Unter den Linden Nummer Eins - Jürgen Ebertowski - E-Book

Unter den Linden Nummer Eins E-Book

Jürgen Ebertowski

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Beschreibung

Berlin, 1932: Der arbeitslose Akademiker Karl Meunier bewirbt sich als Hausdetektiv im legendären Hotel Adlon - Inbegriff des mondänen Berliner Flairs der Zwischenkriegsjahre. Bald steht fest: Aus dem Weinkeller verschwinden große Posten des teuersten Champagners.Meunier vermutet, dass hier von hohen Offizieren gefährliche Coups eingefädelt werden.

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www.berlinverlag.de

Dieser Roman ist meiner Mutter gewidmet. Ihr Künstlername war Vera Wendura. Die Vera Vendura in Unter denLinden Nummer Eins ist eine Phantasiegestalt.

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Berlin Verlag erschienenen Buchausgabe

3. Auflage 2013

ISBN 978-3-8270-7685-4

Die Originalausgabe erschien 1995 bei

Schwarzkopf & Schwarzkopf

© 1995 Jürgen Ebertowski

© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, 2007

Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung eines Bildes von © AKG Images

Datenkonvertierung: Greiner & Reichel, Köln

Teil I

BRAUNE WOLKEN

1.

NORDISCHE FREUNDE AUF SÜDKURS

Der Wind kam gleichmäßig und schneidend. Eine Reihe rotbeflaggter Markierungsstangen schlängelte sich parallel zur Reichsstraße bis ans Seeufer und schwenkte dann vor einer hölzernen Schranke in elegantem Bogen zurück ins Landesinnere. Hus Trollhem, privat väg war in Runen nachempfundenen Schriftzeichen in den hochgestellten Schlagbaum eingeritzt. Die Schneedecke hinter der Schranke war von Reifenspuren zerpflügt, die auf ein großflächig verglastes, riedgedecktes Haus zielten. Aus zwei schlanken Schornsteinen wehten Rauchfetzen in einen stahlblauen Januarhimmel.

Das Haus lag in einiger Entfernung zum Vänernsee. Mit seinen ausladenden Veranden schmiegte es sich an den Abhang der einzigen nennenswerten Anhöhe weit und breit: eine birkenbestandene Erhebung in Form einer gespreizten Bärentatze. Das letzte Licht einer silbrigen Sonnenscheibe beschien die weiße Fläche, die sich zwischen dem Haus und dem Ufersaum des Sees erstreckte wie ein sorgfältig geglättetes, schier endloses Tuch.

Der Pulk chromblitzender Limousinen parkte im Windschatten des Hügels. Die meisten Wagen hatten schwedische Kennzeichen, lediglich ein Horch und ein Adler-Coupé trugen deutsche Nummernschilder. Es waren zwei schwarze, sehr offiziell aussehende Fahrzeuge, denen man die Standartenhalterungen auf den vorderen Kotflügeln abmontiert hatte. Statt dessen steckten Gummistöpsel in der Wagenfarbe in den Öffnungen.

Das Haus war ein langgestrecktes Gebäude im nüchternen Landhausstil Västergötlands und im Besitz der Göteborg Industri Kreditanstalt. Die GIKwar eine neugegründete Tochtergesellschaft der Stockholm Enskilda Bank, dem Kernstück des mächtigen Wallenberg-Imperiums.

Direktor Per Wilhelm Holtsen, der Gastgeber in Hus Trollhem und oberster Repräsentant der schwedischen GIK-Interessen im Deutschen Reich, hatte die Tafel aufgehoben und geleitete seine Gäste zum Raucherzimmer auf der Veranda. Es waren nur Männer.

»Bis wir das Vergnügen haben, dem Vortrag unseres geschätzten Ehrengastes lauschen zu dürfen, wollen wir uns noch für ein halbes Stündchen entspannen.« Holtsen machte eine leichte Verbeugung in die Richtung des weltberühmten Asienforschers Sven Hedin, der sich gerade angeregt mit einem Mitglied der Stockholmer Akademie der Wissenschaften unterhielt, und öffnete die schwere Eichentür zum Rauchersalon.

›Die Deutschen lieben diese kulturellen Veranstaltungen über alles, um ihre Verhandlungen zu tarnen‹, dachte Holtsen. ›Franzosen oder Italiener hätten sich bei einem Bordellbesuch mit mir besprochen, aber nicht hier – bei einem Vortrag über die Karawanenstraßen der Wüste Gobi!‹ Er lächelte in sich hinein. ›Diese intellektuellen Oberarier! Halten sich überall und fortwährend für das einzige Volk der Dichter und Denker auf der Welt. – Selbst ihre gestandensten Militaristen kriegen Tränen in die Augen, wenn jemand ‚Über allen Wäldern ist Ruh‘ getragen deklamiert oder die ‚Lorelei‘ mit kiloweise triefendem Pathos summt.‹ Sein Blick fiel auf den Horch mit der größten Massierung von imposanten Zusatzscheinwerfern auf der vorderen Stoßstange, die er jemals gesehen hatte. ›Sogar ihre Autos haben etwas von Götterdämmerung und Nibelungenwürde.‹

Per Wilhelm Holtsen hatte nichts gegen Deutsche, wenn sie einem lukrativen Geschäft zuträglich waren, nur fand er die meisten Verhandlungspartner, mit denen er in letzter Zeit zu tun gehabt hatte, eine Spur zu witzlos, wenn nicht sogar zu bieder. Aber das mochte daran liegen, daß sie fast ausschließlich Vertreter der Hitler-Partei waren, die es sich nicht nehmen lassen wollten, als geleckte Vorzeige-Deutsche aufzutreten: sauber, ernst und ehrlich. Eben die guten Deutschen im Gegensatz zu den Roten und den Juden, kurzum, den Bolschewisten in allen ihren Spielarten.

