Unter Freunden - Herbert Günther - E-Book

Unter Freunden E-Book

Herbert Günther

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Beschreibung

Martin Pommerland ist nicht recht zufrieden mit sich. Natürlich: er ist Mittelstürmer in der Jugendmannschaft seines Fußballvereins und Mitbegründer des Beat-Clubs Apollo-five. Aber mit fünfzehn sollte man doch auch eine Freundin haben. Warum ist Heike, die seit einiger Zeit in Martins Klasse geht, nur neuerdings so abweisend? Dann kommt Helmut in die Klasse. Martin und Heike merken bald, daß mit dem «Neuen» irgend etwas nicht stimmt. Weshalb will er unbedingt beweisen, wie viele Freunde er hat? Die Sorge um ihren Mitschüler führt Martin und Heike zusammen. Gemeinsam finden sie heraus, warum er sich so merkwürdig verhält. Können Helmut und sie nicht doch noch Freunde werden?

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Seitenzahl: 180

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Herbert Günther

Unter Freunden

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Über dieses Buch

Martin Pommerland ist nicht recht zufrieden mit sich. Natürlich: er ist Mittelstürmer in der Jugendmannschaft seines Fußballvereins und Mitbegründer des Beat-Clubs Apollo-five. Aber mit fünfzehn sollte man doch auch eine Freundin haben. Warum ist Heike, die seit einiger Zeit in Martins Klasse geht, nur neuerdings so abweisend? Dann kommt Helmut in die Klasse. Martin und Heike merken bald, daß mit dem «Neuen» irgend etwas nicht stimmt. Weshalb will er unbedingt beweisen, wie viele Freunde er hat? Die Sorge um ihren Mitschüler führt Martin und Heike zusammen. Gemeinsam finden sie heraus, warum er sich so merkwürdig verhält. Können Helmut und sie nicht doch noch Freunde werden?

Über Herbert Günther

Herbert Günther: geboren 1947; war Buchhändler in Göttingen, dann von 1972 bis 1978 Lektor in einem Kinder- und Jugendbuchverlag in Süddeutschland; 1979–1986 Leiter einer Kinderbuchhandlung in Göttingen, 1986–1988 Lektor im Boje Verlag. Seither freier Schriftsteller; lebt in Friedland/Reckershausen.

Inhaltsübersicht

Für UlliWer nicht weiß, ...1. KapitelAus meinem FotoalbumVor dem Anpfiff2. KapitelAus meinem FotoalbumDer Flügelstürmer3. KapitelAus meinem FotoalbumIm Gedränge4. KapitelAus meinem FotoalbumVor den Augen des Schiedsrichters5. KapitelAus meinem FotoalbumVorstoß bis zur Strafraumgrenze6. KapitelRummelplatzDer Text des ...

Für Ulli

Wer nicht weiß, daß er eine Maske trägt, der trägt sie am vollkommensten.

Theodor Fontane

1

Aus meinem Fotoalbum

Ich komme zur Hintertür rein, und mein Vater steht in der Küche und trinkt den kalten, abgestandenen Kaffee aus dem verbeulten, blechernen Henkelbecher.

»’n Abend«, sage ich und will an ihm vorbei.

»’n Abend«, sagt er, und als ich schon fast zur Tür raus bin, setzt er den Becher auf den Spültisch und ruft hinter mir her: »Sieht man dich auch mal wieder?«

Das ist nun typisch für meinen Vater. Wir sehen uns mindestens zwei- bis dreimal am Tag, doch er tut so, als müsse ich ständig für ihn greifbar sein.

Mein Vater ist Versicherungsvertreter. Hier auf dem Dorf trifft er seine Kunden immer nur abends an. Er fährt meistens so gegen fünf Uhr los und verpaßt fast immer den Anfang vom Fernsehprogramm. Meine Mutter muß ihm dann erklären, welcher Mörder gesucht wird oder welcher Beruf gerade erraten werden soll.

Ich bin an der Tür stehengeblieben.

»Wieso?« frage ich. Eigentlich ist das auch keine Frage, sondern nur so ein Wort, das ich sage, weil es unmöglich ist, meinem Vater zu erklären, wo ich gewesen bin, mit wem ich gesprochen habe und das alles.

