Unter der Erde - Stephan Ludwig - E-Book
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Unter der Erde E-Book

Stephan Ludwig

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Beschreibung

Was verbirgt ein ganzes Dorf? – der neue Thriller von Stephan Ludwig, dem Autor der Kult-Bestseller-Reihe »Zorn« Volkow, ein Dorf am Rand eines riesigen Tagebaugebiets. Täglich fressen sich die Bagger näher heran, in einigen Monaten wird das Dorf verschwunden sein. Doch die Bewohner bleiben, »man kümmert sich umeinander«. Das erfährt Elias Haack am eigenen Leib, als er an einem heißen Sommertag nach Volkow kommt. Die Neugier auf seinen Großvater Wilhelm hat ihn in das so malerische wie abgelegene Dorf gebracht. Elias hat Wilhelm seit über dreißig Jahren nicht mehr gesehen, doch das Wiedersehen währt nur kurz. Wilhelm stirbt, und Elias strandet bei der Suche nach seiner Herkunft, die weit in die Vergangenheit reicht, in Volkow. Es führt zwar ein Weg ins Dorf, aber wie es scheint, keiner mehr heraus. Je länger er im Haus seines Großvaters bleibt, desto merkwürdiger kommen ihm die Dorfbewohner vor. Warum harren sie aus, obwohl die Bagger von Tag zu Tag näher rücken? Was haben sie zu verbergen? Und was hat das alles mit Elias zu tun?

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Seitenzahl: 439

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Stephan Ludwig

Unter der Erde

Thriller

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Inhalt

Erster Teil »Was, zum Teufel, mache ich eigentlich hier?«Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Zweiter Teil Im Tal der brennenden BlumenKapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Dritter Teil Unter der ErdeKapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Vierter Teil Der MeisterKapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Fünfter Teil Der Horrorschriftsteller, die Wahrheit und das Ende einer blutigen GeschichteKapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Kapitel 45Kapitel 46Kapitel 47Kapitel 48Kapitel 49Kapitel 50Erster Teil »Was, zum Teufel, mache ich eigentlich hier?«Kapitel 1[Hinweis zum Verlagsnewsletter]

Erster Teil»Was, zum Teufel, mache ich eigentlich hier?«

Kapitel 1

Diese Hitze. Diese fürchterliche Hitze.

Der Passat rollte über die Landstraße nach Osten. Die Tachonadel stand exakt auf hundert, das Außenthermometer zeigte zweiunddreißig Grad. Elias Haack, der sich als Schriftsteller E. W. Haack nannte (klingt profunder, hatte ihm Hermine, seine Agentin, vor der Veröffentlichung seines ersten Buches gesagt), stieß einen leisen Fluch aus. Ein stickiger Luftstrom wehte ihm aus den verchromten Lüftungsklappen entgegen. Er war jetzt seit drei Stunden unterwegs. Irgendwann, kurz nachdem er die Autobahn verlassen hatte, musste die Klimaanlage ihren Geist aufgegeben haben.

Der Mann, dessen neuestes Buch gerade auf Platz fünf der Spiegel-Bestsellerliste stand (Taschenbuch-Liste, verbesserte er sich in Gedanken, aber das war besser als nichts), musste dringend pinkeln. Er starrte aus zusammengekniffenen Augen auf die im Sonnenlicht flimmernde Fahrbahn, die sich schnurgerade durch einen Kiefernwald zog. Nach ein paar Minuten fand er eine geeignete Stelle, bremste, der Passat kam mit knirschenden Reifen auf der Einmündung eines Forstwegs zum Stehen.

Als er die Tür öffnete, schlug ihm die Luft wie ein heißes Handtuch entgegen. Ächzend stemmte er sich aus dem Sitz, schirmte die Augen mit der Hand ab, sah sich kurz um und stakste dann steifbeinig ein paar Meter in den Wald, bis ihm eine schiefe, rot-weiß gestrichene Schranke den Weg versperrte. BEFAHREN FÜR UNBEFUGTE VERBOTEN!, verkündete ein rostiges Blechschild, LANDWIRTSCHAFTL. NUTZFAHRZEUGEFREI, war darunter zu lesen.

Elias öffnete den Reißverschluss seiner Jeans, ein kurzer Blick über die Schulter (was unnötig war, in den letzten Minuten war ihm kaum ein halbes Dutzend Autos entgegengekommen), dann strömte der Urin des Mannes, dessen Konterfei vor zwei Monaten die Titelseite des Stern-Crime-Magazins geschmückt hatte, in den sandigen Waldboden. Deutschlands neuer Fantasystar!, hatte die Überschrift des Artikels gelautet, was, wie sich herausgestellt hatte, ein wenig übertrieben gewesen war. Sicherlich, seine Bücher verkauften sich gut, das letzte, Planet der Verdammten, war bereits in der dritten Auflage. Doch ein Star war aus E. W. Haack noch lange nicht geworden (das W war die Abkürzung von Wilhelm, seinem zweiten Vornamen), obwohl er sich keine Sorgen um seinen Lebensunterhalt machen musste.

Er lauschte dem Plätschern, dem Sirren der Mücken, dem Rascheln der Baumkronen über seinem Kopf. Das weiße Hemd klebte ihm verschwitzt am Rücken, er bewegte den steifen Nacken, verzog das Gesicht. Seine Muskeln waren verspannt, das Pinkeln, so schien es ihm, dauerte länger als früher.

Trotzdem, für einen Mann, der im nächsten Monat seinen vierzigsten Geburtstag feierte, fühlte er sich noch relativ gut in Schuss. Relativ wohlgemerkt, denn besonders sportlich war er nie gewesen, und die letzten Jahre, die er hauptsächlich im Sitzen hinter dem Schreibtisch verbracht hatte, hatten natürlich kaum etwas daran geändert. Seine Bewegungen waren steif, ein wenig unbeholfen, der Bauch wölbte sich über dem Gürtel. Das aschblonde Haar war vorzeitig ergraut, die Geheimratsecken unübersehbar und der Zopf, den er seit seiner Jugend trug, war zu einem dünnen, farblosen Schwänzchen mutiert.

Elias schloss den Hosenstall, wandte sich um. Der Passat stand schräg am Straßenrand, aufgewirbelter Staub trieb in trägen Schwaden davon. Ein Traktor tauchte auf, kam mit dröhnendem Motor näher. Der Fahrer trug einen fleckigen Overall, sein Gesicht lag im Schatten einer Schirmmütze. Elias versteifte sich, als er die Zigarette im Mundwinkel des Bauern bemerkte. Vor zwei Monaten (neunundfünfzig Tagen, um genau zu sein) hatte er mit dem Rauchen aufgehört. Zweieinhalb Schachteln täglich waren es gewesen, bisher (klopf auf Holz, Schätzchen!) hatte er durchgehalten. Es war schwer, verdammt schwer, selbst jetzt noch musste er sich zwingen, keine weggeworfene Kippe von der Straße aufzuheben oder an einem vollen Aschenbecher zu riechen.

Breitbeinig hockte der Bauer hinter dem Steuer, würdigte Elias keines Blickes und zuckelte, die Augen stur geradeaus gerichtet, vorbei, eine Hand am Lenkrad, die andere auf dem Knie. Hinter ihm türmten sich riesige Strohballen, Spreu wehte über die Fahrbahn. RETTETUNSERELAUSITZ war auf einem Aufkleber an der Stoßstange des Hängers zu lesen. SCHLUSSMITDEMTAGEBAU!

Elias stieg in den Wagen, startete den Motor. Prüfend hielt er die Hand vor die Lüftungsschlitze, brummte frustriert, als er den unverändert klebrig heißen Luftstrom bemerkte, und legte den Gang ein. Als der Passat mit knirschenden Reifen anfuhr, klingelte sein Handy. Eine Frauenstimme drang aus der Freisprechanlage.

»Bist du schon da?«

Martha, seine Frau. Wie immer nahm sie sich nicht die Zeit für eine Begrüßung. Nach knapp zehn Ehejahren war das auch nicht mehr nötig.

»Bald, hoffe ich.«

»Fahr vorsichtig, ja?«

Ihr Tonfall erinnerte ihn manchmal an die Art, wie sie mit ihren Studenten sprach. Martha unterrichtete Politikwissenschaften an der Hochschule, eine untersetzte, in den letzten Jahren etwas füllig gewordene Frau mit dunklen Augen.

»Sicher doch.« Er sah auf das Navigationsgerät. »Noch zwanzig Kilometer, ich hab’s also bald geschafft. Keine Ahnung, wo genau ich hier bin. Irgendwo in der Nähe der polnischen Grenze, mitten in der Pampa.«

Der Wald hatte sich gelichtet. Vereinzelte Bäume säumten den linken Straßenrand, rechts tauchte ein Tagebau auf. Ein riesiges kraterförmiges Loch klaffte in der Erde, monströse Bagger fraßen sich wie urzeitliche Ungetüme durch den Lehm, Staub wirbelte durch die flirrende Luft.

