines wissen wir, Sie hatten Geschlechtsverkehr mit Sabine Körner. Ich wiederhole mich ungern, aber der Todeszeitpunkt wurde auf die Zeit zwischen halb sieben und acht Uhr am Freitagmorgen festgelegt. Wie lange wollen Sie eigentlich noch leugnen, wo doch alles gegen Sie spricht? Sie haben sie mitgenommen, Sie haben sie gevögelt und sich dann wie ein Stück Dreck ihrer entledigt. Und Sie sind mit einer Brutalität und Grausamkeit vorgegangen, wie ich es in meiner Dienstzeit bisher nicht erlebt habe.«

Nissen fuhr sich verzweifelt durchs Haar und verschränkte schließlich die Hände im Nacken, den Kopf gesenkt. »Das stimmt alles nicht, ich habe sie nicht umgebracht, ich könnte so was überhaupt nicht. Verdammt noch mal, ich habe ja schon zugegeben, mit ihr geschlafen zu haben, aber ich habe sie bei Ahrensberg an der B 76 wieder abgesetzt und bin zurück nach Eckernförde gefahren, weil ich meinen Koffer vergessen hatte. Wie oft soll ich das noch sagen?! Prüfen Sie das doch nach. Woher soll ich denn wissen, wer sie danach mitgenommen hat.«

»Niemand, weil Sie der Letzte waren, der sie lebend gesehen hat. Es gibt keinen anderen, schon gar nicht diesen ominösen großen Unbekannten. Sagen Sie uns nur, wie sich alles abgespielt hat. Hat sie sich gewehrt, oder hat sie mehr Geld verlangt, als sie bereit waren ihr zu geben? War es so?«, sagte Henning hart und stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch und sah Nissen durchdringend an.

»Nein, nein, nein!«, schrie Nissen und sprang auf. »Ich habe ihr zweihundert Mark gegeben, damit sie mit mir schläft. Ich weiß, ich weiß, das war ein Fehler, aber sie war … Verdammt, sie hat mich einfach angetörnt. Sie wollte nach Flensburg zu einer Freundin, weil sie es zu Hause nicht mehr ausgehalten hat. Ich konnte sie aber nicht nach Flensburg bringen, weil ich nach Eckernförde gleich einen Termin in Böklund hatte.«

»Setzen Sie sich wieder«, herrschte Henning ihn an. »Wieso fahren Sie nach Böklund über Schleswig? Gibt es keinen kürzeren Weg? Für mich ist das ein ziemlicher Umweg.«

»Nein, es gibt keinen schnelleren Weg als über Schleswig. Man kann natürlich auch die Fähre bei Missunde nehmen, aber das dauert. Ich habe es nicht getan, ich habe Sabine nicht umgebracht!«

Henning griff sich ans Kinn und sah Nissen an. »Seltsam, wir haben bei ihr kein Geld gefunden, nicht einen Pfennig. Dafür haben wir aber einen Regenschirm gefunden, der Ihnen gehört …«

»Auch das habe ich Ihnen doch schon ausführlich erklärt …«

»Ja, ja, die alte Geschichte, dass Sie Mitleid mit ihr hatten und ihr den Regenschirm schenkten. Mir bricht es fast das Herz.«

Henning ging zu Santos und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Daraufhin löste sie sich von der Wand und setzte das Verhör fort.

»Herr Nissen, wie ist Ihre Ehe? Glücklich?«, fragte sie.