»Manchmal möchte man ja auch mal was erfahren von dir«, sagt mein Vater. »Den ganzen Nachmittag bist du weg gewesen, und keiner hat gewußt, wo du dich rumtreibst. Fußball war doch nicht heute.«

»Nein«, sage ich, »Training ist Dienstag und Donnerstag.«

»Und?« fragt mein Vater, »meinst du, es interessiert uns nicht, was du so machst den ganzen Tag?«

 

Es überrascht mich echt, daß er so bohrt. Es ist zehn vor fünf, und um diese Zeit ist er gewöhnlich in Eile. Ich stehe da und sage erstmal überhaupt nichts.

»In letzter Zeit«, sagt mein Vater, »erzählst du uns so gut wie gar nichts von dir. Ich habe mich schon gefragt, was denn eigentlich in dir vorgeht. Irgendwas ist doch los mit dir, und du sagst uns das nicht.«

»Was soll schon los sein«, sage ich. Aber mir kommt wieder dieses beklemmende Gefühl in die Kehle, das ich oft habe, wenn mich einer ausfragen will. Ich schalte auf Verteidigung.

»Uns kannst du doch alles sagen, das weißt du doch«, sagt mein Vater.

»Was denn bloß? Ich möchte nur mal wissen, was ich euch sagen soll?«

»Na ja«, sagt er, und es soll beruhigend klingen, »zum Beispiel, wo du heute nachmittag gewesen bist.«

»Heute nachmittag? Bei Ulrich war ich, wieso?« Ich werde knallrot im Gesicht. Ich spüre, wie es heiß in mir raufsteigt. Ich habe ihn angelogen. Er merkt das bestimmt, aber warum fragt er auch so gemein, warum kapiert er nicht, daß es Dinge gibt, die ich ihm nun wirklich nicht erzählen kann. Er sagt mir ja auch nicht alles, und ich frage ihn schon lange nichts mehr.

Es scheint, als hätte er meine Antwort gar nicht gehört. »Hast du Sorgen in der Schule?« fragt er, und ich spüre seinen Blick in mich dringen, als wolle er die Wahrheit aus mir rausbrennen.

»Nein!« sage ich, und ich schreie es fast. Er hat mich mit den Augen festgenagelt, und ich bringe es einfach nicht fertig, rauszugehen und ihn einfach hier stehenzulassen.

»Oder ist es was mit Mädchen?«

Päng! Er hat mich erwischt. Voll auf den Punkt getroffen. Ich stehe da, starre ihn mit offenem Munde an, und einen Moment lang weiß ich nicht, ob das wirklich Zufall ist, oder ob er vielleicht irgendwas erfahren hat.

»Du kannst mir doch alles erzählen«, sagt er wieder.

Ich halte das nicht mehr aus. Wenn man ein Tier in die Enge treibt, wird es gewalttätig. Bei der Treibjagd habe ich das mal gesehen. Ich war zum ersten Mal als Treiber dabei, und wir hatten einen ausgewachsenen Wildeber eingekreist und rannten lärmend auf ihn zu. Als der Eber merkte, daß er von allen Seiten umzingelt war, senkte er den Kopf und rannte wie verrückt direkt auf Kalle Tromke zu.

»Du meine Güte!« schreie ich, und es kann sein, daß ich jetzt aussehe wie so’n wütendes Untier, das sich nicht mehr zu helfen weiß. Ich könnte zerspringen vor Wut, und ich schreie: »Überhaupt nichts ist gewesen! Gar nichts! Ich möchte mal wissen, was ihr immer von mir denkt! Laßt mich doch in Ruhe! Laßt mich doch endlich in Ruhe!« Ich reiße die Tür auf und renne die Treppe hinauf, zwei, drei Stufen nehme ich immer auf einmal. Wie ein gehetztes Tier komme ich mir vor, und als ich oben bin, sichere ich meine Flucht mit einem hastigen Blick die Treppe hinunter.

Da unten steht mein Vater im Flur. Mit einer Hand stützt er sich auf das Treppengeländer, mit der anderen fährt er sich an den Kopf. Er sagt nichts. Aber er sieht zu mir herauf, und dieser still leidvolle Blick ist schlimmer als alle Wörter, die er jetzt hätte sagen können. Ich renne über den Flur, dann stehe ich in meinem Zimmer, knalle die Tür hinter mir zu und schließe mich ein. Wie ein Betrunkener schwanke ich auf mein Bett zu und lasse mich fallen. Weich gibt es unter mir nach, das dicke weiße Federbett wölbt sich neben mir und schließt mich von den Seiten her ein. Ich fühle die Kuhle in der Mitte der Matratze, in die ich mich jede Nacht hineindrehe, wenn ich endgültig einschlafen will. Das Bett riecht angenehm und vertraut. Ich spüre, wie die Wärme langsam auf mich übergeht.