Per Wilhelm Holtsen war eine gewichtige Persönlichkeit im wahrsten Sinne des Wortes, ein Drei-Zentner-Koloß mit einer fröhlichen Gesichtsfarbe, einem akkurat gestutzten Kinnbart und auffällig sorgsam polierten Fingernägeln. Bereits seine physische Masse strahlte Würde und Vertrauen aus. Ein Mann, dem man es abnahm, daß er die Annehmlichkeiten des Lebens zu schätzen wußte, jemand, dem man ohne weiteres zutraute, daß er von morgens bis abends gemütlich auf einem bequemen Sofa herumlag und es sich gutgehen ließ. Ein bedächtiger, gesetzter, ein stattlicher Mann mit einer warmen Tenorstimme, der dem Anschein nach jegliche Bewegungsexzesse verabscheute. Aber weit gefehlt. Wer einmal Per Wilhelm Holtsen bei der Herbstjagd beobachtet hatte oder mit ihm im Fjell auf Skiwanderung gewesen war, hatte einen völlig anderen Holtsen kennengelernt, einen, der wie ein Nashorn oder Nilpferd durchaus in der Lage war, sich bei Bedarf überraschend geschmeidig und ausdauernd zu bewegen. In seiner Heimatstadt Laholm gewann er mit großer Regelmäßigkeit den jährlichen Holzfällerwettbewerb. Ein Foto, Holtsen mit einem hochgekrempelten karierten Wollhemd und in einer derben Arbeitshose zeigend, hing für die, die sehen wollten, deutlich hinter seinem Schreibtischsessel in der Göteborger GIK-Zentrale. Der Fleischberg Holtsen war von beachtlichen Muskeln durchsetzt.

Der Bankier P. W. Holtsen trug einen bequem geschnittenen Flanellanzug bester Londoner Provenienz in dezentem Grau. Das Hemd, modischer weicher Kragen, war lindgrün und von feinen marineblauen Nadelstreifen durchbrochen. Die Krawatte mit dem aufgestickten Wappen verriet, daß ihr Träger an einer renommierten britischen Universität studiert haben mochte, zumindest aber signalisierte sie, daß er anglophil war.

Die Unterhaltung im Raucherzimmer von Hus Trollhem wurde von allen Anwesenden auf deutsch geführt.

»Meine Herren!« Holtsen ließ sich vorsichtig auf ein zierliches zweisitziges Sofa nieder und füllte es vollständig aus. »Bitte, bedienen Sie sich doch!« Seine Hände machten eine einladende Geste, deuteten auf die wohlbestallte Hausbar mit den geschliffenen Karaffen im Hintergrund. Auf einem niedrigen Glastisch neben dem Sofa stand ein Humidor. »Ich glaube, es wird für jeden etwas dabeisein. – Tron-Herman? Var så god!«

Ein livrierter Hausdiener eilte herbei und reichte die Zigarrenbox auf einem Tablett aus Massivsilber herum. Die Herrenrunde teilte sich in Gruppen auf. Zwei Männer nahmen Holtsen gegenüber Platz. Der Ältere, Hans-Joachim Galgon, hatte sportlich kurz geschnittenes Haar. Die Art, wie er sich in dem lederbezogenen Clubsessel geradehielt, wie er quasi strammsaß, ließ unschwer auf seine Profession schließen. Überdies machte er einen durchtrainierten Eindruck, durchtrainierter zumindest als sein jüngerer, kettenrauchender Begleiter mit dem markigen bayrischen Akzent und dem glänzenden Oberlippenbart.

›Er hat ihn gewachst‹, dachte Holtsen, ›will seinem Chef nacheifern. Sollte dann auch Abstinenzler werden.‹

Der jüngere Mann war zwar ebenfalls schlank und hochgewachsen, aber seinen Augenlidern konnte man ansehen, daß er einen regelmäßigen Tropfen nicht verachtete, ihn sich häufiger gönnte, als es ihm zuträglich war. Ihm fehlte völlig das Asketische, das der Ältere ausstrahlte – dennoch schien er von beiden das Sagen zu haben, jedenfalls richtete Holtsen das Wort zuerst an ihn: »Tron-Herman hat vorhin den Anruf entgegengenommen, während wir zu Tisch saßen. Die Antwort war, wie auch nicht anders zu erwarten, natürlich durch und durch positiv. Die Stockholm Enskilda Bank und, im Vertrauen gesagt, die Gebrüder Wallenberg höchstpersönlich haben ab sofort grünes Licht für unsere diversen Unternehmungen gegeben, Herr Doktor.«

»Wunderbar!« sagte Doktor Bruno Randhuber und schlug sich auf die Schenkel. Die Asche seiner Zigarette bepuderte den Teppich um ihn herum. Er bemerkte es nicht. »Das ist ja grandios! Darauf müssen wir unbedingt gleich anstoßen!«

»Grandios!« wiederholte Galgon. »Einfach grandios!«

›Es fehlt nicht viel, und sie führen ein Freudentänzchen auf‹, dachte Holtsen amüsiert.

»Der Führer«, sagte Randhuber feierlich und strich sich mit einem nikotingelben Zeigefinger über den Oberlippenbart, »wenn der Führer erst an der Macht ist, werden wir nicht vergessen, wer von unseren germanischen Brüdern uns in den bitteren Zeiten der Not geholfen hat. Seien Sie dessen versichert, mein lieber Direktor Holtsen!«

Doktor jur. Bruno Randhuber hatte die Angewohnheit, an der goldumrandeten Swastikaplakette im Knopfloch herumzuspielen, während er sprach. Er trug das Haar geringfügig länger als sein älterer Begleiter. Ein messerscharfer Seitenscheitel, auch darin erinnerte er an sein Idol, verlängerte die blasse Mensurnarbe auf der Stirn. Randhuber unterstrich seine Worte gestenreich und hatte eine geschulte, weittragende Stimme. Bevor er als Anwalt für Internationales Wirtschaftsrecht Parteikarriere gemacht hatte, war er in seiner Freizeit begeisterter Laiendarsteller einer Münchner Theatergruppe gewesen, die sich auf völkisch-germanische Stücke schwülstigen Inhalts spezialisiert hatte. Bei einer Aufführung in Nürnberg anläßlich des Reichsparteitags war Goebbels auf ihn aufmerksam geworden und hatte ihn in der Garderobe besucht. Am nächsten Tag war Randhuber in die NSDAP eingetreten, und eine steile Karriere hatte ihren Anfang genommen.