Nissen sah Santos erschöpft und hilfesuchend an und antwortete nach einer Weile: »Was spielt das für eine Rolle? Für Sie bin ich doch sowieso der Täter. Sie haben meine DNA, Sie wissen, dass ich Sabine mitgenommen und mit ihr geschlafen habe, und Sie meinen auch zu wissen, dass ich sie umgebracht habe. Was sollen also diese Fragen noch?«

»Von Ahrensberg beziehungsweise Louisenlund bis nach Haddeby sind es morgens um die von Ihnen angegebene Zeit maximal zehn Minuten. Und es war noch dunkel, sodass Sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen konnten, von niemandem gesehen zu werden. Warum haben Sie es getan? Erleichtern Sie doch endlich Ihr Gewissen …«

»Halten Sie den Mund! Ich habe ein reines Gewissen, da gibt es nichts zu erleichtern. Das ist alles ein verdammter Zufall, nichts als ein großer, gottverdammter Zufall. Aber einmal Verbrecher, immer Verbrecher, was? So denkt ihr Bullen doch, oder?«

»Beweisen Sie uns Ihre Unschuld, und Sie können als freier Mann dieses Gebäude verlassen«, sagte Henning kalt und hart, mit einer Spur Zynismus in der Stimme, denn er wusste, Nissen würde nichts vorbringen können, das ihn entlastete.

»Wie soll ich Ihnen meine Unschuld beweisen? Sie haben sich doch schon alles so zurechtgelegt, dass ich da gar nicht mehr rauskomme. Und das nur, weil ich Sabine mitgenommen und mit ihr eine schnelle Nummer geschoben habe. Ist das ein Verbrechen?«

»Nein, aber der Mord. Was für ein Gefühl ist das, wenn man einem jungen Mädchen immer und immer wieder einen Pflasterstein ins Gesicht schlägt, bis dieses Gesicht nicht mehr zu erkennen ist? Oder wie ist das, wenn man diesem Mädchen am Ende noch die Augen aussticht? Ist das ein zusätzlicher Kick, noch ein Orgasmus obendrauf?«, fragte Henning noch einen Tick zynischer und deutete auf die Fotos der Toten, die er bewusst vor Nissen ausgebreitet hatte. »Hm, wie ist das? Schauen Sie sich noch mal an, was Sie angerichtet haben! Hier, hübsches Gesicht, was?!«

Georg Nissen atmete tief durch und erwiderte: »Egal, was ich sage, Sie glauben mir sowieso nicht. Ich möchte mit meinem Anwalt sprechen.«

»Der ist noch nicht aufgetaucht. Leider«, sagte Henning kalt lächelnd. »Und es stimmt, ich glaube Ihnen nicht. Ich glaube nämlich nicht an diese berühmten Zufälle. Es ist dumm gelaufen für Sie, Sie hätten alles, zumindest fast alles mit ihr machen dürfen, nur das mit dem Umbringen, das war ein saudummer Fehler.«

Ein Kollege vom K 1 kam herein und bat Henning nach draußen. »Hier«, sagte er und reichte ihm eine Notiz, »wir haben die Aussage von dem Mitarbeiter in Eckernförde. Er bestätigt, dass Nissen zurückgekommen ist, aber er kann sich nicht genau erinnern, wann das war. Er meint, irgendwann zwischen halb acht und halb neun. Jetzt kommt aber das Interessante. Nissen hat seiner Meinung nach ziemlich nervös gewirkt. Und in Böklund war er erst um neun, das haben wir inzwischen auch rausgefunden.«

Henning klopfte ihm auf die Schulter und begab sich wieder in das Vernehmungszimmer. »Es wird immer enger für Sie. Herr Schneider hat unseren Kollegen gegenüber ausgesagt, dass Sie zwischen halb acht und halb neun nach Eckernförde zurückgekommen sind, um Ihren Koffer zu holen. Und Sie sollen recht nervös gewesen sein. Kann ich mir vorstellen. Man bringt schließlich nicht jeden Tag jemanden um. Oder war es gar nicht Ihr erster Mord?«

»Ja, ich war nervös, weil ich meinen Termin nicht einhalten konnte. Und jetzt lassen Sie mich zufrieden, ich habe keine Lust mehr, mir Ihre dummen Unterstellungen anzuhören. Ich möchte erst mit einem Anwalt sprechen, bevor ich weitere Fragen beantworte.«

»Wenn Sie Sabine so nett fanden, warum haben Sie sie nicht mit nach Eckernförde genommen? Für die Kleine wäre es doch auf die Stunde nicht angekommen«, sagte Henning, ohne auf den letzten Satz von Nissen einzugehen.