Wenn alles nur ein Traum wäre. Wenn dieser ganze verdammte Tag nicht Wirklichkeit wäre. Wenn ich aufwachen würde in meinem Bett und alles könnte noch einmal, nur anders, ganz anders passieren. Ich würde viel dafür geben. Aber ich höre die Stimme meiner Mutter auf dem Flur vor meiner Tür. »Was ist denn los?« fragt sie, und von unten antwortet mein Vater: »Der Martin«, und dann höre ich die Stufen knarren, jetzt muß sie unten sein, sie sprechen miteinander, aber ich kann nichts mehr verstehen. Dann geht die Küchentür, und dann ist alles ganz still.

Kalle Tromke ist damals in letzter Sekunde zur Seite gesprungen, und der Eber hat den entscheidenden Fehler seines Lebens gemacht. Nachdem er Kalle verfehlt hatte, ist er einen Moment lang bockbeinig stehengeblieben. Natürlich konnte er nicht ahnen, daß es besser für ihn gewesen wäre, in den Kreis der Treiber zurückzurennen, in den hinein kein Jäger gewagt hätte zu schießen. Statt dessen hat er die vermeintliche Freiheit vor Augen gesehen und ist geradeaus weitergerannt. Darauf hatten die Jäger nur gewartet. Drei, vier Schüsse waren es, das Laub staubte auf, das Tier überschlug sich, kugelte den Hang hinunter, und vor einem Baumstumpf blieb es reglos liegen.

Man darf sich nicht so weit vorwagen. Man darf sich nicht so auffällig benehmen. Dann fragen sie gleich wieso und warum und stimmt was nicht mit dir. Man muß lernen, so zu tun, als wäre man gar nicht man selber. Aber so ein verfluchter Wildeber hat eben wenig Möglichkeiten zur Tarnung.

Ich liege in meinem Bett und starre zur Decke. Warum mein Vater solche Fragen stellt, das möchte ich wissen. Manchmal glaube ich, daß er überhaupt nichts weiß über mich.

Im Zimmer nebenan schlägt die Uhr fünf. Ich starre zur Decke und versuche mir einzubilden, alles wäre überhaupt nicht so schlimm und morgen in der Schule könnte ich mit Heike reden wie jeden Tag und nichts wäre kaputt, und ich könnte mir immer noch vorstellen, daß sie irgendwann, eines Tages vielleicht …

Auf dem Hof vor unserem Haus höre ich ein Auto anfahren.

Mein Vater. Jetzt biegt er durch das Tor auf die Straße, jetzt legt er den zweiten Gang ein, das Motorengeräusch wird leiser, jetzt ist er weg.

Und plötzlich sehe ich ihn wieder da unten auf das Treppengeländer gestützt, mit der anderen Hand fährt er sich an den Kopf, ratlos, hilflos, und immer noch hat er diesen Satz auf den Lippen: »Uns kannst du doch alles erzählen, das weißt du doch.«

Warum kann ich das nicht? Warum ist das vollkommen unmöglich?

Manchmal habe ich mir schon vorgestellt, daß ich tatsächlich zweimal lebe. Das ist ungefähr so wie beim Eiskunstlauf, Pflicht und Kür, meine ich. Mein Pflichtleben, das ist, was immer so ist, was jeder so kennt von mir, so vorgezeichnete Linien, nach denen man übers Eis rutschen muß. Name: Martin Pommerland, geboren am 20.5.1961, wohnhaft in Wolfhausen, zweiter Sohn von Gustav und Marie Pommerland, Mittelstürmer der Jugendfußballmannschaft von Eintracht Wolfhausen, nach einjähriger Probezeit am Gymnasium in Halberstedt wieder in die Hauptschule in Wolfhausen zurückversetzt, dort jetzt Schüler der neunten Klasse, Gründungsmitglied des Beat-Clubs Apollo-five, besondere Kennzeichen: keine.

Mit der Kür ist das anders. Die kann ich gar nicht so beschreiben. Überhaupt bin ich erst dabei, meine Kür so richtig auszufeilen, und wenn es nach mir ginge, dann würde ich sagen, bisher waren das alles nur Trainingsläufe.

