Die Sklaven des Sultans - Jürgen Ebertowski - E-Book

Die Sklaven des Sultans E-Book

Jürgen Ebertowski

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Beschreibung

Das Osmanische Reich im 16. Jahrhundert: Bei der "Knabenlese" auf ihrer Heimatinsel werden die griechischen Zwillingsbrüder Jannis und Kosta von Soldaten Sultan Suleymans entführt, beschnitten und im Koran unterwiesen. Die beiden Jungen werden für den Dienst beim Sultan ausgebildet, der eine beim Militär, der andere in der Verwaltung. Hautnah erleben sie den Krieg gegen die Tempelritter von Malta mit. Dabei müssen sie erkennen, dass Aufstieg und Fall im Reich Suleymans des Prächtigen nah beieinander liegen und nicht nur Bestechung und Intrigen ein probates Mittel für den Erhalt der eigenen Macht sind …

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Jürgen Ebertowski

Die Sklaven des Sultans

Historischer Roman

Ebertowski, Jürgen: Die Sklaven des Sultans, Hamburg, ACABUS Verlag 2013

Originalausgabe

PDF: ISBN 978-3-86282-217-1

ePub: ISBN 978-3-86282-218-8

Print: ISBN 978-3-86282-216-4

Lektorat: Christina Poppe, ACABUS Verlag

Korrektorat: Rieke Heinze, Melanie Hahn, ACABUS Verlag

Umschlaggestaltung: © Marta Czerwinski, ACABUS Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der ACABUS Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH, Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

© ACABUS Verlag, Hamburg 2013

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

Inhaltsverzeichnis

I) Knabenlese

1. Kapitel – Kaptan Sokrates’ Kaik

2. Kapitel – Drei Weiße Eunuchen

3. Kapitel – Jannis und Kosta

4. Kapitel – Nach Istanbul

II) Jannis’ Geschichte

1. Kapitel – Im Vorhof des Yeni Saray

2. Kapitel – La Ilaha illa ’Allah! Mohammed rasul Allah!

3. Kapitel – Der Marsch ins Innere von Anadolu

4. Kapitel – Die Karawanserei von Aktepe

5. Kapitel – Jannis hat Skrupel

6. Kapitel – Der Gutshof am Beyschehir-See

7. Kapitel – Die Belagerung durch die Haydutlar

III) Der Schehzade Selim

1. Kapitel – Kaptan Sokrates’ erlauchter Kunde

2. Kapitel – Konya

3. Kapitel – Die Schlacht in der Ebene

4. Kapitel – Prinz Selims Monolog in Kütahya

IV) Kostas Geschichte

1. Kapitel – Der Palast auf dem Stadthügel

2. Kapitel – Kenans Küchendienst

3. Kapitel – Des Paschas nächtliche Audienzen

4. Kapitel – Ein ergiebiger Umtrunk im „Tor der Glückseligkeit“

5. Kapitel – Paolo de Teresta

6. Kapitel – Ein vergoldeter Auftrag

7. Kapitel – Ein neuer Page in der „Strengen Schule“

V) Werdegang eines Janitscharen

1. Kapitel – Dschengis’ Ritt nach Gelibolu

2. Kapitel – Die Acemi-Kaserne

3. Kapitel – Essig und Olivenöl

4. Kapitel – Antilopenjagd

5. Kapitel – Prinz Selims illustrer Freundeskreis

6. Kapitel – Zurück nach Gelibolu

VI) Der „Schatten Gottes auf Erden“

1. Kapitel – Kriegsrat im Diwan und geeister Wein in Pera

2. Kapitel – Paolo de Terestas Flucht

3. Kapitel – Der „Gesetzgebende“ wandelt im Garten des Vierten Hofs

4. Kapitel – In Erwartung der Pfortenflotte

5. Kapitel – Die Inspektion des Janitscharen-Agha

6. Kapitel – Das venezianische Präsent

VII) Kenans Lehrjahre in der „Strengen Schule“

1. Kapitel – Der Hof der „Schmachtlocken-Hellebardiere“

2. Kapitel – Dar-üs Saadet, das „Haus der Glückseligkeit“

3. Kapitel – Die Erde bebt

4. Kapitel – Der Kampf in der Küche der Schwarzen Haremseunuchen

5. Kapitel – Opium

6. Kapitel – Kenan, stellvertretender Kommandant vom „Tor des vom Paradiesvogel beschatteten Kaisers“

7. Kapitel – Massageöl

VIII) Malta

1. Kapitel – Landung in Marsasirocco und erste Kämpfe

2. Kapitel – Torgut Reis, „Das gezogene Schwert des Islam“

3. Kapitel – Der Fall von St. Elmo

4. Kapitel – Die Belagerung von Birgu und Senglea

5. Kapitel – Malta, ein Volkslied

6. Kapitel – An Bord der „Sultana“ nach Gelibolu

7. Kapitel – Tschorbadschi Dschengis verbringt eine Nacht in Pera

IX) Weitere Kämpfe und Intrigen

1. Kapitel – Der Oberschreiber der Janitscharen

2. Kapitel – Das Kurierschiff des Statthalters von Rhodos

3. Kapitel – Dschengis und Necmeddin essen Kuttelsuppe

4. Kapitel – Die Jagdhütte

5. Kapitel – Drei Pfeile

X) Selim Ibn Süleyman, „König der Könige, Herr des Ostens und des Westens“

1. Kapitel – Erneute Besuche in Nicos Schänke

2. Kapitel – Der „Gesetzgebende“ stirbt

3. Kapitel – Sultan Selims milde Herrschaft

4. Kapitel – Razzia in Pera

5. Kapitel – Lepanto

6. Kapitel – Das Attentat

7. Kapitel – Nûrbanus Rache

XI) Sultan Selims Ende

1. Kapitel – „Der Mensch kann seinem Schicksal nicht entrinnen.“

2. Kapitel – Sultan Selims Gelöbnis

3. Kapitel – Eis für den Padischah

I) Knabenlese

1. Kapitel – Kaptan Sokrates’ Kaik

Es war Mitte April, und der Morgennebel begann sich zwischen den Inseln und der Landzunge aufzulösen. Die bewaldete Halbinsel mit dem verfallenen heidnischen Heiligtum aus weißem Marmor schob sich wie ein Sperrriegel aus dem Küstengebirge vor das Schiff. Wattegleicher Nebel und sanfte Dünung verhießen Kaptan Sokrates einen sonnigen Tag.

Der Skipper der „Seeschwalbe“, einer robusten Kaik, seegängig und verlässlich, lehnte sich wohlig an die Heckreling, während die beiden Schiffsjungen und der Matrose das Segel ausrichteten, denn der Wind wehte jetzt landwärts. Der Skipper war ein stämmiger Mann mittleren Alters, kurzbeinig und besaß einen Brustkorb geformt wie eine Tonne.

Sein Steuermann sah ihn erwartungsvoll an. Kaptan Sokrates nickte, worauf der Steuermann sich mit aller Kraft gegen den Balken der Ruderpinne stemmte. Die „Seeschwalbe“ drehte augenblicklich scharf nach Backbord ab und umschiffte eine Untiefe, deren einziges Anzeichen aus einem Kamm gischtiger Wellen bestand. Bereits so manchem Segler war diese tückische Stelle zum Verhängnis geworden, Kaptan Sokrates jedoch kannte jede Klippe, jede Strömung, kannte jede Landmarke an diesem Küstenstrich. Er befuhr die Gewässer, seitdem der Vater – der Allmächtige sei seiner armen Seele gnädig! – ihn als Knaben zum ersten Mal auf die Südreise mitgenommen hatte. Vom Vater hatte er nicht nur das Handwerk des Seemanns, sondern auch das des umsichtigen Schmugglers erlernt. Schmuggel war eine lohnende Tätigkeit, da Sultan Süleyman, der von allen nur der „Gesetzgebende“ genannt wurde und der nun schon seit einer Ewigkeit über das Reich der Osmanen herrschte, beständig neue Handelsgüter mit einem Aus- oder Einfuhrbann belegte beziehungsweise mit hohen Steuern. Es hatte sogar Aufstände in entlegensten Landesteilen gegeben, als wegen der ständigen Heerzüge gegen die Habsburger und Perser Sonderabgaben sowohl von Muslimen als auch von Christen und Juden erhoben worden waren. Vor Jahresfrist hatte sich im Reich des „Gesetzgebenden“ der Preis für Olivenöl innerhalb von nur einer Woche verdreifacht. Nun, Kaptan Sokrates und seine Schmugglerzunft erfreute, was die einfache Bevölkerung in die Revolte trieb: Öl in Zypern und Kreta, den Venetianern untertan, war billiger denn je gewesen. Kaptan Sokrates strich sich über den struppigen Bart und lächelte. Das Aufruhrjahr hatte sich für ihn als ein höchst profitables erwiesen.

Sommers wie winters hatte der Skipper der „Seeschwalbe“ die schneeweißen Säulen des Tempels auf der Landzungenspitze angepeilt, selbst bei rauem Wetter, wenn die ansonsten wagemutigen Fischer der Gegend schon längst in einer der zahlreichen geschützten Buchten vor Anker gegangen waren. Und bislang hatte sich stets das Risiko ausbezahlt, mit der bulligen, verlässlichen Kaik auch stürmische Gewässer nicht zu meiden.

So florierten also die Geschäfte des Kapitäns: Aus anatolischem Weizen, aus Wolle und hin und wieder auch aus Kupferplatten bestand die Konterbande für die Venezianer in Zypern oder Kreta; auf der Rückfahrt transportierte die „Seeschwalbe“ dann Wein für die Christen und Juden im Istanbuler Stadtteil Fener, brachte auch hin und wieder eine Ladung gepökeltes Schweinefleisch für die Genuesen am Nordufer des Goldenen Horns nach Galata oder Pera.

War Kaptan Sokrates erst in der Dardanellen-Straße, die ins Marmarameer führte, und hatte er es auch vermeiden können, von den Zoll- und Patrouillenschiffen der Küstenstatthalter kontrolliert zu werden, dann winkte ihm trotz der noch aufzubringenden Bestechungsgelder erfreulicher Gewinn.

