Unten - Maja Ilisch - E-Book

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Maja Ilisch

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Beschreibung

Wenn du frei sein willst, musst du die Regeln brechen.   Alles, was Spaß macht, ist verboten. Doch Nevo muss sich an die Regeln halten, sonst verliert ihre Mutter noch die Wohnung und sie müssten im Häuserblock nach Unten ziehen, und dorthin will man nicht. Nevos Kosmos ist der Block, hier spielt ihr Leben. Seit Generationen hat niemand das Gebäude verlassen. Die Hausverwaltung sorgt dafür, dass alles seine Ordnung hat. Doch dann fällt Nevos Freundin Juma beim Spielen in den Wäscheschacht und ist wie vom Erdboden verschluckt. Mehr noch, die Erwachsenen tun so, als hätte es Juma nie gegeben. Nevo ist zwar daran gewöhnt, auf Fragen keine Antworten zu bekommen, aber das geht zu weit. Sie macht sich auf den Weg durchs Haus, um Juma wiederzufinden – und erlebt das Abenteuer ihres Lebens. Zeitlos, berührend, dystopisch: wie "Momo" ein Roman für Kinder und Erwachsene.  - 50 Jahre nach Michael Endes Welterfolg "Momo" tritt Maja Illisch mutig in seine Fußstapfen.  - Preisverdächtig mit Potenzial zum Klassiker, spannend von der ersten bis zur letzten Seite.  - Für Fans der Geschichten von Ursula Poznanski und Morton Rhue.Maja Illisch hat am Welttag des Buches Geburtstag, schreibt als freie Autorin und betreibt das Fantasy-Forum "Tintenzirkel".

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Über dieses Buch

»Wenn du dich auf den Weg nach unten machst – dann ist es gut möglich, dass du nicht mehr zurückkannst.«

»Wie Juma«, sagte Nevo.

»Wie deine Freundin. Aber wenn du es tust und wenn du zurückkommst – dann erzähl mir, wie es ist. Da unten.«

Zinnober Vier

Das Licht im Flur war nicht in Ordnung, wieder einmal. Wie eigentlich immer. Die Lampen flackerten – nicht alle gleichzeitig, mal die eine und mal die andere, und manchmal, nur einen Wimpernschlag lang, wurde es ganz dunkel. Wenn Juma rannte, sah es aus, als würde sie zwischendurch verschwinden und dann ein Stück weiter vorne wieder auftauchen. Und sie hatte auch so schon einen anständigen Vorsprung. Nevo biss die Zähne zusammen und strampelte hinter ihr her – sie wusste, sie hatte bessere Chancen, sie zu fangen, wenn sie einfach stehen blieb und wartete, bis Juma einmal rum war und wieder bei ihr ankam, aber wo war dann der Spaß? Irgendwann würde sie ihre Freundin schon einholen –

Die Lautsprecher knackten. Dann ein Pfeifton, schrill in den Ohren. Dann die Durchsage: »Die Hausverwaltung möchte darauf hinweisen, dass das Fangenspielen auf den Fluren nicht gestattet ist.«

Nevo schnaubte im Rennen und schüttelte den Kopf. Das wusste sie längst. Natürlich wusste sie das. Nur, wo sollten sie dann Fangen spielen? Der Flur war der einzige Ort, wo sie mal rennen konnten. Sie taten es ja nicht den ganzen Tag lang. Aber ab und zu, ein paar Runden, das war schon in Ordnung. Sie durften sich nur nicht erwischen lassen – doch das würden sie auch nicht. Juma und Nevo machten das ja nicht zum ersten Mal. Und jedes Mal gab es irgendwann eine Durchsage. Beim ersten Mal hatten sie sich vielleicht noch darüber erschrocken. Aber das nutzte sich ab.

Juma blieb stehen und drehte sich zu dem Lautsprecher um, und das reichte schon aus, dass Nevo sie eingeholt hatte, also zumindest fast. Nevo blieb in zwei Schritten Entfernung stehen und wartete. Sie wollte Juma richtig fangen, im Rennen, wie sich das gehörte.

»Jetzt renn schon!«, rief sie. »Was ist, du hast dich doch nicht erschreckt?«

»Ich frage mich, woher die das wissen«, sagte Juma. »Dass wir hier spielen.«

»Die Nachbarn hören uns halt rennen.« Nevo zuckte die Schultern. »Muss nur einer bei der Verwaltung durchrufen.« Es war ihr lieber, die machten das, als die Türen aufzureißen und in den Flur hinauszuschimpfen, aber die Frau, die das immer gemacht hatte, war weggezogen. Trotzdem versuchten sie immer, an dieser einen Tür ein bisschen leiser vorbeizurennen.

»Oben haben die Teppiche auf dem Flur«, sagte Juma. »Hab ich zumindest gehört. Da ist das dann nicht so laut, wenn man rennt.«

»Und von wem hast du das?« Nevo verdrehte die Augen. »Einer von den Zwillingen, was? Die spielen sich doch auch nur auf. Keiner von denen ist jemals oben gewesen.«

Oben, das hieß weiter oben als der Block Zinnober. Die anderen Etagen im Block Zinnober waren nicht anders als die, auf der Nevo und Juma lebten, mit dem gleichen abgewetzten Linoleumboden im Flur, wo sich schon die Fliesen lösten und klapperten oder fehlten oder von irgendwem wieder festgeklebt worden waren, aber nicht richtig, sodass sie sich unter dem Fuß bewegten wie etwas, das lebte.

