Unter Strom - Tom Kummer - E-Book

Unter Strom E-Book

Tom Kummer

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Beschreibung

Die Neunziger. Zwei Frauen Mitte dreißig auf einem Roadtrip durch den Schweizer Hochsommer. Ihnen macht keiner was vor. Nina und Sarah sind Bluts­geschwister seit Jugendtagen und echte Femme Futures: stilbewusst, kaltschnäuzig und zusammen nicht aufzuhalten. Doch was, wenn sie nicht dasselbe Ziel ansteuern? Mit Mitte dreißig verlässt Nina ihren langjährigen Partner in Los Angeles und kehrt zurück in die Schweiz zu ihrer Freundin Sarah, inzwischen eine erfolgreiche Menschenrechtsanwältin. Eine Woche, bevor Nina sich ent­scheiden muss, für einen Partner, für oder gegen Kinder, einen Wohnort, den Beruf. Rasante Motorradfahrten durch die flirrende Berglandschaft, Nacktbaden in kühlen Bergseen – für Nina ist der Trip ein großes Revival der Freiheit, doch Sarah sieht darin den Beginn einer langen Partnerschaft. Und ein Sommerfest in ihrer Villa am Bielersee soll ihr Anfang sein … Wieviel Freiheit verträgt der Mensch, wieviel Einfluss tut ihm gut? Unter Strom stellt die innersten Fragen der Zweisamkeit, so leidenschaftlich und einfühlsam wie es neben Tom Kummer nur wenige können. »Tom Kummer schreibt mit einer ungeheuren sprachlichen Zärtlichkeit.« SWR

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Seitenzahl: 307

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Tom Kummer

Unter Strom

Roman

Tropen

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Tropen

www.tropen.de

© 2022 by J. G. Cotta’sche BuchhandlungNachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Klett-Cotta-Design

unter Verwendung einer Abbildung von © Rekha/Arcangel

Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-608-50513-9

E-Book ISBN 978-3-608-11945-9

Für Henry und Jack

Tag I

1. August 1997 Im Himmel. Schwerelos. Zwischen grauen Schichtwolken ohne Konturen. Wolken aus Eiskristallen mit zerfetzten Rändern. Kumuluswolken über Wyoming.

Sitz 36 A. Nina erwacht. Sie öffnet ihre Augen, schiebt die Sichtblende zur Hälfte hoch, schaut durch das ovale Fenster. Sie fährt mit der rechten Hand über das kurzgeschorene Haar, dann über die männliche Nase. Sie drückt beide Handballen auf ihre Augen, streicht mit ihrem Zeigefinger über die breiten Augenbrauen. Seit Wochen hat sie nicht mehr so tief geschlafen. Sie hebt einen Becher vom Tablett, auf dem Swissair steht, führt ihn konzentriert zum Mund. Ein Strohhalm ragt heraus, eine Zitronenscheibe steckt auf dem Becherrand. Sie trinkt den doppelten Gin Tonic in einem Zug, legt den Kopf auf die Nackenstütze und bewegt stumm ihre Lippen – wie ein Kind, das zählen lernt.

Sie ist gleich nach dem Start in Los Angeles eingeschlafen, und dann begann dieser wunderschöne Traum: Über ihr, zwischen einer massiven Wolkenlandschaft, hing das Universum. Und Tom erklärte ihr im Traum, dass alles mit einer Explosion angefangen hat. Mutter Erde ist durch eine Explosion entstanden. Ein bisschen Masse ist herausgeschleudert worden. Und so dehnt sich dieses Universum immer noch aus.

Es gibt Milliarden Galaxien, Nina! Und das meiste davon ist Leere! Weißt du, was das bedeutet?

Nein, weiß nicht, was es bedeutet.

Sie weiß nur, dass es Zeit ist abzuhauen.

Ninas Augen sind jetzt weit geöffnet. Etwas bewegt sich schon eine Weile durch ihren Magen. Sie sollte nicht mehr an Tom denken. Auch nicht im Traum. Sie blickt zu ihrem Sitznachbarn. Ein riesiger Mann in einem Trainingsanzug mit der Aufschrift Los Angeles Lakers. Seine Knie sind spitz angewinkelt, er hat viel zu lange Beine für die Economy Class. Er trägt Kopfhörer und schaut auf seinen Monitor. Er bemerkt Ninas Blick, nimmt die Kopfhörer ab.

»You like gin and tonic?«

Er lächelt mit riesigen weißen Zähnen zwischen wulstigen Lippen, hat schwarze Augen und lange Rastalocken. Ein winziger Edelstein steckt in seinem linken Ohr und sendet Signale in ihre blauen Augen.

»Yes«, sagt Nina höflich. »Gin and tonic is my favorite drink.«

Sie lächelt zurück. Sie will aber nicht reden. Möchte weiterträumen. Aber ohne Toms Stimme im Kopf.

In Wahrheit ist es mein Lieblingsdrink. Meine erste Bestellung, damals in Barcelona, 1984, als Nina in einem angesagten Club arbeitet, die Bestellung entgegennimmt und unsere Liebe beginnt.

Sie dreht jetzt den Strohhalm im Becher und starrt durch das ovale Fenster, hinaus in die Wolkenlandschaft.

Sie war neunzehn, ich vier Jahre älter. Nina hatte keine großen Erwartungen an die Liebe. Für sie würde die Liebe immer eine Fantasie bleiben. Daran hat sich nichts geändert. Und trotzdem ist alles anders:

Wir übernehmen Verantwortung, essen gesünder, versuchen uns das Rauchen und die harten Drogen abzugewöhnen, ich habe meine Glock 35 freiwillig der Polizei übergeben. Nina kaut nicht mehr Fingernägel. Ich koche öfter was mit Auberginen. Ninas Haut juckt weniger. Wir werden seltener krank, denken manchmal ans Heiraten, an Kinder, an ein Häuschen in der kalifornischen Wüste und die Schweizer Altersvorsorge. Was sich nicht geändert hat: Nina liegt noch immer nächtelang wach. Sie denkt an ein mögliches Ende. An unser Ende. An das Ende der Menschheit.

Vielleicht wäre aus mir eine andere Frau geworden, wenn wir uns nicht begegnet wären, Tom.

Aber wir sind uns begegnet.

Genau. Das ist mein Schicksal.

Unser Schicksal.

»I like gin and tonic, too«, sagt jetzt der riesige Mann auf dem Nebensitz. Er scheint zu bemerken, dass sich Nina nicht ganz wohl fühlt, lächelt höflich und setzt seine Kopfhörer wieder auf.