Ein wenig indes verdüsterte sich die Miene des Kapitäns, als er an all das gute Silber dachte, das er stets verlor, damit die richtigen Leute zur rechten Zeit die Augen zudrückten. Bei der letzten Reise im Herbst hatte er zwar für eine Ladung Zypern-Wein einen extrem guten Preis bei seinen Stammabnehmern in Fener und Pera erzielen können, jedoch waren auch die Bestechungstarife der Hafenbehörden in Gelibolu leider hochgeschnellt, was dann die Profitsumme unterm Strich empfindlich geschmälert hatte.

Ein Weißer Eunuch, der regelmäßig und heimlich mit ein paar Kameraden von der Palastwache in der Schänke von Nico, dem hinkenden Rhodier, zechte, hatte dafür die Habgier des Großwesirs Rüstem Pascha verantwortlich gemacht, der von allen nur die „Glückslaus“ genannt wurde. Seitdem Rüstem – Der Allmächtige strafe seine Unersättlichkeit! – der Schwiegersohn des „Gesetzgebenden“ und nun auch noch dessen erster Minister war, konnte man gegen eine entsprechende Geldsumme sogar außerplanmäßige Beförderungen im Saray-Dienst erkaufen. Nichts schien mehr unmöglich im Reiche Süleymans, wenn die „Glückslaus“ nur daraus zu profitieren vermochte. Das galt für Palast-Beförderungen ebenso wie für die Ausfertigung von Zoll- oder Einfuhrdokumenten. Und besonders die Gebühren für die Frachtpapiere, die der Defterdar von Gelibolu ausstellen musste, damit man Handelsgüter auf dem Seeweg durchs Marmarameer nach Istanbul schaffen durfte, hatten sich neuerdings schmerzlich verteuert.

Desungeachtet besaß Kaptan Sokrates keinen wirklich triftigen Grund zur Klage. Eine zweite Kaik war von ihm in Samos in Auftrag gegeben worden, das Haus auf der heimatlichen Insel hatte einen geräumigen Anbau bekommen, und gleich drei Hirten kümmerten sich um die vielköpfigen Schaf- und Ziegenherden. Und wenn erst das zweite Schiff auf der Zypernroute laufen würde …

Kaptan Sokrates’ angenehmer Tagtraum wurde durch einen heiseren Ausruf des Matrosen am Bug abrupt beendet.

„Kaptan, da schwimmt jemand auf die Landzunge zu!“

„Nein“, sagte der Steuermann und starrte in den sich lichtenden Nebel. „Es sind zwei! Ich sehe zwei Köpfe!“

Kaptan Sokrates rannte nach vorne. Die Punkte in der drei Schiffslängen messenden Durchfahrt zwischen der nächsten Insel und der Landzunge wurden größer: Die Schwimmer hatten die Halbinselspitze erreicht und richteten sich unterhalb der heidnischen Ruine aus dem flachen Wasser auf.

„Was zum Teufel hat das denn zu bedeuten?“, knurrte der Skipper den Steuermann an.

„Keine Ahnung, sie scheinen von der Möveninsel zu kommen. Wahrscheinlich ein paar Fischerkinder.“

Die Möveninsel, so hieß das der Landzunge nächste Eiland, war eine unbewohnte sternförmige Insel, steinig und von hartem Gestrüpp überwuchert, sodass die Fischer nur im Sommer vom Festland manchmal ein paar Ziegen hinüber brachten.

Der Kapitän schüttelte nachdenklich den Kopf, denn die beiden Gestalten, die jetzt sichtbar erschöpft auf das Ufer zuwankten, trugen leuchtend rote Hemden und Hosen. „Nein“, sagte er. „Das sind Devschirme-Knaben. Sie fliehen vor den Janitscharen.“

„Verflucht sollen sie sein, diese Bluthunde!“ knurrte der Steuermann.

Kaptan Sokrates rief den Schiffsjungen und dem Matrosen ein barsches Kommando zu und rannte zum Heck. „Schnell! Wir müssen hier weg, bevor ihre Verfolger auftauchen!“

Es war wenig ratsam, ausgerechnet von den aufgebrachten Häschern gesichtet zu werden, die garantiert den Rotgekleideten nachstellten: Der Bauch der „Seeschwalbe“ barg eine Ladung süßen Zypern-Weins. Würde das Schiff aufgebracht und die Besatzung vor einen unbestechlichen Kadi geschleppt werden, dann drohte unter Umständen allen sogar der Pfahl.

Gemeinsam mit dem Steuermann drückte der Skipper den Ruderbalken hart nach steuerbord.

„Wohin?“

„Zur Schildkrötenbucht!“

Die „Seeschwalbe“ nahm Kurs auf eine Gruppe steil aufragender Klippen am Festlandsufer. Die Durchfahrt zur Schildkrötenbucht lag hinter dem „Fischstein“ und dem „Affenfelsen“. Jedes Schiff, größer oder mit mehr Tiefgang als eine Kaik, würde unweigerlich auf die Klippen in der Buchteinfahrt laufen.

Kaum war der Anker ausgeworfen, wurde in aller Eile das Segel eingeholt und der Mast umgelegt. Dann wateten der Kapitän und der Steuermann ans Ufer. Sie kletterten den bewaldeten Hang an der Südseite der Bucht hoch, bis sie eine lichte Stelle fanden, von wo aus sie die Inseln und die Landzungenspitze gut überschauen konnten.

‚Devschirme – Knabenlese!‘, dachte der Kapitän und verfluchte lautstark Sultan Süleyman und sein Geschlecht. Es war also wieder soweit! Alle fünf Jahre kamen die Häscher des „Gesetzgebenden“ in die Dörfer und forderten ihren Tribut an den Kindern der Christen, um sie zum Militärdienst zu pressen. Nie hörte man jemals wieder etwas von den Unglücklichen, auch wenn einige Leute wissen wollten, dass es auf dem Festland Männer gäbe, die man als Knaben entführt hätte, und die als wohlhabende Veteranen zu ihren Familien zurückgekehrt wären.

Der Kapitän ballte die Fäuste, denn er dachte an seine zwei Jungen daheim, die zwar noch nicht das Mindestalter von acht Jahren erreicht hatten, um sie zur Knabenlese tauglich zu machen, aber er musste auch wieder an den Tag denken, als die Janitscharen mit dem Kadi zu seinem Vater gekommen waren, um zwei seiner Brüder abzuholen. Der Dorfpope, der verpflichtet war, die Taufbücher vorzuzeigen, hatte noch versucht, den Kadi gnädig zu stimmen und nur einen von Kaptan Sokrates’ Brüdern einzufordern. Vergeblich. Die Janitscharen hatten Anweisung gehabt, zwei Jungen auf der Heimatinsel des Skippers zu rekrutieren, und sie waren eisern geblieben. Später erfuhr man dann, dass ein reicher Kaufmann auf der Nachbarinsel Leros seine beiden jüngsten Söhne freigekauft hatte und sich die Janitscharen deshalb auf der Insel des Kapitäns für diese Ersatz beschaffen mussten. Irgendwann war der Vater dann nach Leros gefahren, und man fand eine Woche später die verstümmelte Leiche des Kaufmanns in einem Olivenhain. – Der Skipper spuckte aus. Seine Brüder waren nie als reiche Männer auf das heimatliche Eiland zurückgekehrt!

Solche und ähnliche Erinnerungen gingen Kaptan Sokrates durch den Kopf, während seine Augen die Landzunge nach den Knaben absuchten. Sie schienen sich in den dichten Waldrücken der Halbinsel geflüchtet zu haben, jedenfalls zeigte sich nicht der geringste Schimmer Rot zwischen den Bäumen und dem Gestrüpp in Ufernähe.

„Ich sehe sie nicht mehr. Du?“

Der Steuermann schüttelte den Kopf. „Nein, aber da sind schon ihre verfluchten Häscher!“ Der Arm des Steuermannes wies auf die Möveninsel. Der Bug einer Galeere durchschnitt eine Nebelbank und verlangsamte die Fahrt vor der Landzungenspitze. Kaptan Sokrates lachte heiser. „Wenn sie es wagen sollten, durch die Enge zwischen Insel und Halbinsel zu laufen …“ Aber der Kommandant des Kriegsschiffs war umsichtig oder kannte die Untiefen, die ihn erwarteten, und denen Kaptan Sokrates kundig ausgewichen war.

Ein Beiboot mit vier Ruderpaaren wurde zu Wasser gelassen. Außer den Ruderern stiegen sechs Janitscharen die Strickleiter hinunter. Die Soldaten hielten lange Jagdbögen in den Händen. Ihre hohen, hellen Filzmützen mit dem weißen Nackentuch zeichneten sich von dem dunklen Galeerenrumpf ab. Das Beiboot umrundete langsam, sich immer dicht ans Ufer haltend, die Landzungenspitze und fuhr bis zu dem Sandstrand, wo sich die Halbinsel vom Festland abspreizte. Dort wendete es.

Der Kapitän und sein Steuermann warteten, bis die Ruderer wieder an der Galeere festgemacht hatten und das Boot an Deck gezogen wurde. Erst als das Heck des Kriegsschiffs völlig von der Möveninsel verdeckt war, kletterten die Männer den Hang hinunter.

„Wir bleiben bis zur Abenddämmerung in der Bucht“, sagte der Skipper.

„Besser wäre es“, erwiderte der Steuermann, denn er hatte einmal der Pfählung eines Räubers im Hafen von Gelibolu beigewohnt.

2. Kapitel – Drei Weiße Eunuchen

Die Sonne stand im Zenit und brannte schon sommerlich bei der anhaltenden Windstille, die bereits seit den Morgenstunden über dem Meer lag. Das zerklüftete Küstengebirge im Osten war zu einem vagen, blassgelben Streifen geschmolzen.