Wenn auf der Etage über ihnen jemand Fangen spielte, dann hörten sie das. Vielleicht hatte dann auch jemand von Zinnober Drei die Hausverwaltung angerufen. Die Tür öffnen und in den Flur brüllen, das war ja nicht viel Arbeit, aber wer wollte deswegen schon durchs Treppenhaus müssen? Der Lautsprecher war wieder still. Nevo und Juma schauten ihn an, zogen Grimassen, als ob er sie sehen könnte, und als er nicht mehr antwortete, lachten sie.

»Bellen nur«, sagte Juma. »Beißen nicht.«

»Ich beiß dich gleich«, sagte Nevo. »Ich gönn dir deinen Vorsprung ja, aber wenn du nicht gleich losrennst –«

Juma lachte, schlug einen Haken und rannte an Nevo vorbei in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Nevo hätte nur den Arm nach ihr ausstrecken müssen, aber sie war nicht schnell genug, und schon war Jumas Vorsprung wieder uneinholbar. Nevo starrte ihrer Freundin einen Moment lang hinterher, dann rannte sie selbst in die entgegengesetzte Richtung. Damit rechnete Juma nicht – dass Nevo ihr entgegenkam! Schon war sie an der Stirnseite vorbei, da kam Juma direkt auf sie zu, sah Nevo und bremste so abrupt, dass sie fast hingefallen wäre. Wenn sie jetzt wieder kehrtmachte …

Irgendwo ging eine Tür – nein, nicht irgendwo. Sie fiel mit zu viel Schwung zu, sie war schwerer als die Wohnungstüren – das war die Tür vom Treppenhaus. Nevo blieb stehen, sicher war sicher. Auf dem Flur rennen war eine Sache, aber man musste ja nicht gleich einem Erwachsenen in die Arme rennen.

Dann hörten sie eine Stimme. Nicht aus den Lautsprechern. Auf dem Flur. »Sie können nicht weit sein«, sagte ein Mann. »Sie sind gewarnt worden.«

Juma starrte Nevo an, die Lippen ängstlich zusammengekniffen.

»Die sind zu zweit!«, zischte Nevo. »Die teilen sich auf, einer linksrum, einer rechtsrum.«

Juma nickte hektisch. »Wohin?«, flüsterte sie zurück.

Nevo drehte sich auf der Stelle – es war egal, sie waren von ihren Wohnungstüren so weit weg, wie das nur irgendwie möglich war, und bevor sie da angekommen waren, hatten die von der Hausverwaltung sie bestimmt dreimal erwischt. »Verstecken!«, rief sie und musste lachen – wo sollten sie sich verstecken, auf dem Flur? Es war ein Flur. Es gab nichts zum Verstecken. Außer –

»Ich weiß was!«, rief Juma und sprang zu der Klappe in der Wand, fing an, sie mit beiden Händen aufzuschieben. »Hilf mir!«

Mit einem Satz war Nevo bei ihr. Der Wäscheschacht war kein ungefährliches Versteck: Wenn man nicht aufpasste, fiel man ganz schön weit hinunter, aber hatten sie eine Wahl? Die Durchsagen der Hausverwaltung, die machten keinem mehr Angst, aber wenn die einem die Aufsicht vorbeischickten – dann gab es Ärger. Richtig Ärger. Aber die Klappe war auf, groß genug, dass man hindurchklettern konnte, wenn man nicht das größte Mädchen der Welt war. Nevo machte Juma eine Räuberleiter, damit sie hineinkam. Da war ein kleiner Absatz, bevor der eigentliche Wäscheschacht anfing, man konnte sich hinkauern, wenn man sich klein machte, wenn man aufpasste …

»Hilf mir rein!«, rief Nevo. »Schnell!« Sie versuchte hinterherzuklettern. »Rutsch ein Stück –«

»Hier ist kein Platz!«, rief Juma, und ihre Stimme hatte einen seltsamen Hall von dem Schlund unter ihr. »Vorsicht! Hör auf! Wir passen hier nicht beide rein!«

Nevo stolperte rückwärts, während Juma von innen die Klappe wieder zuzog. Besser ein Versteck für eine von ihnen als für niemanden, und Nevo war sich sicher, wenn sie zuerst auf die Idee gekommen wäre, hätte Juma sie genauso den Platz haben lassen, aber so … Sie hörte Schritte näher kommen. Aus beiden Richtungen, wie sie sich gedacht hatte. Und jetzt gab es wirklich kein Versteck mehr.

Nevo drückte sich in den Eingang der nächsten Wohnungstür, als ob sie dadurch unsichtbar würde. Die Tür war rot angestrichen worden, irgendwann einmal, Zinnoberrot, die alten Türen waren das immer noch, ein paar Farbkleckse auf dem ansonsten dunklen und eintönigen Flur, die meisten Türen waren schwarz oder grau, und auch hier war die meiste Farbe längst abgeblättert, aber immerhin, man sah noch, dass sie rot war. Und wenn Nevo Glück hatte, wenn das Licht in genau dem Augenblick, wo die Männer vorbeikamen, ausging … Dann war sie praktisch unsichtbar …

Nevo wusste es besser, als das zu glauben. Es war ja nicht ihr erster Ärger. Oder ihr erster großer Ärger. Sie hatte ihre Mutter im Ohr. Kein Knacken. Kein Pfeifen. Du musst dich an die Regeln halten, Nevo! Ich weiß, das ist manchmal schwer – aber wir können die Wohnung verlieren, das weißt du. Reiß dich zusammen, einmal im Leben! Und Nevo hatte sich zusammengerissen, bestimmt zwei Wochen lang, bloß, wenn man nicht einmal ab und zu anständig rennen konnte, wohin dann mit der ganzen Bewegung, die aus einem rauswollte?