Nina schiebt die Hand in ihre Hose, kontrolliert die Servietten in ihrem Slip, spürt eine Hitzewelle, die von dort durch ihren Körper drückt. Sie ist noch nie allein nach Europa geflogen. Immer war Tom dabei. Immer. Sie hält sich an der Armlehne fest, blickt durch die halb verdunkelte Fensterluke. Es wird Nacht über Nordamerika. Sie spürt den Rausch im Kopf und Übelkeit, je länger sie an Tom denkt. Den Schmerz im Unterleib, als bewegte sich dort eine kleine Sonde. Sie schaut auf den Monitor vor sich. Ihre Swissair-Maschine wird vorgestellt: McDonnell-Douglas MD-11. Dann erscheinen die Weltkarte und ein kleines Flugzeug, das gerade über Fargo, North Dakota fliegt. Nina starrt auf den leeren Becher und die beiden leeren Gin-Fläschchen auf dem Tablett. Sie zieht die Fernbedienung aus der Armstütze und drückt einen Knopf mit der Aufschrift Service. Ein kurzer Signalton ertönt. Dann schaut sie auf den Bildschirm, wählt New Releases: Men in Black, L. A. Confidential und Jackie Brown stehen zur Auswahl. Sie blickt zu ihrem Sitznachbarn, auf seinen Monitor: Er hat sich für Jackie Brown entschieden. Er lacht immer wieder in sich hinein und schnippt dabei mit seinen langen Fingern.

Sie schiebt ihre Hand wieder in die Hose und streicht mit dem Zeigefinger über ihren Slip. Fühlt sich an wie die Unterseite eines großen feuchten Steinpilzes, wie jener, den Tom letzte Woche in den Big Bear Mountains gefunden hat. Sie schließt die Augen, sie sieht, wie sie mit ihrem Vater durch einen Wald läuft. Er ermahnt sie, den Boden nach Pilzen abzusuchen, anstatt zu träumen. Aber sie findet keine Pilze. Sie legt ihren Kopf zurück, wartet auf das Vibrieren im Hinterkopf, versucht zu schweben, die Schmerzen im Unterleib zu vergessen, den Rausch zu genießen, Schlaf zu finden, zu driften. Einfach driften.

Als Nina wieder erwacht, drückt sie ihre Stirn fest gegen die Scheibe, blickt in die Tiefe. Turbulenzen. Sie schaut auf die Weltkarte. Schwarze Löcher über Neufundland. Sie schließt die Sichtblende. Das Flugzeug rüttelt. In den hinteren Reihen beginnen Kinder zu schreien. Niemand kann sie beruhigen. Schreiende Babys. Fürchterliche Schreie! Wieso tun die Mütter nichts gegen das Geschrei? Nina bewegt ihre Lippen, spricht zu sich selbst. Bald wird die Sonne über Europa aufgehen. Sie nimmt den Kaugummi aus dem Mund, klebt ihn unter die Armlehne.

Eine Stewardess erscheint, gibt Nina ein Zeichen: »Sir, bitte anschnallen.«

Nina blickt auf die Uniform der Stewardess, ein glänzendes Schweizerkreuz am Revers. Es ist ein wunderschöner roter Frauenmund, der gerade »Sir« gesagt hat. Nina schnallt sich an. Sie schließt ihre Augen. Aber nur zur Hälfte. Das Ziehen im Unterleib wird schmerzhafter. Sie hält Ausschau nach einer freien Bordtoilette. Aber da ist keine. Kaum sind die Turbulenzen überwunden, haben sich lange Schlangen in den Gängen gebildet.

Sie blickt zur Decke, und ihre Lippen zittern beim Nachdenken.

Nachdenken und gleichzeitig den Mund bewegen ist freaky.

Was regst du dich auf, Tom? Ist doch nicht verboten, mit sich selbst zu sprechen. Wir alle haben ein zweites Ich.

Aus ihren Träumen weiß Nina, dass es existiert. Vielleicht ist dieses Ich ihr wahres Selbst und ganz allein fähig, die wichtigsten Entscheidungen zu fällen. Ohne Tom.

Vielleicht läuft es für dich besser in der Nacht.

Bullshit, Tom! Ich will im Licht leben. Und in der Dunkelheit gut schlafen. Logisch, oder? Verstehst du das, Tom?

Ein Steward steht jetzt vor ihrer Sitzreihe. Er fragt, was er für Nina tun könne. Sie habe den Knopf Service gedrückt.

Nina fragt, ob vielleicht noch ein Gin Tonic drin wäre.

Der Steward schüttelt den Kopf.

»Die Bar ist geschlossen, Sir. Wir landen in einer Stunde.«

»In einer Stunde?«

»Ja.«

»Wo sind wir?«

»Britische Inseln.«

Nina zieht einen schwarzen Filofax aus der Netzablage am Rücksitz. Es ist ein altes Zeitplan-Ringbuch, ihr Tagebuch. Sie schlägt sorgfältig eine Seite auf, überlegt, drückt ihre Stirn gegen das ovale Fenster und sieht zwei schwarze Löcher in der Tiefe. Sie schaut auf den Monitor. Irische See.

Nina denkt nach. Sie setzt ihren Kugelschreiber aufs Papier. Notiert das Datum: 1.8.1997, den Ort: Über den Wolken, und dann schreibt sie auf, was sie gerade denkt: Meine Anwesenheit im Universum! Sie ist durch Fleisch und Knochen, aber ganz besonders durch mein Blut definiert. Blut ist meine stärkste Verbindung mit dem Universum …

Sie schreibt in jener akkuraten Handschrift, die sie seit der sechsten Klasse in der Sekundarschule Biel beherrscht. Eine Mädchenschrift, behauptet Tom.

Sie hasst ihre Handschrift. Gerne hätte sie so eine abgefuckte Handschrift wie Tom.

Sie schreibt in ihren Filofax: Wunderschöne Wolken über der Irischen See. Sie schaut verloren aus dem Fenster, kratzt mit dem Kugelschreiber an der Scheibe. Dämmerung über Europa. Endlich werden die Wolken wieder ausgeleuchtet. Licht!

Wolken sind eine unendliche Abfolge von Verschleierung und Auflösung. Schließen und Öffnen. Hat ihr Tom erklärt. Natürlich wäre sie gerne mit ihm nach Kansas gefahren. Tornados studieren. Toms neuester Auftrag als Journalist. Sie hätte Fotos geschossen, vom Untergang der Erde.