Eine Galeere, die mit dem grünen Banner des Propheten beflaggt war und die auch die scharlachrote Flagge der Pforten-Marine mit dem silbernen Halbmond und dem Stern zeigte, hielt Kurs auf einen Archipel flachkuppiger Inseln am Horizont. Gleichmäßig bewegten sich zwanzig Ruderpaare im Takt von dumpfen Trommelschlägen. Der Kommandant der Galeere, ein Hauptmann der Janitscharen und ein Koloss von einem Mann saßen unter dem Sonnensegel auf der Heckplattform des Kriegsschiffs. Der Schiffsführer betrachtete mit zusammengekniffenen Lippen die rotgekleideten Knaben, die aneinander gefesselt unterhalb der Heckempore hockten, dann schüttelte er energisch den Kopf.

„Nein, meine Herren, wenn ich durch die Möveninsel-Enge gesteuert wäre, hätte ich riskiert, das Schiff zu verlieren. Außerdem: Die beiden Flüchtigen waren bestimmt schon in den Küstenwäldern untergetaucht, und ohne Bluthunde könnte sie dort selbst eine vollzählige Orta Janitscharen nicht mehr aufspüren!“

‚Eine Orta, eine Kompanie!‘, dachte der Hauptmann bitter. ‚Hätte ich eine ganze Orta gehabt, wäre mir niemand unbemerkt vom Schiff entkommen!‘

Die Knaben hatten sich im Schutze der Dunkelheit geräuschlos vom Deck der Galeere abgeseilt und waren zu einer der Landzunge vorgelagerten Insel geschwommen. Natürlich hatten die anderen Jungen ihre Flucht gedeckt, weshalb sie allesamt kräftig die Peitsche zu spüren bekamen, wie im Übrigen auch die vier nachlässigen Janitscharen der Nachtwache. Und der Janitscharen-Hauptmann dachte voller Groll an seinen Oberst, der ihm bloß eine halbe Kompanie zur Knabenlese mitgegeben hatte, weil dieser verdammte Rüstem Pascha wieder einmal alle irgendwie entbehrlichen Soldaten als Jagdtreiber abkommandiert hatte.

Mit dem Hauptmann waren dann drei Weiße Eunuchen und ein halbes Dutzend Schwertträger von den Saraywächtern an Bord der Galeere gegangen. Weiße Eunuchen bewachten das Tor zum Privatquartier des Sultans.

Zuerst hatte der Hauptmann vermutet, dass die Schwertträger als Ersatz für die fehlenden Janitscharen bestimmt waren. Er wurde bald eines Besseren belehrt: Der Anführer der drei Eunuchen hieß Ahmed, war ein Fettberg von einem Verschnittenen, besaß eine auffällige sternförmige Narbe über der rechten Augenbraue und trug ein prunkvolles Brokatgewand. Er hatte ihm und dem Galeeren-Kommandanten sogleich ein Schreiben aus der Kanzlei des Großwesirs vorgelegt, welches nichts anderes besagte, als dass alle Janitscharen und die gesamte Schiffsbesatzung formell ihm, dem Eunuchen, unterstellt waren. Die Schwertträger waren seine Leibwächter. Dann hatte der Verschnittene quasi als erste Amtshandlung die Kabine des Kommandanten in Beschlag genommen.

Der Hauptmann war altgedient und hatte schon viele Vorgesetzte gehabt, aber dass er sich einem Eunuchen unterordnen musste, das war ihm noch nie widerfahren. Der Janitscharen-Hauptmann mochte die arroganten Kastraten nicht, denen die hohen Herren mehr ihr Ohr liehen als ehrlich kämpfenden Soldaten. Dem Galeerenkommandanten erging es ähnlich.

Wenn keiner der Eunuchen oder Saray-Schwertträger in Hörweite war, lästerten die beiden Offiziere zu Beginn der Reise noch häufig über ihren ungewöhnlichen neuen Vorgesetzten mit der hohen Kastratenstimme, der wächsernen Gesichtsfarbe und dem massigen Körper, der nur aus Fettwülsten zu bestehen schien. Dieses Lästern wich aber einer ungeheuchelten Hochachtung, als der Anführer der Weißen Eunuchen einmal von einem der Schiffsoffiziere angerempelt wurde und er den Mann aufs Gröbste deswegen beschimpfte. Die Hand des Offiziers glitt daraufhin zu dem Krummdolch, der in einer silberbeschlagenen Scheide in seinem Gürtel steckte. Noch bevor er die Waffe auch nur halb entblößt hatte, wurde ihm von einem einzigen wuchtigen Säbelhieb der Schädel bis zum Hals gespalten. Wie der Verschnittene ansatzlos seine Waffe gezogen hatte, grenzte für einige der Augenzeugen dieses Vorfalls schon fast an Zauberei. Der Hauptmann jedenfalls hatte nur selten in seinem Leben jemanden beobachten können, der derart schnell und treffsicher auf einen Angriff reagiert hatte wie dieser Eunuch. Auch der Galeerenkommandant hatte sich fortan mit unüberlegten Bemerkungen zurückgehalten.

Die Galeere zog auf dem ruhigen Meer einen gleichmäßigen Fächer von Bugwellen hinter sich her, ansonsten glich die Wasserfläche einem Spiegel, und nur der laue Fahrtwind bewegte das grüne Banner des Islam an der Hauptmastspitze gelegentlich und kaum wahrnehmbar.

Der Anführer der Weißen Eunuchen räusperte sich ausgiebig, bevor er dem Kommandanten antwortete: „Ich verstehe natürlich, Kapitän, dass ihr das Schiff nicht wegen zweier flüchtiger Knaben gefährden durftet, nur hatte ich einen Auftrag, den ich bereits erfüllt zu haben glaubte. Einer der Knaben entsprach nämlich genau den Vorstellungen meines Herrn, und es wird wohl schwer sein, auf die Schnelle wieder Ersatz für ihn zu finden. Zumal…“, der Verschnittene befingerte die sternförmige Narbe über der rechten Augenbraue und richtete das Wort scharf an den Hauptmann, „zumal mir gesagt wurde, dass die Inseln, die wir gerade ansteuern, von der Devschirme befreit sind!“

Der Hauptmann senkte den Blick, der Eunuch hatte Recht. Die Inseln vor ihnen waren per Dekret des Sultans von der Knabenlese befreit. Neben dem Hauptmann lag auf den teppichbedeckten Schiffsplanken ein großes, in braunes Glattleder gebundenes Buch. Die Namen der zur Devschirme gezwungenen Jungen waren darin verzeichnet sowie die ihrer Eltern, die der Dörfer und Provinzen, aus denen man sie geholt hatte. In dem Buch standen auch die Namen der Popen ebenso wie die Namen der jeweiligen Kadis. Bei den Kadis verblieb ein ähnliches Buch, das auf gesondertem Weg, keinesfalls aber zusammen mit den Knaben und der Begleitmannschaft, nach Istanbul geschickt wurde. Dort verglich dann der Janitscharen-Agha, der oberste Befehlshaber der Truppe, die Eintragungen. Wehe, es tauchten Ungereimtheiten auf! Sämtlichen Beteiligten an dieser Knabenlese, ob Richter, Offizier oder nur einfachem Soldaten, drohte dann strengste Bestrafung.

Nur allzu oft hatte sich herausgestellt, dass reiche Christen es trefflich verstanden, ihre Söhne selbst noch nach der Aushebung bei einem Provinz-Kadi oder den Janitscharen-Offizier von der Devschirme freizukaufen. Die Bestochenen rekrutierten dann zum Beispiel den Sohn eines Rinder- oder eines Schafhirten. Das war nicht statthaft, denn Hirten, der jeweils einzige Sohn einer Familie, ein Knabe ohne Kopfhaarwuchs, einer mit einer sichtbaren Erkrankung oder ein bereits verehelichter älterer Junge (der Pope musste anhand des Kirchenbuchs die Heirat beweisen), waren ausdrücklich von der Devschirme ausgenommen. Muslime durften überhaupt nicht eingezogen werden und auch keine Christenknaben, die ohne Vorhaut zur Welt gekommen waren. So jedenfalls lauteten die detaillierten Vorschriften von Sultan Süleyman. Akribisch wurde außerdem in den beiden identischen Devschirme-Listen das Aussehen der Knaben beschrieben.

Genau hierin lag das Problem für die Männer auf der Heckempore der Galeere, und auch der Anführer der Weißen Eunuchen wusste es. Ahmed stand zwar hoch in der Saray-Hierarchie, aber wie alle im Palast tätigen Personen, einfache Wasserträger ebenso wie ansonsten hochvermögende Paschas, war er, der Verschnittene, letztlich doch nur ein „Kul“, ein Militärsklave des Sultans. Und je nachdem, woher der politische Wind wehte, war auch ein Weißer Eunuch und Torwächter des Sultans keineswegs dagegen gefeit, dass die großherrlichen Henker ihn zur Richtstätte vor das „Mitteltor“ im ersten Palasthof schleiften, wenn dem „Herrscher über alle Menschennacken“, wenn Sultan Süleyman, dem „Gesetzgebenden“, ein Vergehen eines seiner entmannten Sklaven ruchbar wurde.

Ein Flüchtling immerhin, überlegte der Hauptmann, konnte ohne großen Aufwand durch einen beliebigen anderen Jungen ersetzt werden, weil dessen Personenbeschreibung auf die meisten Kinder dieser Inselchristen zutraf: Gedrungen waren sie, dunkelhäutig und muskulös. Und das Devschirme-Buch ließ sich mit etwas Geschick bestimmt auch fälschen.

Er und der Kommandant der Galeere hatten sich bereits vor dem Treffen mit dem Verschnittenen abgesprochen und wechselten einen schnellen Blick. Der Janitschar griff nach dem braunen Lederband und schlug ihn auf.

„Es gäbe da schon noch eine Möglichkeit, allerdings …“

Der Anführer der Weißen Eunuchen machte eine ungeduldige Handbewegung. „Und die wäre …?“ Wieder betastete er seine Stirnnarbe.