»Die Champagnerflasche auf dem Küchentisch«, sagte Martha, »ich nehme an, die hattest du als Geschenk gedacht?«

»So ein Mist!« Elias hieb auf das Lenkrad. »Die hab ich vergessen.«

»Schenk ihm eins von deinen Büchern.« Martha klang amüsiert. »Du hast doch welche im Kofferraum. Ich kenne ihn zwar nicht, aber nach allem, was du erzählt hast, dürfte ihm das gefallen. Blutiges Vermächtnis zum Beispiel.«

»Sehr witzig.«

»Dann halt irgendwo an und besorg was.«

»Und was? Ich bin hier auf dem Mond, Martha. Hier gibt’s nichts, nicht mal Tubennahrung.«

Elias stieß frustriert die Luft aus, bremste an einer Kurve und kniff die Augen zusammen, als ihm die Sonne direkt ins Gesicht schien. Was, dachte er und klappte die Sonnenblende herunter, soll man jemandem schenken, den man nicht kennt? Klar, er ist mein Großvater, er hat mich zu seinem neunzigsten Geburtstag eingeladen, doch er ist ein Fremder, den ich zuletzt gesehen habe, als ich gerade das Sprechen gelernt hatte.

Die Ansichtskarte war vor zwei Wochen mit der Post gekommen. Einladung zum 90. Geburtstag, hatte sein Großvater in zittriger Altmännerschrift geschrieben. Es wäre nett, wenn Du erscheinst. Gruß, Wilhelm. Darunter Datum, Uhrzeit und Adresse, mehr nicht. Die Karte war alt und vergilbt, auf der Vorderseite war die malerische Ansicht eines kleinen Dorfes abgebildet gewesen, in der Mitte ein Aufdruck: GRUSSAUSVOLKOW – PERLEDERLAUSITZ. Elias hatte das Dorf gegoogelt und zu seiner Überraschung eine Menge Treffer gehabt. Allerdings nicht wegen der Sehenswürdigkeiten. In ein paar Monaten würde der Ort, in dem sein Großvater lebte, nicht mehr existieren und der Braunkohle weichen.

»Aber eine Tankstelle wird’s doch irgendwo geben«, sagte Martha.

»Und was soll ich ihm dort kaufen? Scheibenreiniger?«

»Blumen, Elias.«

Er hörte förmlich, wie sie die Augen verdrehte. Am Abend würde sie zu einer Tagung nach Hamburg fahren, er hatte trotzdem gefragt, ob sie ihn begleiten wolle. Marthas Antwort war typisch gewesen:

Er hat dich eingeladen, Elias. Nicht mich.

Kein Wunder, hatte Elias erwidert, er weiß ja nicht mal, dass du existierst.

Das, hatte Martha entgegnet, würde sich ja nun ändern und falls der alte Herr die brave Ehefrau seines Enkels kennenlernen wolle, könne er sie jederzeit zu sich einladen. Allerdings, hatte sie hinzugefügt, sollte er sich beeilen. Dein Großvater ist alt, seine Zeit läuft ab. Ich denke, das ist der Grund, warum er dich sehen will. Was immer er dir nach über dreißig Jahren zu sagen hat, er sollte es dir allein sagen. Danach sehen wir weiter.

»Hermine hat angerufen«, sagte sie jetzt.

»Ich rufe zurück.«

Das würde Elias tun, natürlich, allerdings nicht heute. Seine Agentin wollte wissen, wie er mit dem neuen Buch vorankommt. Ein unangenehmes Thema. Seit zwei Monaten hatte er kein Wort zu Papier gebracht. Allmählich wurde es Zeit.

»Vielleicht«, er lockerte den Sicherheitsgurt über der verschwitzten Hemdbrust, »mache ich was mit Zombies. Eine verlassene Insel oder ein verstrahltes Kraftwerk.«

»Wenn du meinst.«

Ihr Tonfall klang sachlich, doch nach einem knappen Jahrzehnt zufriedener Ehe wusste Elias sofort, dass Martha die Idee nicht mochte. Sie war eine kluge Frau, eine Akademikerin, die seit zwei Jahren an ihrer Doktorarbeit über die Geschichte der baltischen Staaten im Zweiten Weltkrieg schrieb, Horrorgeschichten waren meilenweit unter ihrem Niveau. Und doch las sie jedes Wort, das Elias in seinen Rechner tippte, und abends, wenn sie bei einem Glas Rotwein zusammensaßen, analysierte sie seine Geschichten, präzise und ernsthaft, als spräche sie über eine Dissertation. Elias genoss diese Gespräche, neben Hermine war Martha die Einzige, mit der er ehrlich über seine Bücher reden konnte.

»Zombies sind ausgelutscht, oder?«

»Ach, Elias.« Ein Seufzen drang aus den Lautsprechern.

Alles, was ich mache, überlegte Elias, ist ausgelutscht.

Ein Gedanke, der nichts mit Selbstmitleid zu tun hatte. Im Gegenteil, es handelte sich um das nüchterne Ergebnis langen Nachdenkens. E. W. Haack lieferte Massenware, er schrieb das, was man von ihm erwartete. Sicherlich, er sehnte sich nach Anerkennung, richtiger Anerkennung, einer Erwähnung im Spiegel oder im Literaturteil der Zeit vielleicht. Selbst einen Verriss hätte er in Kauf genommen, doch diese Leute ignorierten ihn, er war Luft für sie und die Rezensionen auf Amazon – ungelenke, unbeholfen in den Rechner getippte Liebeserklärungen seiner Leserschaft – trösteten wenig, auch wenn es Hunderte waren. Im Grunde genommen war er kein Schriftsteller, sondern ein Dienstleister, der für sein nächstes Produkt einen Vorschuss von vierzigtausend Euro auf dem Konto hatte.

Das Problem war, dass er nicht die leiseste Ahnung hatte, worüber er als Nächstes schreiben sollte. Zombies. Werwölfe. Vampire. Alles war ausgelutscht. Alles. Was immer er auch veröffentlichen würde, keiner von diesen sogenannten Kritikern würde eines seiner Bücher auch nur mit der Zange anfassen.

»Wer kann dich mal kreuzweise, Elias?«

Marthas Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.

»Was?«

»Ihr könnt mich mal kreuzweise, hast du gerade gesagt.«

»Ach«, murmelte er, »das war nicht wichtig.«

Ein Bus tauchte vor ihm auf, Elias bremste ab, schaltete einen Gang hinunter. Ein Junge, vier, vielleicht fünf Jahre alt, kniete auf der Rückbank und sah zwischen den Kopfstützen durch die verstaubte Heckscheibe auf Elias hinab.

»Wann geht dein Zug?«, fragte er.

»In zwei Stunden.«

Die Bremslichter des Busses flackerten. Elias nahm den Fuß vom Gas, hob den Kopf. Der Junge auf der Rückbank starrte zu ihm hinab. Als ihre Blicke sich trafen, streckte der Kleine die Zunge heraus.

»Hab eine gute Fahrt«, sagte Elias.

»Ich …« Marthas Worte gingen in statischem Rauschen unter. »Melde mich … im Hotel … bin.«

Er sah zum Armaturenbrett. Das Display neben dem Lenkrad zeigte nur einen Empfangsbalken. Der Bus hustete eine Dieselwolke aus, der Passat zuckelte mit fünfzig Stundenkilometern hinterher. Es herrschte kaum Gegenverkehr, doch Elias versuchte nicht zu überholen. Warum auch? Er hatte keine Eile. Im Gegenteil, je später er ankam, desto kürzer musste er bleiben.

»Ich verstehe dich kaum!« Er hob die Stimme. »Der Empfang ist …«

Drei kurze Pieptöne erklangen, die Verbindung war unterbrochen.

Seufzend streckte er den verspannten Rücken durch. Schweiß kitzelte unter seinen Achseln, die Kehle war trocken. Er griff nach der Plastikflasche auf dem Beifahrersitz, trank einen Schluck lauwarmes Wasser, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. Der Bus blinkte, bremste an einer Haltestelle. Elias zog vorbei, klemmte die Flasche zwischen die Beine, schraubte sie zu und warf sie wieder auf den Beifahrersitz. Das Navigationsgerät leuchtete auf.

STRASSENICHTERFASST, stand auf dem Display.

»Na super«, murmelte Elias.