So magst du es doch, Tom. Dystopisch.

Aber sie will diese Reise und keine Untergangsstimmung! Sie will endlich wieder Hoffnung! Sie will Sarah wiedersehen, die Utopistin. Und die Wolken über der Irischen See, die findet sie jetzt auch nicht so schlecht. Besser als Tornados über Kansas.

Nina schreibt langsam. Bewegt ihre Lippen dazu. Sie genießt es, ihre Gedanken aufs Papier zu bringen. Zum ersten Mal allein über den Atlantik nach Europa fliegen.

Sie schaut aus dem ovalen Fenster. London. Vielleicht könnte sie ja für eine Weile verschwinden, alle Kontakte nach Los Angeles abbrechen. Einfach als verschollen gelten! Sie notiert: Kann ich Tom so tief verletzen, dass er sich nie wieder davon erholen würde? Nie wieder?

Angst schießt durch Ninas Körper, spinnt sich fort wie elektrisch geladene Fäden, bis zwischen ihre Beine. Sie erstarrt. Noch eine Stunde bis zur Ankunft in der Schweiz. Dann wird Sarah am Flughafen vor ihr stehen. Sarah!

Nina stellt mir Sarah von Grauholz zum ersten Mal im Sommer 1984 vor, als ihre »beste Freundin«. Mehr sagt sie nicht. Dabei ist mir sofort klar, dass es zwischen den beiden knistert. Wir kommen frisch verliebt aus Barcelona in die Schweiz und gleiten schon bald über den Bielersee, auf einem Segelboot, das Sarahs Bruder Maik, dem Drogendealer, gehört. Sarah kifft schon damals Kette, aber das macht sie nicht etwa lethargisch, sondern stark, bewusst und gierig nach Leben. Sarah ist nicht die »beste Freundin«, sondern von Kopf bis Fuß in Nina verliebt. Obwohl sie es elegant zu tarnen versteht.

Sarahs Leben und das ihrer Freunde gleicht einer endlosen Kreuzfahrt auf edlen Segelbooten. Wir blicken in die braungebrannten, überlegen lächelnden Gesichter einer intellektuellen Drogen-Bohème. Für Sarah waren die Hanfanpflanzungen ihres Bruders schon als Teenager interessanter als die Weingüter der Familie am Jurasüdfuss. Aber anders als Nina nahm sie nie härteren Stoff, kein Heroin, Kokain, Ketamin.

Sarah lässt sich nichts anmerken. Nicht ihre Abneigung mir gegenüber, ihren Hass auf das ambivalente »anything goes« und »not future« der Punk-Generation, für die ich stehe. Und sie strotzt vor Selbstvertrauen und Glaube an eine bessere Zukunft. Sie lebt autark. Nicht wie Nina, in einem Schwebezustand. Getrieben von ihrer Unsicherheit und dem Hang zur Selbstzerstörung. Verschuldet durch Typen wie mich. Sarah ist mit dem Selbstbewusstsein und der Exzentrik der Berner Aristokratie ausgestattet, strategisch versiert, immer charmant. Bei unserem ersten Zusammentreffen tätschelt sie Nina ständig die Hand, legt den Arm um ihre Schulter und grinst mich dabei an. Sie zieht genüsslich am Joint, als würde sie sich mit jedem Zug einem heiligen Ort nähern, der ihr in der Dunkelheit der abgefuckten modernen Gesellschaft und dem nahenden Ende der Erde entgegenleuchtet. Bald würde Sarah dort mit ihrer »besten Freundin« Zuflucht finden und all die Segnungen einer nachhaltigeren Lebensform empfangen. »Nachhaltig«, auch so ein Wort. Immer gibt sie sich moralisch unangreifbar. Wie die Priesterin einer New-Age-Kirche. Ihre Botschaften sind simpel:

1.Männer sind schuld am Untergang des Abendlandes.

2.Das Patriarchat ist eine Liaison mit dem Kapitalismus eingegangen und übt seine Macht durch die Sexualisierung der Frau aus.

3.»Vulva« ist dem Begriff »Vagina« vorzuziehen.

4.»Und du, Nina! Du bist weder Frau noch Mann. Du bist was dazwischen.«

Zum ersten Mal höre ich den Begriff »Inter«. Sarah will kiffen und steht auf Frauen, die wie Jungs aussehen. Nina.

Nina blättert eine Seite in ihrem Tagebuch um. Wieso pocht ihr Herz so schnell? Sie notiert ihre Gedanken.

Vielleicht ist ihr Herz nichts, was ihr gehört. Sondern einfach ein lebendiges Ding, umschlossen von Toms Hand, in einem Körper, der vielleicht auch nicht ihrer ist.

Sie spürt, wie ihre Hand zittert, wenn sie an Sarah denkt. An ihre schmale Taille, die gerundete Hüfte, die sehnigen Schenkel.

Nina legt das neue Nokia-Mobiltelefon in ihren Schoß. Ein Geschenk von Tom. Sie starrt das Ding an.

Nur für absolute Notfälle. Ruf mich immer von einer Telefonzelle an. Per collect call, Baby.

Über der Normandie schläft Nina wieder ein, erwacht, schläft ein. Sie hört Sarahs Stimme. Sister Sarah!

Sarah wird heute am Flughafen in Zürich-Kloten stehen. Sie wird Nina in ihre Arme schließen. Und Nina wird Sarah eine Weile nicht loslassen. Und vielleicht würde sie in jenem Moment erstmals an die Möglichkeit glauben, sich von Tom zu befreien.

Auf dem Tablett steht jetzt ein Fläschchen Gin. Sie schaut nach links. Der Rasta-Mann lächelt. Sie öffnet vorsichtig den Verschluss, setzt das Fläschchen an und trinkt es in einem Zug leer. Sie schaut aus dem Fenster. Sie studiert die Weltkarte auf dem Monitor vor sich. Schwarze Löcher über Paris. Nina schnippt den Finger mehrmals gegen das leere Gin-Fläschchen. Und merkt erst jetzt, dass sich von ihren Hot Pants eine feuchte Spur über die Innenseite ihres Oberschenkels ausbreitet. Sie schaut zwischen ihre Beine, kratzt sich an den Armen. Sie klappt das Tischchen hoch, befreit sich von ihrem Filofax, stellt die Flasche auf den Boden und schaut zu ihrem Nachbarn. Sie wartet. Sie fixiert den winzigen Edelstein in seinem Ohr, sie studiert das Trikot der Los Angeles Lakers.