Der Schiffskommandant schnalzte mit der Zunge. „Nun, der Knabe, auf den Ihr besonders ein Auge geworfen hattet, war doch blond und blauäugig, von geradem Wuchs und ohne jedwede körperliche Versehrtheit, sei es auch nur die kleinste Narbe, etwa am Knie, wie Knaben seines Alters sie sich fast zwangsläufig etwa beim Spielen zuziehen.“

„Laut Eintragung des Popen ins Kirchenbuch war er fünfzehn Jahre alt“, sagte der Hauptmann und legte den Lederband wieder neben sich.

„Ja, und?“, knurrte der Verschnittene verärgert, denn er wusste nicht, worauf die beiden Offiziere hinauswollten. „Redet gefälligst etwas deutlicher, wenn Ihr einen Vorschlag habt, der uns alle vor dem Henker bewahren könnte!“

Der Galeerenkommandant lächelte verschmitzt. „Seht, Herr! Es ist vielleicht einfacher, als Ihr denkt, einen Knaben gleichen Aussehens aufzutreiben.“

Ahmed grinste höhnisch. „So? Ich höre!“

Der Janitscharen-Hauptmann räusperte sich nachhaltig, dann erst sprach er. „Hoher Herr! Der Kapitän und ich haben vorhin einen Matrosen ausgefragt, der mehrmals für längere Zeit auf allen Inseln da vorne gewesen ist. Er meint, dass dort viele Christenfamilien mit Kindern im richtigen Alter leben würden, und mehrere von ihnen sollen auch hellhaarig und blauäugig sein wie der Entkommene.“

Der Verschnittene dachte nach und befühlte die sternförmige Narbe auf seiner Stirn. Rüstem Pascha hatte unter Mitwisserschaft des Aghas, des Obersten aller Weißer Eunuchen, einen gerade erst von der letzten Knabenlese eingetroffenen blonden Jungen ohne Wissen des Sultans aus seinem Privat-Saray an den Heeresrichter von Anadolu verkauft. Es war üblich, dass die als Pagen auszubildenden Knaben nach der Devschirme in den verschiedenen Palästen der Paschas eine erste höfische Erziehung erhielten, bevor sie in die „Strenge Schule“, so hieß die Großherrliche Palastschule im Dritten Hof des Sarays, geschickt wurden. Die Weißen Eunuchen bewachten nicht nur das „Tor der Glückseligkeit“ zu den Privatquartieren des Sultans, das auch das „Tor der Weißen Eunuchen“ genannt wurde, sie leiteten dort ebenfalls die „Strenge Schule“, die Pagenschule. Er selbst, Ahmed, war der Erste Fechtlehrer der Knaben. Andere unterrichteten sie in den Reiterkünsten, aber auch in den verschiedensten Wissenschaften.

Ein Pagenschüler war bei einem Reiterspiel tödlich gestürzt. Als Ersatz wollte der Sultan nun ausgerechnet den blonden Jungen, den der Großwesir an den Heeresrichter verkauft hatte. Rüstem Pascha hatte sich vorerst herausreden können, indem er vorgab, dass der Knabe schwer erkrankt sei. Daraufhin schickte der „Gesetzgebende“ seinen Leibarzt Garsüddinzade in Rüstems Palast. Aber Allah sei Dank! Der Leibarzt verschmähte das Gold des Großwesirs nicht. Nur ein anderer, ähnlicher Knabe musste schnellstens herbeigeschafft werden. Der Heeresrichter von Anadolu – unter seiner Begleitmannschaft befanden sich auch dessen Pagen – war auf Inspektionsreise an die östlichen Grenzen des Reiches gereist und daher unerreichbar. So konnte der Großwesir vorerst seinen ehemaligen Pagen auch nicht gegen ein gerne gezahltes Aufgeld zurückkaufen.

Es war eine heikle Aufgabe, die ihm, Ahmed, dem Großherrlichen Torwärter zweiten Grades und Fechtlehrer an der „Strengen Schule“, vom Obersten der Weißen Eunuchen übertragen worden war, denn es war ein Auftrag, bei dem man beständig Gefahr lief, den Kopf zu riskieren, weil der Auftrag unlösbar war, ohne die Gesetze der Pforte zu brechen. Knabenlese in einem davon ausgenommenem Gebiet zu treiben, war ein eklatanter Bruch dieser Gesetze und wurde ähnlich streng bestraft wie eine Unstimmigkeit in einer Devschirme-Liste. Selbst wenn sich ein geeigneter Knabe auftreiben ließ, in Istanbul endeten die Probleme nicht. Im Gegenteil: Vielen, zu vielen Mitwissern musste der Großwesir mit edlem Metall den Mund verschließen.

Der Verschnittene presste die Lippen aufeinander, denn er wusste: Wenn der Schwindel aufflog, würde nicht nur der Kopf der „Glückslaus“ rollen. Sultan Süleyman hatte am Beispiel von Großwesir Ibrahim Pascha und Kara Ahmet Pascha, Rüstems Vorgängern, gezeigt, dass er hart durchzugreifen vermochte, wenn jemand, ob hoch oder niedrig, es wagte, die Gesetze der Pforte zu missachten.

Mürrisch schaute der Verschnittene zu den gefesselten Devschirme-Jungen vor der Heck-Plattform hinab. Nur einer der Knaben war blond, glich ansonsten aber dem Geflohenen überhaupt nicht. Der Galeeren-Kommandant und der Hauptmann der Janitscharen sahen den Anführer der Weißen Eunuchen erwartungsvoll an.

Der Verschnittene dachte: ‚Stimmt ihre Liste nicht, wenn sie zurückkommen, dann ist der Hauptmann nach der Bastonade wieder ein einfacher Rekrut und der Kommandant ein simpler Matrose. Und bringe ich Rüstem Pascha keinen Ersatz für den Knaben, trifft uns Verschnittene mit Sicherheit alle sein Zorn, selbst meinen Herrn, den Agha, denn noch besitzt die „Glückslaus“ uneingeschränkt das Wohlwollen des „Gesetzgebenden“.‘

Laut sagte er: „Gut meine Herren, lasst uns bei Dunkelheit diese Inseln anlaufen und unser Glück versuchen! Holt mir den Matrosen, der schon einmal dort war! Ich will ihn auch befragen.“

Nur zu gern erfüllten der Hauptmann und Schiffskommandant den Befehl des Eunuchen.

Als die Sonne weit im Westen der Inseln ins Meer sank, nahm die Galeere Kurs auf Thiratois, das kleinste Eiland des flachkuppigen Archipels. Es fand sich ein günstiger Ankerplatz in einer Bucht, die von einer mit dichtem Dornengestrüpp bewachsenen Hügelkette umgeben war. Hinter diesen Hügeln lagen die Siedlungen der Christen.

Einen Ziegenhirten, der in einer Strandhütte von der Besatzung des Galeerenbeiboots überrascht wurde, erschlugen die Soldaten kurzerhand, nachdem er ihnen die Aussagen des Matrosen weitgehend bestätigt hatte. Sollte der Aktion Erfolg beschieden sein, durfte es keine Augenzeugen von der Landung einer Pforten-Galeere geben.

Während der ortskundige Matrose drei Stunden vor Tagesdämmerung die Weißen Eunuchen mit ihren Leibwächtern und den Hauptmann sowie dessen unvollständige Orta Janitscharen in der mondlosen Nacht auf gewundenen, dornenbuschgesäumten Pfaden über die Hügel führte, hatte Kaptan Sokrates schon lange die Meerenge zwischen der Schildkröteninsel und der Landzunge durchschifft und Kurs auf das offene Meer genommen. Nur Verrückte segelten wegen der vielen Untiefen in der Dunkelheit, Verrückte oder Schmuggler mit der Erfahrung des „Seeschwalben“-Skippers.

3. Kapitel – Jannis und Kosta

Der Großvater der Zwillinge, so wussten die alten Leute im Dorf zu berichten, war einer der fränkischen Ritter auf Rhodos gewesen, denn als Iolanthe nach Thiratois zurückehrte, kam sie als verhältnismäßig reiche Frau, die sogar eine Marien-Ikone mit einem Bildnis der Heiligen Jungfrau Maria für die Kapelle der Fischer stiften konnte. Viele der armen Dorfbewohner, ob Mann oder Frau, hatten sich nach Rhodos verdingt, bevor der „Gesetzgebende“ die Ritter vom Orden des Heiligen Johannes dort vertrieb. Wenn die Dörfler es zu etwas Wohlstand gebracht hatten, kehrten sie häufig zu ihren Familien nach Pharnox, Pserlendos und Thiratois heim. Die Leute von Thiratois nannten ihre und die anderen Inseln übrigens nie mit Namen. Pharnox war die „Große“, Pserlendos die „Mittlere“ und Thiratois die „Kleine Insel“. Meist waren es ältere Heimkehrer, aber auch immer wieder unverheiratete, schwangere Frauen wie Iolanthe. Der Pope fühlte sich dann zwar befleißigt, wortgewaltig gegen das „Sündenbabel Rhodos“ zu wettern, nahm aber doch die zumeist reichlichen Geldspenden der Frauen immer an.

Gleich nach ihrer Ankunft hatte Iolanthe eine Tochter geboren, die Mutter der Zwillinge, und dieses Mädchen Helena war nicht das einzige hellhaarige Kind mit blauen Augen auf Thiratois. Und aus diesem Grund entrüstete sich auch nur der Pope wieder einmal – höchst moderat – über ein weiteres uneheliches Kind in seiner Gemeinde. Moderat, denn er hatte das Geld für eine weitere Marien-Ikone bereits eingestrichen.

Helena wuchs auch ohne Vater wohlbehütet in der großen Familie ihrer Mutter auf. Iolanthe verstarb ein paar Jahre nach der Geburt ihrer Tochter an einem Schlangenbiss. Helena heiratete, als sie in das richtige Alter kam, den Fischerssohn Manolis aus dem Nachbardorf. Auch unter dessen Vorfahren hatten etliche für längere Zeit in Rhodos gelebt: Manolis war blond und blauäugig wie ein Franke.

Seitdem die Insel an die Osmanen gefallen war und die Ritter schließlich auf dem fernen Malta heimisch wurden, ging niemand mehr nach Rhodos, und damit endeten auch die reichen Jahre, in denen der Kapelle beinahe jährlich Ikonen gestiftet werden konnten.