Er fuhr durch ein Dorf. Niedrige, zweistöckige Backsteinhäuser säumten die Landstraße. Gestutzte Hecken zogen vorbei, frisch gewaschene Mittelklassewagen standen in den Einfahrten. Auf dem Bürgersteig strampelte ein kleines Mädchen mit fliegenden Zöpfen und wehendem Kleid auf einem pinkfarbenen Fahrrad, auf der anderen Seite schob eine gebeugte alte Frau mit schwarzem Kopftuch einen Rollator vor sich her. Unter einem handbemalten Schild (HONIGAUSEIGENERPRODUKTION) döste ein zerzauster Schäferhund. Blumenkästen hingen unter den Fenstern, Gartenzwerge blitzten in der Sonne. Ein dickbäuchiger Mann in weißem Unterhemd mähte seinen Rasen.

Dösend steuerte Elias den Passat durch das ländliche Idyll, passierte den Ortsausgang und schaltete den Tempomat auf achtzig. Eigentlich fuhr er gern Auto, es war besser, als vor dem Rechner zu brüten und auf einen Einfall zu hoffen. Oft war er stundenlang unterwegs, ohne ein konkretes Ziel zu haben, er fuhr, einfach so, und ließ die Gedanken schweifen. Es war sinnlos, etwas erzwingen zu wollen, und manchmal, wenn er irgendwo auf einem abgelegenen Parkplatz landete, wusste er zwar nicht, wo er war, doch in seinem Hinterkopf war die Idee zu einer neuen Geschichte entstanden.

Heute war es anders. Das, dachte Elias missmutig, war allerdings von Anfang an klar gewesen, schließlich hatte er ein Ziel, abgesehen davon wäre es albern gewesen, in dieser brütenden Hitze mit einem halbwegs zündenden Einfall zu rechnen.

Die Straße führte in sanftem Bogen bergab. Links duckten sich die knorrigen Bäume einer Obstplantage in der gleißenden Sonne, rechts fraß sich ein weiterer Tagebau in die ausgedörrte Erde.

Keine Zombies, das Thema war durch. Immerhin wusste Elias jetzt, worüber er nicht schreiben würde. Ein Fortschritt, ein kleiner zwar, aber besser als nichts.

Er lenkte nach rechts, um einem entgegenkommenden Mähdrescher Platz zu machen. Staub wirbelte über dem flimmernden Asphalt, er sah das Schild (VOLKOW, 9 KM) erst im letzten Moment und bremste scharf, um den Abzweig nicht zu verpassen.

Die Nebenstraße war schmal und nur teilweise geteert. Schlackesteine lugten durch den löchrigen Asphalt, Schotter prasselte gegen den Unterboden. Der Weg führte stetig bergan, auf der einen Seite flankiert von einer stillgelegten Bahnstrecke, auf der anderen von den schiefen Holzmasten einer alten Stromleitung. Nach zwei Kilometern passierte Elias ein verbeultes Baustellenschild. SCHRITTFAHREN!, stand in verblichenen Großbuchstaben darunter. Der Passat holperte durch eine enge, mit Schlaglöchern übersäte Kurve, dahinter spannte sich der steinerne Bogen einer baufälligen Brücke über die Straße. Unkraut wucherte zwischen grobbehauenen Granitblöcken, einige waren herabgestürzt und türmten sich in der Böschung. Rot-weiße Baken verengten die Straße zu einem schmalen Durchgang. Der Passat tauchte in den Schatten der kleinen Brücke, rumpelte durch ein weiteres Schlagloch. Ein Poltern ertönte, Elias stieß eine leise Verwünschung aus, als die Bodenwanne mit einem hässlichen Knirschen über die Steine schliff. Hinter der Brücke stoppte er, wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Oberlippe und stieß geräuschvoll die Luft aus.

Er stand am Fuße einer bewaldeten Anhöhe. Die Straße führte zwischen uralten Eichen weiter bergauf. Der Passat brummte leise vor sich hin. Plötzlich stockte der Motor, als habe er sich verschluckt, schnurrte dann weiter. Eine neue Meldung erschien auf dem Display: KÜHLFLÜSSIGKEITNACHFÜLLEN.

»Na toll«, murmelte Elias. »Passt ja hervorragend.«

NOSERVICE, verkündete das Display des Handys, während das Navigationsgerät noch immer stoisch darauf beharrte, dass die STRASSENICHTERFASST sei.

Ich hab mich geirrt, dachte er mit einem freudlosen Lächeln. Vorhin habe ich Martha gesagt, ich wäre mitten in der Pampa. Aber da war ich noch nicht angekommen. Ich bin unterwegs dorthin, und ich wette, diese Straße endet direkt im Nirgendwo.

Kurz spielte Elias mit dem Gedanken, einfach umzukehren. Was, überlegte er, brachte der Besuch bei einem alten, wahrscheinlich senilen Greis, von dem er über fünfunddreißig Jahre lang nichts gehört hatte? Nichts, absolut nichts. Großvater hin oder her, Elias war diesem Menschen nichts schuldig. Er legte den Rückwärtsgang ein, doch dann fiel ihm Martha ein, sie würde Fragen stellen, und lauwarme Ausreden (ich hatte ’ne Panne, dieses verdammte Auto hat doch tatsächlich den Geist aufgegeben) würde sie kaum akzeptieren.

Das war die eine Sache. Doch es gab nicht nur Elias, den treuen Ehemann, der seine Frau nicht belügen wollte (was ihm auch schwerlich gelungen wäre). Es gab auch den anderen, E. W. Haack, einen Mann, der auf der Suche nach einer Geschichte war, einer guten Geschichte, ohne Zombies, ohne Werwölfe. Einer Geschichte, die aus dem Dienstleister einen Schriftsteller machen würde.

Also setzte er seinen Weg fort, getrieben von einer diffusen Mischung aus Neugier und Pflichtgefühl. Die Kronen der Eichen wölbten sich über der rissigen Fahrbahn wie eine Tunneldecke, die Sonne schien schräg durch die knorrigen Äste. Insekten tanzten in den gleißenden Lichtstrahlen. Als er die Hügelkuppe erreichte, endete der Wald. Die Straße führte in einem Bogen zwischen Weizenfeldern bergab zu dem winzigen Dorf, das zwei Kilometer entfernt malerisch in einer Senke lag. Ein Dutzend Häuser reihte sich links und rechts der Straße, in der Mitte ragte der Turm einer kleinen Kirche in den wolkenlosen Himmel. Auf der anderen Seite des Tals stieg das Gelände wieder an, auf halber Höhe einer langgestreckten Hügelkette blitzte die verglaste Kuppel eines Spaßbades zwischen den Baumkronen. Auf der Kuppe standen drei einsame Windräder starr in der flimmernden Luft, daneben thronte die Ruine eines verfallenen Backsteinbaus.

Der Passat rollte durch die wogenden Felder bergab. Ein gelbes Schild tauchte auf. VOLKOW, 2 KM war dort zu lesen, darunter ein weiteres: ACHTUNG, STRASSEENDETIN5 KM! KEINEWENDEMÖGLICHKEITFÜRLKW.

Eine absurde Warnung, überlegte Elias kopfschüttelnd. Die Straße bildete den einzigen Zugang zum Dorf, es war kaum vorstellbar, dass ein Lkw bis hierher kommen würde. Selbst mit dem Passat hatte er Schwierigkeiten gehabt, die Durchfahrt unter der baufälligen Brücke zu passieren.

Ein Klatschen ertönte, ein Insekt prallte gegen die Windschutzscheibe. Elias schaltete die Wischer ein, und während das Gummi die schmierigen Überreste quietschend auf der Scheibe verteilte, fiel ihm wieder ein, dass er mit leeren Händen bei seinem Großvater erscheinen würde, doch das ließ sich jetzt nicht mehr ändern. Abgesehen davon hatte er nicht die geringste Ahnung, worüber der alte Mann sich freuen würde, er kannte weder seine Interessen noch …

Ein Knall. Der Passat scherte aus. Elias riss das Steuer herum, versuchte verzweifelt, den Wagen auf der Straße zu halten, doch der Passat schoss wie ein bockiges Nilpferd zur Seite, flog über die Böschung, prallte frontal gegen einen mannshohen Findling. Metall kreischte, der Motor heulte auf, und E. W. Haack, vor kurzem noch vollmundig als aufgehender Stern am Himmel der Fantasyliteratur angekündigt, sackte leblos über dem Lenkrad zusammen.

Kapitel 2

– Weißer Passat, ziemlich neu. Fahrer ist männlich. Allein, soweit ich’s erkennen kann.

– Wo bist du?

– Auf meinem Posten, wo sonst?

– Ich verstehe dich kaum.

– Seit Wochen quatsche ich mir den Mund fusselig, dass wir neue Funkgeräte brauchen. Aber auf mich hört ja keiner.

– Ist er tot?

– Schwer zu sagen. Das Auto ist ziemlich hinüber.

– Behalt ihn im Auge.