»Excuse me, Sir.«

Der Mann löst seinen Gurt, drückt sich hoch, damit er seine Beine ausstrecken kann, und steht auf. Nina schiebt sich an ihm vorbei. Sie hat noch nie einen größeren Menschen gesehen. Aus dem Gepäckfach zieht sie ihre Umhängetasche mit Dr. Seuss’ Cat in the Hat drauf und zerrt eine Drainpipe-Jeans und ein Teddy-Boy-Hemd mit breitem Revers und farbig abgesetzten Applikationen heraus. Der Los-Angeles-Lakers-Typ steht jetzt neben ihr. Hitze durchflutet ihren Körper. Als wäre in ihr ein Brutkasten angesprungen. Sie ignoriert seine Blicke. Mit einer Hand hält sie ihre Jeans und das Hemd. Ihr wird schwindlig, sie tastet sich unsicher den endlosen Gang entlang bis zur Bordtoilette. Sie drückt die Tür auf. Hartes Licht empfängt sie. Wirkt wie eine Erlösung. Sie schließt die Tür hinter sich. Stützt sich auf das Waschbecken, drückt die Stirn gegen den Spiegel. Tief durchatmen. Sie dreht ihre Augen nach oben, blickt vorsichtig von unten in die Lampe über dem Spiegel. Sie reißt ihre Augen weiter auf, hält den Blick, bis sie nichts mehr sehen kann. Eine Ader pocht hinter ihrer Stirn. Ein zuckender Schmerz hinter ihren Augen. Sie rutscht an der Wand entlang auf den Boden, streckt ihre Beine aus.

Verdammt, was machst du mit mir, Tom?

Es muss gleich besser werden. Zeit vergehen lassen. Driften. Es kann nur besser werden.

Irgendwann wird über Lautsprecher die Landung in Zürich-Kloten angekündigt. Es klopft an der Toilettentür. Nina befreit sich von den Hot Pants und ihrem feuchten Slip, zerrt sie unter ihrem Hintern hervor, schiebt sie über die Knie, dann über ihre Füße, die in Teddy-Boy-Creepers mit hohen Kreppsohlen stecken. Sie zieht eine Schicht blutroter Papierservietten zwischen ihren Beinen hervor und lässt sie in die Toilettenschüssel fallen.

Eine Faust schlägt gegen die Tür.

»Please take your seat!«

Nina hat ihre Jeans auf dem Boden ausgebreitet, sie kniet sich jetzt vor die Vakuum-Toilette.

»We’re preparing for landing.«

Sie starrt in die Schüssel. Auf das Ventil. Die Saugeinrichtung. Sie drückt den Knopf. Zuerst geschieht nichts. Dann ein Knall. Das Ventil öffnet sich per Unterdruck. Der kleine Berg blutiger Papierservietten wird in die Tiefe des Swissair-Fäkalientanks gerissen. Dauert drei Sekunden. Done. So einfach bringst du dein altes Leben zum Verschwinden. Und beginnst ein neues Kapitel.

»Two minutes to landing.«

Nina spuckt Galle in die Schüssel. Sie schüttelt den Kopf. Shit.

Das Flugzeug wankt im Landeanflug. Sie schiebt ihren blutigen Slip und die Hot Pants mit der Fußspitze in die hinterste Ecke, wischt den Mund mit ihrem Arm ab, steigt in ihre Jeans und legt Schichten von Papiertüchern auf die Mittelnaht. Dann zieht sie die Hose hoch und schließt den Reißverschluss. Sie findet in der Hosentasche einen Streifen Kaugummi. Steckt ihn in den Mund und beginnt zu kauen. Sie betrachtet sich im Spiegel, feuchtet die langen Haarspitzen an, die wie Koteletten an ihren Wangen kleben. Sie reibt an ihrer Nase, streicht über ihre Augenbrauen und schaut an sich hinunter. Hemd, umgekrempelte Jeans.

»Landing in one minute.«

Nina versucht sich zu beruhigen. Sie kennt diesen Zustand, glaubt an nichts, fühlt sich leer, stellt alles in Frage. Sie braucht einen neuen Plan. Und Sarah hat einen.

Gib’s zu, Nina: Du hast keine Ahnung, wieso du in die Schweiz fliegst, stimmt’s?

Ich will nicht, dass wir unser Leben vergeuden, Tom.

Unser Leben?

Ja. Genau. Unser Leben.

Und darum faselst du was von Bachelor-Party und reist Hals über Kopf in die Schweiz?

Bachelorette heißt es richtig, Tom.

Whatever! Das ist nicht dein Ernst. Deswegen fliegst du nicht in die Schweiz. Bachelorette-Partys sind was für Idioten. Solche Freundinnen hast du nicht!

Sie schwieg. Dachte bereits an Sarah. Sarah würde Nina am Flughafen abholen. Obwohl sie sich eine Ewigkeit nicht gesehen hatten. Ninas erste Jugendfreundin, damals, 1979, lange vor Tom. Das Beste, was einer Vierzehnjährigen passieren konnte, die gerade von zu Hause abgehauen war. Sechs Jahre älter, reifer, gescheiter. Hart im Nehmen. Noch härter im Austeilen. Whatever.

Nina starrt in den Spiegel. Sieben Jahre hat sie Sarah nicht gesehen. Vielleicht bildet sie sich alles nur ein. Ihre Verbundenheit. Ihr Verlangen. Die Idee des Schicksals. Und plötzlich stehst du alleine in der Ankunftshalle, weil kein Mensch daran denkt, dich abzuholen.

Nina verzieht ihr Gesicht. Sie hat Schmerzen. Als grabe sich etwas durch ihren Unterleib, das ihre Energie absaugt. Tom.

Sie lässt sich wieder auf den Boden sinken. Sie wird es nicht zurück zu ihrem Sitz schaffen. Sie zieht die Knie an den Oberkörper, die Arme umfassen ihre Beine. Sie schaukelt rhythmisch hin und her.

Landung.

Stille.

Sie bleibt einfach sitzen. Hört ihren Atem.

Die Maschine dockt am Gate an.

Ein Klopfen an der Tür. Nina reagiert nicht.

Sie hat die Augen geschlossen, den Kopf zur Seite gelegt.

Wie lange schon?

Irgendwann wird die Tür geöffnet. Ein Sanitäter steht bereit. Sicherheitsleute.

Nina zieht ihre Knie noch näher an sich, unter das Kinn. Sie wiegt sich, als ob da Musik wäre. Aber da ist keine.