Natürlich kann das nicht immer so weitergehen, ich meine, man kann nicht immer, wenn man auf dem Hintern sitzt, einfach sagen, es gilt nicht, und ich fange noch mal von vorne an. Und wenn ich ganz ehrlich bin, dann muß ich sogar zugeben, daß mir die Sache heute nachmittag wirklich ernst gewesen ist und daß ich aufs Eis gelaufen bin, um sozusagen meine erste große Kür zu drehen.

Vor dem Anpfiff

Es fing damit an, daß ich zu dem Entschluß kam, eine Freundin haben zu müssen. Wahrscheinlich hört sich das ziemlich hirnrissig an, aber immerhin gab es zwei gute Gründe dafür. Der erste Grund waren Stefan und Arthur. Die beiden gehen in meine Klasse, und sie spielen auch in derselben Mannschaft. Stefan und Arthur kenne ich, seit ich denken kann. Sie sind meine beiden Hauptfreunde, wenn ich das mal so sagen soll. Zusammen haben wir den Club Apollo-five gegründet, einen von drei Beat-Kellern, die es inzwischen in unserem Dorf gibt.

Nun ist es so, daß Stefan, was Mädchen angeht, ein unheimliches As ist. Ich weiß auch nicht, woran das liegt, er ist im Fußball nicht mal besonders gut, aber er hat so eine leichte Art, alles anzupacken, und natürlich sieht er auch nicht schlecht aus. Jedenfalls fliegen die Mädchen auf ihn, und er ist ständig mit Anhang, obwohl er es mit keiner länger als vier Wochen aushält.

Arthur ist da anders. Bodenständiger glaube ich. Arthur geht schon seit über einem Jahr mit Ilona Waldmann, und ich glaube, es hat ihm unheimlich Spaß gemacht, mir das neulich in der Umkleidekabine so ganz beiläufig unter die Nase zu reiben: »Na ja, sie nimmt ja die Pille.«

Wir sind jetzt alle drei fünfzehn, nur ich bin eigentlich noch mit keinem Mädchen so richtig gegangen. Ich glaube, für mein Alter ist das ziemlich bedenklich. Jedenfalls haben mein großer Bruder Benjamin und sogar meine Eltern in letzter Zeit Fragen in dieser Richtung gestellt, daß ich mir klein und häßlich vorgekommen bin. Ich will nicht sagen, daß mich die große Torschlußpanik schon erfaßt hätte, aber ich habe mir doch gedacht, Mensch Martin Pommerland, außer Fußballspielen ist nicht viel mit dir, du bist so’n unbeweglicher, knorriger Apfelbaum, der keinem besonders auffällt, weil es um dich herum eine ganze Menge Bäume gibt, die alle was Besonderes haben. Du bist nur der trübe Durchschnitt.

Diese jämmerliche Vorstellung habe ich eine ganze Zeit mit mir rumgeschleppt. Äußerlich ist eigentlich auch jetzt noch alles wie vorher, und trotzdem hat sich alles geändert. Ob Durchschnitt oder nicht Durchschnitt, es hat bei mir zu brummen angefangen, und ich hätte Knospen schlagen und weiße Blüten entfalten können. Der Frühling hatte sozusagen bei mir eingeschlagen, ich meine, nicht nur daß es März war, ich hatte etwas ganz Neues entdeckt, etwas, das mich von der Schuhsohle bis in die Haarspitzen zittrig machte, wenn ich nur daran dachte: ich hatte mich zum ersten Mal richtig verknallt.

Das war der zweite Grund für meinen Entschluß, eine Freundin haben zu müssen. Der entscheidende Grund, denke ich jedenfalls.

Der zweite Grund heißt Heike Müntermann, und es ist für mich ziemlich schwierig, Heike zu beschreiben. Mit den botanischen Vergleichen komme ich da nicht weiter. Ich will versuchen, sachlich zu sein.

Vor zwei Jahren ist Heike mit ihren Eltern nach Wolfhausen gezogen. Sie haben vorher in Halberstedt, also in der Stadt, gewohnt. Ihr Vater ist Beamter bei der Bundesbahn. Eigentlich wollte Heike zum Gymnasium gehen, und ich bin sicher, daß sie es auch geschafft hätte, aber ihr Vater hat gemeint, sie heiratet ja doch. Heute ärgert sie sich ziemlich darüber, daß sie sich damals nicht besser gewehrt hat, sagt sie jedenfalls, aber wenn ich mal ganz gemein bin, dann denke ich mir, daß es vielleicht doch ganz gut war, daß alles so gekommen ist. Jetzt ist Heike seit zwei Jahren in meiner Klasse. Und so komisch das klingt, das mit dem Gymnasium ist so was wie eine erste Verbindung zwischen uns. Sie durfte nicht, und ich konnte nicht.