***

Der alte Mann saß auf der Veranda eines zweistöckigen Einfamilienhauses an einem festlich gedeckten Kaffeetisch im Schatten einer Markise. Sein Kopf war in die Lehne eines weißen Plastikstuhls gesunken. Fast hätte man meinen können, er schliefe, doch der Eindruck täuschte. Die Augen unter den buschigen schlohweißen Brauen waren einen Spalt geöffnet, betrachteten den winzigen Garten auf der Rückseite des Hauses. Mannshohe Buchsbaumhecken flankierten ein frisch gemähtes Rasenstück, ein Plattenweg führte zu einem kleinen Geräteschuppen. Auf einer Leine hing eine geblümte Tischdecke in der Sonne. Bienen surrten im Schatten eines knorrigen Apfelbaums. Die Verandatür hinter ihm stand offen, aus der Küche drang das Klappern von Geschirr, unterlegt mit dem undeutlichen Plärren eines Kofferradios.

»Betty!«

Die Stimme des Alten war kräftig, ein tiefer, sonorer Bass.

»Ja?«

Die bunten Bänder eines Fliegenfängers flatterten, der Kopf einer untersetzten Frau erschien in der Verandatür. Ihr volles, gutmütiges Gesicht wurde von einer kastanienfarbenen, frisch frisierten Dauerwelle gerahmt.

»Was ist, Wilhelm?«

»Da fehlt ein Gedeck.«

»Wieso?« Die Frau kam auf die Veranda, trocknete die Hände an einem karierten Geschirrtuch und betrachtete stirnrunzelnd den Tisch. Sie trug einen knielangen Rock und eine weiße Bluse, eine rosafarbene Nylonschürze spannte über dem mächtigen Busen. »Du hast sechs Gäste eingeladen, mich eingerechnet. Also ist alles in Ordnung, ich …«

»Es sind sieben«, unterbrach der Alte sie unwirsch.

Die Frau hob fragend die Brauen. Als keine weitere Erklärung erfolgte, seufzte sie leise, trat hinter den Alten und massierte ihm sanft die Schultern.

»Wie du meinst.« Sie hob den Kopf, sah aus zusammengekniffenen Augen in die gleißende Sonne. »Diese Hitze«, murmelte sie, »ist kaum auszuhalten. Du solltest was trinken, Wilhelm. Ich hab Eistee gemacht.«

»Ich will nichts.«

Das Fauchen einer Kaffeemaschine drang aus dem Haus.

»Na gut«, lächelte die Frau, »ich hole noch ein Gedeck.«

Sie wandte sich dem Tisch zu, strich die weiße Leinendecke glatt, rückte die Blumenvase zurecht.

»Wie spät ist es?«, fragte der Alte, den Blick noch immer in den Garten gerichtet. Das Grundstück wurde von einem hölzernen Zaun begrenzt, eine Reihe Sonnenblumen reckte die schweren Köpfe in den Himmel. Weiter hinten wogte ein Getreidefeld in der Sonne. Die Augen des alten Mannes folgten der niedrigen Hügelkette, den erstarrten Windrädern am flirrenden Horizont.

»Kurz vor drei«, sagte die Frau.

»Dann«, murmelte der Alte, »müsste er bald hier sein.«

Ein dumpfer, entfernter Knall erscholl, hallte über die Ebene und verklang. Die Frau hob den sorgfältig frisierten Kopf, lauschte kurz und verschwand achselzuckend im Haus.

***

– Er kommt zu sich.

– Beschreibung?

– Um die vierzig. Graue Haare, langer Zopf. Hält sich wahrscheinlich für ’nen Künstler. Ziemliche Wampe, wie’s aussieht. Soll ich …

– Nein. Räum alles weg. Und lass dich bloß nicht erwischen.

***

Das Erste, was er sah, war ein gezackter Riss, der sich diagonal durch sein Blickfeld zog. Dahinter erkannte er die verschwommenen Umrisse eines Felsbrockens, flankiert von dornigem Gebüsch. Der beißende Gestank von heißem Metall und verbranntem Plastik brannte in seiner Nase. Mit zitternden Fingern versuchte Elias, den Sicherheitsgurt zu lösen, es gelang ihm erst beim dritten Versuch. Die Tür klemmte, er warf sich mit der Schulter dagegen, einmal, zweimal, dann sprang sie auf. Er fiel aus dem Wagen, landete auf den Knien und stützte sich mit den Händen im Dreck ab. Keuchend hockte er neben dem Passat. Sein Zopf hatte sich gelöst, das Haar pendelte in langen grauen Strähnen vor seinem bleichen Gesicht. Ein paar Sekunden vergingen. Das Blut rauschte in seinem Schädel, er lauschte dem Rasseln seines Atems, dem Knacken des Motors, hob plötzlich den Kopf. Da war noch etwas. Schritte.

»Hallo?«

Mühsam richtete er sich auf, stützte sich auf dem Wagendach ab und schüttelte den Kopf wie ein angezählter Boxer. Der Passat stand schräg in der Böschung, die Hinterräder auf der Fahrbahn, die Schnauze gegen den Findling gepresst. Elias spürte das heiße Metall unter den Handflächen, blinzelte.

»Hallo?«

Ja, irgendwo hinter ihm. Rascheln von Kleidung, weitere Schritte. Kurz, schnell, unterlegt mit einem leisen Quietschen. Die Gummisohlen von Turnschuhen wahrscheinlich. Er sah sich um.

Nichts. Nur die Straße, auf der anderen Seite das Getreidefeld. Eine Staubwolke hing über den goldfarbenen Halmen, viel Zeit konnte also nicht vergangen sein, höchstens eine Minute.

Ein Lichtstrahl blitzte auf, er schloss die Augen, als sich die Sonne im Reflektor eines schwarzweißen Begrenzungspfahls spiegelte. Nein, da war niemand. Die Schritte, sie waren Einbildung gewesen. Kein Wunder, er stand unter Schock.

Elias tastete die Stirn ab, sog zischend die Luft ein, als seine Finger die Beule über dem linken Auge berührten. Wahrscheinlich war er mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe geprallt, vielleicht auch an die verdammte Sonnenblende. Ansonsten war er mit dem Schrecken davongekommen, abgesehen von einer harmlosen Schürfwunde am Hals, wo sich der Sicherheitsgurt in die Haut gegraben hatte.

Alles gut also, bis auf den rasenden Durst. Als er sich in den Wagen beugte, um die Wasserflasche zu holen, wurde ihm kurz schwarz vor Augen. Er atmete tief durch, tastete nach der Flasche und fand sie auf der Fußmatte. Schwerfällig kroch er wieder ins Freie, trank in tiefen, gierigen Zügen. Das Hemd klebte schweißdurchnässt auf seiner Haut, die Finger flatterten noch immer, doch sein Herzschlag beruhigte sich allmählich.

Und jetzt?

Der Wagen, so viel schien klar, war hinüber. Eine Dampfwolke quoll leise zischend unter der zerknautschten Motorhaube hervor, der linke Vorderreifen war platt. Elias ging ächzend in die Knie, sah das Öl, das aus der Wanne tropfte, und stellte fest, dass auch der rechte Vorderreifen kaputt war. Schwankend richtete er sich wieder auf, strich das Haar aus dem Gesicht und straffte den dünnen Zopf im Nacken. Er stutzte, als sein Blick auf den linken Hinterreifen fiel.

Was bin ich doch für ein Glückspilz, dachte er. Drei platte Reifen auf einmal.

Er trat auf die Fahrbahn. Rechts von ihm führte die Straße hinunter zum Dorf, er sah das Ortsschild, nur ein paar hundert Meter entfernt. Die ersten Häuser duckten sich in der Hitze, weiter hinten erhob sich der Kirchturm, undeutlich flimmernd wie eine Fata Morgana. Hundegebell wehte herüber, dem tiefen, heiseren Klang nach zu urteilen war das Tier ziemlich groß.

Elias sah in die Gegenrichtung, folgte der Straße, die irgendwo weiter oben im dichten Wald verschwand. Er überschlug die Entfernung im Kopf. Bis zur Brücke waren es anderthalb, wenn nicht zwei Stunden Fußmarsch, danach würde er mindestens eine weitere Stunde brauchen, bis er die Landstraße erreichte. Bei dieser Hitze eine unangenehme Vorstellung, doch irgendwie war der Gedanke verlockend, und wenn dieser vermaledeite Unfall oben im Wald passiert wäre, hätte Elias ihn wohl in die Tat umgesetzt. Er hätte seinem Großvater eine Postkarte geschickt (Tut mir leid, dass ich nicht kommen konnte, ich hatte unterwegs eine Autopanne. Trotzdem alles Gute zum Geburtstag, wir sehen uns bestimmt bald). Selbst Martha hätte ihm keinen Vorwurf machen können, doch jetzt, ein paar hundert Meter vor dem Ziel, würde ihm niemand diese Ausrede abnehmen. Leider.