16:30

Arrival Zürich Airport. Nina sitzt in einem Rollstuhl und wird von einem Angestellten der Firma Careport geschoben. Sie trinkt Wasser aus einer kleinen Plastikflasche. Die Hitze ist unerträglich. Sie legt den Kopf in den Nacken, schließt die Augen. Sie umklammert ihre Tasche. Stöhnt leise. Ein Sanitäter hatte sie noch im Flugzeug zu beruhigen versucht: kleiner Schwächeanfall. Blutdruck normal. Einfach entspannen.

»Werden Sie in Zürich abgeholt?«

»Ja.«

Nina wird jetzt zur Gepäckausgabe gerollt. Sie schaut sich zum ersten Mal um, meint einen Tamilen in der Careport-Uniform zu erkennen.

»Wo ist mein Koffer?«

»Wird per Bahn weitergeleitet.«

»An meine Adresse in Biel?«

»Alles geregelt, Sir.«

Der Tamile schiebt Nina Richtung Schweizer Zoll und unter einem grünen Leuchtschild Nichts anzumelden hindurch. Die Schweizer Zöllnerin nickt freundlich. Dann weiter in die Ankunftshalle. Die Kulisse erscheint Nina wie immer hübsch und sauber. Retuschiert, Toms Worte.

Der Tamile fragt noch einmal höflich, ob Nina abgeholt werde.

Sie antwortet nicht mehr. Ihre Augen suchen die Ankunftshalle nach einer Frau Ende dreißig ab. Sie studiert Gesichter. Ein Trachtenverein hat sich zum Empfang eingefunden. Frauen und Männer in Traditionskleidern singen Lieder, sind völlig verschwitzt. Es ist ein Chor aus Oberägeri. So steht es jedenfalls auf einem Schild. Oberägeri begrüßt Andi und den kleinen Toby. Limousinenfahrer in schwarzen Anzügen tragen Schilder vor sich her und suchen nach ihren Passagieren. Nina fällt auf, dass es ausschließlich dunkelhäutige Fahrer sind.

Sie glaubt unter den Wartenden Sarah zu erkennen. Ihr Gesicht wird von einer riesigen Sonnenbrille verdeckt. Sie trägt eine zerschlissene Lederjacke und enge Jeans, die in hohen Militärstiefeln stecken. Und als ob das nicht reichen würde, hat sie einen Undercut und den halben Schädel rasiert, so wie Nina im Sommer 1979. Die übrigen Haare sind mit Wet-Gel zurückgekämmt, als käme sie direkt vom Pool.

Nina drückt sich jetzt aus dem Rollstuhl. Es fällt ihr schwer. Der Tamile greift unter ihre Arme und hilft ihr hoch. Sie schwingt ihre Kater-mit-Hut-Tasche über die Schulter. Bloß nicht zu viel Euphorie zeigen.

Die Frau mit der schwarzen Sonnenbrille beginnt jetzt wild zu winken: »Nina!«

Sie schiebt die Sonnenbrille über ihre Stirn. Breitet ihre Arme aus.

»What the hell, Baby?«

Die beiden Frauen nähern sich einander. Bis Nina stehen bleibt, wie eingefroren, die Arme eng am Körper, soldatische Haltung.

»Erkennst du mich nicht mehr, Ninchen?«

Nina schließt die Augen. Der Schweiß perlt über ihre Stirn. Ihr Hemd ist durchnässt. Dann lässt sie sich einfach in Sarahs Arme fallen, drückt die Stirn gegen ihre rechte Schulter. Sie zittert, sie lacht, Tränen füllen ihre Augen.

»Was ist passiert, Liebes?«

Sarah zieht Nina fester an sich, schaut kurz zu dem Careport-Mann, der mit einem Dokument wedelt.

Sarah fährt mit ihren langen Fingern über Ninas kurzgeschorene Haare, über ihre Wangen, die glatte Haut, den Hals. Dann streicht sie mit dem Zeigefinger Ninas dichte, männliche Augenbrauen glatt und streift die spitzen, blonden Koteletten.

Sarah küsst Nina auf den Nacken.

»Sweetheart, wieso fährst du mit einem Rollstuhl vor?«

»Vergiss es.«

»Und wieso weinst du?«

»Ich weine nicht.«

Nina reibt sich die Tränen aus dem Gesicht.

Sarah sieht die blasse Haut um Ninas Augen. Augen wie Löcher, die jetzt Schweizer Licht einfangen.

Nina löst sich von Sarah, unterschreibt ein Dokument und drückt dem Careport-Angestellten eine Zehn-Franken-Note in die Hand. Er quittiert das Trinkgeld mit einer höflichen Verbeugung.

»Mir war schlecht, Sarah.«

»Das ist alles?«

»Hab schlecht von Tom geträumt. Das reicht für den Rollstuhl.«

Nina tut lässig. Sarah lächelt.

Nina lehnt die Stirn gegen ihre Schulter. Dann hebt sie den Kopf und flüstert in Sarahs Ohr.

»Seit wann trägst du wieder Lederjacke? Und das bei diesen Temperaturen.«

»Sollte eigentlich eine Überraschung sein. Erinnerst du dich nicht?«

»Ist es wirklich die? Deine erste Lederjacke?«

»Genau die!«

Nina drückt mit den Fingern das Leder ab, schnuppert am Ärmel, begutachtet die Nieten, die blau-weiß-roten Race-Streifen.

»Und was soll dieses Motto-Top?«

Nina fährt mit ihrem Zeigefinger über Sarahs schön geformte Birnenbrüste, die sich verschwitzt unter dem Top mit der Aufschrift Faster, Pussycat! Kill! Kill! abzeichnen.

»Sonst trägst du doch den ganzen Tag Jil Sander, oder?«

»Comme des Garçons, Baby.«

Sarah lacht.

»Lass uns endlich von hier abhauen. Draußen warten noch zwei Überraschungen.«

Sarah nimmt Nina in den Arm und will sie stützen.

»Bitte, Sarah. Ich schaffe das alleine.«

Sarah bleibt stehen, betrachtet Nina.

»Hast du dich für mich so gestylt?«

»Was soll das heißen?«

»Dieser Teddy-Boy-Look.«

Nina schaut verlegen auf den Boden. Die Vergangenheit holt sie wieder ein. Wie lange hat sie nicht mehr über ihren Look nachgedacht? Teddy Boy? Was sieht Sarah darin? Jugendlicher Protest ohne politische Intention? Frauenfeindliche Krawalltypen? Elvis-Tolle? Lange Schlüsselketten? Knielange Anzugsjacken? Drainpipe-Trousers? Der Sound von Stray Cats?