Jetzt saß sie in der Tinte. Die Fluraufsicht suchte nach ihr. Die Männer gingen langsam, im Flur wurde nicht gerannt, das galt selbst für die Hausverwaltung und ihre Angestellten, und sie hatten es nicht nötig zu rennen, Nevo konnte ja nicht weg. Außer durch die Tür … Nevo begann, gegen das Holz zu hämmern. Sie wusste nicht, wer da wohnte. So ein großes Haus, und Nevo kannte nicht einmal alle Leute von ihrer eigenen Etage. An der Tür war sie bestimmt tausendmal vorbeigekommen, zwangsweise, wenn man immer im Kreis durch den Flur rannte. Sie war rot und das war es auch schon … Nevo klopfte. Klopfte. »Mach auf«, flüsterte sie. »Mach auf, mach auf!«

Sie drückte das Ohr gegen die Tür und den Rest von sich hinterher, als ob die Tür sie dann verschlucken würde – sie bildete sich ein, auf der anderen Seite etwas zu hören, Schritte, irgendwas klapperte, aber niemand machte ihr auf –, und dann legte sich, auf ihrer Seite der Tür, eine Hand auf ihre Schulter.

»Wen haben wir denn da?«

Nevo machte sich steif und drehte sich um. »Nevo Oppolit«, sagte sie leise. Lügen hatte keinen Sinn, das zumindest wusste sie. »Aus Nummer siebenundzwanzig.«

»Nummer siebenundzwanzig wo?« Der Mann von der Fluraufsicht trug eine graue Uniform mit roter Schärpe und einen roten Schirm an der Mütze. Das war gut. Er war von ihrem Block. Nicht von der Zentrale. Vielleicht hatte Nevo ja noch mal Glück gehabt.

»Nummer siebenundzwanzig, Zinnober Vier.« Nevo guckte zu Boden. »Ich habe nichts gemacht.« Sie konnte damit durchkommen. Bestimmt. Sie war ja nicht beim Rennen erwischt worden. Nicht direkt.

»Du hast nicht Fangen gespielt?«

Nevo schüttelte den Kopf. »Ich bin ja allein«, sagte sie und hoffte, dass es Juma noch ein bisschen länger in ihrem Versteck aushielt, bis Nevo aus dem Schneider war. Inzwischen kam von der anderen Seite der zweite Mann hinzu. Auch mit roter Schärpe.

»Dann hast du Kinder gesehen, die hier gerannt sind?«

Wieder schüttelte Nevo den Kopf. Es wäre die Gelegenheit gewesen, die Zwillinge in die Pfanne zu hauen, aber das ging nach hinten los, diese Pfanne haute zurück. »Es ist niemand da außer mir.«

»Wir haben gehört, hier rennen Kinder.«

Nevo atmete durch, dann hob sie den Kopf. »Ich war das«, sagte sie, so ruhig sie konnte. »Ich bin gerannt.«

»Du kennst die Hausordnung!«, sagte der Mann, der neu hinzugekommen war. »Du weißt, dass es verboten ist! Hast du die Durchsage nicht gehört?«

»Die Durchsage hat gesagt, ich soll nicht Fangen spielen«, antwortete Nevo trotzig. »Wie soll ich Fangen spielen, wenn keiner außer mir da ist? Ich bin gerannt. Es ist erst Fangen draus geworden, als Sie dazugekommen sind.« Sie merkte, dass sich die Tür hinter ihr einen winzigen Spalt öffnete und dann gleich wieder schloss. Jetzt war es sowieso zu spät.

Die Männer blickten streng auf sie herunter. »Die Hausordnung sagt, kein Rennen. Fangen ist nur ein Beispiel.«

»Aber dann hätte die Durchsage ›Rennen‹ sagen müssen. Nicht ›Fangen‹.« Nevo fühlte erst ihre Stimme zittern und dann ihre Unterlippe. Wollte sie wirklich jetzt losheulen und denken, sie kam damit durch? »Bitte bestrafen Sie mich nicht.« Wenn sie schon mal dabei war, konnte sie wenigstens die passenden Sachen sagen. »Ich habe wirklich gedacht, wenn ich allein bin, ist es erlaubt.«

Die Männer sahen einander an. Dann zog der, der zuerst gekommen war, einen Block aus der Tasche und notierte etwas. Er riss erst den obersten Zettel ab und gab ihn dem anderen Mann, dann das Blatt drunter und reichte es Nevo. »Nevo Oppolit aus Nummer siebenundzwanzig«, sagte er. »Den Zettel gibst du deinen Eltern zur Kenntnisnahme, dass wir dich verwarnt haben. Nächstes Mal weißt du Bescheid. Kein Rennen auf dem Flur. Nicht allein, nicht zu zweit und nicht mit allen Kindern des ganzen Blocks. Hast du verstanden?«

Nevo nickte. Sie blickte verstohlen auf den Zettel, um zu sehen, was der Mann angekreuzt hatte. Dann atmete sie durch, so unauffällig sie konnte. ›Ermahnung‹. Das Kreuz war nur bei ›Ermahnung‹. Kein Tadel. Kleiner Ärger. Kein großer. »Ich werde aufpassen«, sagte sie. »Danke, dass Sie mir die Regel erklärt haben.«

Sie rührte sich nicht, bis die beiden Männer weg waren, hielt die Luft an und wagte es nicht einmal zu atmen. Die beiden bogen um die Ecke, ihre Schritte entfernten sich … Nevo atmete auf. Das Flurlicht flackerte, als wollte es ihr Entwarnung geben, dass die Luft wieder rein war. Und in dem Moment wurde hinter ihr die Tür geöffnet. Diesmal richtig.