»Keine Ahnung, aber ich hätte es tun sollen, dann würde sie heute noch leben, und ich müsste nicht hier sitzen und …« Er winkte ab und fuhr fort: »Lassen Sie mich einfach zufrieden. Ich weiß nicht, was passiert ist, ich weiß nur, dass ich unschuldig bin.«

»Wie Sie wünschen. Ich lasse Sie in Ihre Zelle bringen, und sobald der Anwalt da ist, haben Sie Zeit, sich mit ihm zu besprechen.«

Nachdem Nissen abgeführt war, meinte Lisa Santos nachdenklich: »Du bist so verdammt sicher, dass er es war. Was aber, wenn er die Wahrheit sagt?«

Henning lachte kurz und trocken auf und nahm einen Schluck Wasser. »Der kann doch zwischen Wahrheit und Lüge schon gar nicht mehr unterscheiden. Wie viele Beweise brauchst du noch, damit du überzeugt bist?«

»Sicher, es spricht alles gegen ihn, aber ich traue ihm irgendwie keinen Mord zu. Schon gar nicht so einen bestialischen.«

»Wie viele Mörder hast du schon gesehen? Zwei, drei?«

»Ein paar, warum?«

»Und wie sehen die aus? Steht auf ihrer Stirn in großen Lettern ›MÖRDER‹? Weißt du, ich bin schon ein bisschen länger in dem Geschäft, und glaub mir, den meisten von diesen Typen siehst du nichts an, aber auch rein gar nichts. Er war’s, er hat nur Angst, den Rest seines Lebens im Knast verbringen zu müssen. Aber genau dahin werden wir ihn bringen.«

»Trotzdem, lass es so gewesen sein, wie er sagt, was dann?«

Henning setzte sich auf den Tisch und antwortete: »Okay, spielen wir’s durch, auch wenn ich eigentlich längst zu Hause sein wollte. Er gabelt Sabine bei Neumünster auf, fährt mit ihr nach Eckernförde, repariert dort eine Maschine, vögelt die Kleine im Wald bei Louisenlund, bemerkt danach, dass er seinen Koffer vergessen hat, drückt ihr die zweihundert Mark und den Regenschirm in die Hand und setzt sie an der Straße ab. Und da soll sie ausgerechnet in diesem Augenblick, ich meine, ausgerechnet in dieser kurzen Zeitspanne ihrem Mörder begegnet sein? Ein Zeitfenster von vielleicht zwei oder drei Minuten? Ziemlich weit hergeholt, oder?«

Lisa Santos atmete tief durch und sagte: »Ich halte es ja auch für ziemlich unwahrscheinlich, aber nicht für ausgeschlossen. Sorry, aber …«

Henning stellte sich vor sie, fasste sie bei den Schultern und entgegnete mit einer Sicherheit, die über jeden Zweifel erhaben war: »Denk dran, Lisa, er hat schon mal eine Frau vergewaltigt. Diese Typen ändern sich nicht, auch wenn er jetzt eine Familie hat. Was glaubst du wohl, warum seine Frau bis heute nichts davon weiß? Der Kerl hat vermutlich mehr Dreck am Stecken, als wir uns vorstellen können. Er ist beruflich ständig unterwegs, wer weiß, wie viele Anhalterinnen er schon mitgenommen hat. Und wer weiß, ob nicht auch einige von unsern vermissten Mädchen und Frauen auf sein Konto gehen.« Er schüttelte den Kopf und fuhr sich übers Kinn. »Wir blicken gerade eben in tiefste menschliche Abgründe, die wir wohl nie begreifen werden. Wir machen morgen weiter. Und du denk nicht länger dran, dass er es nicht gewesen sein könnte, sondern überleg dir, wie wir ihn dazu bringen können, ein Geständnis abzulegen. So, und jetzt machen wir Schluss für heute, es war ein langer Tag.«

Auf der Heimfahrt dachte Lisa Santos über das Verhör und über die Worte von Henning nach. Sie hatte dieses unbestimmte Gefühl, das ihr sagte, den Falschen verhaftet zu haben, auch wenn Henning so überzeugt von dessen Schuld war. Und wenn er sich in etwas verbissen hatte, war es beinahe unmöglich, ihn davon abzubringen. Aber sie selbst war auch unsicher, ihr Kopf und ihr Bauch sprachen unterschiedliche Sprachen. Und schließlich sprach auch alles gegen Georg Nissen. Nein, dachte sie, Sören wird schon Recht haben, er hat sich bisher noch nie geirrt.