»Ich style mich schon lange nicht mehr, Sarah. Sehe scheiße aus.«

»Nicht für mich.«

»Das ist kein Look, Sarah. Das ist Verwahrlosung.«

»Okay, Nina. Dann verwahrlose ruhig noch ein bisschen mehr.«

Sarah küsst Nina auf die Lippen. Es ist schwül in Zürich. Grausame Hitze. Die Autos bewegen sich im Schritttempo. Menschen warten im Schatten der Flughafenzufahrt. Trinken aus Wasserflaschen. Asiatinnen wedeln mit Fächern, sitzen erschöpft in der Hocke. Verschwitzte Männer stehen in einer markierten Zone und rauchen.

»Seit wann gibt es in der Schweiz Raucherzonen?«

»Du brauchst was zum Entspannen.«

»Ich?«

»Ja, du! Wie willst du es sonst hier aushalten?«

Sarah lächelt.

»So heiß war es hier noch nie. Achtunddreißig Grad, Hitzerekorde, Baby! Zum Wegschmelzen!«

Nina schaut Sarah an. Ihre Lippen sehen ausgetrocknet aus, blass. Sarah benutzt gewöhnlich teuren Lippenstift, der auch nach durchgemachten Nächten noch strahlt, ganz Powerfrau. So erscheint sie jedenfalls auf den Fotos, die Sarah ihr regelmäßig nach Los Angeles schickt. Nichts davon ist zu erkennen. Vor ihr steht die rohe Sarah.

Die beiden Frauen stellen sich in die Raucherzone, neben qualmende Männer in Polyesterhemden, die osteuropäischen Dialekt sprechen. Sarah gibt Nina eine filterlose Zigarette.

»Das brauchst du jetzt, oder?«

Nina schaut sich die Zigarette an.

»Du rauchst doch noch?«

Nina steckt sich die Zigarette kommentarlos zwischen die Lippen. Sarah zündet sie an. Nina inhaliert tief.

Sarah zückt einen kleinen Lederbeutel mit indianischen Verzierungen aus ihrer Innentasche.

»Weißt du, was das ist?«

»Keine Ahnung.«

»Darin haben wir doch immer unsere Schätze versteckt. Kannst du dich echt nicht erinnern?«

»Keinen Schimmer.«

Sarah schüttelt eine blaue Pille aus einem Lederbeutelchen und legt sie auf ihre Handfläche.

»Hier, Sweetheart.«

Nina starrt auf die Pille.

»Ist ganz nach deinem Geschmack. Mach dir keine Sorgen.«

Nina schüttelt den Kopf und verzieht den Mund zu einem ungläubigen Grinsen.

»Echt jetzt, Sarah?«

»Freust du dich nicht?«

Nina nimmt die blaue Pille zwischen die Finger. Sie dreht sich kurz ins Licht. Das Ding hat die Form eines Herzens.

Sarah konzentriert sich auf ihre Zigarette.

»Weißt du, Nina, es gibt so vieles, was ich dich fragen möchte. Zum Beispiel, warum du mich in all den Jahren nicht besucht hast. Ich dachte wirklich, du hättest mich völlig vergessen.«

Nina schaut verlegen auf den Boden.

»Come on, Sarah, ich konnte mir nicht vorstellen, dass du auf mich wartest. Du bist doch jetzt Karrierefrau! Und was mache ich?«

Sarah legt Nina den Arm um die Schulter.

»Blödsinn, Sweetie. Was hat Erfolgreichsein mit unserem Ding zu tun?«

Sarah streicht Nina über das Haar.

»Komm, schluck das Ding runter. Wird dir guttun.«

Nina schaut sich die Pille noch einmal an.

»Goddammit, was bist du für ein blödes Huhn, Sarah!«

Nina lacht.

Es gibt viele Arten zu lachen. Nina beherrscht sie alle.

Aber meistens lacht Nina laut und authentisch. Right in your face. Richtig unerträglich. Finden auch Freunde in Los Angeles. Hab’s ihr schon gesagt. Hör bloß auf mit diesem Lachen. Das hält niemand aus.

Über dem Flughafengelände sticht eine DC 10 der Air India in den Himmel.

»Wo hast du das Zeug her?«

»Von Maik.«

»Und das soll ich jetzt schlucken?«

»Klar.«

»Jetzt gleich?«

»Auf was wartest du? Die Party hat längst begonnen. Du bist hier, bei mir. Mein Stoff ist Extraklasse.«

Sarah boxt Nina in die Seite.

»Sarah, du hast sie doch nicht mehr alle, ich bin erst fünfzehn Minuten im Land.«

»Genau darum. Das Zeug wirkt gegen den Kulturschock.«

Nina blickt in den Himmel. Sie sieht ein Gewirr aus Kondensstreifen.

»Whatever!«

Nina streckt die Zunge raus und legt die blaue Pille darauf. Sarah beobachtet, wie sich Ninas Kehlkopf bewegt. Sie schauen sich in die Augen. Sie starren sich an. Das alte Spiel: Wer zuerst lacht …

Aber nichts passiert.

»Wie war eigentlich dein Flug? Fühlst du dich jetzt besser?«

Nina schüttelt den Kopf. Sie versucht gerade herauszufinden, was Sarah ihr mit der alten Lederjacke beweisen will, und steckt sich einen neuen Kaugummi in den Mund.

Sarah legt den Arm um Ninas Nacken, nimmt sie in den Schwitzkasten: »Du gehörst jetzt mir, Sweetheart. Zum Teufel mit deinem Leben in Los Angeles! Du willst doch nicht als Ehekrüppel enden, oder?«

Sie schaut Nina glücklich an, während sie kleine Rauchschwaden ausstößt.

»Was macht die Arbeit, Sarah?«

Nina fragt ganz sachlich, vielleicht um die Euphorie zu dämpfen.

»Ach, lassen wir das.«

»Habt ihr immer noch Kanzleien in Zürich und Genf?«

»Jetzt auch in Paris und London. Der Laden brummt!«

»Wow.«

»Bin noch nie so viel gereist, hab noch nie so viel gearbeitet. Schlage mich mit alten Männern herum. Zum Kotzen.«

»Das ist doch großartig, Sarah. Erfolg!«

»Wir arbeiten neuerdings für Amnesty International und Greenpeace.«

»Echt jetzt?«

»Verhandle mit abgefuckten Staatsanwälten, korrupten Bullen, Regierungsvertretern.«

Sarah macht eine kurze Pause.