Das Leben für die Insulaner war dennoch kaum beschwerlicher als früher, als noch die Lehensträger der Ritter über den Archipel geherrscht hatten. Zwar mussten unter dem Sultan Süleyman alle, die nicht Anhänger der Religion des Propheten Mohammed waren, eine Kopfsteuer entrichten, aber sie fiel eher gering aus, verglichen mit den Abgaben, die man an die alten Grundbesitzer zu leisten hatte. Da die ehemaligen Herren der Inseln sich zudem dem „Gesetzgebenden“ noch vor Beginn seines Rhodos-Feldzugs bedingungslos unterworfen und sogar Schiffe für die Invasionsarmada zur Verfügung gestellt hatten, waren Pharnox, Pserlendos und Thiratois „auf ewig“ von der Devschirme ausgenommen.

Manolis, der Fischer, war ein ruhiger, wortkarger Mann, der lieber alleine zum Fang auslief und auch eine ausreichende räumliche Entfernung zu seinen Nachbarn schätzte. Er baute für sich und seine junge Frau Helena ein Haus abseits des Dorfes. Bald gab es einen Garten und kleine terrassierte Felder, auf denen genügend Getreide und die verschiedensten Gemüse geerntet werden konnten. Manolis’ Boot lag außer Sichtweite des Hauses in einer fjordähnlichen Einbuchtung an einen Felsen vertäut. Der schweigsame Mann galt als der geschickteste Ok-topusfänger der Insel.

Helena brachte erst eine Tochter zur Welt, die man nach der Großmutter Iolanthe taufte und die alle nur Io nannten. Drei Jahre später gebar Helena zwei Knaben: Jannis und Kosta. Letzterer wurde vermutlich nur bei der Taufe mit seinem vollen Namen Kostandino gerufen. Bald nach Iolanthes Hochzeit – sie heiratete einen Bauern auf Pharnox – starb Manolis an einer Muschelfleischvergiftung.

Die Zwillinge Jannis und Kosta waren mit ihren fünfzehn Jahren schon alt genug, um für sich und die Mutter zu sorgen. Beide waren wie der Vater hervorragende Fischer, und auch die Feld- und Gartenarbeit ging ihnen leicht von der Hand. Sie waren schlank, von muskulöser Gestalt, mittlerer Größe und hatten die Eigenschaft von ihrem Vater geerbt, recht wortkarg zu sein. Dennoch gab es viele Eltern unverheirateter Töchter, die die beiden blonden Knaben gerne als Schwiegersöhne gesehen hätten, denn Jannis und Kosta waren fleißige Arbeiter.

*

„Es scheinen Brüder zu sein“, flüsterte der Hauptmann.

„Zwillinge“, korrigierte ihn der Anführer der Weißen Eunuchen erfreut. „Ich bin mir sicher: Die beiden da unten sind Zwillingsbrüder!“ Zwei Dutzend Augenpaare beobachteten in der ersten Morgendämmerung das Haus der Witwe Helena. Von der Hügelkuppe aus blieben die anderen Inseln des Archipels unsichtbar, über dem Wasser lag dicht der Frühnebel. Ein linder Wind strich durch die Baumgipfel.

Zwei Knaben, fast schon junge Männer, bewässerten sorgfältig ein Gemüsefeld, fütterten das Federvieh und knoteten schließlich ein längliches Fladenbrot und eine Handvoll Zwiebeln in ein Baumwolltuch, das einer der Jungen sich an einem Bootshaken über die Schulter hängte. Der andere schulterte ein engmaschiges Wurfnetz. Die Knaben riefen einen Abschiedsgruß in Richtung Haus. Eine Frauenstimme antwortete.

Der Anführer der Weißen Eunuchen nickte dem Hauptmann vielsagend zu. Als die Janitscharen die Zwillinge auf dem Weg zum Meer umstellten, versuchte Jannis sich mit dem Bootshaken zu wehren. Der Hauptmann schlug ihn von der Seite mit dem Stil seines Streitkolbens nieder. Kosta wurde gezwungen, den bewusstlosen Bruder über die Dornenbuschhügel zur Bucht der Galeere zu schleppen. Ein Soldat zischte ihm auf Griechisch zu, dass man sie augenblicklich töten würde, falls er auf die Idee käme, um Hilfe zu rufen.

In der Bucht untersuchte ein Leibwächter des Eunuchen den immer noch reglosen Knaben. „Er ist jung und kräftig und wird es überleben, Herr.“ Der Verschnittene nickte zufrieden und dankte dem Schicksal, das ihm gleich zwei blonde, blauäugige Jungen beschert hatte. Einen als Ersatz für den Pagen und einen, der die Devschirme-Liste wieder stimmig werden ließ. Ein anderer Janitscharentrupp hatte, bevor sie die Zwillinge hier auf dem abgelegenen Anwesen entdeckten, schon einen Dorfknaben auf der Nachbarinsel Pserlendos aufgegriffen, der ohne Weiteres für den zweiten am Vortag geflohenen Knaben durchgehen würde.

‚Das Schicksal hat es sogar in mehrfacher Hinsicht mit uns wohlgemeint‘, dachte der Verschnittene erleichtert und betrachtete den reglosen Jannis. ‚Die Narbe, die der Streitkolben auf seiner Stirn hinterlassen wird, würde es mir unmöglich machen, ihn als Rüstem Paschas Pagen auszugeben. Aber – Allah sei Dank und Lob! – gibt es ja diesen Zwillingsbruder.‘

Der Dicke drückte die Säbelspitze leicht gegen Kostas Kehlkopf: „Wie heißt du?“

„Kostas.“

„Und er?“ Die Säbelspitze zeigte auf den immer noch leblos wirkenden Bruder.

„Jannis.“

„Ihr seid Geschwister, nicht wahr?“

„Ja.“

„Ja, Herr!“ Die Säbelspitze berührte wieder den Kehlkopf des Knaben.

„Ja, Herr.“

Kosta, der nun gefesselt neben Jannis im Beiboot der Galeere lag, verstand zwar kein Wort von der Sprache, in der sich die Ruderer und Soldaten jetzt gedämpft unterhielten, aber er wusste, dass die muselmanischen Fischer vom Festland, denen sie bisweilen auf dem Meer begegneten, auch in dieser Zunge redeten.

Auf der Galeere kam bald darauf auch Jannis wieder zu Bewusstsein, und man befahl ihnen, die leuchtendrote Kleidung der Devschirme-Knaben anzulegen. Kosta musste seinem Bruder dabei helfen. Die Brüder erfuhren von ihren Schicksalsgenossen, dass sie nun im fernen Istanbul zu Soldaten des Sultans Süleyman erzogen werden sollten. Augenblicklich dachten Jannis und Kosta an Flucht, Jannis trotz der Kopfschmerzen, die ihn bereits bei der kleinsten Bewegung schwarz vor Augen werden ließen.

Unter ihren Leidensgefährten entdeckten sie auch einen Jungen namens Spiro von der Nachbarinsel Pserlendos, aber sie konnten nicht mit ihm reden, da er weit entfernt von ihnen saß und niemand seinen Platz an Deck ohne Aufforderung der Soldaten verlassen durfte.

Der Gedanke einer möglichen Flucht beschäftigte die beiden beständig, bis sie sahen, wie ihre Fänger mit einem Mitgefangenen umsprangen, der nur ansatzweise zu fliehen versucht hatte. Mehrmals täglich kontrollierte jemand ihre Fesseln. Die Soldaten des Hauptmanns waren nach dem geglückten Entkommen zweier Devschirme-Knaben erklärlicherweise ungleich wachsamer als zu Beginn ihrer Rückreise nach Norden. Es hatte ausgereicht, dass man bei dem besagten Jungen einen durchgescheuerten Strick der Fußfessel entdeckte, um ihn bäuchlings um den Mast in der Schiffsmitte zu binden und seinen Rücken bis aufs Blut zu peitschen.

Bald schon lernten die Knaben, dass viele der Soldaten und Matrosen die griechische Sprache beherrschten, auch wenn sie untereinander die Zunge der Muselmanen bevorzugten. Die Matrosen hatten keine einheitliche Bekleidung, aber die Soldaten trugen alle die gleiche Uniform: blaue Pluderhosen und rote Jacken. Besonders seltsam sah ihre Kopfbedeckung aus, eine eigenartige, hohe, Filzmütze, die mit einem weißen Tuch umwunden war. Das Tuch hing breit wie ein Schal von der Mützenspitze bis auf den Rücken der Soldaten. Aber das Merkwürdigste war, dass auf der Stirnseite der Mütze in einem Stofffutteral ein länglicher Gegenstand steckte, der wie ein Suppenlöffel aussah. Nur ihr Anführer – die Soldaten redeten ihn mit „Tschorbadschi“ an – besaß ein aus Silberblech getriebenes, oben geschlossenes Futteral, dem man nicht ansah, was es enthielt. Einige der Knaben beherrschten die Sprache der Muselmanen. Sie sagten, „Tschorbadschi“ würde „Suppenkoch“ bedeuten. Jannis und Kosta fanden es reichlich merkwürdig, dass Kriegsleute sich mit Löffeln schmückten und ihre Hauptmänner Suppenköche genannt wurden.

Die Zwillinge trösteten sich so gut es ging gegenseitig, dass sich bestimmt irgendwann eine günstigere Gelegenheit ergeben würde, als ausgerechnet von einer gutbemannten Galeere auf hoher See zu fliehen. Sie ahnten nicht, dass der dicke Riese mit der wächsernen Gesichtsfarbe, der immer ein glänzendes Brokatgewand mit einem kostbaren Säbel am reich verzierten Leibgurt trug und der des Öfteren zu ihnen kam, um sie dann minutenlang stumm anzustarren – Jannis und Kosta ahnten nicht, dass der Anführer der drei Weißen Eunuchen sie gleich nach ihrer Ankunft in Istanbul für immer zu trennen beabsichtigte.