Holtsen schnappte mit den Fingern. Tron-Herman eilte wieder wie durch einen Zauber augenblicklich herbei, kredenzte Champagner und stellte die angebrochene Flasche in einen mit Eissplittern gefüllten Sektkühler auf den Glastisch.

»Auf den Führer!« toastete Holtsen und erhob sich, um anzustoßen.

»Heil Hitler!« prostete Randhuber und erhob sich ebenfalls.

»Zum Wohl!« sagte Galgon, sprang auf und schaffte es, dabei die Hacken zusammenzuschlagen. »Und auch ein Hoch auf all die schwedischen Freunde, die es dem Reich durch ihre unbürokratische Hilfe erlauben, eine würdige Luftwaffe aufzubauen.«

Sven Hedin trat zu Holtsen und den Deutschen, in der Hand einen Stoß beschriebener Notizzettel, zusammengehalten von einer überdimensionalen Heftklammer.

»Und natürlich auch ein Hoch auf all diejenigen, die dem deutschen Volk von jeher in tiefster Freundschaft verbunden sind.« Holtsen schob dem berühmten Mann sanft seine Pranke auf die Schulter, und Tron-Herman brachte eine Champagnerflöte.

»Hochgeschätzter Doktor Hedin«, Holtsen machte einen Schritt zur Seite und ließ Sven Hedin in den Kreis. »Darf ich Ihnen die Herren Doktor Randhuber und Hauptmann Galgon vorstellen? Sie sind in einer diskreten Mission für Herrn Hitler bei mir zu Gast gewesen.«

Sven Hedin legte die Notizblätter auf den Glastisch, schüttelte Hände und erhob sein Glas. »Skål, die Herren! Hocherfreut!« Er nickte wohlwollend. »Ich bin sehr optimistisch, den Führer noch in Bälde persönlich zu treffen. Einladungen seitens Doktor Goebbels und von Herrn Göring liegen mir schon seit geraumer Zeit vor. – Ja, meine Herren, und wir haben wirklich Glück, daß wir uns hier in Hus Trollhem noch begegnet sind. Dieser Vortragsabend wird für längere Zeit nämlich mein letzter auf schwedischem Boden sein. Ich bin quasi en route zu einem Sinologentreffen in Berlin – dort werde ich auch endlich die Herren Goebbels und Göring beehren –, und dann geht es für einige Monate weiter in die Neue Welt.«

Randhuber machte eine zackige Verbeugung, Golgons Hacken klackten.

»Aber, ich denke …«, Sven Hedin schaute auf die Armbanduhr und nahm seine Aufzeichnungen wieder an sich, »so langsam sollten wir uns doch …« Er wedelte mit seinen Zetteln.

»Natürlich, stante pede, mit dem größten Vergnügen, Herr Doktor«, beeilte sich Holtsen zu versichern, »im Konferenzzimmer ist alles für den, äh, Höhepunkt des Abends vorbereitet – hoffentlich zu Ihrer Zufriedenheit. Sollte dennoch etwas fehlen, bitte scheuen Sie sich nicht, meine Wenigkeit oder Tron-Herman zu bemühen.« Er wandte sich seinen deutschen Gästen zu. »Heute ist es ein bißchen ungünstig, ausgiebig mit Doktor Hedin zu plaudern, aber wir alle werden vielleicht in der nächsten Woche eine bessere Gelegenheit dazu haben.«

»So?« Sven Hedin zog die Augenbrauen hoch.

»Mit Verlaub«, sagte Holtsen. »Doktor Randhuber, Hauptmann Galgon und ich reisen ebenfalls nach Berlin.«

»Ach«, sagte Sven Hedin, »wohnen Sie zufällig im Kaiserhof? Dort werde ich nämlich mein Quartier aufschlagen.«

»Der Führer steigt auch im Kaiserhof ab, wenn er in Berlin ist«, sagte Randhuber. »Der Kaiserhof ist, mit Verlaub, das beste Haus, das die Reichshauptstadt zu bieten hat.«

Holtsen musterte Randhuber eine Weile, dann flog über sein Gesicht ein mildes Lächeln. »Mein hochgeschätzter Doktor Randhuber. Wir mögen in vielen Dingen durchaus einer Meinung sein, politisch, weltanschaulich – was Sie wollen! Aber was das beste Hotel in Berlin angeht, da muß ich Ihnen doch vehementestens widersprechen. Ich wohne, wenn ich in Berlin bin, selbstredend immer nur Unter den Linden im Adlon. – Wo denn sonst!«

Randhuber gab das Lächeln mit einer angedeuteten Verbeugung zurück. »Ganz wie Sie meinen, lieber Herr Direktor. Die Partei hat natürlich auch im Adlon Hotel eine würdige Vertrauensperson. Ein gewisser Kassner ist unser Mann, Otto Kassner, Assistent des Kellermeisters und ein Pg. der ersten Stunde. Wir werden – bei Glatteis – über ihn an Sie herantreten.« Randhuber machte ein ernstes Gesicht. Glatteis war das vereinbarte Code-Wort, wenn etwas nicht nach Plan zu laufen drohte.

»Gut«, sagte Holtsen. »Kassner. – Ich werde mir diesen Namen merken.«

Tron-Herman stand an der Eichentür und schlug mit einem wattierten Klöppel an eine bronzene Klangscheibe. Sven Hedin ging als erster.

»Aha, es ist soweit!« sagte Holtsen. »Lassen wir uns von dem Herrn Doktor in die entlegensten Regionen Tibets entführen.« Er ließ Randhuber und Galgon den Vortritt. Randhuber benutzte den von Tron-Herman dargebotenen Aschenbecher und drückte seine Zigarette aus.