Die rote Tür

In der Tür stand ein alter Mann – vielleicht der älteste Mann, den Nevo je im Leben gesehen hatte. Er war klein, nicht viel größer als Nevo selbst, aber das konnte auch daran liegen, dass er im Alter eingeschrumpft war, und er hielt sich gebeugt an der Tür fest, doch sein Lächeln war so freundlich, dass Nevo gleich selbst lächeln musste, und seine runden, fast schwarzen Augen, gütig. Wenn er ärgerlich war, dass Nevo bei ihm geklopft hatte, sah man ihm das zumindest nicht an.

»Brauchst du Hilfe?«, fragte er.

»Jetzt nicht mehr.« Nevo schüttelte den Kopf. »Aber vielen Dank, dass Sie fragen.«

»Ich habe dich wohl gehört«, sagte der alte Mann. »Ich bin nur nicht mehr schnell an der Tür. Sie sind wieder weg?«

Nevo nickte. »Ja, ich habe noch mal Glück gehabt.« Sie schob sich den Zettel in ihre Hosentasche. »Es tut mir leid, dass ich Sie gestört habe.«

»Kein Grund zur Entschuldigung. Ich freue mich auch immer über etwas Besuch.«

Nevo biss sich auf die Zunge – sie wollte schon aus Höflichkeit sagen, dass sie auch gerne jetzt noch hineinkommen würde, aber da war immer noch Juma hinter der Wäscheklappe, und die war noch nicht wieder herausgekommen – vielleicht hatte sie nicht gehört, dass die Aufsicht wieder fort war, oder die Klappe ging von der Innenseite nicht auf, in jedem Fall wollte Nevo nach ihr schauen. »Ich … ich komme gerne später noch einmal wieder«, sagte sie. »Aber meine Freundin braucht mich gerade.«

Der alte Mann legte den Kopf schief. »Dann sieh zu, dass du zu ihr kommst. Bist du deswegen so gerannt?«

Nevo spürte, wie sie rot wurde – das hatte der Mann also mitgehört … »Nein«, sagte sie kleinlaut. »Wir haben Fangen gespielt. Sie hat sich versteckt.« Sie wusste nicht, ob sie sich damit in noch größere Schwierigkeiten brachte, aber in diesem Augenblick konnte sie sich nicht vorstellen, dass der Mann sie verpetzen würde. Sie murmelte noch schnell eine Verabschiedung, dann lief sie zum Wäscheschacht. Der Mann stand immer noch in der Tür und schaute ihr nach, und wenn er neugierig war zu sehen, was für ein Versteck das sein sollte, konnte er das ruhig tun – Nevo wollte nicht noch mehr Zeit verlieren, da war ihr egal, ob sie Zuschauer hatte.

Die Klappe vom Wäscheschacht war geschlossen. Nevo klopfte dagegen. »Alles in Ordnung da drinnen? Ich hole dich jetzt raus.«

Juma antwortete nicht. Nevo fühlte ein Drücken in ihrem Magen, fiese, gemeine Angst, schob mit beiden Armen und aller Kraft die Klappe auf – und niemand war da. Der Wäscheschacht gähnte ihr leer und dunkel entgegen.

»Juma?«, rief Nevo in den Schacht hinein. »Bist du da?« Es kam keine Antwort. Nevo beugte sich vor, versuchte, in den Schacht hineinzuschauen, ohne selbst hineinzufallen, aber sie sah nichts. »Juma?«, rief sie noch einmal, lauter.

Über sich hörte sie ein Geräusch, quietschend, schrappend – jemand hatte auf einer der oberen Etagen die Tür geöffnet, und kurz darauf rauschte ein Haufen Kleidung an Nevo vorbei den Schacht hinunter, verschwand in der Tiefe. Keine Juma.

Nevos Hände zitterten, als sie die Klappe wieder zuschob. Wenn Juma sich davongeschlichen hatte, während Nevo mit dem alten Mann geredet hatte und abgelenkt gewesen war, wenn sie Nevo ärgern wollte … »Das ist nicht lustig!«, rief sie in den Flur. »Juma? Komm raus, ich habe genug für heute.«

Juma antwortete nicht. Und sosehr Nevo auch den Flur hinunterlauschte, linksherum und rechtsherum, nirgendwo hörte sie Schritte. Nevo kniff die Lippen zusammen. Nicht weinen. Keine Angst. Juma war nicht in den Schacht gefallen. Sie war zu Hause, wartete auf Nevo, auf die Gelegenheit, sie auszulachen, alles war gut …

Hinter sich fühlte sie immer noch die Augen des alten Mannes, und sie drehte sich zu ihm um. »Haben Sie sie gesehen?«, fragte sie. »Meine Freundin, sie ist ungefähr so groß, sie müsste aus dem Wäscheschacht geklettert sein …«

Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Ich habe sie nicht gesehen«, sagte er, und Nevo fiel das Herz in die Hose – der Mann schaute von seiner Tür aus direkt auf die Klappe: Wenn er nichts gesehen hatte, hieß das, Juma war wirklich nicht herausgekommen. Sie war hinuntergefallen. Der Zettel in Nevos Tasche hatte keine Bedeutung mehr. Jetzt würde sie wirklich Ärger bekommen. Und konnte nur hoffen, dass es auch für Juma nur Ärger geben würde. Bei all der Wäsche landete man doch bestimmt weich, sie würde sich eine Standpauke anhören müssen, aber mehr nicht, bestimmt nicht, oder?