Immerhin, dachte er, kann ich behaupten, dass das Geschenk im Auto kaputtgegangen ist. Besser als nichts.

Etwas glitzerte vor ihm auf der Fahrbahn. Elias ging darauf zu, steckte im Laufen das Hemd in die Jeans, zog den Gürtel enger. Als er sich kurz darauf bückte, war ihm der Schweiß erneut aus allen Poren ausgebrochen, obwohl er höchstens zwanzig Meter zurückgelegt hatte.

»Komisch«, murmelte er und drehte das seltsame Gebilde in den Fingern. Vier Nägel, die mit den Spitzen nach außen aneinandergeschweißt waren und eine ungefähr zehn Zentimeter hohe Pyramide bildeten.

»Ein Krähenfuß.«

Gesehen hatte Elias diese Dinger noch nie, doch er hatte darüber gelesen. Egal, wie man sie zu Boden warf, eine der Spitzen zeigte immer nach oben. So etwas wurde für Straßensperren benutzt.

Er richtete sich auf, sein rechtes Knie reagierte mit einem mürrischen Knacken. Stirnrunzelnd betrachtete er erst den Passat, dessen unversehrtes, verstaubtes Heck zwei Dutzend Meter entfernt auf die Fahrbahn ragte, dann das stählerne Ding in seiner Hand. Prüfend wanderte sein Blick über den Asphalt, doch abgesehen von einer verblassten Ölspur und ein paar Schottersteinen war nichts weiter zu entdecken.

Elias streckte den Rücken durch, lief steifbeinig auf das Dorf zu. Nach ein paar Metern warf er das Ding in den Straßengraben, und als er das Ortsschild passierte, hatte er es vergessen.

***

– Er geht runter ins Dorf.

– Ich sehe ihn.

– Ich denke, wir …

– Überlass das Denken den anderen.

– Idiot.

– Bleib einfach auf deinem Posten. Ich melde mich.

***

Der kleine Garten füllte sich allmählich. Der alte Mann saß an der Stirnseite der gedeckten Tafel, während Betty, die Frau in der Nylonschürze, geschäftig umherlief und den Gästen die Plätze zuwies. Rechts neben dem Alten hockte ein junger Mann mit schütterem roten Haar, der trotz der Hitze einen schwarzen Anzug trug. Ihm gegenüber starrte ein mageres Mädchen mit pinkfarbener Igelfrisur gelangweilt auf ein Handy. Neben ihr schnarchte ein zerbrechlich wirkender Greis in einem Rollstuhl. Ein Mann in dreiviertellangen karierten Shorts war damit beschäftigt, eine Girlande unter der Markise zu befestigen. Unter dem Apfelbaum beugte sich ein bärtiger Hüne in schweißdurchtränktem Hemd über einen chromblitzenden Gasgrill. Gedämpftes Stimmengewirr hallte über den gepflegten Rasen, Porzellan klapperte.

Betty, die offensichtlich die Organisation der Feier übernommen hatte, verschwand im Haus, kehrte mit einer Dose Sprühsahne zurück und stellte sie zwischen den Kuchenplatten auf den Tisch. Sie schien ihre Aufgabe sehr ernst zu nehmen, ihr Gesicht war vor Anstrengung und Hitze gerötet.

»So, Wilhelm.« Sie deutete auf einen niedrigen Klapptisch, auf dem sie ein paar Blumensträuße und ein halbes Dutzend buntverpackter Pakete abgestellt hatte. »Jetzt machst du deine Geschenke auf, und danach hole ich den Kaffee.«

Lächelnd machte sie Anstalten, ihre Schürze abzubinden, doch der Alte schüttelte den Kopf.

»Nein«, sagte er. »Wir warten.«

»Stimmt was nicht?« Betty blinzelte verwirrt.

Das gedämpfte Läuten der Hausklingel drang auf die Veranda.

»Mach die Tür auf«, befahl der Alte. »Und bring den Kaffee mit, wenn du wiederkommst. Jetzt können wir anfangen.«

***

»Mein Wagen«, schloss Elias, »ist wahrscheinlich hinüber.« Er wandte sich mit einem entschuldigenden Lächeln an seinen Großvater. »Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe. Trotzdem alles Gute zum Geburtstag.«

Der Alte musterte ihn schweigend.

Elias nippte verlegen an seinem Kaffee. Er fühlte sich unwirklich. Irgendwie … neben der Spur. Ja, das traf es gut. Als würde er ein paar Meter abseits stehen und zusehen, wie er da saß, mit all diesen wildfremden Leuten an einem Kaffeetisch unter einer zerschlissenen Markise.

»Und Ihnen ist wirklich nichts passiert?«, fragte die Frau, die sich als Betty vorgestellt hatte. Sie war seinem Bericht gespannt gefolgt, und jetzt, da sie ihm gegenübersaß, sah sie ihn aus großen haselnussbraunen Augen besorgt an.

»Eine Beule am Kopf und ein Riss im Hosenbein, mehr nicht. Den Kratzer kann ich verschmerzen, und die Hose ist sowieso ziemlich alt.«

Elias bedachte die Runde mit einem schiefen Lächeln, obwohl ihm nicht im Geringsten danach zumute war. Er hatte keine Schwierigkeiten gehabt, das Haus zu finden (kein Wunder, es gab ja nur ein paar), und als er die Dorfstraße entlanglief, war ihm mit Ausnahme einer gebeugten alten Frau in schwarzem Kleid und einer zerzausten Katze niemand begegnet. Auch das, dachte er, war nicht weiter verwunderlich, schließlich schien sich ein Großteil der Dorfbewohner hier hinter dem Haus versammelt zu haben.

Der schmächtige Kerl in den halblangen Shorts an Bettys Seite war Jonas, ihr Mann. Jessi, die Tochter der beiden, hatte ihm zur Begrüßung kurz zugenickt, seitdem war sie mit ihrem Handy beschäftigt. Der schlaksige junge Mann im Anzug, der sich gerade etwas Sahne auf den Teller sprühte, war ihm als Pastor Geralf vorgestellt worden. Der Name des Greises, der am anderen Tischende in einem Rollstuhl schnarchte, war Timur Gretsch. Jemand hatte ihm trotz der Hitze eine Wolldecke über den Schoß gebreitet. Sein Kinn war auf die eingefallene Brust gesunken, auf seiner linken Wange prangte ein himbeerfarbenes Muttermal.

»Mein Wagen müsste in die Werkstatt.« Elias stellte die Kaffeetasse ab, seine Finger zitterten ein wenig. »Vielleicht sollte ich …«

»Darum kümmert sich Arne«, unterbrach der Alte.

Arne, erinnerte sich Elias, war der kräftige Kerl mit dem schwarzen Vollbart, der vorhin am Grill gestanden hatte und jetzt schräg gegenüber neben dem Pastor saß.

»Geht klar«, nickte Arne kauend und stopfte sich ein riesiges Tortenstück in den Mund.

Elias musterte seinen Großvater aus den Augenwinkeln. Stumm, den Rücken gestreckt, saß der Alte an der Stirnseite. Betty hatte ihm ein Stück Quarkkuchen auf den Teller gelegt. Er hatte ihn nicht angerührt, nippte nur ab und zu an seinem Kaffee. Im Gegensatz zu Elias waren seine Finger ruhig.

Das, dachte Elias, ist also mein Großvater. Ich habe keine Ahnung, wer dieser Mensch ist, aber eines weiß ich. Er ist hier definitiv der Chef.

Kauend beugten sich die Versammelten über ihre Teller. Geschirr klapperte, Fliegen schwirrten über der gedeckten Tafel. Elias rutschte unbehaglich auf seinem Plastikstuhl hin und her, der Kuchen (Buttercremetorte, hatte Betty stolz erklärt, selbstgebacken) klebte wie Mörtel im Mund. Elias hatte furchtbaren Durst, sehnte sich nach einem kalten Bier, doch er wagte nicht, danach zu fragen.

»Wir wussten ja, dass Wilhelm einen Enkel hat«, sagte Betty. »Was wir nicht wussten«, sie tätschelte die knotigen Finger des Alten, zwinkerte Elias zu, »dass Sie uns heute besuchen. Die Überraschung ist Ihnen gelungen.«

Elias’ Erwiderung bestand aus einem matten Lächeln.

Sein Kopf dröhnte, das Blut pochte hinter der Beule. Er fühlte sich schwindelig, gefangen in einer seltsamen Welt, und der Gedanke, dass er vor ein paar Stunden noch mit Martha auf der Terrasse ihrer Dachwohnung gesessen hatte, die Zeitung in der einen, den morgendlichen Milchkaffee in der anderen Hand, war regelrecht absurd. Tage, wenn nicht Wochen, schienen seitdem vergangen zu sein.