2.

EINE ALTEINGESESSENE WEINGROSSHANDLUNG IN BERLIN-MITTE MACHT MINUS

Eine dicke Suppe, wie der Berliner sagt, kroch mit beginnender Abenddämmerung in die Stadt und zwang die Autoschlangen auf der Charlottenburger Chaussee zu Schrittempo. Am Brandenburger Tor regelten Schupos in weißen Regenumhängen den Verkehr. Gelegentlich riß der Wind Lücken in den Nebelfilm. Wenn man dann den Polizistenarmen beim Handzeichen »Aufpassen!« gen Himmel folgte, konnte man sehen, wie Fragmente der Quadriga auf die Linden zutrabten, erspähte hier ein graues Hufpaar, dort einen verschwommenen Pferdekopf und erahnte die Flügelspitzen der göttlichen Wagenlenkerin mehr, als daß man sie sah.

Ein rostbrauner Opel mit einem Potsdamer Nummernschild fuhr durch das Brandenburger Tor und verlangsamte seine Fahrt auf dem Pariser Platz. Zwei Fußgänger, eng aneinandergeschmiegt, strebten auf das Adlon Hotel zu. Der Fahrer des Opel beugte sich nach rechts und wischte einen Sehschlitz in die Scheibe der Beifahrertür. Vor dem blitzenden Haupteingang des Hotels vollführte Pleschke, der Doorman, eine Art von verhaltenem Steptanz, um sich zu wärmen. Das »B« in der Leuchtreklame für die Adlon-Bar flackerte. ›Wenn Pleschke das nicht sofort der Technik gemeldet hat‹, dachte der Opelfahrer, ›kriegt der am Montag einen Anranzer von mir, den er so schnell nicht vergessen wird!‹

An einem Laternenmast Unter den Linden/Ecke Wilhelmstraße hing ein durchweichtes Wahlplakat der NSDAP. Ein endloses Heer abgehärmter Frauen und Männer marschierte an einem imaginären Betrachter vorbei, offenbar Arbeitslose, alle jedenfalls in zerschlissener Kleidung, und über dem Haufen Elender prangte die blutrote Parole: »Uns kann jetzt nur noch der Führer helfen!«

Es war Anfang Januar, und die nasse Kälte kroch nicht nur in die Kleider, sondern auch langsam ins Gemüt, fand der Opelfahrer und setzte den Winker.

Er hatte Hedda am frühen Nachmittag zum Zug nach Potsdam gebracht. Kaum war er wieder in Neufahrland zur Tür herein gewesen, hatte das Telefon geläutet.

»Herr Adlon?« hatte ihn der Anrufer gefragt, und die Stimme hatte verstellt geklungen, als ob sich der Sprecher die Nasenlöcher zugehalten hatte.

»Am Apparat. Mit wem habe ich die Ehre zu sprechen?«

»Das tut im Moment wirklich nichts zur Sache«, hatte der Mann hastig gesagt. »Aber, falls es Sie interessiert: Man bereichert sich kräftig an Ihnen – und das nicht erst seit gestern!«

»Ich weiß wirklich nicht, wovon Sie reden«, hatte Louis Adlon geantwortet, »falls Sie nicht auf das Finanzamt anspielen.«

Ein trockenes Lachen kam aus dem Hörer. »Das wäre ja eine noch durchaus legale Art, an Ihr Geld zu kommen. Nein, ich meine etwas ganz und gar Ungesetzliches nach dem Strafgesetzbuch, und das hat ja wohl noch ein klein wenig Gültigkeit.«

»Ich höre!« hatte Louis Adlon gesagt.

Der Anrufer hatte eine kurze Sprechpause eingelegt und sich dann geräuspert. »Vergleichen Sie doch spaßeshalber den Wareneingang an Champagner vom Dezember mit dem Lagerbestand, und meditieren Sie mal ein bißchen über die Differenz – und wie sie zustande gekommen sein mag!«

Louis Adlon hatte daraufhin geschwiegen. Wer immer der Anrufer war, er hatte ein gehöriges Maß an Insiderwissen und seine Finger in eine schwärende Wunde gedrückt. Der beständige Schwund an bestem Champagner in der Adlonschen Weinhandlung in der Wilhelmstraße war mit herkömmlicher Schlamperei, wie sie in jedem größeren Haus hin und wieder auftreten mag, wirklich kaum mehr zu erklären.

»Hallo? Herr Adlon? – Sind Sie noch dran?«

»Ja, bin ich. – Reden Sie endlich! Was wollen Sie?«

»Sie warnen«, hatte die Stimme genäselt, »und Ihnen einen klitzekleinen Tip geben.«

»Bitte«, hatte Louis Adlon gesagt.

Die Stimme war daraufhin flüsternd aus dem Hörer gekommen. »Verzichten Sie heute ausnahmsweise auf ein paar Stunden Ihres geliebten Wochenendes in ländlicher Abgeschiedenheit. Machen Sie sich schnellstmöglich auf den Weg nach Berlin, und beobachten Sie, wer sich nachher so kurz vor Geschäftsschluß alles in der Wilhelmstraße ein Stelldichein geben wird. Volle Überraschung ist garantiert! Nochmals: kurz vor Ladenschluß wäre am besten.«

»Woher haben Sie Ihre Information …«, hatte Louis Adlon noch fragen wollen, aber der Anrufer hatte bereits aufgelegt.

›Ärgerlich, daß ausgerechnet heute Hedda nicht da ist‹, hatte Louis Adlon gedacht. ›Wenn das eben jemand aus dem Haus war, hätte sie ihn vermutlich erkannt – trotz verstellter Stimme.‹

Er hatte sich den Opel eines Nachbarn geborgt, sein eigener Mercedes war viel zu auffällig, und war umgehend von Neufahrland nach Berlin gefahren. Ab Mitte Avus hatte der Nebel in Richtung Innenstadt beständig zugenommen, und im Tiergarten konnte man dann zeitweilig kaum mehr die Hand vor Augen sehen.