Den geistigen Teil in ihrer Familie soll nun ihr zehnjähriger Bruder Werner übernehmen. Er geht jetzt knapp ein Jahr zum Gymnasium, und seine Noten sollen so rosig nicht sein. Dem alten Müntermann würde ich ja schon wünschen, daß sein Familienbildungsplan so richtig durcheinanderkommt. Aber Heike. Was kann ich von Heike noch sagen? Sie hat schwarze Haare bis knapp auf die Schultern, dauernd Hosen an, und im ganzen ist sie ziemlich dünn. Ich finde, sie sieht verdammt gut aus, aber sie ist alles andere als eine Schönheit.

Seit Heike in Wolfhausen ist, hat sie zweimal was mit Jungen gehabt. Einmal mit Stefan, drei Wochen ungefähr, und dann noch mal ganz kurz nur mit Thomas. Beides waren keine richtig festen Sachen, glaube ich jedenfalls. Das Seltsame daran war aber, daß sowohl Stefan als auch Thomas, lange nachdem es für sie aus war mit Heike, daß beide hinterher noch irgendwie von ihr geschwärmt haben. »… Aber das muß man ihr lassen, sie ist ein guter Kumpel.« So auf diesen Satz lief das bei beiden hinaus. Wenn man bedenkt, wie gelangweilt Stefan gewöhnlich von seinen Verflossenen redet, dann kann man erst begreifen, wie anders das mit Heike ist. Man muß sie gesehen haben, um das zu verstehen.

Irgendwie glaube ich sogar, daß, seit Heike im Dorf ist, eine neue Epoche in Wolfhausen angefangen hat. Vielleicht ist das so, ich meine, vielleicht kann man den Anfang einer neuen Zeit oder überhaupt den Anfang von etwas nicht allgemein verordnen, vielleicht kann man so was überhaupt nur für sich selber feststellen.

Seit gestern bin ich mir da ganz sicher. Seit gestern hat für mich eine neue Epoche begonnen.

Ich hatte für meinen Vater im Nachbardorf, in Lösingen, einen Brief abgegeben. Ich war zu Fuß gegangen, weil ich glaubte, das sei gut für meine Kondition. Den Rückweg nahm ich nicht über die Bundesstraße, sondern hinter dem Wald lang, auf dem schlammigen Feldweg. Ich balancierte am schmalen Rand des Weges neben den tiefen Schneewasserpfützen und dachte eigentlich an nichts weiter, als nach Möglichkeit nicht im Morast zu versinken. Plötzlich machte es »plitsch«, und neben mir flog ein Kieselstein in die Pfütze. Ich drehte mich um. Es war aber nichts zu sehen.

Ich ging weiter, und »plitsch« klatschte es zum zweiten Mal. Weil ich nun nicht an Geister glaubte und auch nicht daran, daß der kleine grüne Steinbeißer ausgerechnet in Wolfhausen seine Auferstehung feiern wollte, wurde ich mißtrauisch. Ich rannte die Böschung hinauf, und wie Wotan der Windgott fuhr ich zwischen die Bäume und am Waldrand hin und her.

Ich sah aber trotzdem nichts als regennasse Baumstämme, sperrige Sträucher und modriges Laub. Also drehte ich bei und spielte mit dem Gedanken, mein Leben als erster Apostel des großen Waldgeistes fortzusetzen, als sich plötzlich der Lauf eines Revolvers in meinen Rücken drehte.

»Halt, Gentleman, dies ist ein Überfall!«

Ich fuhr herum. Die Hände hatte ich schon bis zu den Schultern hochgerissen. Ehrlich, ich war ganz schön erschrocken. Heike stand da, lachte, zog den Holzknubbelrevolver bis dicht unter das rechte Auge, und dann sagte sie: »Päng! Nun mußte auch umfallen.«

Ich war erst mal sprachlos. Es kamen so einige Gedanken auf mich zu, und das Dumme war, sie kamen alle auf einmal. »He, Heike«, sagte ich, und gleichzeitig sortierte ich den Gedanken Nummer eins heraus, nämlich den, daß sie mir absichtlich aufgelauert haben könnte.

»Tach auch«, sagte Heike.

»Was machst du denn hier?« fragte ich.

»Pilze sammeln.«

»Aha. Im März …« Ich sah sie an. Sie lachte so geheimnisvoll. Ich vergaß alles andere und konzentrierte mich voll auf den Gedanken Nummer eins: Sie hat mir aufgelauert, und vielleicht will sie was von mir.