»Wir haben sogar eine neue Firma gegründet. Total krank!«

Dann zieht sie eine Businesskarte aus ihrer Jackentasche. Die Karte trägt einen goldenen Rand und goldene Buchstaben.

Ritter Schneebeli Angst von Grauholz, Rechtsanwälte.

»Ziemlich beeindruckend.«

»Lassen wir das, Sweetie.«

Sarah wirft ihre Zigarette weg.

»Bin so was von froh, dass du endlich hier bist. Jetzt kann ich abschalten. Das wird eine große Party! Für dich! Morgen Abend geht’s richtig los.«

»Wer kommt?«

»Alle!«

»Auch die Soon-to-be-Bräute? Kuki, Reyna, Corinne?«

»Ja. Alle wollen dich sehen! Wird eine Bachelorette-Party mit endlosem Hangover. Ein Meer aus Seeland-Sisters.«

Nina zieht nervös an ihrer Zigarette.

»Seeland-Sisters? Keine Jungs?«

Sarah streichelt über Ninas Arme, sie betrachtet ihre Haut. Dann nimmt sie Nina die Zigarette ab und drückt sie aus.

»Hör zu, mein Engel. Du musst die Augen schließen. Es gibt noch eine Überraschung.«

»Du hast sie doch nicht alle!«

Nina blickt nach oben. Vielleicht wird ja gerade ihr Name an den Himmel gezaubert.

»Schließ die Augen, Nina. Soll wirklich eine Überraschung werden.«

Nina dreht sich weg, blickt gegen die Fassade der Ankunftshalle. Sie schließt die Augen. Sie hört noch, wie sich die schweren Militärstiefel entfernen.

Nina ist wieder schwindlig. Sie legt den Kopf in den Nacken, sieht durch die halbgeschlossenen Lider einen Jet der Ethiopian Airlines über das Flughafengebäude hinwegfliegen. Bestimmt ist ihr wegen der blöden Zigarette schwindlig. Filterlos. Das packen nur die Europäer.

Sechs Monate haben wir in Los Angeles Nikotin-Kleber am Oberarm getragen. Ich wollte es so: Falls es uns ernst ist mit Kindern und Gesundheit, dann schaffen wir das. Und jetzt schon rückfällig. Hell, Nina.

Whatever.

Nina geht jetzt in die Hocke wie die Asiatinnen mit ihren Fächern, lässt ihren Kopf hängen. Vielleicht sollte sie ihre Mutter anrufen. Sie denkt daran, was ihr in den nächsten Tagen noch bevorsteht. Ganz bestimmt muss sie den Vater besuchen, vielleicht die Geschwister oder Toms Mutter in Bern. Sie werden alle dieselben Fragen stellen. Wieso bist du allein hier? Was ist los mit euch? Was machst du mit deinem Leben? Der Gedanke macht Nina noch schwindliger. Sie hat wirklich nichts aus sich gemacht.

Sie hört jetzt, wie ein schweres Motorrad gestartet wird. Nina hält die Augen geschlossen. Sie drückt ihre Hand zwischen ihre Beine, gegen die Klopapierschichten in ihrer Hose. Der Schmerz lässt plötzlich nach. Er wird wärmer. Als käme er aus der Mitte ihres Körpers. Vielleicht wirkt die Pille schon. Welchen Film wird sie fahren? Alles ist möglich. Schließlich ist sie gekommen, um das Schicksal herauszufordern.

Das Motorrad nähert sich, hält auf der Zufahrt, wummert laut, während Nina noch immer in der Hocke sitzt.

Vielleicht hätte sie damals bei Sarah bleiben sollen. Wäre besser gewesen, die smarte, erfahrene Sarah an ihrer Seite zu haben.

Aber Tom kam Sarah zuvor. Damals in Barcelona.

Sie hält ihre Augen immer noch geschlossen. Nimmt sich vor, ab jetzt auf die Zeichen achten, auf Signale, sie will die schicksalhaften Momente erkennen. Kann doch nicht so schwer sein, die richtige Entscheidung zu treffen. Vielleicht sollte sie jetzt zur Toilette. Kontrolle zurückerlangen. Wasserflasche nachfüllen. Aber sie kann sich nicht dazu entschließen. Das Wummern hört nicht auf. Der Fahrer gibt Gas, immer wieder. Es ist ein wunderschönes, sattes Grollen, das die Luft zerfetzt.

Nina öffnet ihre Augen. Ganz langsam. Ein Blinzeln. Vor ihr steht ein Motorrad. Der Fahrer trägt Retro-Helm mit Motorradbrille. Das rechte Bein lässig angewinkelt.

Sarah!

Ihre Beine erscheinen auf dem Motorrad noch länger, ihre Hüften schmaler. Sarah dreht am Gasgriff. Einmal, zweimal. Das Signal. Passanten bleiben stehen, glotzen genervt. Sarah grinst unter ihrem Helm hervor und streicht mit dem Motorradhandschuh über den Hintersitz.

»Worauf wartest du, Baby?«

Nina schiebt sich hoch, wirft ihre The-Cat-in-the-Hat-Tasche über die Schulter, den Blick auf einen gelb glänzenden Benzintank gerichtet, auf dem in schwarzen Buchstaben NORTON steht.

»Setz dir den Helm auf. Let’s go!«

17:05

Heißer Fahrtwind. Aufgerissener Asphalt. Ausgetrocknete Felder, wohin der Blick fällt. Nina sitzt hinter Sarah, die Arme um ihre Hüften geschlungen, den Oberkörper an ihren Rücken gedrückt. Sarah beugt sich nach vorn, den Hintern leicht herausgepresst, Kopf angehoben, Blick konzentriert. Beim Schalten schiebt sie den rechten Fuß nach oben. Klock. Zweiter Gang. Fuß drückt nach unten. Klock. Dritter Gang. Die Norton beschleunigt. Klock. Vierter Gang.