»Darf man fragen«, der rothaarige Pastor tupfte die Mundwinkel mit einer Serviette ab, »was Sie beruflich machen?«

»Er ist Schriftsteller.«

Elias, der bereits den Mund geöffnet hatte, sah seinen Großvater verblüfft an. Dass ihn der Alte nach Jahrzehnten des Schweigens zu seinem Geburtstag einlud, war die eine Sache. Dass er offensichtlich Erkundigungen über ihn eingezogen hatte, war etwas anderes.

»Wirklich?« Bettys Augen weiteten sich. »Sie schreiben Bücher?«

Auch die anderen horchten auf. Selbst die Kleine mit dem pinkfarbenen Strubbelkopf sah von ihrem Handy auf.

»Na ja«, wehrte Elias bescheiden ab, »ich versuch’s zumindest.«

Er hieb die Gabel in seine Torte und steckte sich ein großes Stück in den Mund. Elias wusste, was jetzt unweigerlich folgen musste, schließlich hatte er diese Gespräche oft genug geführt. Nach einer Lesung zum Beispiel oder wenn er – was glücklicherweise nicht oft vorkam –, auf der Straße erkannt wurde. Er kannte die Fragen (Was genau schreiben Sie denn? Wie kommen Sie auf die Ideen? Wie lange braucht man denn für so ein Buch?), und seine Antworten (Ich schreibe über alles, Hauptsache, es ist nicht langweilig. Man muss Geduld haben, dann kommen die Ideen. Ein Buch ist dann fertig, wenn ich zufrieden bin.) waren im Laufe der Jahre zur Routine geworden. Freundliche Nichtigkeiten, vorgetragen in einer sorgfältig abgewogenen Mischung aus Bescheidenheit, Selbstironie und Eloquenz. Früher hatte er diese Gespräche als anstrengend empfunden, doch mittlerweile betrachtete er sie als Teil seines Jobs, und tief in seinem Herzen genoss er die Aufmerksamkeit, fühlte sich gegen seinen Willen geschmeichelt, obwohl er es seiner Meinung nach nicht verdient hatte.

Schweiß perlte auf seiner Stirn. Ihm war noch immer schwindelig, sogar ein wenig übel. Der Kuchen klebte zwischen Zunge und Gaumen, er nippte an seinem Kaffee, um die breiige Masse herunterzuwürgen, doch die Tasse war leer.

Die Frau gegenüber fragte etwas. Er verstand nicht, was sie sagte.

Das waren nette Leute, dachte Elias, einfach gestrickt, aber nett. Ein bisschen würde er noch mit ihnen reden, danach musste er noch ein kurzes Gespräch mit seinem Großvater führen, sich die Telefonnummer geben lassen und versprechen, von nun an regelmäßig anzurufen. Wenn das geschafft war, würde er ein Taxi rufen und wieder verschwinden.

Betty wiederholte die Frage. E. W. Haack setzte sein breites Schriftstellerlächeln auf, öffnete den Mund, schluckte, spürte, wie etwas in seinem Magen explodierte und registrierte verwundert, dass sich anstelle einer unverbindlichen Plattitüde ein Schwall lauwarmen Kaffees und halb verdauter Buttercremetorte über den Tisch ergoss. Das Letzte, was er bewusst wahrnahm, waren die entsetzt geweiteten Augen der Frau gegenüber.

Das, dachte Elias noch, war extrem unhöflich, man bricht einem wildfremden Menschen nicht einfach so ins Gesicht. Ich hab ihr die schöne Bluse versaut.

Dann verschwanden die Farben, und die Welt wurde schwarz.

***

– Der Kerl ist sein Enkel.

– Scheiße. Was will der hier?

– Der Alte hat ihn eingeladen.

– Warum?

– Das werden wir bald wissen.

Kapitel 3

Als er zu sich kam, hatte er keine Ahnung, wo er war. Er lag auf einem Sofa, jemand hatte ihn mit einer Wolldecke zugedeckt. Die Gardinen vor den winzigen Fenstern waren geschlossen, im Halbdunkel erkannte er ein enges, mit dunklen Möbeln vollgestelltes Wohnzimmer. Schräg über ihm hing ein altmodischer dreiarmiger Leuchter von der niedrigen Decke. Die Luft war stickig, roch nach Staub, altem Holz und den Ausdünstungen schwerer Stoffe. In einer Ecke tickte eine große Standuhr.

»Du hast eine Gehirnerschütterung.«

Sein Großvater saß mit übereinandergeschlagenen Beinen in einem geschwungenen Ohrensessel. Das Gesicht lag im Schatten, diffuses Licht flimmerte um seinen kantigen Kopf. Das weiße, raspelkurz geschnittene Haar war immer noch voll.

»Ich habe Doktor Stahl kommen lassen«, fuhr der Alte fort. »Er wohnt schräg gegenüber, neben der Kirche. Er hat dich untersucht. Kein Grund zur Sorge, es ist nur eine leichte Erschütterung. Morgen früh bist du wieder auf dem Damm.«

Elias richtete sich auf, sank mit verzerrtem Gesicht zurück. Der gestärkte Bezug eines Kopfkissens knisterte in seinem Rücken. Er hatte rasende Kopfschmerzen, im Rachen brannte der säuerliche Geschmack von Erbrochenem.

»Wie lange«, krächzte er, »war ich …«

»Ein paar Stunden. Ich habe die anderen nach Hause geschickt. Mir ist klar, dass du längst daheim sein wolltest, aber ich fürchte, du wirst die Nacht bei mir verbringen müssen, Elias.«

Der Alte erhob sich, schob die Gardinen zur Seite. Goldfarbenes Abendlicht strömte durch die Fenster, Staubflocken tanzten in den schräg hereinfallenden Strahlen.

»Trink von dem Tee.« Er deutete auf den runden Couchtisch neben dem Sofa. Auf einem Spitzendeckchen stand eine Porzellantasse, daneben lagen zwei Tabletten. »Und nimm das Aspirin, das wird helfen.«

Elias hatte Schwierigkeiten, die Tabletten hinunterzuwürgen. Der Kräutertee war lauwarm, ungezuckert, aber er tat gut. Erleichtert sank er zurück auf das Kissen.

»Ich …« Er schirmte die Augen mit dem Unterarm ab. »Es tut mir leid, ich hab dir den Geburtstag versaut.«

»Es muss dir nicht peinlich sein.« Die tiefe Stimme des Alten hallte durch das stickige Zimmer. »Du hast eine ziemliche Sauerei angerichtet, aber Betty hat’s mit Fassung getragen. Sie war früher Krankenschwester, ist also einiges gewohnt.«

Jetzt, fuhr der alte Mann fort, führte sie ihm den Haushalt.

»Ich sollte mich bei ihr entschuldigen«, murmelte Elias.

»Schenk ihr eins von deinen Büchern. Ich glaube nicht, dass sie es lesen wird. Betty ist eher einfach gestrickt, allenfalls würde sie einen Liebesroman lesen. Aber sie freut sich bestimmt, da bin ich sicher. Ich selbst finde deine Bücher übrigens gar nicht so übel. Obwohl mir die Aufmachung ein wenig zu reißerisch ist.«

Elias hob den Kopf. »Du hast sie …«

»Selbstverständlich habe ich sie gelesen.« Der Alte deutete auf ein Bücherregal neben der Standuhr. »Alle neun.«

Tatsächlich. Da standen sie, aufgereiht nach dem Erscheinungsdatum, zwischen verstaubten Wälzern und dicken Bildbänden.

»Es klingt vielleicht unpassend«, sagte der Alte. »Doch dein Unfall hatte auch etwas Gutes. Wir können in Ruhe reden. Ich habe dir einiges zu erzählen, und ich denke, ich bin dir ein paar Erklärungen schuldig.«

Stimmt, dachte Elias. Ich bin allerdings nicht sicher, ob ich sie hören will.

***

– Wo bist du?

– Posten drei, an der Nordflanke des Hügels. Hundert Meter oberhalb der Straße zum Schwimmbad, wo …

– Ich weiß, wo Posten drei ist. Kannst du was sehen?

– Nur die Rückseite und den Garten. Der Alte war vorhin in der Küche, hat Tee gekocht. Jetzt sind die beiden vorn im Wohnzimmer, zur Straße hin. Keine Chance, was zu sehen. Da nutzt das beste Fernglas nichts. Aber ich denke, der Typ ist wach.

– Das heißt, die reden miteinander.

– Fragt sich, worüber.

– Das ist nicht gut. Überhaupt nicht gut.

***

Der Alte hatte wieder im Ohrensessel Platz genommen. Trotz der Wärme hatte er eine dünne Strickjacke mit Lederflicken an den Ärmeln über das weiße Hemd gestreift.