Nevo wollte nicht über den Flur rufen müssen. Die Worte saßen in ihrem Hals fest und wollten nicht hinaus, selbst als sie zurück zu der roten Tür tapste. »Ich glaube«, brachte Nevo hervor, »meine Freundin ist in den Wäscheschacht gefallen.«

Es klang so komisch, sich das vorzustellen, aber der alte Mann lachte nicht. Er sagte nur ganz ruhig: »Dann geh jetzt zu ihr nach Hause, und sag das ihren Eltern, und dann gehst du nach Hause und sagst auch deinen eigenen Eltern Bescheid. Und beim nächsten Mal müsst ihr besser aufpassen.«

Nevo nickte. »Vielleicht ist sie ja schon wieder zurück …« Sie glaubte es selbst nicht. »Unsere Mütter sind noch bei der Arbeit. Wenn ich selbst nach unten gehe und nach ihr schaue …?«

»Geh nach Hause«, wiederholte der alte Mann. »Und warte da auf deine Freundin. Und auf deine Mutter.« Er nickte Nevo noch einmal zu. »Es wird schon alles gut«, sagte er. Und schloss die Tür.

Nevo stand auf dem Flur, allein, und wusste nicht, wohin mit sich oder ihrer Angst. Nach Hause? Sie traute sich nicht. Sie wusste, dass der alte Mann recht hatte, aber Nevo traute sich trotzdem nicht. Solange sie auf dem Gang stand und trödelte, konnte sie sich ja noch einreden, dass alles in Ordnung war, dass Juma mit ein paar blauen Flecken zu Hause saß und sich fragte, wo Nevo blieb, aber wenn ihr wirklich etwas passiert war?

Das Licht flackerte, und zum ersten Mal konnte Nevo nicht darüber lachen, sondern erschreckte sich, als es plötzlich dunkel wurde, selbst wenn es nur für einen Augenblick war. Der Flur kam ihr plötzlich kälter vor und enger, und da oben hing immer noch der Lautsprecher und schien sie zu beobachten. Es half nichts, Nevo musste nach Hause gehen, aber sie nahm den langen Weg, und sie schlich die ganze Zeit über, so langsam und so leise, wie sie nur irgendwie konnte.

Da waren ihre Türen, Nummer siebenundzwanzig und Nummer fünfundzwanzig, direkt nebeneinander, so wie Nevo und Juma schon nebeneinander wohnten, seit sie irgendwie denken konnten. Nevo schluckte. Erst einmal lauschen, an ihrer eignen Tür und an Jumas, und dann, als sie nichts hörte, klopfte sie. Erst nur ganz leise, dann, ein bisschen mutiger, etwas lauter. Niemand antwortete. Niemand machte auf. Nevo wartete. Sie hatte den Schlüssel zu ihrer eigenen Tür, sie musste nur hineingehen, aber wenn sie dann verpasste, wenn Juma nach Hause kam …

Nevo hockte sich vor die Wand zwischen ihren beiden Türen, genau in der Mitte, und wartete. Ihr war schlecht vor Angst. Abwechselnd schloss sie die Augen und öffnete sie wieder, sie konnte sich nicht entscheiden, und die Angst wuchs nur weiter, egal was sie tat. Sie hörte die Tür vom Treppenhaus gehen und schoss hoch, aber es war nicht Juma, es war eine Frau, die weiter den Flur runter wohnte, sie hatte ihre kleine Tochter auf dem Arm und achtete nicht auf Nevo, als sie an ihr vorbeihastete. Nevo setzte sich wieder. Wartete weiter und traute sich noch nicht einmal in ihre eigene Wohnung.

Die Lautsprecher knackten. Wieder schoss Nevo hoch. »Die Hausverwaltung möchte darauf hinweisen«, sagte die Stimme, von der Nevo nach all den Jahren noch nicht einmal wusste, ob sie zu einem Mann oder einer Frau gehörte, »dass das Herumlungern auf den Fluren nicht geduldet wird.«

Nevo schaute sich nach allen Seiten um, sie sah niemanden, der außer ihr gemeint sein konnte. Ihr Herz hämmerte. War das jetzt ein gutes Zeichen? Wenn sie nur sagten »Kein Herumlungern«, dann wussten sie vielleicht noch nichts von Juma. »Nicht in den Wäscheschacht klettern«, das wäre schlimmer gewesen, oder? Aber Nevo wollte nicht riskieren, zweimal an einem Tag von der Fluraufsicht ermahnt zu werden. Selbst wenn sie behaupten konnte, dass sie ihren Schlüssel vergessen hatte oder verloren oder dass sie ja nicht gelungert hatte, sie wusste nicht einmal, was das sein sollte, lungern … Es war ein seltsames Wort – ihre Lunge brauchte sie zum Atmen, und sie hatte sich immer vorgestellt, dass es hieß, dass einer zu laut geatmet hatte und das jemanden störte, aber jetzt, wo sie vor Angst kaum Luft bekam …

Ihre Hände zitterten so sehr, dass ihr zweimal der Schlüssel herunterfiel, als sie endlich ihre Wohnungstür aufsperrte. Dahinter war es so dunkel und einsam, wie es nur irgendwie sein konnte, und dass Juma nicht da war, merkte sie nur umso mehr. Trotzdem fragte Nevo leise: »Hallo? Juma? Bist du da?«

Niemand war da. Es gab nicht wirklich viel Möglichkeiten, wo jemand hätte sein können. Dass Nevo zum Rennen auf den Flur gehen musste, lag ja daran, dass sie nur das eine Zimmer hatten – und die kleine Küche und das winzige Badezimmer –, und nirgendwo war Platz zum Rennen oder für sonst was. Auf Zehenspitzen schlich Nevo durch die Wohnung, ohne auch nur das Licht einzuschalten, schaute sogar hinter den Vorhang, hinter dem das Bett ihrer Mutter stand, als ob sich Juma da versteckt haben könnte, und natürlich war niemand da.