April 2000

Der Prozess gegen Georg Nissen begann am 26. April und dauerte sechs Verhandlungstage. Die Presse hatte sich schon lange auf den Angeklagten eingeschossen, in mehreren Überschriften wurde er als die »Bestie aus Pinneberg« betitelt. Sein gesamtes Umfeld war durchleuchtet worden, in einem Interview mit einem Journalisten eines Boulevardblattes hatte seine Frau gesagt, niemals auch nur im Geringsten vermutet zu haben, dass ihr Mann zu einer solch grausamen Tat fähig sein könnte. »Doch der Teufel lässt sich eben nicht hinter die Stirn blicken«, waren einige ihrer markantesten Worte, die ebenfalls für eine Schlagzeile gut waren.

Zwei Gutachter waren überdies zu dem Schluss gekommen, dass Nissen über ein gesteigertes Aggressionspotential verfüge und vor allem Probleme im Umgang mit Frauen habe. Die von Sören Henning vorgelegte Indizienkette und insbesondere die sie stützenden Gutachten waren laut Staatsanwaltschaft derart erdrückend, dass sie den Antrag stellte, den Angeklagten zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung zu verurteilen. Außerdem werde geprüft, ob Nissen auch mit zwei weiteren Morden an jungen Frauen, die zwischen 1996 und 1998 im westlichen Mecklenburg-Vorpommern bei Rostock und in der Nähe von Elmshorn getötet worden waren, in Verbindung gebracht werden könne, da sie eine ähnliche Handschrift aufwiesen wie der Mord an Sabine Körner, denn man konnte nachweisen, dass Nissen an den Tagen des Verschwindens der Frauen sowohl in Rostock als auch in Elmshorn zu tun hatte. Er selbst hatte keine Erklärung für diese Zufälle. Alles, was er tun konnte, war, immer und immer wieder zu beteuern, mit den Morden nichts zu tun zu haben. Doch es gab niemanden, der ihm glaubte. Lediglich Lisa Santos hegte nach wie vor Zweifel an seiner Schuld.

Noch vor Prozessbeginn hatte Helga Nissen die Scheidung eingereicht und betont, mit ihrem Mann, einem kaltblütigen Mörder, nichts mehr zu tun haben zu wollen. Dennoch war sie während des gesamten Prozesses anwesend, und als ihr Georg nach dem Urteilsspruch einen hilfesuchenden Blick zuwarf und sie noch einmal umarmen wollte, hatte sie nur verächtlich den Mund verzogen und ihm zugeflüstert: »Teufel!«

Nissen hatte eine Einzelzelle, isoliert von den andern Gefangenen, die ihn bereits während seiner Untersuchungshaft einmal zusammengeschlagen und vergewaltigt hatten. Er ging jeden Tag allein für eine Stunde auf den Hof, um frische Luft zu schnappen, aber es gab auch unter den Wärtern nicht einen, der ihm einigermaßen respektvoll begegnete. Nur fünf Tage nach dem Urteil verfasste Nissen einen Brief an seine Frau.

»Liebe Helga,

ich möchte dir nur ein paar Zeilen schreiben und dir sagen, dass ich dich über alles liebe. Ich kann verstehen, dass du mit einem Mörder nichts mehr zu tun haben willst, ich kann auch verstehen, dass du die Scheidung eingereicht hast. Aber ich bitte dich mir zu glauben, dass ich niemals einem Menschen etwas angetan habe. Auch die Sache mit der Vergewaltigung, weswegen ich vorbestraft bin, hat sich nicht so abgespielt, wie es immer behauptet wurde. Ich habe Carola damals nicht vergewaltigt, sie hat sich nur an mir rächen wollen. Sie hat sich immer wieder an mich rangemacht, doch ich habe nichts für sie empfunden. Aber in dieser einen Nacht war ich angetrunken und dachte, ich könnte ja wenigstens mal mit ihr ins Bett gehen, vielleicht hätte ich dann meine Ruhe vor ihr.