4. Kapitel – Nach Istanbul

Es war die längste Zeit, die die Fischerjungen Jannis und Kosta jemals auf See verbracht hatten. Am Tag nach ihrer Gefangennahme überholte die Galeere eine tiefgehende Kaik, dann sahen sie nur hin und wieder in der Ferne ein winziges Fischerboot.

Der Kurs verlief mehr oder minder nach Norden. Nie steuerte das schnelle Kriegsschiff einen Hafen an, nie wurde in einer der weiten Buchten der Festlandküste, die sich im Osten zeigten, vor Anker gegangen, um zum Beispiel Frischwasser zu ergänzen. Die Galeere schien über schier unerschöpfliche Vorräte an Lebensmitteln und Trinkwasser zu verfügen, denn das Essen, das an die Devschirme-Knaben ausgeteilt wurde, war von stets gleich guter Qualität, und das Wasser schmeckte süß, als würde es aus einem klaren Quell geschöpft.

Was die Leidensgefährten Jannis und Kosta zuraunten, wenn sich zufällig einmal kein Wächter in Hörweite aufhielt – miteinander zu sprechen wurde unerbittlich mit Prügelstrafe geahndet – all diese Geschichten, die ihnen zugeflüstert wurden, waren kaum dazu angetan, sie heiter zu stimmen. Grundlos wurden die Jungen nicht geschlagen, dennoch waren etliche von ihnen der Verzweiflung nahe, denn sie sehnten sich nach zu Hause und vermissten ihre Familien. Keiner der Knaben wusste wirklich genau, was man mit ihnen vorhatte. Besonders die jüngeren Kinder weinten oft hemmungslos und so lange, dass nur die völlige Erschöpfung sie erst wieder zu beruhigen vermochte, wenn sie in den Schlaf fielen.

Jannis und Kosta bissen die Zähne zusammen und schworen, dennoch bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit zu fliehen, mochte man sie, falls man sie dann ergriff, auch auspeitschen oder sogar töten.

Manches, was die Zwillinge erfuhren, widersprach sich. Ein Mitgefangener behauptete zum Beispiel, dass man sie alle zu Ruderknechten machen würde, aber das glaubten sie ihm nicht. Die Ruderer unter ihnen an den langen Riemen, deren Schmerzensschreie gelegentlich bis an Deck zu vernehmen waren, wenn die Aufseher sie züchtigten, wurden bestimmt nicht gut gespeist. Und sie trugen sicherlich auch keine Hosen und Jacken aus weichem Tuch dort unten, wo der Gestank der Exkremente unerträglich sein musste, da schon die üble Luft, die sich bei offenen Luken über das Deck verströmte, nur schwer zu ertragen war. Plausibler klang, was der Junge hinter ihnen erzählte: Militärsklaven des Sultans waren sie jetzt und sein Eigentum, über das er nach Gutdünken verfügen konnte.

Aber was das exakt bedeutete, „Kul“, Militärsklave, zu sein, und was das für ihr zukünftiges Schicksal bedeutete, diese Fragen konnte er seinen Mitgefangenen nicht beantworten. Ein anderer Junge wusste zu sagen, dass die dicken Männer mit den wächsernen Gesichtern Eunuchen, Verschnittene, waren. Daraufhin ging bei allen die Angst um, dass man sie vielleicht auch verschneiden könnte.

Nach einigen Tagen begegneten ihnen mehrere Schiffe aller Größen, darunter auch etliche Galeeren und hochbordige, wuchtige Lastensegler. Schon lange waren Jannis und Kosta die Gewässer nicht mehr vertraut, die das Kriegsschiff durchpflügte.

Die Galeere mit den Devschirme-Knaben durchfuhr eine Meerenge, an deren Ufern die Zwillinge Dörfer, bebaute Felder, Obsthaine und sogar die hohen Befestigungsmauern und Türme einer Hafenstadt sahen. Am Ufer vor der Stadt gab es Werften, in denen seegängige Schiffe auf Kiel lagen, um die Rümpfe von Muscheln und angewachsenen Algen zu befreien. Auch neue Schiffe wurden dort gebaut. Die Zwillinge zählten zehn fast vollendete Galeeren. Zwischen den Schiffswerkstätten und den Befestigungsmauern befanden sich riesige Holzlager. Jannis und Kosta kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus; Mastbäume wie der ihrer Galeere waren gleich dutzendweise aufgestapelt, und der harzige Geruch von den Hügeln frisch gehobelter Deckplanken drang bis zu ihnen aufs Schiff herüber.

Dann steuerte die Devschirme-Galeere in ein Meer, dessen Namen sogar einer der Knaben kannte, denn sein Vater, ein Kaufmann vom Festland, hatte ihn einmal auf eine Handelsreise durch die lange Wasserstraße mitgenommen. Das Meer hieß Marmarameer. Auch den Namen der befestigten Stadt kannte der Knabe: Gelibolu. Und irgendwo an den Gestaden dieses Meeres lag die Hauptstadt Istanbul, in der Sultan Süleyman, der „Gesetzgebende“, einen prunkvollen Palast bewohnte.

Das Wetter war gut und die See, durch die sie glitten, ruhig. Der Galeere kamen nun regelmäßig Schiffe entgegen, zumeist vor dem leichten Wind aus Nordosten segelnd. Auch überholten sie viele Kaiks, die auf dem gleichen Kurs liefen.

Am dritten Tag, als die Sonne gerade den höchsten Stand erreicht hatte, bemerkte Jannis linkerhand Land, und kurz darauf entdeckte Kosta zu ihrer Rechten einige kleinere Inseln. Plötzlich rief ein Matrose im Mastkorb aufgeregt sich ständig wiederholende Worte. Bald sahen auch Jannis und Kosta die Stadt.

Die größte Ansiedlung, mit der sie vertraut waren, war das Dorf Pilos auf der Nachbarinsel Pharnox gewesen und dann vor drei Tagen dieser Hafen, Gelibolu. Istanbul nun mit seinen endlosen hohen Mauern und den in den Himmel ragenden Kuppeln und Türmen erschien den Knaben allein wegen der ungeheuren Ausdehnung unwirklich wie ein Traum oder ein Märchen.

Das Kriegsschiff steuerte auf zinnenbewehrte Mauern zu, die sich, soweit das Auge reichte, scheinbar direkt aus dem Meer erhoben. Eckige Türme, runde Türme, Türme mit Dächern geformt wie eine Speerspitze oder Türme mit Abdeckungen, die die Zwillinge an Schildkrötenpanzer erinnerten, Türme jedweder Form und Größe unterbrachen meerseitig diese gigantische Stadtumwallung. Die Galeere glitt vor eine Mole, an der etliche Kriegsschiffe lagen. Dahinter erhob sich mit dem Stadtwall verbunden ein Kastell. Jannis zählte sieben Türme.

„Wir scheinen hier anzulegen“, flüsterte Kosta und verstummte sogleich. Der bleichgesichtige Dicke mit dem kostbaren Gewand und der sternförmigen Narbe über der rechten Augenbraue näherte sich mit zwei von seinen Schwertträgern. Kostas Fußfesseln wurden gelöst. Ihm wurde befohlen, sich die Beine zu massieren, dann zerrten ihn die Soldaten hoch und führten ihn an die Reling.

Obwohl er den Matrosen mit dem Bambusrohr fürchtete, der durch die Reihen der Gefesselten patrouillierte, rief ihm Jannis nach: „Denk an unseren Schwur, Bruder!“ Der Matrose holte aus. Das Bambusrohr pfiff durch die Luft und traf klatschend auf Jannis’ Rücken.

Das große Beiboot der Galeere war bereits zu Wasser gelassen worden und Seeleute warfen eine Strickleiter über die Reling. Die Schwertträger durchschnitten nun auch Kostas Handfesseln. Mit blanker Klinge zwangen sie ihn, über die Bordwand zu klettern.

„Ja, Bruder, ich gelobe!“ rief Kosta noch, ehe sein Kopf unsanft von den Schwertträgern die Leiter nach unten gedrückt wurde.

‚Maria hilf!‘, betete Jannis. ‚Hilf, dass sie ihn nicht verschneiden!‘

II) Jannis’ Geschichte

1. Kapitel – Im Vorhof des Yeni Saray

Als Kosta weg war, fühlte sich Jannis elend wie noch nie in seinem Leben. Solange er mit dem Bruder wenigstens täglich ein paar heimliche Worte wechseln konnte, war ihm sein Los noch einigermaßen erträglich erschienen, aber nun versank er in Hoffnungslosigkeit und begann, stumm vor sich hin zu brüten.

Die Galeere nahm wieder Fahrt auf und hielt sich parallel zum Seewall. Im Osten zeigte sich ebenfalls Land. Auch dort gab es große Steinbauten, aber die Ansiedlungen waren nicht so eindrucksvoll von Mauern und Wehranlagen geschützt wie die Stadt, an deren Befestigungen das Kriegsschiff gerade entlanggerudert wurde.

Hinter dem Siebenturm-Kastell und der Seemauer erhoben sich zahlreiche Hügel. Fast alle krönten große Kuppelbauten, neben denen lanzengleiche Türme standen. Jemand raunte ihm zu, dass diese Kuppeln die Kirchen und Tempel der Muselmanen wären. Jannis spuckte aus. Er sah auf dem Rücken einer Seemauerzunge prachtvolle Gebäude, terrassierte Gärten und eine lange Reihe von grau gewölbten Dächern mit rohrartigen Auswüchsen.

Die ansonsten wenig gesprächigen Bewacher der Knaben wiesen ehrfurchtsvoll nach oben und sagten, dass sich dort das Neue Saray, das Yeni Sarayı, der Palast des allmächtigen Sultan Süleyman befinde. Jemand nannte den Palast auch Dar-üs Saadet, Haus der Glückseligkeit. Erneut spuckte Jannis aus.

Das Kriegsschiff begann die Landspitze, auf der der Palasthügel lag, zu umrunden. Ein prächtiges, geschlossenes Tor in der Saray-Mauer, das Topkapi, das „Tor der Kanonen“, das von zwei wehrhaften Türmen flankiert wurde, stand dicht an der Uferlinie.