Dann hockte sich Nevo im Wohnraum auf den Boden, immer noch im Dämmerlicht, und ließ die Tür zum Flur einen Spalt offen, damit sie nicht verpasste, wenn Juma wiederkam, bereit, jeden Moment aufzuspringen. Irgendwo im Zimmer tickte der Wecker ihrer Mutter, sonst war es still. Wirklich still war es im Haus natürlich nie, dafür waren die Wände zu dünn und die Fußböden auch. Irgendwer lärmte immer in der Etage drüber oder drunter, aber Nevo hatte lange gelernt, das zu ignorieren. Es war seltsam, dass sie dann den Wecker noch hörte, tick, tick, tick, die Zeit verstrich, und sie hatte es nicht eilig.

Es wurde dunkel. Der Abend kam schneller in den inneren Wohnungen, deren Fenster zum Lichthof rausgingen, der seinen Namen zu Unrecht trug, es war dort immer schattig: Nevo kannte den Unterschied – die Zwillinge wohnten schräg gegenüber, nach draußen raus, und hatten nicht nur eine doppelt so große Wohnung mit einem eigenen Zimmer für die Zwillinge, sondern auch immer viel mehr Licht.

Juma kam nicht. Aber auf dem Flur wurde es lauter, die Erwachsenen kamen von der Arbeit zurück, und die, welche die Nachtschicht arbeiteten, machten sich auf den Weg. Schritte zogen an Nevos Tür vorbei, und mehr als einmal schob jemand die Tür ein Stückchen auf und spähte herein. Nevo schaute hoch, schüttelte den Kopf, und wer immer das war, zuckte die Schultern und ging wieder – einer wollte die Tür sogar zumachen, aber Nevo hielt sie fest, und auch dieser Mensch ging wieder. War es überhaupt erlaubt, die Tür offen zu lassen? Bestimmt nicht. Sicherheit und so. Aber Nevo saß ja da und hielt Wache, es würde schon niemand hereinkommen, wenn nur Juma wieder auftauchte …

Dann kam Nevos Mutter nach Hause. Nevo erkannte sie schon von Weitem am Geräusch ihrer Schritte, und sie hörte, wie sie langsamer wurde, als sie die offene Tür entdeckte. Sie blieb stehen, zögerte, ehe sie langsam und vorsichtig die Tür aufschob.

»Ich bin hier«, hörte Nevo sich piepsen. Die ganze Zeit über hatte sie nicht weinen müssen, aber jetzt, ausgerechnet, brach es aus ihr heraus.

»Nevo!«, rief ihre Mutter. »Was machst du für Sachen? Warum lässt du die Tür auf?« Schon schaltete sie das Licht an, und dann sah sie Nevo in ihrer ganzen verheulten Pracht am Boden sitzen. »Ist etwas passiert? Bist du krank? Hast du dich gestritten?«

Nevo schüttelte den Kopf, deutete wortlos auf ihren Mund als Zeichen, dass sie kein Wort herausbrachte, bis sie wieder bei Atem war. Dann, endlich, war ihre Stimme wieder da, genug für einen einzigen Satz. »Juma ist in den Wäscheschacht gefallen!«

Ihre Mutter sah sie an, schüttelte den Kopf – einen Augenblick lang sah sie aus, als wolle sie lachen, aber sie tat es nicht. Dann runzelte sie die Stirn und fragte: »Wer ist Juma?«

Bohnensuppe

Nevo starrte ihre Mutter verwirrt an und vergaß darüber sogar das Schluchzen. »Wie, wer ist Juma?«, fragte sie. »Meine beste Freundin?« Sie versuchte, durchzuatmen. So was passierte, wenn ihre Mutter von der Arbeit kam. Wenn sie selbst zehn Stunden lang geackert hätte, mit nur einer kurzen Pause zwischendrin, hätte sie auch nicht mehr links von rechts unterscheiden können, und Nevo hatte noch nicht einmal einen Tee gekocht oder aufgeräumt oder angefangen, etwas zu essen zu machen …

»Aber deine Freundin ist doch Miu«, sagte ihre Mutter. »Von nebenan. Wann habt ihr euch denn gestritten? Seit wann hast du eine neue Freundin? Entschuldige, ich kann das nicht alles wissen, ich arbeite den ganzen Tag, ich habe keine Zeit für so einen Pipikram –«

Nevo stolperte auf die Beine. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte – dass sie Angst wegen der Sache mit Juma hatte, das war schon schlimm genug, und jetzt war auch noch ihre Mutter so durcheinander –, sie durfte bloß nicht krank werden, aber was war wichtiger, ihre Mutter oder Juma? »Ich … mache dir schnell eine Suppe warm«, sagte Nevo hektisch. »Setz dich hin, ruh dich aus, das war bestimmt ein harter Tag heute?«

Ihre Mutter nickte müde. »Entschuldige, dass ich dir gerade mit deinen Freundinnen nicht weiterhelfen kann.« Sie hängte ihren Kittel über den Bügel neben der Tür, schüttelte ihn einmal durch und strich ihn glatt, damit sie ihn am nächsten Tag noch mal anziehen konnte, ohne ihn bügeln zu müssen. Mit etwas Glück konnte das ausreichen. Dann zog sie ihre Schuhe aus, schien dabei um zehn Zentimeter zu schrumpfen, schüttelte den Kopf und schlurfte zum Tisch, schaltete das Radio ein und bettete den Kopf in die Hände.