Als Louis Adlon endlich in die Wilhelmstraße einbog, war es kurz vor Ladenschluß. Er bremste vor einem Fußgänger, der aus der britischen Botschaft kam. Es war einer der Legationssekretäre, dem er bei zahlreichen offiziellen Gelegenheiten begegnet war, eine Bilderbuchgestalt wie aus der Londoner City: dunkler Trenchcoat, Bowler, eingerollter Regenschirm. ›Muß sich ja bei diesem Wetter so richtig heimisch bei uns fühlen‹, dachte Louis Adlon und betätigte die Scheibenwischer. Der Engländer hob den Schirm zum Dank, erkannte aber den höflichen Autofahrer nicht.

Es herrschte kaum noch Verkehr im Regierungsviertel. Die verheirateten Angestellten und Beamten der Ämter und Ministerien saßen längst zu Hause beim Abendbrot, während die Junggesellen und die wenigen ledigen Frauen wahrscheinlich auf ein Feierabendbier in einer Kneipe oder einem Café hockten.

Der Opel fuhr ganz rechts und passierte die Schaufenster der Weinhandlung im Schrittempo. Soweit Louis Adlon das Geschäft einsehen konnte, war keine Kundschaft mehr im Laden.

Er fuhr weiter bis zum Haus des Reichspräsidenten und wendete. An der Einmündung der Behrenstraße in die Wilhelmstraße war Halteverbot. Der Opel rollte weiter. Gegenüber der britischen Botschaft fand sich eine Parklücke zwischen einem Lkw-Anhänger und dem dreirädrigen Kleinlastwagen einer Gärtnerei, die das Adlon mit Schnittblumen versorgte und durch den Wirtschaftseingang Wilhelmstraße anlieferte. Louis Adlon stellte den Motor ab und schaltete die Fahrzeugbeleuchtung aus. Dann schlug er den pelzbesetzten Kragen seines wattierten Wintermantels hoch, ließ die Seitenscheibe bis zur Hälfte hinunter und drehte den Innenspiegel so, daß er das Schaufenster der Weinhandlung im Blick hatte, ohne sich umzudrehen. Er mußte nicht lange warten.

Aus der Behrenstraße knatterte ein Motorrad mit Beiwagen und abgeblendetem Scheinwerfer heran und bog in die Wilhelmstraße ein. Das Licht wurde ausgeschaltet, und das Motorrad rollte über die Bordsteinkante vor die Weinhandlung. Der Fahrer stellte das Gefährt direkt neben die Ladentür auf den Bürgersteig. Hinter dem Fahrer saß ein Sozius. Er stieg ab und verschwand im Geschäft. Fahrer und Beifahrer trugen lange dunkelbraune Lederjoppen und Reiterhosen, die in schwarzen Schaftstiefeln steckten, und als Kopfbedeckung glatte Lederkappen. Der Fahrer hatte die Schutzbrille in die Stirn geschoben und rieb sich die Augen. Wenige Minuten später trat der Beifahrer aus der Ladentür. Er hielt eine Holzkiste an die Brust gepreßt, die entweder sehr schwer sein mußte oder sehr zerbrechlich, oder beides, denn bevor er sie verstaute, setzte er sie auf dem Trottoir ab und ging auf ein Knie nieder. Dann erst hob er sie vorsichtig in den Beiwagen. Er bedeckte die Kiste mit einer Regenplane, schwang sich auf seinen Sitz und gab dem Fahrer einen Klaps auf die Schulter. Der zog die Schutzbrille hinunter, ließ das Motorrad langsam auf die Fahrbahn rollen und brauste ohne Beleuchtung Richtung Linden davon.

Als sie an ihm vorbeirauschten, sah Louis Adlon die Hakenkreuzbinden am Oberarm. Er preßte die Lippen aufeinander. Ein Zipfel der Plane, mit der die Champagnerkiste abgedeckt war, flatterte im Fahrtwind.

›Wenn es für diesen Vorgang keinen Beleg im Warenbuch gibt, muß hier schleunigst etwas passieren!‹ dachte er und sah dem Motorrad nach. ›Und wenn, dann aber ganz, ganz dezent. – Mein Gott, sich heutzutage mit der SA anzulegen, das kann ungesund werden, oder schlimmer!‹ Er ließ den Motor an. ›Ich muß sofort Hedda anrufen. Wir brauchen jemanden, der sich darum kümmert – und zwar unverzüglich!‹ Er lenkte den Opel aus der Parklücke und sah, daß die Lichter des Motorrads erst aufzuleuchten begannen, als es in die Linden abbog. ›Mist‹, dachte Louis Adlon. ›Es wird schwierig werden. Mit diesen Brüdern ist nicht zu spaßen.‹

3.

KALTES ERWACHEN IN EINER PARTERREWOHNUNG AM ROSENTHALER PLATZ

Als der Wecker rasselte, war es stockfinster, aber Karl fand auf Anhieb den Hebel, der den Klöppel des Marterinstruments blockierte, und knipste die Nachttischlampe an. Er gähnte mürrisch, schob die Bettdecke zur Seite und tastete mit den Füßen nach den Pantoffeln. Es waren modische Lederpantoffel, Relikte aus besseren Tagen, sehr gut verarbeitet, aber leider ohne wärmendes Innenfutter und damit denkbar ungeeignet als Fußbekleidung in einem seit Wochen ungeheizten Parterrezimmer.

Karl zog die Vorhänge zurück. Es regnete. Der Seitenflügel war noch dunkel. Nur im Vorderhaus bei Matuschkes brannte schon Licht. Der dicke Matuschke war einer der wenigen in der Straße, der noch Arbeit hatte, war Wärter im Pergamonmuseum und trug in seiner Freizeit zusätzlich den Stürmer aus. Karl griff nach dem Wecker. Mit zwei, drei Schritten hatte er seine Schlafkammer verlassen, stand im Flur und öffnete die Tür zur Küche, stellte den Wecker auf den Tisch neben die Teekanne. Die Taschenuhr, die er vom Vater geerbt hatte, befand sich seit geraumer Zeit im Leihhaus und würde es vermutlich so bald auch nicht verlassen.