»Und woher kommst du?« fragte Heike.

»Lösingen.«

»Kleine Freundin da, was?«

Ich muß mich in diesem Augenblick unheimlich verfärbt haben, jedenfalls brodelte es in meinem Kopf nur so rum, und der Gedanke Nummer eins kristallisierte sich zu einer unbezweifelbaren Aussage: Sie will was von dir. Sie ist ja schon eifersüchtig.

»Nein, Heike, wirklich nicht. Ich habe keine Freundin in Lösingen. Ich habe überhaupt keine Freundin, ehrlich.«

Na ja, ich stotterte ganz schön rum.

Wir haben uns dann noch über Schule unterhalten und über Lehrer und allen möglichen Kram. Ich habe durch vorsichtige Andeutungen wie etwa: »Mensch, jetzt wird es bald Frühling«, immer wieder versucht rauszukriegen, ob sie tatsächlich was will von mir. Aber Heike hat sich auf nichts festgelegt.

Ich habe auch daran gedacht, ihr ganz einfach mitzuteilen, daß sie mich seit langem schon beunruhigt und daß ich beschlossen hatte, daß sie meine Freundin wird.

Aber das habe ich dann auch nicht getan, und dann ist alles so schnell gegangen.

Es ist dunkel geworden, und wir sind zusammen ins Dorf runtergegangen, und an der Kreuzung hat Heike gesagt: »Tschüß, Martin. Es war mal schön, mit dir zu reden.«

»Tschüß«, habe ich gesagt und hinter ihr hergesehen. Sie ist die Hauptstraße runtergegangen und hat sich nicht mehr umgedreht.

Ich war verdattert bis in die Knochen.

In diesem Zustand befand ich mich den ganzen Abend. Und da habe ich es eben getan. Ich habe diesen verdammten Brief geschrieben:

Liebe Heike,

ich glaube, manchmal muß man was ganz Verrücktes machen. Sonst hält man das einfach nicht aus, ich meine das Leben und die Schule und den ganzen Kram. Man lebt so dahin, und dann kommen Augenblicke, da will man mehr, und dann merkt man auf einmal, es geht nicht.

Als ich Dich heute nachmittag getroffen habe, und als wir ganz allein gewesen sind, da wollte ich Dir was sagen. Ich weiß nicht, ob Du das gemerkt hast, ich glaube aber nicht. Also, ich will nicht lange rumreden: Ich fände es eine ganz große Sache, wenn Du meine Freundin würdest. Ich finde, daß wir unheimlich gut zusammenpassen.

Stefan und Arthur wollen in den Sommerferien mit dem Zelt an die Nordsee fahren. Sie wollen Doris und Ilona mitnehmen. Wenn Du Lust hast, dann könnten wir beide da auch mitfahren. Ich würde mich jedenfalls unheimlich freuen, wenn Du ja sagen würdest.

Vorher wäre es natürlich gut, wenn wir uns noch ein bißchen besser als bisher kennenlernen würden. Wie fändest Du das, wenn wir am Sonntag mal zusammen nach Halberstedt fahren würden, ins Kino oder so? Ich lade Dich ein.

Ich weiß, es ist schon ganz schön verrückt, daß ich Dir so einen Brief schreibe, wo wir uns doch jeden Tag in der Schule sehen. Aber irgendwie ist es blöd, so was zu sagen, wenn immer alle dabei sind. Könnten wir uns nicht morgen wieder da treffen, wo Du mich heute »überfallen« hast, und könnten wir dann nicht mal in Ruhe über alles reden? Ich werde jedenfalls morgen um zwei Uhr da auf Dich warten.

Diesen Brief werde ich morgen in der Schule irgendwie in deine Tasche schmuggeln.

Für den Fall, daß Du von allem nichts wissen willst, würde ich Dich trotzdem darum bitten, keinem etwas von diesem Brief zu sagen.

Natürlich, Du könntest mich unheimlich blamieren damit. Aber ich glaube, Du tust es nicht. Oder?

Mit herzlichen

Grüßen Martin.

Na ja, und heute nachmittag stand ich also wieder da am Waldrand, schon um halb zwei.

Ich bin ja kein Weissager, aber es war ganz komisch, irgendwie spürte ich schon jetzt deutlich, daß diese ganze Aktion voll den Bach runtergehen würde, wie mein Großvater gesagt hätte.