Nevo zog eine Dose aus dem Schrank und drehte den Herd an. Bohnensuppe. Das sollte schnell gehen. Sie musste dringend mit Jumas Mutter reden, die sich bestimmt fragte, wo ihre Tochter steckte – aber die würde sicher auf die Idee kommen, dass Juma noch bei Nevo war, und wenn sie sie vermisste, vorbeikommen und nachfragen. Es war falsch, das wusste Nevo, sie durfte keine Zeit verlieren und musste Bescheid sagen, was passiert war, aber erst mal Suppe.

»War es schlimm heute?«, fragte sie vorsichtig. Ihre Mutter antwortete nicht. Vielleicht hörte sie Nevo neben dem Radio nicht einmal. Der Sender war nicht richtig eingestellt, und über der Musik lag ein schiefes Pfeifen. Nevo wartete, dass ihre Mutter das selbst merken würde, ein bisschen an der Antenne ruckeln, bis es wieder gut war, aber selbst dafür war sie zu erschöpft.

Nevo rührte heftiger als nötig im Suppentopf, um irgendwas zu tun zu haben und den Kopf abzulenken. Und natürlich auch, damit ihre Mutter sah, was Nevo sich für Mühe gab. Sollte ja nichts anbrennen. Der Geruch nach Bohnen zog durch das Zimmer. Nevo wurde schlecht davon. Sie hatte wirklich keinen Hunger. Sie drehte die Herdplatte wieder aus, die Resthitze sollte ausreichen, und machte einen Deckel auf den Topf.

»Ich muss noch mal schnell nach nebenan«, sagte sie. Sie nannte keine Namen, sie wollte ihrer Mutter keine Vorwürfe machen, dass die jetzt auch noch Namen durcheinanderbrachte, und erwähnte auch den Wäscheschacht mit keinem Wort, aber wenn sie das jetzt noch länger vor sich herschob, würde sie noch eingehen. »Die Suppe zieht, der Herd ist aus, mach dir keine Sorgen, ich bin gleich wieder da.« Nevo schob die Hände in die Taschen, um sicherzugehen, dass sie ihren Schlüssel noch einstecken hatte, und fand wieder den Zettel, den sie von der Fluraufsicht bekommen hatte. Sie seufzte. Das auch noch. Aber das hatte wirklich Zeit für später. »Wird nicht lang dauern«, sagte Nevo und wusste, dass sie log. Es war ja nicht damit getan, einmal zu rufen »Juma ist in den Wäscheschacht gefallen!« – im Gegenteil, damit fing das erst an.

Nevo schluckte die letzten Tränen runter, suchte nach den richtigen Worten, und klopfte an der Tür mit der Nummer fünfundzwanzig. Frau Mataron, es ist wegen Juma. Vorhin ist etwas passiert …

Es dauerte länger als erwartet, bis die Tür geöffnet wurde. War überhaupt jemand zu Hause? Aber dann machte Frau Mataron endlich auf. Sie schüttelte den Kopf und blickte an Nevo hinunter. »Du bist das, Nevo«, sagte sie. »Du kommst gerade ein bisschen unpassend, wir sitzen beim Abendessen.«

Nevo hatte gar kein Wort für die Größe des Felsbrockens, der ihr vom Herzen fiel. »Dann ist Juma wieder da?«, rief sie. »Ist alles in Ordnung? Ich habe mir solche Sorgen gemacht …« Einen Augenblick lang, einen winzigen Augenblick lang, war sie sauer auf ihre Freundin, die sich nicht bei ihr gemeldet hatte, die sie hatte zittern und bibbern lassen … Dann schüttelte Jumas Mutter den Kopf. »Wer ist Juma?«, fragte sie. »Ich weiß ja nicht, was ihr euch da heute ausgedacht habt, aber das muss wirklich Zeit haben bis nach dem Essen.«

»Juma?«, fragte Nevo. Sie wusste nicht, was sie sonst noch sagen sollte. »Juma?« Dass Nevos Mutter, völlig erschlagen nach einem harten Tag, Namen durcheinanderbrachte, das ging ja noch. Aber Jumas eigene Mutter? Hatten sich alle zusammengetan, um Nevo einen Streich zu spielen? Das konnte nicht sein.

»Mama? Was ist los?« Hinter Frau Mataron tauchte ein Mädchen auf. Es musste im selben Alter sein wie Nevo – oder wie Juma. Es trug einen dunkelroten Pulli und graue Hosen, wie Juma sie an dem Tag getragen hatte. Und Nevo hatte es im Leben noch nicht gesehen.