Schon am nächsten Morgen stand die Polizei vor meiner Tür und hat mich verhaftet. Die Verletzungen, die sie hatte, muss sie sich selbst beigebracht haben, denn ich habe noch nie in meinem Leben eine Frau geschlagen, das müsstest du am besten wissen. Aber auch damals sprach alles gegen mich, und ich frage mich, was ich der Welt getan habe, dass man mich immer wieder für Dinge verantwortlich macht, die ich nicht begangen habe. Es scheint, dass sich alles gegen mich verschworen hat. Das Schicksal hat es eben nicht gut mit mir gemeint.

Ich bin kein Mörder! Und ich war auch noch nie gewalttätig einem andern gegenüber, das musst du mir glauben.

Ich weiß, ich werde den Rest meines Lebens hinter Gittern verbringen, aber dieser Rest wird nicht mehr lange dauern. Ich kann nur immer wieder betonen, wer Sabine auch umgebracht hat, ich war es nicht, Gott weiß das!

Vielleicht kommst du ja ab und zu mal an mein Grab, und wenn nicht, dann ist das auch nicht so schlimm. Pass gut auf dich auf und sei den Kindern eine gute Mutter. Ich gehe mit reinem Gewissen, aber ich halte es hier drin nicht aus. Es wären vielleicht dreißig oder vierzig Jahre, aber was wäre das für ein Leben?!

Ich weiß, dass ich dir wehgetan habe, aber es gab einige Frauen, denen konnte ich nun mal nicht widerstehen. Bitte verzeih mir meine Fehltritte. Und ich bitte dich um einen Gefallen – sorge dafür, dass auch Kommissar Henning und Staatsanwalt Kieper diesen Brief lesen, denn Sie sollen wissen, dass ich unschuldig bin und möchte, dass sie den Mörder finden, für dessen Tat ich im Gefängnis sitze und auch sterbe.

Ich liebe euch alle, und gib Patrick und Michaela einen Kuss von mir. Ich liebe und ich küsse dich,

dein Georg«

Er faltete den Brief zusammen und legte ihn auf das Bett. Er wartete, bis das Licht gelöscht wurde, zog das Laken und die Bettwäsche ab und verknotete alles miteinander. Er trank noch einen Schluck Tee, stellte sich auf den Stuhl, atmete einmal tief durch und stieß den Stuhl von sich.

 

Die Nachricht von Georg Nissens Selbstmord erreichte Sören Henning und Lisa Santos auf einem Fortbildungsseminar in Plön. Sie lasen während einer Pause den Abschiedsbrief, der ihnen durchgefaxt worden war. Henning sagte nichts, warf seiner Kollegin nur einen kurzen Blick zu und wollte sich schon abwenden, als sie ihn zurückhielt.

»He, du kannst nichts dafür. Du hast deinen Job gemacht, genau wie ich.«

»Nett von dir, dass du mich aufmuntern willst, aber das geht ganz allein auf meine Kappe. Du hast an seiner Schuld gezweifelt, und ich habe nicht auf dich gehört. Aber soll ich dir ganz ehrlich was sagen? Ich war zum Schluss auch nicht mehr von seiner Schuld überzeugt. Nur, da wäre es sowieso schon zu spät gewesen, Kieper hatte sich längst auf den Prozess vorbereitet. Und außerdem sprachen doch alle Fakten gegen Nissen, oder?«

Henning sah Lisa Santos an, als würde er eine Zustimmung erwarten, doch sie antwortete nur: »Kann schon sein. Es war alles ein dummer, unglücklicher Zufall.«