Eine breite Meerenge tat sich auf. „Das ist der Bosporus“, flüsterte ein Knabe hinter Jannis. Gleich darauf glitt das Schiff nach Westen in eine seitliche Bucht dieser Meerenge. Jannis’ Hintermann wusste auch den Namen dieses Seitenarms: Goldenes Horn.

An dessen Nordufer, fast genau dem Neuen Saray gegenüber, befand sich auf einer Erhebung und dicht am Wasser ebenfalls eine Stadt. In ihrer Mitte erhoben sich unterhalb des Hügels ein gewaltiger runder Turm mit einer spitzen Haube und mehrere wuchtige Kuppelbauten.

Die Galeere steuerte tiefer in den Seitenarm hinein und machte dann an einer Kaimauer der Palastuferseite fest. Rechts und links von den Soldaten eskortiert marschierten die Knaben in Dreierreihen durch die Stadt. Man hatte ihnen die Fesseln abgenommen. In ihrer auffälligen roten Kleidung wären sie im Fall eines Fluchtversuchs keine drei Schritte weit gekommen, denn überall liefen die Städter zusammen und säumten ihren Weg. Kinder und Alte, verschleierte Frauen, Bettler und prächtig gekleidete Herren, alle drängten sie sich heran, um einen Blick auf die Devschirme-Knaben werfen zu können.

Jannis, der als Fischer die Orientierung auch bei völliger Dunkelheit auf dem offenen Meer nie verloren hatte, war bald nicht mehr in der Lage zu bestimmen, in welche Himmelsrichtung man sie trieb. Die teils mit mehrgeschossigen Holzhäusern gesäumten gewundenen Gassen in der Stadt des „Gesetzgebenden“ glichen einem unendlichen Irrgarten. Und überall wohnten und arbeiteten Menschen! An den hohen Kirchenfesten auf den Heimatinseln waren auch alle Bewohner zusammengekommen, aber nie waren es annähernd so viele gewesen wie hier in einer einzigen Gasse der Sultansstadt an einem Tag, der ein ganz normaler Tag zu sein schien. Jannis fiel auf, dass alle Holzhäuser einfarbig angestrichen waren. Es gab graue und dunkelgraue, etliche rote oder gelbe und nur sehr wenige schwarze; grüne oder blaue Häuser sah er keine.

Nachdem die Devschirme-Knaben an mehreren riesigen, berghohen Kirchen der Muselmanen vorbeimarschiert waren, neben denen immer speergleiche Türme sich gen Himmel reckten, gelangten sie schließlich an ein großes, sich über zwei Stockwerke ausdehnendes Tor, dessen Flügel weit geöffnet waren. Rechts und links vom Eingang befand sich eine Reihe von Nischen, in denen Männerköpfe lagen. Einer sah aus, als wäre er gerade erst vom Rumpf seines Besitzers getrennt worden, denn niemand hatte dem Schädel des Enthaupteten die Augen geschlossen. Später erfuhr Jannis, dass dieser Palasteingang den poetischen Namen Bab-i Hümayun trug, das „Tor des vom Paradiesvogel beschatteten Kaisers“.

Wächter mit braunen Turbanen auf dem Kopf, aber ansonsten ähnlich gekleidet und bewaffnet wie die Soldaten von der Galeere, bewachten dieses Portal, das auf einen weiten Hof führte. Der Hof bildete ein unregelmäßiges Rechteck und war von steinernen Bauten umstanden. Auch gleich linkerhand hinter dem Tor gab es etliche Gebäude, teils aus Marmor oder aus Felsstein gemauert, teils aus Holz errichtet. Am Hofende lag eine mit niedrigem Gras bewachsene Fläche. Dort erhob sich eine riesige Platane, unter der, bewacht von Soldaten, eine lange Reihe großer Bronzekessel aufgereiht stand. Gepflasterte Wege durchschnitten den Hof in alle Richtungen. Ein weiteres Tor, flankiert von zwei spitzen Türmen, öffnete sich an der Stirnseite des Hofes.

Jannis sah Hunderte von Menschen, die allen möglichen Beschäftigungen nachgingen. Einige schleppten riesige Holzbündel, andere schoben Karren mit Mehlsäcken, wieder andere fegten die Wege. Dennoch herrschte eine geradezu gespenstische Ruhe. Das lauteste Geräusch war das Plätschern zahlreicher Brunnen und das Zwitschern von Vögeln auf den Dächern der steinernen Häuser.

Man führte die Jungen in ein Gebäude, in dem man sie mit Bohnensuppe und Fladenbrot speiste und ihnen zu trinken gab. Danach mussten sie wieder in den Hof zurück und sich zu zehnt in vier Reihen hintereinander auf der Grasfläche mit der riesigen Platane aufstellen. Andere Soldaten als die, die sie nach Istanbul geführt hatten, umringten sie. Nur der Tschorbadschi der Galeerensoldaten war auch unter den Saray-Janit-scharen. Wieder berührte Jannis die Stille, die inmitten der vielen Menschen herrschte.

Jannis kam trotz aller Furcht, die ihn befallen hatte, seit Kosta von ihm getrennt worden war, aus dem Staunen nicht heraus, und seinen Schicksalsgefährten erging es ähnlich. Daheim auf der Insel gab es auch Häuser aus Stein, aber sie waren, verglichen mit den Hofgebäuden, winzig wie Ziegen- oder Schafställe. Und die in den Himmel ragende Kuppel hinter der Torseite des Hofes, von der er nun wusste, dass es ein Gotteshaus der Muslime war, wie oft mochte die kleine Kapelle von Thiratois darin wohl Platz finden?

Aus einem Gebäude, vor dem wie unter der Platane mehrere große bronzene Kochkessel standen, die jedermann, der daran vorbeiging, mit einer tiefen Verbeugung grüßte, traten weitere Soldaten auf den Hof. Sie bildeten einen weiten Ring um die Knaben. Einer, offenbar ihr Befehlshaber, trug ebenfalls eine hohe weiße Filzmütze, aber an der Stelle des Stofffutterals über der Stirn, in dem bei den einfachen Soldaten der Suppenlöffel steckte, war bei ihm eine aus Goldblech gefertigte geschlossene Hülse befestigt. Auch war seine Kleidung unvergleichlich prunkvoller. Als Zeichen der Würde hielt er ein armlanges silbernes Zepter in der Hand. Langsam und wortlos schritt er die Reihen der Knaben ab und musterte jeden von Kopf bis Fuß. Dann ging er auf den Hauptmann der Galeerensoldaten zu, der neben den Knaben stand und nun ein braunes, ledergebundenes Buch aufschlug. Ein Begleiter des Befehlshabers öffnete ein Ähnliches. Es war das Buch des Kadi, der die Knabenlese auf dem Festland im Südosten von Pharnox, Pserlendos und Thiratois geleitet und dieses Buch, wie es die Vorschrift besagte, mit einer anderen Galeere auf gesondertem Weg nach Istanbul geschickt hatte.

Mit gedämpfter Stimme las der Begleiter des Befehlshabers die Namen der Knaben vor. Die Aufgerufenen hatten einen Schritt vorzutreten. Der Befehlshaber schaute in das Buch des Hauptmanns, musterte die betreffenden Knaben erneut und nickte dann, worauf diese sich wieder einzureihen hatten.

Der Begleiter des Befehlshabers las weitere Namen, die Prozedur wiederholte sich, bis alle vierzig Knaben aufgerufen worden waren.

Als Jannis und Spiro, der Junge, den die Soldaten in Pserlendos geraubt hatten, vortraten, standen dem Hauptmann Schweißperlen auf der Stirn.

Aber die geschickten Korrekturen an zwei Zeilen der Liste, die einer der Weißen Eunuchen bereits auf dem Schiff vorgenommen hatte, wurden vom Befehlshaber, dem Agha der Janitscharen, nicht bemerkt. Und er ahnte nicht, dass sein Offizier, der die Namen verlas, von einem verschnittenen Großherrlichen Saray-Wächter mit einer markanten Stirnnarbe aufgesucht worden war, während man die Knaben gespeist hatte.

Sowohl im Buch des Hauptmanns als auch in dem des Offiziers waren die Namen Theodosius gegen Jannis, und der eines gewissen Leonidas gegen Spiro meisterhaft ausgetauscht worden.

Als alle Namen aufgerufen worden waren, hielt der Janitscharen-Agha eine kurze Ansprache in der Sprache der Muselmanen, die einer seiner Offiziere übersetzte:

„Ihr seid von nun an Söhne des Sultans. Erweist euch seiner Gnade würdig!“

Die Sonne begann zu sinken. Der Befehlshaber und sein Begleiter kehrten in das Steinhaus zurück. Der weite Ring, den die Soldaten um die Knaben bildeten, öffnete sich. Auch der Hauptmann von der Galeere trat mit einer tiefen Verbeugung zur Seite und ließ eine große Gruppe bärtiger Männer vorbei. Der Jüngste von ihnen mochte das Alter des Tschorbadschi haben, der älteste hingegen sah aus wie ein Greis. Die Männer trugen hohe Filzmützen, die denen der Soldaten ähnelten, aber keinen Rückenschleier hatten. Ihre Oberkleidung bestand aus mit derben Stricken umwundenen, dunkelfarbigen wollenen Mantelkutten, deren Saum fast bis an die Erde reichte.

‚Aus der Entfernung könnte man sie leicht mit Popen verwechseln‘, dachte Jannis. Der Pope auf Pharnox hatte auch einen langen Vollbart und kleidete sich in ähnlich dunkle Gewänder. Erst jetzt fiel Jannis auf, dass außer dem Befehlshaber keiner der Soldaten einen Kinnbart trug.

Die Bärtigen gesellten sich zu den Knaben und redeten freundlich auf sie ein. Sie sprachen nicht, wie man auf Jannis’ Heimatinseln redete, aber er verstand alles, was sie sagten.

Die Bärtigen bedeuteten den Jungen, Platz zu nehmen und setzten sich zu ihnen ins Gras. Es waren genauso viele Männer wie Knaben. Vor Jannis hockte sich ein dürrer Alter mit schütterem weißem Kinnbart hin. Sein Gesicht war wettergegerbt. Jannis schaute trotzig zu Boden.