In der Kochmaschine hatte ein Glutrest überlebt. Karl legte ein paar Astkloben nach, wartete, bis sie aufflammten, und bedeckte sie mit Eierkohlen, die er mit dem Kehrblech aus einem löchrigen Kohlenkasten schaufelte. Dann ging er zum Spülstein und ließ den Wasserkessel randvoll laufen. Aus dem Hahn kam ein schwacher Strahl. ›Im Bad hat es genauso angefangen‹, dachte Karl. ›Erst hat’s nur noch gedrippelt, und dann war plötzlich Schluß.‹ Als der Gasring bläulich unter dem Tee- und Rasierwasser züngelte, schob Karl eine Emailleschüssel auf die sich langsam erhitzende Eisenplatte der Kochmaschine. Wie gesagt, Katzenwäsche war angesagt, seit über Weihnachten der Frost im Bad die Leitungen gesprengt hatte.

Karls Frühstück fiel alles andere als üppig aus. Im Brotkasten befand sich ein trockener Kanten Marke Kommißbrot. Kirschmarmelade und Margarine standen auf der Fensterbank. Karl wickelte eine neue Rasierklinge aus und gab, als der Kessel pfiff, einen kräftigen Schuß Heißwasser in die Waschschüssel. Er füllte den Kessel wieder nach, damit es für den Tee reichte. Mit einem Dachshaarpinsel, der altersschwach Haare verlor, dafür aber einen Griff aus Elfenbein hatte, schlug er sich auf einer Untertasse Schaum. Karl rasierte sich schnell und so sorgfältig, wie es nur ging, denn von anheimelnder Wärme konnte in der Küche kaum die Rede sein. Er zog umständlich das knöchellange Leinennachthemd über den Kopf und wusch sich. Das Handtuch war ungebraucht und wollte nicht richtig trocknen, also funktionierte er das Nachthemd zum Handtuch um. Er überlegte einen Moment, ob er das bläuliche Würgemal neben seinem Kehlkopf mit einem Pflaster bedecken sollte, als hätte er sich beim Rasieren geschnitten, womöglich würde sonst jemand noch auf den Gedanken kommen, es könnte sich um einen Knutschfleck handeln – wahrlich keine gute Referenz bei einem Vorstellungsgespräch in einem seriösen Haus! –, aber dann verzichtete er doch auf den Heftpflasterstreifen, den er bereits zurechtgeschnitten hatte. Das Oberhemd, er hielt es sich vor, verdeckte die Blessur am Hals zur Genüge. ›Benno, du verdammter Hund!‹ dachte Karl und zeigte seinem Spiegelbild die geballten Fäuste. ›Das nächste Mal falle ich nicht mehr auf diesen fiesen Würger rein!‹ Aber ehrlich wütend war Karl auf seinen Trainingskameraden Benno nicht, zumal der ihm den Tip mit dem Adlon gegeben hatte.

Sie hatten vorgestern nach dem Ju-Jutsu noch zwei, drei kleine Mollen mit Korn getrunken, im Leuchtturm, der kleinen Schöneberger Kneipe, wo man sich das noch gelegentlich leisten konnte.

»Hat mir eener von erzählt, der da inner Verwaltung arbeetet. Wär doch wat für dich, Karl«, hatte Benno gesagt. »Die Stelle nennt sich Hausdetektiv, und wat ich jehört habe, sucht der olle Adlon jemand, den er dann uff seene Nobeljäste loslassen kann, ohne sich zu blamieren, wenn die edlen Herrschaften mal ’nen Bejleiter zum Juwelier oder ’n Chauffeur broochn. Jedenfalls eener mit Bildung soll’t seen – un davon haste ja ’ne Hacke voll. So ’n simpler Rausschmeißer, wie ikket bin, der kommt da ja nich durch die Drehtür, ohne dasse nich gleich nach’n Bullen schrein, und dann hab ick jleich wieder die Bescherung.«

›Benno mit seiner zermanschten Boxervisage im Adlon!‹ dachte Karl und tupfte einen Tropfen Rasierwasser auf die Handfläche. Er rieb sein Gesicht damit ein und mußte grinsen, als er sich vorstellte, wie das Überfallkommando versuchen würde, Benno – zu dritt oder zu viert – zu bändigen, um sich schließlich mit merklich eingeschränktem oder gänzlich fehlendem Bewußtsein übereinandergestapelt in einer Ecke wiederzufinden. Allerdings hatte Benno auch etwas in Erfahrung gebracht, wo es hieß, auf der Hut zu sein:

»Noch wat, Karl! Die Bewerber müssn übrijens ’ne Art Eichnungsprüfung bestehn. Der olle Adlon hat da so ’nen Heini aus’m Kohlenkella, den er uff die Bewerber hetzt. Wie sacht ihr Jebildeten doch, hab da mal wat uffjeschnappt: meenz Sahne in corpura Sahne, jedenfalls muß der Bewerber mit dem Kellerluden klarkommen, sonz is Essich mitter Stelle.«

Der Wasserkessel trötete erneut und holte Karl aus seinem Wachtraum. In einem Regal neben der Kochmaschine lag die frische Leibwäsche. Er wählte in Anbetracht der feindlichen Witterungsverhältnisse eine angerauhte lange Unterhose und ein halbärmliges Unterhemd aus. Bei den Strümpfen zögerte er. Schneeregen klatschte gegen das Küchenfenster. Eigentlich waren die geringelten, handgestrickten von Maman angebracht, bloß würden sie kaum zu seinem braunen Anzug passen: also doch die grauen Baumwollsocken. Und den Anzug mußte er heute anziehen, auch wenn er aus einem leichten Stoff und mehr ein Anzug für herbstliche Tage, ein sogenannter Übergangsanzug, war. Leichter Stoff hin, leichter Stoff her, es war der einzige Anzug, mit dem er es noch wagen konnte, sich um eine Arbeit zu bewerben – immer gesetzt den Fall, er bewegte sich geschickt und hielt die kunstgestopfte Stelle an der linken Seitennaht verdeckt. Das gelang ganz gut, wenn er es wie Kaiser Wilhelm machte und den Arm in die Seite stemmte. Dann fiel auch nicht auf, daß der Mantel gleichsam das Prädikat Übergangsmantel trug und ebenfalls nicht fabrikneu war. Er mußte ihn bloß mit dem noch recht respektablen Futter nach außen nonchalant über den Unterarm drapieren. Das blütenweiße Leinenoberhemd und die Seidenkrawatte konnten sich allerdings sehen lassen. Karl stellte sich vor dem Spiegel auf und band einen klassischen Windsor-Knoten.