»Sicher. Aber jetzt läuft da draußen einer rum, der ein Menschenleben auf dem Gewissen hat. Und ich auch.« Er machte eine kurze Pause, dann sagte er: »Ich fahr nach Hause, ich brauch ’ne Auszeit. Sorry.«

Lisa Santos sah ihm hinterher und verbrachte die restlichen zwei Tage in Plön. Henning ließ sich eine Woche krankschreiben, bevor er wieder zum Dienst erschien. Er verlor kein Wort mehr über Georg Nissen, sondern widmete sich seiner Arbeit, einem neuen Fall, einem achtjährigen Jungen, der seit zwei Tagen vermisst wurde. Henning wurde zusammen mit Lisa Santos mit den Ermittlungen betraut, die fast ausschließlich vom Büro aus geführt wurden. Fast anderthalb Jahre vergingen, bis das Skelett des Jungen im Unterholz eines Waldstücks in der Nähe von Stralsund von Spaziergängern entdeckt wurde. Erst eine DNA-Analyse brachte den Eltern, die verzweifelt gehofft hatten, ihr Kind würde noch leben, die traurige Gewissheit, es nie wiederzusehen. Henning hatte zu diesem Zeitpunkt die Ermittlungen längst Lisa Santos und andern Kollegen überlassen. Er hingegen verschanzte sich hinter seinem Schreibtisch und bearbeitete Akten. Mehr wollte er nicht.

Donnerstag, 6. Mai 2004

Die letzten Tage waren schlecht gewesen. Er hatte zwar genug zu tun gehabt, und doch war er unzufrieden. Zu Hause hatte sich Butcher wieder einmal die alte Leier anhören müssen, nicht genug für seine Familie da zu sein, sich nicht wie ein liebevoller Ehemann um seine Frau zu kümmern, Dinge, die er schon seit Jahren vorgeworfen bekam. Einmal mehr waren ihm seine Frau und seine Mutter mit ihren ständigen Sticheleien und Vorwürfen auf die Nerven gegangen, und als sie auch noch seine Fähigkeiten als Vater in Frage stellten, hatte er genug. Butcher, der nur selten Widerworte gab, der alles scheinbar gelassen hinnahm, setzte sich an diesem milden, aber regnerischen Frühlingstag in seinen dunkelblauen VW Golf und fuhr übers Land. Er machte dies immer, wenn ihm zu Hause alles zu viel wurde, wenn er die Freiheit suchte, die er nur fand, wenn er wie jetzt ziellos durch die Gegend streifte. Wie ein einsamer Wolf auf der Suche nach Beute. Oder wie ein einsamer Wolf, der nach einem Opfer Ausschau hielt. Seit dem späten Nachmittag war er unterwegs. Er hatte gesagt, er müsse noch etwas Geschäftliches in Flensburg erledigen, was natürlich gelogen war. Er legte eine CD mit den harten, düsteren Beats von Rammstein ein und drehte die Lautstärke hoch. Alles in ihm vibrierte, er schaute nur auf die Straße, seine Kiefer mahlten ein paarmal aufeinander. Nach einer halben Stunde hielt er auf einem Waldparkplatz, begab sich zum Kofferraum und öffnete den darin liegenden Kleidersack. Er schaute sich kurz um, er war allein. Rasch zog er sich um. Etwas sagte ihm, heute würde es wieder so weit sein. Die andern Sachen legte er fein säuberlich zusammen und schloss den Kofferraum.

Weitere zwei Stunden vergingen. Es wurde allmählich dunkel, der Himmel war bedeckt, es fing wieder an zu regnen. Butcher war zuerst nach Kappeln gefahren, von dort aus nach Eckernförde und wollte bereits wieder den Rückweg nach Hause einschlagen, als eine innere Stimme ihm sagte, noch einen Abstecher nach Rendsburg zu machen. Kurz hinter Groß Wittensee erblickte er an einer Bushaltestelle auf der andern Straßenseite eine junge Frau, die schweres Gepäck bei sich hatte. In beiden Händen hielt sie ein Schild, dessen Aufschrift nicht zu erkennen war, da es in die andere Richtung zeigte. Er tat, als nähme er keine Notiz von ihr, setzte seinen Weg noch einen Kilometer fort und wendete. Sein Atem ging ein wenig schwerer, sein Blut schien schneller als gewöhnlich durch die Adern zu fließen, sein ganzer Körper war wie ein Druckluftkessel kurz vor dem Explodieren.