Dieser Mensch war ein Fremder für Elias, und das würde er bleiben. Ein Mann, der deutlich jünger wirkte, als er tatsächlich war, mit geraden Schultern, klarem Blick und einem Verstand, der auch nach neunzig Jahren noch messerscharf zu sein schien.

»Du fragst dich bestimmt, warum ich dich nicht zu mir geholt habe. Damals, nachdem deine Mutter gestorben ist.«

Nun, diese Frage stellte sich Elias seit Jahrzehnten nicht mehr. Er wusste so gut wie nichts über seine Eltern. Nur dass sein Vater sich vor seiner Geburt aus dem Staub gemacht hatte. Als seine Mutter starb, war er vier Jahre alt gewesen, er hatte nicht die geringste Erinnerung an diese Frau. Elias war im Heim aufgewachsen, seine Kindheit war also weder geborgen noch sonderlich liebevoll gewesen, doch er war nie geschlagen worden. Das, was man Familie nannte, hatte er nie kennengelernt und somit auch nicht vermisst. Die Postkarten, die ihm sein Großvater an seinen Geburtstagen und zu Weihnachten schickte, hatten ihm nie viel bedeutet.

»Du siehst ihr sehr ähnlich.«

Die Stimme des Alten riss Elias aus seinen Gedanken.

»Wem?«

»Deiner Mutter. Du hast ihre Augen. Und dein Haar hat dieselbe Farbe. Obwohl du es meiner Meinung nach schneiden solltest, aber das ist natürlich deine Sache.«

Elias antwortete nicht. Die Kopfschmerzen ließen allmählich nach, verklangen zu einem dumpfen Pochen hinter den Schläfen. Die Standuhr tickte vor sich hin, über ihm schwirrten drei Fliegen unter den geschwungenen Armen des Deckenleuchters.

»Ich habe meine Tochter geliebt«, sagte der Alte. »Esther wollte, dass ich dich nach ihrem Tod zu mir nehme, aber …«

»Woher«, unterbrach Elias, »weißt du das?«

Der alte Mann schwieg einen Moment.

»Deine Mutter war krank«, sagte er dann. »Heutzutage gibt es Medikamente, aber vor vierzig Jahren konnte niemand mit dieser Krankheit umgehen. Man hielt sie für verrückt. Doch das war sie nicht.« Er schüttelte bedächtig den Kopf. »Esther war depressiv.«

»Ich will das nicht hören.«

»Ich wusste nicht, wie ich ihr helfen soll. Niemand im Dorf wusste es. Alle haben geahnt, wie es enden würde, und als …«

»Ich will das nicht hören!«

Elias richtete sich auf. Die Wolldecke glitt zu Boden, erneut explodierten die Schmerzen in seinem Kopf. Er achtete nicht darauf.

»Das musst du«, sagte der Alte ruhig.

Ihre Blicke trafen sich. Elias starrte in die grauen Augen seines Großvaters. Ein Grau, das er kannte, ebenso wie die winzigen gelben Flecken um die Pupillen. Ja, er kannte diese Augen, schließlich sah er sie jedes Mal, wenn er in den Spiegel blickte.

»Der Apfelbaum, draußen im Garten.« Der Alte deutete zum Fenster. »Dort habe ich sie gefunden. Sie hat sich erhängt.«

Die Standuhr erwachte zum Leben. Glockenschläge hallten durch das Zimmer, dröhnend wie Kanonendonner. Elias kannte diesen Klang, er hatte ihn schon gehört, vor dreieinhalb Jahrzehnten, da hatte er genau hier gelegen, hier auf dem Sofa, und auch damals hatte er sich …

***

… erschrocken. Elias hat geschlafen, die Uhr dröhnt so laut, dass es in den Ohren klingelt. Opa Wilhelm sitzt vor ihm, sieht ihn ernst an. Elias’ Kopf tut weh. Er hat geweint, als er hier auf dem Sofa eingeschlafen ist, und jetzt, da er wach ist, kribbeln die Tränen wieder in der Nase.

Ich will zu Mama, schnieft er.

Das geht nicht, sagt Opa Wilhelm. Sie ist weg.

Elias weint. Opa Wilhelm mag nicht, wenn Elias weint, aber er kann nicht anders, er will zu seiner Mama, sie soll ihn trösten, aber …

***

»Leg dich wieder hin.«

Elias reagierte nicht. Die Erinnerung war urplötzlich aufgetaucht, ein Blitzstrahl, der sofort wieder verloschen war und außer Dunkelheit und einer leichten Übelkeit nichts hinterlassen hatte.

Der Alte stand auf. Als er näher kam, knarrten die Dielen unter seinen Filzpantoffeln. Er fasste Elias an den Schultern, drückte ihn sanft, aber bestimmt wieder in das Kissen, klaubte die Decke vom Boden und breitete sie über Elias aus.

»Depressionen sind erblich. Ich selbst bin nicht davon betroffen.« Er beugte sich über Elias, musterte ihn mit ernstem, prüfendem Blick. »Du ebenfalls nicht.«

Elias roch seinen Atem. Pfefferminz, gleichzeitig ein wenig säuerlich. Und das Rasierwasser des Alten, Old Spice, der Duft einer sterbenden Generation. Ein Geruch, den er seit Jahrzehnten nicht mehr wahrgenommen hatte, schon damals hatte er diesen Geruch nicht gemocht. Er …

***

… macht ihm Angst. Opa Wilhelm hat Elias noch nie geschlagen, und er schimpft auch nicht. Aber manchmal sagt er Sachen, die Elias nicht versteht. Das macht er nur, wenn Mama nicht dabei ist, weil Mama nicht will, dass Opa Wilhelm so mit ihm redet, er …

***

»Nun zu der anderen Sache.« Der Alte richtete sich auf, nahm wieder Platz. Die Federn des zerschlissenen Ohrensessels ächzten unter seinem Gewicht. »Die Frage, warum ich dich nicht aufgezogen habe.«

Er sah auf seine Hände. Große, gepflegte Hände, mit Altersflecken bedeckt. Weiße Härchen sprossen auf den Handrücken, die Finger waren knotig, doch noch immer beweglich. Ein auffälliger Goldring blitzte auf, besetzt mit einem grünen, fünfeckigen Stein, der von winzigen Diamanten flankiert war.

»Ich nehme an, du hast die Ruine gesehen.« Wilhelm wies mit dem Kinn zum Fenster. »Oben auf den Hügeln, neben den Windrädern. Früher war dort ein russisches Militärgefängnis. Ich war sechzehn, als ich dort eingesperrt war. Es war kurz vor Kriegsende, ich war nahe am Verhungern. Sie haben mich erwischt, als ich ein Stück Brot klauen wollte. Ich will dich nicht mit Einzelheiten langweilen, aber dort draußen«, ein weiterer Blick zum Fenster, »habe ich eine Entscheidung getroffen, vor über siebzig Jahren. Willst du noch eine Tablette? Du siehst blass aus.«

»Nein.«

»Gut.« Der Alte sammelte sich kurz und fuhr dann fort: »Irgendwann im Leben muss man sich entscheiden. Auf welcher Seite man steht. Ob man Befehle gibt oder sie ausführt. Ich habe mich damals für Ersteres entschieden. Das bedeutet, Dinge zu tun, die anderen weh tun und möglicherweise schwerverständlich erscheinen. Aber wenn man sie im Nachhinein betrachtet, ergeben sie einen Sinn. Verstehst du das?«

»Nein.«

Das stimmte.

»Damals habe ich mir geschworen, nie wieder Hunger zu leiden. Über vierzig Jahre war ich Bürgermeister in diesem Dorf, aber vor allem war ich Geschäftsmann. Ich musste mich auf meine Arbeit konzentrieren. Ein Geschäftsmann«, der Alte hob den Kopf, »darf sich nicht ablenken lassen. Von niemandem.«

»Auch nicht von seiner kranken Tochter«, murmelte Elias. »Oder seinem vierjährigen Enkel.«

»Richtig«, nickte der alte Mann ernst. Ihm war nicht anzumerken, ob er den Sarkasmus in Elias’ Stimme erkannt hatte. Wenn ja, überhörte er ihn. Er richtete sich auf, hob die Hand.

»Spürst du das?«

Elias runzelte verständnislos die Stirn, während sein Großvater ihn erwartungsvoll ansah. Ein paar Sekunden vergingen, dann bemerkte er es. Ein leichtes, kaum wahrnehmbares Vibrieren, unterlegt mit einem tiefen Brummen. Es klang, als würde eine Starkstromleitung unter dem Haus verlaufen, vielleicht auch wie ein entfernter Bienenschwarm.