Der Tee hatte ausreichend gezogen. Karl goß ihn durch ein Sieb in eine große Henkeltasse um. Er pulte ein Zuckerstück aus der bedruckten Papierhülle und schmunzelte, als er sich an den Abend mit Marita im Weinhaus Huth erinnerte. Seine Verflossene, mit der er sich gelegentlich zum Plaudern traf, hatte ihn neulich zu Recht geneckt, als er die nicht gerade niedrige Rechnung beglichen hatte. »Immer so tun, als hättest du einen Dukatenesel im Keller. Na, Karlchen, bin echt gespannt, wie lange dein Schotter noch reicht! Irgendwann krieg ich dann ’ne Ansichtskarte von dir aus’m Schuldturm.«

Karls Barschaft, zwei Wochen nach dem Abend im Weinhaus Huth, lag neben dem Margarinebecher und war überhaupt nicht mehr beeindruckend. Karl hätte eigentlich weinen müssen, aber im Gegenteil, er summte eine Melodie, die bestimmt kein Trauermarsch war. Zugegeben, es war eine gehörige Portion Zweckoptimismus dabei. Wenn er die Stelle nicht bekommen sollte, würde ein letzter Gang zur Pfandleihe bleiben, und dann wäre endgültig Schluß, aus, finito.

Langsam wurde es in der Küche warm. Karl, noch im Besitz seiner goldenen Manschettenknöpfe mit dazu passender Krawattennadel, schmierte sich ein Brot und kratzte den kümmerlichen Rest Kirschmarmelade aus dem Glas. ›Hausdetektiv im Adlon‹, dachte er, ›hört sich nicht schlecht an!‹

4.

KARL KAUFT EINE GELBE NELKE

Punkt acht verließ er die Wohnung, gestiefelt und gespornt, wie er es nannte, wenn er seine guten Sachen trug. Zwischen halb neun und neun sollte er sich zu dem Vorstellungsgespräch einfinden, das er telefonisch mit einem Herrn Engel, dem Hotelpersonalchef, vereinbart hatte. Er fuhr mit der Elektrischen bis zum Alex und hielt dort ein Taxi an, nicht weil die Zeit drängte, sondern weil es einfach einen besseren Eindruck machte, wenn er mit einer Droschke vorfuhr. Außerdem war ihm der Bus zum Brandenburger Tor vor der Nase weggerauscht, und der Nieselregen hatte sich in ungemütliche große, pappige Schneeflocken verwandelt. Der Taxichauffeur, von Kundschaft wegen der anhaltenden wirtschaftlichen Flaute nicht gerade verwöhnt, schlug ein Buch zu. Er musterte seinen Fahrgast ausgiebig, als der mit einem Blick auf die Lektüre sagte: »Zum Adlon, bitte!«, und im Fond Platz nahm.

›Nicht unbedingt das Geschäft meines Lebens‹, dachte der Fahrer, aber dann zuckte er mit den Achseln. ›Was soll’s. Immerhin besser, als noch ewig hier rumstehen, vielleicht krieg ich ja vom Adlon eine Anschlußfuhre.‹ Er fädelte sich in den Verkehr ein.

»Ich lege eine Mark drauf, als Schmalz«, sagte Karl. »Die Strecke lohnt ja sonst kaum den Sprit.«

›Er scheint Gedanken lesen zu können‹, dachte der Taxifahrer. Seine Miene hellte sich auf. »Zum Haupteingang Unter den Linden oder Eingang Wilhelmstraße?«

»Ich denke, Haupteingang«, sagte Karl. Ihm fiel auf, daß der Taxifahrer einen starken Akzent hatte, und er tippte auf einen Baltendeutschen. »Lettland oder Livland?«

»Weder noch.« Der Taxifahrer lachte. »Aber die Richtung stimmt.«

»Weiter nördlich?«

»Ja.«

Sie fuhren über die Schloßbrücke. Im Lustgarten hatte sich eine Menschentraube um einen Redner versammelt. Rote Fahnen waren entrollt worden, wollten aber nicht flattern. Zu naß.

»Reval?« versuchte es Karl noch einmal.

»Fast«, sagte der Mann mit einem verschmitzten Gesichtsausdruck. »Ich komme aus Helsinki.«

Karls Interesse an dem Mann war erwacht. Zufällig kannte er das Buch. Hesses Siddharta war nicht unbedingt ein Schmöker für Droschkenkutscher. »Sind Sie Student?«

Der Fahrer nickte. »Im Prinzip schon. Germanistik und Philosophie. Da!« Er zeigte auf die Friedrich-Wilhelms-Universität zur Rechten. »Im Augenblick mehr Philosoph stoischer Prägung, weil ich gezwungen bin, sieben Tage in der Woche auf dem Bock zu sitzen. Ja, im Moment also noch Student, mein Herr, aber Straßenräuber in spe, wenn ich nicht die Semestergebühren und drei Monate rückwirkende Mietschulden bis Ende der Woche zusammenfege – mir also ein mittleres Wunder widerfahren muß.«

Der Redeschwall verebbte, weil der Fahrer gezwungen war, scharf zu bremsen. Ein Bolle-Wagen vor ihnen hatte an der Kreuzung Friedrichstraße eine Milchkanne verloren. Sie rollte scheppernd vor das Taxi. Der Bolle-Fahrer sprang fluchend aus dem Lieferwagen. In der Manteltasche klackerte die Handglocke, mit der er die Kundschaft anlockte und die den Milchfahrern zu ihrem Spitznamen verholfen hatte: Bimmel-Bolle.