Als er nach kaum fünf Minuten zurückkam, stand sie noch immer dort, als hätte sie auf ihn gewartet. Jetzt erkannte er im Scheinwerferlicht »Husum«, das in großen Lettern auf dem Pappschild stand. Sie trug eine grüne Regenjacke, die Kapuze über den Kopf gezogen, um so dem Wind und dem Regen zu trotzen.

Butcher hielt an und ließ das Beifahrerfenster herunter. »Husum?«, fragte er, als hätte er es auf dem Schild nicht gelesen.

»Können Sie mich mitnehmen?«, fragte die junge Frau und warf einen prüfenden Blick in den Wagen und schien erleichtert, als sie die Uniform sah.

»Da haben Sie aber Glück«, sagte Butcher freundlich. »Ich fahr fast bis nach Husum, hab dort gleich einen Einsatz. Packen Sie Ihre Sachen einfach auf den Rücksitz, der Kofferraum ist voll.«

»Danke.« Sie hievte ihren Trekkingrucksack und die Reisetasche hinein, holte ein Taschentuch aus ihrer Jacke und schnäuzte sich noch draußen die Nase, bevor sie sich ins Auto setzte.

»Wieso stehen Sie hier?«, fragte er. »Ich meine, hat Sie jemand hier in der Einöde abgesetzt?«

»Ach, nur so ein Idiot, der mir an die Wäsche wollte. Ich hab ihm eine gescheuert, und er hat mich rausgeschmissen. Zum Glück war er nur geil, aber ansonsten harmlos.« Sie schob ihre Kapuze zurück und schüttelte einmal kräftig den Kopf.

»So was kann auch schief gehen«, sagte Butcher.

»Ich hab schon ’ne ganze Menge erlebt, ich kann mich wehren.«

»Sie sollten trotzdem in Zukunft aufpassen. Darf ich fragen, wie Sie heißen?«

»Miriam. Was dagegen, wenn ich meine Jacke ausziehe?«

»Tun Sie sich keinen Zwang an.« Er beobachtete aus dem Augenwinkel, wie sie die Jacke auf den Rücksitz zu den andern Sachen legte und ihren Kopf an die Nackenstütze lehnte. Butcher schätzte sie auf achtzehn, neunzehn, höchstens zwanzig, vielleicht eine Studentin, dachte er. Sie war groß, mindestens einsfünfundsiebzig, hatte halblange hellbraune Haare und ausdrucksstarke blaue Augen, das war ihm sofort aufgefallen, als sie ins Auto geschaut hatte. Miriam trug ein weißes Sweatshirt, eine Jeans und Sportschuhe. Sie war schlank, doch sie hatte ungewöhnlich große Brüste, die auch von dem weit geschnittenen Shirt nicht verdeckt werden konnten. Aber eigentlich interessierte es ihn gar nicht, wie sie aussah, wie sie gebaut war, das Einzige, was ihn interessierte, war, dass sie neben ihm saß, ohne auch nur im Geringsten zu ahnen, dass dies ihre letzte Fahrt in einem Auto sein würde, dass es überhaupt ihre letzte Fahrt sein würde.

»Und was machen Sie in Husum?«

»Ich wohne dort.« Sie schloss die Augen und fuhr fort: »Sie glauben gar nicht, was ich im letzten halben Jahr alles erlebt habe. Möchten Sie’s hören?«, fragte sie, als wäre er der Erste, dem sie sich mitteilen konnte.