Sie fahren über die Autobahn Richtung Zürich-City, immer auf der Überholspur. Nina hält die Augen geschlossen. Dann gleiten sie in eine Ausfahrt. Nina blinzelt, ihr wird schlecht. Sie stützt ihren Helm auf Sarahs Rücken. Irgendwo erscheint ein Straßenschild. Dübendorf. Weg vom Berufsverkehr. Bloß runter vom kochenden Autobahnbelag. Überlandstraße Richtung Osten. Nina lässt sich treiben. Sie spürt den warmen Fahrtwind. Das Vibrieren des Motors zwischen ihren Beinen, Norton Commando 750, Jahrgang 1969. Auspuffrohre aus Chrom führen zum Hinterrad. Schweizer Sommerlicht dringt jetzt durch Ninas Sonnenbrille, erzeugt Zeichen, ein grafisches Netz aus Spiralen, glitzernden Sternen, buntem Nebel. Das soll die Schweiz sein? In ihrer Erinnerung sah das hier mal anders aus. Wo ist Zürich? Temperaturen wie in der Mojave-Wüste. Sollten sie nicht Richtung Westen fahren? Wo ist Westen? Am Horizont breitet sich ein dünner brauner Vorhang aus, der sich bis zu den Alpen erstreckt. Vielleicht ein Flächenbrand.

Nina klammert sich noch enger an Sarah. Die Norton gleitet sanft durch die Kurven einer leeren Landstraße. In der Ferne ein kleiner See.

»Wo sind wir, Sarah? Sarah!«

Aber Sarah hört nicht, konzentriert sich auf die Straße. Sie streckt ihren Arm aus, zeigt in die Landschaft. Menschen auf den Trottoirs tragen Sonnenschirme. Die Straßen führen an ausgetrockneten Brachen vorbei, an Einkaufszentren und Bauernhöfen. Ein Autohaus, das sich auf amerikanische SUVs spezialisiert hat. Sarah deutet auf ein Schulmädchen, das einsam in kurzer Hose und mit Schulranzen an einer Bushaltestelle sitzt. Nina versteht nicht, was Sarah ihr damit sagen will. Auf einem Straßenschild steht Schwerzenbach, Fällanden. Sarah legt sich in die Kurven, hält die Geschwindigkeit. Nina spürt Sarahs Hintern zwischen ihren Beinen. Ein gleißendes Licht durchdringt sie. Ein Schild: Greifensee. Nina löst die Arme für einen Augenblick von Sarahs Hüften, breitet sie aus, einfach fliegen.

Nina schreit etwas in den Fahrtwind, das wie Fly, Baby, fly klingt. Sie starrt in den gelb-grünen Horizont, bestückt mit kleinen Fabrikhallen und noch mehr Bauernhöfen. Felder, durchsetzt von Kleinindustrie. Über dem See in der Ferne Vögel im Formationsflug. Wie sie Vogelschwärme vermisst hat. Aus dem Stadtbild von Los Angeles sind sie fast verschwunden. Größere Vögel tauchen jetzt auf. Rotmilan. Mäusebussard. Sie kennt die Vogelarten aus ihrer Heimat im Bieler Seeland, am Jurasüdfuss. Ihr Vater ist leidenschaftlicher Vogelkundler. Die Bussarde setzen zum Sturzflug an, direkt über einem Spielplatz, auf dem Kinder im Sand sitzen.

»Sarah!«

Nina klopft Sarah auf die Schulter.

Sarah reagiert nicht. Sie fährt durch zwei langgestreckte Kurven Richtung einer Ortschaft namens Maur. Sie legt ihren Körper nach links, drückt ihr linkes Knie raus, dann wieder nach rechts, das Knie folgt. Nina legt ihren Kopf zurück, spielt mit dem Mittagslicht, das durch ihre Brille dringt. Es ist kein Traum. Nina sitzt auf einer Norton. Sie ist allein. Ohne Tom. Sie wurde am Flughafen abgeholt. Es passiert wirklich. Trockene Landschaft, irgendwo außerhalb von Zürich. Mäusebussarde im Sturzflug über toten Wiesen. Kein Traum. Einsamkeit schärft die Sinne. Toms Worte. Whatever.

Hat sie etwa die Hitze aus Kalifornien mitgebracht? Die Feuer aus Malibu? Die Großstadt-Dekadenz, die sie mit Tom kultiviert hat? Den Ekel? Die Gleichgültigkeit?

Nina klopft fester auf Sarahs Schulter. Sarah schüttelt den Kopf.

»Nicht jetzt, Sweetheart!«

Sarah fährt die nächste Linkskurve noch etwas aggressiver, sie neigt dazu ihren Körper zur Seite.

Nina versucht das Gleichgewicht zu halten, sie klammert sich an Sarahs Hüften, geht mit Sarahs Bewegungen. Auf der linken Straßenseite verläuft ein Bewässerungsgraben, in dem Brackwasser schimmert. Daneben Hütten aus glühender Wellpappe, ein abgebrannter Garten, Autowracks, dazwischen spielende Kinder, die zu einem Wohnwagenpark gehören, dort, wo der Asphalt bröckelt.

»Sarah!«

Nina brüllt gegen Sarahs Lederjacke. Sie schaut zurück, versucht die Mäusebussarde und die Kinder zu lokalisieren. Aber da sind weder Vögel noch Kinder. Im Nordosten hängen Gewitterwolken. Nina schließt ihre Augen. Fast hätte sie das Gleichgewicht verloren. Sie spürt wieder die Feuchtigkeit zwischen ihren Beinen. Den Fahrtwind auf der Haut. Sonnenlicht brennt sich tief in ihre Augen, dieses Schweizer Licht strahlt grell und rein, gebündelt. Nicht wie kalifornisches Licht, das aus allen Richtungen Helligkeit streut, sich aus der mineralisch glitzernden Erde erhebt und Halluzinationen auslöst. Das kalifornische Licht besitzt magische Kräfte. Toms Worte. Er sagt, dass sich die Welt, in der wir seit 1992 leben, aus strukturellen Fiktionen zusammensetzt. Dass da, wo man zum Beispiel Licht, Farbe, feste Formen erkennt, wo die Welt tatsächlich greifbar erscheint, nichts existiert. Ein Nichts! Eine Fata Morgana. Whatever.

Sarah dreht den Kopf leicht zu Nina.

»Alles okay?«

Sie schaltet in einen kleineren Gang, die Norton wummert hochtourig, gewinnt dann wieder an Tempo, Wellen aus Wind drücken auf Ninas Brustkorb. Sie muss husten. Sie spürt, wie sie Blut verliert.

Sie öffnet ihre Augen, sucht nach Straßenschildern, nach Orientierung. Naturfreunde-Zeltplatz am Greifensee steht irgendwo. Sie erkennt einen Kirchturm am Horizont. Ein Wegweiser: Maur Uessikon. Nina klopft auf Sarahs Arm. Sie schreit es in den Fahrtwind.

»Bitte halt an, Sarah! Ich kann nicht mehr!«

»Was?«

»Ich sitze in einer Blutlache!«

»Wo?«

»ICH BLUTE, GODDAMMIT!«