»Es ist nur Nevo«, sagte Frau Mataron. »Und ehe du fragst, du gehst jetzt nicht wieder raus, du wartest, bis wir aufgegessen haben.«

Das Mädchen sah Nevo an und zuckte die Schultern. »Dann bis später … schätze ich.«

Nevo stand da wie versteinert. Sie verstand nichts mehr. Wenn in Wirklichkeit sie diejenige gewesen war, und nicht Juma, die in den Wäscheschacht gefallen war … Wenn Nevo sich dabei gewaltig den Schädel angeschlagen hatte, dass sie jetzt bewusstlos war und komische Dinge träumte?

»Jetzt lauf nach Hause, Nevo«, sagte Frau Mataron. »Für heute habt ihr genug gespielt. Du siehst Miu morgen noch früh genug wieder.«

Dann schloss die die Tür. Nevo stand auf dem Flur, starrte auf die Nummer fünfundzwanzig, als ob sie sich nur in der Tür geirrt haben konnte. Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als hinter ihr ihre eigene Wohnungstür aufgerissen wurde. »Jetzt komm schon, Nevo!«, rief ihre Mutter. »Trödel nicht rum, wir wollen essen.«

Nevo drehte sich um und ging nach Hause. Sie fühlte den Boden nicht unter ihren Füßen, und in ihren Ohren rauschte es. Es war ein Traum, es musste ein Traum sein, ein bescheuerter Traum, und Nevo hatte keine Ahnung, wie sie daraus wieder aufwachen sollte – es war viel zu nah an ihrem richtigen Leben, eine andere Welt, in der Juma nicht existierte und Nevos Nachbarmädchen Miu hieß und in der sonst alles gleich war.

»Was ist denn heute los?«, fuhr ihre Mutter sie an. »Du trödelst doch sonst nicht so!«

Nevo blickte zu Boden, dann zog sie den Zettel von der Aufsicht aus der Tasche. War der zumindest noch so, wie sie sich erinnerte? Vorsichtig warf Nevo einen Blick darauf, und wirklich, da stand immer noch nur »Ermahnung«. Wenigstens. Langsam reichte sie den Wisch ihrer Mutter. »Ich habe Mist gebaut«, hörte sie sich murmeln. »Wir haben Fangen gespielt und sind erwischt worden.«

»Du und Miu?«

Nevo schüttelte den Kopf. »Ich und Juma«, sagte sie. »Das ist meine Freundin. Juma. Ich weiß nicht, wer Miu ist. Aber ich habe mit Juma gespielt. Und dann ist Juma in den Wäscheschacht gefallen. Und jetzt …« Jetzt gab es keine Juma mehr. Jetzt hatte es nie eine Juma gegeben.

Ihre Mutter sah Nevo an, als hätte sie kein Wort von dem verstanden, was Nevo gesagt hatte. Sie schien sich nur für den Zettel von der Verwaltung zu interessieren. »Wie oft habe ich dir gesagt, halt dich an die Regeln! Ihr habt so viele Möglichkeiten, ihr könnt hier spielen, ihr wisst es doch besser, als draußen herumzurennen! Ich kann es mir nicht leisten, dass du dauernd Ärger machst …«

»Hörst du mir nicht zu?«, rief Nevo. »Juma ist in den Wäscheschacht gefallen! In den Wäscheschacht! Sie ist weg!«

Ihre Mutter drehte sich um, legte den Zettel auf den Tisch und stellte das Radio lauter.

»Sie heißt nicht Miu!«, schrie Nevo, so laut sie konnte. »Sie heißt Juma! Und sie ist In! Den! Wäscheschacht! Gefallen!«

Dann verstand sie. Es war nicht nur Juma, bei der alle so tun wollten, als ob es sie nicht mehr gab. Es war Nevo selbst.

Nachts

Nachts lag Nevo auf ihrem Bett und versuchte zu schlafen, aber es ging nicht. Der Hals tat ihr weh vom Weinen oder vom Schreien, aber das war alles, was verriet, dass sie an diesem Abend überhaupt etwas gesagt hatte – ihre Mutter war einfach zu gut darin, zu tun, als ob Nevo kein Wort gesagt hatte, und Nevo wusste nicht mehr weiter.

Juma war in den Wäscheschacht gefallen, und jemand hatte sie genommen und durch ein anderes Mädchen ersetzt, das nicht so hieß und nicht so aussah und nur die gleichen Sachen trug. Und dann hatte derjenige Nevos Mutter genommen, die immer hart arbeiten musste und oft erschöpft war, aber Nevo lieb hatte und immer noch irgendwo ein offenes Ohr hatte, wenn Nevo sich mit einem Problem herumschlug und jemanden brauchte, der ihr zuhörte, und auch sie ersetzt, durch eine Frau, die genauso aussah und genauso klang und genauso roch wie Nevos Mutter, aber ihr nicht mehr zuhörte und sie nicht mehr lieb hatte.

Nevo wusste nicht weiter, und sie konnte da auch nicht liegen bleiben, alle Versuche, einzuschlafen, machten es nur noch schlimmer. Sie stand auf, so leise sie konnte, und klappte ihr Bett wieder in den Schrank – es nahm zu viel Platz weg, und in dieser Nacht würde sie es nicht mehr brauchen. Es war dunkel, mitten in der Nacht, aber die Jalousie war schon lange kaputt, und zum Fenster fiel etwas Helligkeit herein, irgendwo auf der anderen Seite des Innenhofs hatte jemand ein Licht an. Auf Zehenspitzen schlich Nevo sich zum Tisch und fing an, an den Knöpfen des Radios zu drehen. Sie schaltete es nicht ein, sie wollte ihre Mutter nicht wecken, sie musste nur irgendetwas tun.