»Klar.«

»Ich war in Frankreich, Spanien, Portugal und Nordafrika. Ich hab dort wirklich alle Arten von Menschen kennen gelernt. Marokko aber, das war der Hammer. Mein lieber Scholli, bin ich froh, dass ich da wieder lebend rausgekommen bin …«

»Warum sind Sie allein gereist?«, wollte Butcher wissen.

»Ich musste mal weg von zu Hause. Mein Vater ist vor fünf Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen, und meine Mutter hat sich einen neuen Typ ins Haus geholt, mit dem ich einfach nicht zurechtkomme. Lange Geschichte. Also hab ich mir im November gesagt, Miriam, pack deine Sachen und mach dich auf die Socken. Meine Mutter wollte mich natürlich unter allen Umständen davon abhalten, aber ich musste erst mal andere Luft schnuppern. Sie hat gemeint, ich sei noch viel zu jung, um allein zu reisen, aber ganz ehrlich, lieber allein in ein fremdes Land, als … Um meine kleine Schwester tut’s mir ein bisschen leid, denn sie kann den Typ auch nicht ausstehen, aber ich musste jetzt erst mal an mich denken. Eigentlich wollte ich schon letzten Herbst mit meinem Studium anfangen, doch leider waren alle Plätze vergeben. Na ja, im Oktober geht’s endlich los. Weit weg von hier, in Heidelberg. Aber vorher hab ich zumindest noch einen Teil von der Welt gesehen.«

»Sie sind die ganze Zeit getrampt?«

»Klar, das heißt, die meiste Zeit. Und komischerweise war das ganz easy. Jedenfalls viel leichter, als ich’s mir vorgestellt hatte. Bloß in Nordafrika ist das nicht so einfach, da muss man schon aufpassen, dass man nicht an den Falschen gerät, vor allem in Marokko und Algerien. Dort bin ich meistens mit dem Bus gefahren.«

»Und woher hatten Sie das Geld?«

»Mein Vater hat mir was hinterlassen. Ich hab’s bekommen, als ich achtzehn wurde. Ich hab aber nur ’nen Teil davon gebraucht, den Rest nehm ich für mein Studium. Heidelberg ist nicht gerade billig. Und Sie, was machen Sie?«

Butcher zuckte mit den Schultern und meinte: »Eigentlich bin ich bei der Polizei, aber ehrenamtlich auch noch bei der Feuerwehr. Wir haben gleich eine Nachtübung.«

»Bei der Polizei! Wow! Und was genau machen Sie da?«

»Ich bin bei der Kripo, Mordkommission«, antwortete Butcher, während er auf der B 76 Richtung Schleswig fuhr. Der nasse Asphalt glänzte im Licht der Scheinwerfer, ein paar letzte Tropfen fielen aus dem schwarzen Himmel.

»Und, gibt es irgendwelche interessanten Fälle? Ich meine, hier oben ist ja nicht gerade viel los, oder?«

»In der letzten Zeit schon. Wir haben mehrere Vermisste und … Na ja, ich darf leider nicht über aktuelle Fälle reden, wenn Sie verstehen. Dienstgeheimnis.«

»Schon gut, ist nur meine Neugier. Nach einem halben Jahr im Ausland will ich eben alles wissen. Mein Vater war übrigens bei der Staatsanwaltschaft. Vielleicht kannten Sie ihn ja, Ingo Hansen, Oberstaatsanwalt in Flensburg.«

»Tut mir leid, aber ich hab nie was mit ihm zu tun gehabt. Ich bin erst seit vier Jahren beim K 1 in Flensburg, vorher war ich in Bremen.«

Als Butcher bei Haddeby abbog, fragte Miriam: »Wohin fahren Sie?«

»Nur einen Kollegen abholen. Wohnt dort hinten«, sagte er ruhig und griff mit der linken Hand in das Seitenfach der Tür. Auf dem Parkplatz befand sich kein Fahrzeug. Er fuhr weiter in das Dunkel hinein, drehte eine Runde und stoppte abrupt am äußersten Ende des Parkplatzes.

»He, was gibt das?«, fragte Miriam lachend, obwohl sie Angst hatte, die sie jedoch so gut wie möglich zu verbergen versuchte.