Karls Taxichauffeur lehnte sich aus dem Fenster und rief: »Bimmelt ihr neuerdings mit Milchkannen?«

»Halt’s Maul, du Sack!« brüllte Bimmel-Bolle und knallte die Fahrertür hinter sich zu.

»Wahrlich wenig Philosophen in diesen Zeiten unterwegs«, sagte Karl, »geschweige denn weise Fährmänner und geläuterte Brahmanen à la Vasudeva.« Das Taxi preschte auf der gegenüberliegenden Straßenseite am Haupteingang des Adlon vorbei.

»Oh«, sagte der Taxifahrer. »Sie kennen den Siddharta!« Er ordnete sich in die linke Spur ein, um zu wenden.

»Ich hoffe«, sagte Karl, »daß ich meinem Gesprächspartner gleich genug von Siddhartas positiver Ausstrahlung vermitteln kann: daß er mich nämlich sofort anstellt – sonst können wir am Wochenende gemeinsam auf Straßenraub gehen.«

Das Taxi stoppte vor dem Hotel unter der Regenbalustrade. Karl zahlte und gab Trinkgeld. Ihm verblieben genau eine Mark und fünfzig Pfennig, als er den Türhebel nach unten drückte.

»Viel Glück!« wünschte der Fahrer und gab ihm noch einen Scherz mit auf den Weg: »Falls es nicht klappen sollte mit der Stelle: Ich schlage vor, Sonntag gegen Mitternacht, Treffpunkt Heiermann!«

»Einverstanden«, sagte Karl und lachte. Der Heiermann hatte den schlechtesten Ruf, den man als Kneipe haben konnte. Im Heiermann verkehrten die Schlagetots der Weddinger Unterwelt. Noch im Aussteigen schlüpfte Karl aus seinem Mantel und legte ihn sich, gewendet, über den Arm.

Niemand eilte herbei, um Karl die Wagentür zu öffnen oder vielleicht nach seinem Gepäck zu fragen. Der Portier und zwei Pagen kümmerten sich hingebungsvoll um einen menschlichen Fettkloß in einem Ledermantel, der einem blankgeputzten Horch entstieg, rechts und links den Hotelbediensteten Geldscheine zusteckend. Erst als Karls Taxi zurücksetzte, um an dem Horch vorbeizulenken, trat auf ein Kopfnicken des Portiers einer der Pagen auf ihn zu. »Darf ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«

Karl schüttelte den Kopf. Kurz bevor er die gläserne Drehtür erreichte, sah er die Blumenfrau. Sie stand am Straßenrand neben einem Laternenpfahl und hatte auf einer Fußbank drei Eimerchen mit verschiedenfarbigen Nelken und Rosen, als gelte es, für alle politischen Gruppierungen oder Parteien etwas parat zu haben. Sie hielt einen Regenschirm, der dick mit den wattigen Flocken bedeckt war, ein weißer Baldachin, der vermutlich nicht lange halten würde, denn Schnee- und Regenschauer wechselten in diesem Januar unberechenbar miteinander.

Karl fühlte in der Jackettasche nach dem Markstück, ließ die fünf Groschen für die Rückfahrt und für den Kaffee bei Aschinger stecken, und kaufte der Frau eine gelbe Nelke ab. Die Frau knickste, als er auf das Wechselgeld verzichtete. Die Schneelast auf ihrem Schirm geriet dabei ins Rutschen. Karl sprang lachend einen Schritt zurück. »Danke, Frau Holle!« Er steckte sich die Nelke ins Knopfloch, zupfte den Krawattenknoten zurecht, betrat die Vorhalle und schob sich durch eine der Drehtüren.

5.

KARL MACHT IN DER ›ADLON‹-LOBBY EINE KURZE, ABER INTENSIVE ZEITREISE

Und nach Jahren der Abwesenheit von Berlin, von Deutschland, von Europa tauchte er wieder in die wunderbare Welt dieses Hauses ein. Er sah es mit einem Blick, spürte es, als er die geschäftige Stille der Eingangshalle durchschnitt, ja er roch es förmlich, daß dieses Hotel immer noch zu den großen seiner Art gezählt werden mußte, und war wieder gefangengenommen von diesem ganz speziellen Flair aus Eleganz, Luxus und kosmopolitischer Atmosphäre. Es war ein Flair, das sich trotz der einschneidenden Kriegsfolgen, trotz überstandener Inflation und katastrophaler Wirtschaftslage nur unwesentlich verändert hatte. Und er erinnerte sich, wie er das Hotel zum ersten Mal anläßlich seines Leutnantsballs betreten hatte, voller Begeisterung für Kaiser, Volk und Vaterland. Karl erinnerte sich aber auch, als er sich in der großen Eingangshalle umschaute und dann in Richtung Rezeption ging, an seinen letzten Aufenthalt im , kurz bevor der Weltkrieg zu Ende gegangen war; erinnerte sich, wie Maman und der Vater in genau dieser Halle auf ihn gewartet hatten, als er, einen weiteren Stern auf den Epauletten und das EK 1 nebst diverser Verwundetenabzeichen an der Brust, auf sie zugehumpelt war, mit einem Bein voller umherwandernder Schrapnellsplitter, von denen einige ihm auch jetzt noch gelegentlich zu schaffen machten – erinnerte sich, wie Maman geweint hatte, als er sie umarmt hatte, erinnerte sich, daß er bereits damals durch die Erfahrung in den flandrischen Schützengräben restlos und nachhaltig und quasi am eigenen Leib kuriert gewesen war von jedweder Art von Hurrapatriotismus und politischen Verführungskünstlern.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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