»Die Bagger«, erklärte der Alte. »Sie laufen vierundzwanzig Stunden am Tag. In einem Dreivierteljahr sind sie hier.«

Dann, dachte Elias, solltest du wohl langsam deine Sachen packen.

»Trink deinen Tee aus.«

Elias gehorchte.

»Schlaf jetzt.«

Der Alte stemmte sich wieder aus dem Sessel, nahm auf der Sofakante Platz. Er musterte Elias mit ernsten, ausdruckslosen Augen. Elias mochte diesen Blick nicht, er sah keinerlei Mitgefühl. Es schien, als wolle sein Großvater ihn …

***

… prüfen, weil er wissen muss, ob Elias dazu fähig ist. Eines Tages, sagt Opa Wilhelm, wird Elias seine Geschäfte übernehmen, aber dazu muss er stark sein, er darf niemals weinen, Elias und Opa Wilhelm sind …

***

»Wir sind von gleichem Blut, mein Junge.«

Der Alte hatte Elias’ Hand genommen, drehte sie nach oben und strich mit dem Zeigefinger über eine verblasste Tätowierung auf der Innenseite des Handgelenkes, eine stilisierte, ungelenk gestochene Sonnenblume von der Größe eines Zehn-Cent-Stücks. Elias trug das Tattoo, seit er denken konnte. Im Laufe der Jahre war es zu einem Teil seines Körpers geworden, wie eine Narbe oder ein Leberfleck, den man irgendwann nicht mehr wahrnimmt.

»Siehst du?«

Der Alte hob die Hand. Er trug dasselbe Tattoo, etwas größer zwar, aber eindeutig das gleiche Motiv.

»Du hast dich bestimmt oft gefragt, was es bedeutet.«

Allerdings. Oft genug, früher jedenfalls.

»Du hast es zu deinem ersten Geburtstag bekommen. Es ist ein Zeichen.«

»Ich verstehe nicht, was …«

»Schlaf jetzt. Morgen früh geht’s dir besser. Dann reden wir weiter.«

Das stimmte, Elias sollte sich am nächsten Tag besser fühlen. Die letzten Worte des Alten erwiesen sich allerdings bald als Irrtum, denn sie würden nicht wieder miteinander sprechen.

Kapitel 4

Er wurde wach, weil er auf die Toilette musste. Die Kopfschmerzen waren einem leichten Schwindelgefühl gewichen, das Pochen der Beule einem sanften Pulsieren. Sein Nacken war steif, ein Umstand, der den weichen Sofapolstern geschuldet war. Sein Schlaf war tief, aber unruhig gewesen. Elias glaubte, Schritte gehört zu haben, ebenso leise Stimmen. Wahrscheinlich, überlegte er jetzt, waren diese Geräusche Teil seines Traumes gewesen, eines äußerst wirren Traumes, der aus weiteren, undeutlichen Erinnerungsfetzen seiner Kindheit bestanden hatte, mehr war ihm nicht bewusst.

Er schien ziemlich lange geschlafen zu haben, dem Lichteinfall nach zu urteilen stand die Sonne bereits hoch. Gähnend betrachtete er die dunkle, etwas schäbige Schrankwand. Links standen die Bücher (tatsächlich, der Alte hatte wirklich alle seiner Werke dort einsortiert), in der Mitte war hinter Glastüren allerlei Krimskrams aufgereiht: Ziertassen, geschwungene Bierhumpen, ein Satz geschliffener Weinkelche. Rechts stand ein alter Röhrenfernseher, darunter ein Stapel Zeitschriften. Die typische Einrichtung eines alten, spießigen Mannes, dessen Geschmack sich seit den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts nicht verändert hatte. Die vergilbte, mit grauen Blumen gemusterte Tapete bestätigte diesen Eindruck, ebenso wie die billigen, in goldfarbenen Gips gerahmten Kunstdrucke.

Über ihm ertönte ein Knarren, jemand lief im Obergeschoss umher. Die Zimmerdecke war dünn, der Leuchter pendelte leicht hin und her. Der Alte schien ebenfalls gerade aufgestanden zu sein. Vielleicht, korrigierte sich Elias, war er schon eine Weile wach, schließlich hatte er keine Ahnung, wo das Schlafzimmer seines Großvaters war. Ebenso wenig wusste er, wo sich die Toilette befand, aber das würde er in dieser winzigen Bude schnell herausbekommen.

Ächzend stützte er sich auf den Ellbogen und richtete sich auf. Das Kissen rutschte zu Boden, er hob es auf, klopfte es zurecht und drapierte es auf dem Sofa. Er sehnte sich nach einem Kaffee, danach würde er duschen, sich das wirre Gerede des Alten anhören und ein Taxi rufen. Der Passat fiel ihm ein, um den verflixten Wagen musste er sich noch kümmern, aber das …

Elias, der schlaftrunken zur Tür geschlurft war, prallte erschrocken zurück. Die untersetzte Gestalt, die ihm den Weg versperrte, schien seit einer Weile auf der Schwelle zu stehen. Reglos, mit wachsbleichem Gesicht starrte Betty ihn an, aus dunklen, schreckgeweiteten Augen.

»Er ist tot«, flüsterte sie. »Mein Gott, Wilhelm ist tot.«

***

»Ich … ich wollte ihm das Frühstück machen. Pünktlich um acht, wie immer.«

Elias hatte Betty zum Sofa geführt. Dort saß sie, auf der vorderen Kante und knetete ein besticktes Kissen im Schoß.

»Ich hab mich gewundert, weil er nicht auf war. Wilhelm ist … war«, korrigierte sie sich schluchzend, »ein Frühaufsteher. Er war immer im Morgengrauen auf den Beinen. Ich … ich wollte Sie nicht wecken. Also bin ich hoch ins Schlafzimmer. Zuerst dachte ich, er schläft. Aber dann …« Sie begann zu weinen. »Ich … ich hab seinen Puls gefühlt. Dann hab ich Doktor Stahl gerufen.«

Elias sah zur Decke. Lauschte dem Knarren der Dielen. Die Schritte stammten nicht von seinem Großvater. Es war der Arzt, der dort oben die Leiche untersuchte.

Elias betrachtete die weinende kleine Frau. Er war mein Großvater, dachte er verwundert, aber sein Tod geht ihr viel näher als mir. Sicherlich, sie kannte ihn viel besser als ich. Trotzdem sollte ich mich schämen, weil es mich kaum berührt. Es ist, als wäre ein Fremder gestorben. Und das war er ja auch.

Es klingelte an der Tür.

»Das«, schniefte Betty, »ist Felix.«

Sie machte Anstalten aufzustehen. Elias drückte sie sanft zurück in die Polster.

»Schon gut, ich mach das.«

Er verließ das Zimmer, lief durch den kurzen, dämmrigen Flur. Im Gehen streifte er einen Garderobenständer, um ein Haar wäre er über ein Paar klobige Arbeitsstiefel gestolpert. Die Tür, ein Ungetüm aus verblichenem Plastik, schwang knarrend auf. Elias kniff die Augen zusammen, die Sonne schien ihm direkt ins Gesicht. Der Mann, der sich als undeutlicher Schemen in der Helligkeit abzeichnete, wollte sofort eintreten, stutzte dann.

»Darf man fragen, wer Sie sind?«

Elias nannte seinen Namen.

»Ich bin sein Enkel«, fügte er hinzu. »Und wer sind Sie?«

»Kolberg«, beschied der andere knapp. »Felix Kolberg.«

Er drängte sich an Elias vorbei in den Flur.

»Ich bin Polizist«, sagte er über die Schulter. »Betty hat mich angerufen.«

Elias folgte dem schlanken, durchtrainierten Mann, der mit federnden Schritten zielstrebig ins Wohnzimmer ging und neben der weinenden Betty auf dem Sofa Platz nahm. Er legte ihr den Arm um die bebenden Schultern, murmelte ein paar tröstende Worte und stand wieder auf.

»Geh nach Hause, Betty«, sagte er sanft, »leg dich ein bisschen hin. Ich gehe jetzt nach oben und rede mit Doktor Stahl. Sie, Herr Haack«, er wandte sich an Elias, der unschlüssig auf der Schwelle stand, »warten hier. Ich möchte nachher noch mit Ihnen sprechen.«

***

Die folgende halbe Stunde verbrachte Elias wie auf glühenden Kohlen. Unruhig lief er im Wohnzimmer auf und ab, lauschte dem Knarren der Dielen im Obergeschoss und den gedämpften Stimmen der beiden Männer. Er dachte an Martha, sie hatte bestimmt schon versucht, ihn zu erreichen. Wahrscheinlich machte sie sich Sorgen, doch sein Handy lag irgendwo da draußen in seinem verbeulten Passat. Abgesehen davon glaubte Elias nicht, dass er hier überhaupt Empfang hatte.