„Friede sei mit dir! Wie heißt du, mein Sohn?“

Jannis hatte eine Greisenstimme erwartet. Er war erstaunt, dass die Worte des Alten zwar fast geflüstert, aber dennoch kräftig und klar wie die eines jungen Mannes waren. Der Bärtige sprach griechisch, langsam und bedächtig, ähnelte darin dem Popen auf Pharnox, der aus dem fernen Kreta stammte, wo alle so redeten, als würden Steine die Zungen beschweren – das jedenfalls hatte die Mutter immer behauptet.

„Jannis. Ich heiße Jannis.“ Der Knabe schaute hoch und blickte in ein Paar strahlend blauer Augen, leuchtende, wache Augen, wie sie auch der Vater gehabt hatte.

„Weißt du, wo du hier bist?“

„Nein.“

„Du befindest dich im Ersten Hof, dem Vorhof des Neuen Sarays unseres erhabenen Sultans – Gott schütze ihn! Es ist sein Großherrlicher Wille, dass hier im Palast kein lautes Wort fällt, also halte dich daran und senke deine Stimme, wenn du mir antwortest.“

Jannis blickte in die Runde. Das also war der berühmte Palast des „Gesetzgebenden“, den er vom Schiff aus gesehen hatte! Wenn schon der Vorhof so beeindruckend war, wie prachtvoll musste dann wohl erst das Innere des Sarays sein?

„Du bist doch ein Christ, mein Sohn, oder?“ Der Bärtige verschränkte die Arme.

„Ja“, sagte Jannis stolz. „Ich bin getauft worden.“

Der Alte nickte freundlich. „Das ist gut, denn das bedeutet, dass du an Gott glaubst und dass du glaubst, dass er allmächtig sei. Auch wir glauben an ihn, aber wir nennen ihn Allah.“

Jannis und Kosta waren zwar sonntags und an den hohen Feiertagen mit den Eltern und nach dem Tod des Vaters häufiger als zu dessen Lebzeiten mit der Mutter nach Pharnox gesegelt, um dort an den Gottesdiensten in der Kirche teilzunehmen, aber so richtig hatten sich weder er noch der Bruder dafür interessiert, was der Pope zelebrierte und redete. Als die Mutter Witwe wurde, hatte sie ebenso begonnen, die kleine Kapelle auf Thiratois regelmäßig zu besuchen, um zu beten und Kerzen vor der Marien-Ikone zu entzünden, die einst von der Großmutter Iolanthe gestiftet worden war. Am meisten hatte die Knaben beeindruckt, wenn der Pope aus der Bibel vorlas, denn niemand sonst auf den Inseln war des Lesens oder Schreibens mächtig.

„Aber wenn du irgendetwas nicht verstehst, mein Sohn, frage mich ohne Scheu.“

Jannis überlegte einen Augenblick und sagte dann: „Du sagst mir, dass ihr an Gott glaubt, den ihr Allah nennt. Aber glaubt ihr auch an die Heilige Jungfrau Maria?“

„Sicher, mein Sohn. Wir verehren sie auch, schließlich ist sie die Mutter des Propheten Jesus.“

Diese Antwort überraschte Jannis. Der Pope hatte von den Muselmanen immer behauptet, dass sie den Teufel verehrten, da sie Jesus nicht anbeten würden. Verehren und anbeten, gab es da einen Unterschied? Und warum nannte der Alte Jesus einen Propheten wie Moses? Jesus war doch Gottes Sohn!

„Weißt du, wer wir sind?“ Der Alte deutete auf die anderen bärtigen Kuttenträger.

Jannis schüttelte den Kopf.

„Wir sind Derwische und eifern unserem schon lange verstorbenen Meister Hadschi Bektasch nach. Hast du schon einmal von ihm gehört? Er war ein großer Diener Gottes.“

„Nein. Ich kenne ihn nicht.“

„Ich will dir erzählen, was er gepredigt hat.“

Die Soldaten hatten die Bärtigen voller Ehrfurcht begrüßt. Der Alte war demzufolge trotz der milden Augen ein Freund seiner Peiniger. Jannis nahm sich vor, den sanften Worten des Derwischs keinen Glauben zu schenken, mochte der auch mit Engelszungen auf ihn einreden.

Lange sprach der Bärtige über das, was sein Meister gelehrt hatte. „‚… und ob Christ oder Jude, ob Feueranbeter oder ohne Religion, Allah seid ihr alle gleichermaßen willkommen!‘, hat der Hadschi Bektasch gesagt. Auch dich, meinen Sohn, der du ein Christ bist, wird Er in seiner unermesslichen Güte und Gerechtigkeit nicht abweisen.“ Der Alte rupfte einen Grashalm aus. „Ohne die Liebe des Allmächtigen verdorrt der Mensch wie welkes Laub. ‚Wer nicht an Allah und seine Engel glaubt, an die Schriften und seine Propheten und an den Jüngsten Tag, der ist in einem großen Irrtum befangen.‘ So steht es in dem Heiligen Buch Koran geschrieben, das Allah dem Propheten Mohammed offenbart hat. Im Koran steht aber auch: ‚Den, der sich zu Ihm, der ohne Ebenbild und einzig ist, bekennt, den wird Er ins Paradies führen.‘“ Der Alte warf den Grashalm fort und begann, die blauen Steinperlen einer Kette durch die Finger gleiten zu lassen.

‚Die Mutter besitzt eine ähnliche Gebetskette, nur sind die Perlen aus poliertem Holz‘, dachte der Knabe. ‚Der Pope hat zwar nicht ‚Allah‘ gesagt, aber so ähnlich wie der Alte hat er auch immer geredet.‘

„Morgen früh wird man euch alle beschneiden“, sagte der Derwisch unvermittelt.

Jannis starrte den Bärtigen erschrocken an. Es stimmte also, was man sich manchmal schon auf den Inseln erzählt hatte, dass die Muselmanen Knaben einfingen, um sie zu verschneiden, wie man es den Stieren antat, damit sie fett und gefügig wurden. „Wenn man mich oder Kosta verschneidet, dann, dann …“ Der Knabe presste die Lippen aufeinander und ballte die Fäuste. Und ihm erschien das Bild des Bruders vor Augen, als der mit den fetten Kastraten von der Galeere gegangen war.

Der Alte lachte verhalten. „Ich sagte ‚beschneiden‘, nicht ‚verschneiden‘, mein Sohn! Jeder, der an Allah und Mohammed, seinen Propheten, glaubt, ist beschnitten worden, ich bin es, der Tschorbadschi und alle Soldaten sind es. Sehen wir etwa fett und träge aus wie kastrierte Kater? Ich verspreche dir, euch wird morgen nichts Schlimmes zugefügt werden! Man bringt euch in das Hospital der Palastschule.“ Der Alte zeigte auf ein Gebäude gleich neben dem Eingangstor. „Dort entfernt man dir das vorderste Stück der Haut von deinem Glied mit einem scharfen Messer, und es schmerzt auch nicht besonders. Danach sehen wir uns wieder. Im Übrigen ist es Muslimen strengstens verboten, Menschen und sogar Tiere zu verschneiden.“

„Aber die dicken Männer, die mich und meinen Bruder von unserer Insel geraubt haben, waren Verschnittene und Muselmanen. Sie haben an Deck der Galeere die Gebete verrichtet wie alle anderen auch!“

„Dass Kastratensklaven des Großherrlichen Haushaltes auf einer Devschirme-Fahrt mit dabei waren und wie die Janitscharen Rechtgläubige sind, das mag natürlich so gewesen sein. Dennoch: Muslime dürfen niemanden verschneiden!“

„Aber …“

„Man überlässt die Arbeit den Heiden oder Christen, mein Sohn. Sei ohne Sorge, auch dein Bruder wird bestimmt nicht zum Kastraten gemacht.“

Es war unterdessen dunkel geworden. Der Alte erhob sich. Man trieb die Knaben in ein anderes von den Steinhäusern, wo man sie erneut speiste. Unter den Pilaw, den sie dieses Mal vorgesetzt bekamen, waren saftige Hammelfleischstücke gemischt. Danach verteilten die Soldaten Decken und dünne Schlafmatten. Zum ersten Mal nach seiner Gefangennahme durfte Jannis frei mit seinen Leidensgenossen sprechen. Von den Inseln in der Nähe von Pharnox, Pserlendos und Thiratois stammte keiner der Jungen. Alle kamen von der Festlandküste im Osten des heimatlichen Archipels.

Jannis’ Hauptsorge war, was wohl die dicken Verschnittenen mit dem Bruder vorhaben mochten, und er fand in der kommenden Nacht keinen Schlaf. Immer wieder musste er auch an die Mutter und die Schwester daheim denken, die sich wegen ihres plötzlichen Verschwindens bestimmt zu Tode grämten. Erst als es zu dämmern begann, übermannte Jannis die Müdigkeit.

Der Zufall wollte es, dass er als Erster kurz nach Sonnenaufgang vom Tschorbadschi zur Beschneidung aufgerufen wurde. Als er sich nicht sofort erhob, zog der Hauptmann den Säbel und knurrte: „Wenn du nicht augenblicklich …“

Angesichts der blanken Klinge an seiner Halsschlagader zog es der Knabe vor, der Aufforderung besser Folge zu leisten.

Zwei Soldaten führten den Widerwilligen mit festem Griff aus dem Schlafsaal. Der Himmel war bewölkt, und es wehte ein frischer Wind. Auf dem großen Ersten Hof des Sarays herrschte bereits wieder geschäftiges Treiben, ohne dass ein menschlicher Laut zu vernehmen war. Männer mit hochbepackten Gemüsekörben wichen einer Reiterschar in kostbaren scharlachroten Gewändern aus, die auf das Hoftor zutrabte, Gärtner mit weichen Kappen auf dem Kopf bepflanzten einen Wegrand mit niedrigen Büschen und ein Trupp Soldaten besserte unter der Aufsicht eines Hauptmanns eine Mauer aus.