Unter Tage (eBook) - John Harvey - E-Book

Unter Tage (eBook) E-Book

John Harvey

4,9

  • Herausgeber: ars vivendi
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

England, 1984: Der Bergarbeiterstreik spaltet das ganze Land. Die Gewerkschaft und die Thatcher-Regierung stehen sich unversöhnlich gegenüber, und in Bledwell Vale verläuft der Riss mitten durch die Familie Hardwick. Vater Barry lässt sich als Streikbrecher beschimpfen, doch er braucht das Geld, um die Familie durchzubringen. Mutter Jenny ist Aktivistin im Streikkomitee – bis sie kurz vor Weihnachten spurlos verschwindet. Dreißig Jahre später wird im Dorf eine einbetonierte Leiche gefunden. Charlie Resnick ist zwar schon im Ruhestand, wird aber der Ermittlerin Catherine Njoroge als Berater zur Seite gestellt; schließlich war er damals mit dem Auftrag vor Ort, die Streikszene auszuspionieren. Alles verdammt lang her, aber jetzt muss die Wahrheit auf den Tisch: Ausgrenzung, Hass, Korruption, Liebe in Zeiten bitterster Not. Und es gibt noch zwei weitere Cold Cases aus jener Zeit …

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Seitenzahl: 425

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JOHN HARVEY

 

Unter Tage

 

RESNICKS LETZTER FALL

 

KRIMINALROMAN

 

 

Aus dem Englischen von Gottfried Röckelein

 

 

 

 

 

ars vivendi

 

Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel Darkness, Darkness.

Copyright © 2013 by John Harvey

First published in the UK in 2013 by William Heinemann

 

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Deutschen Originalausgabe (1. Auflage September 2016)

 

© 2016 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Stefan Imhof

Umschlaggestaltung: FYFF, Nürnberg, Motivauswahl: ars vivendi

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-747-6

 

Für François Guérif

 

 

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Nachwort des Autors

Der Autor

Der Übersetzer

 

1

Es hatte begonnen zu schneien. Schon geraume Zeit bevor der erste Wagen losfuhr, waren Flocken gefallen, in langen, schrägen Strichen, dünn zunächst, dann immer dichter. Sie sammelten sich in den Ecken und an den Fassaden von Gebäuden und wirbelten zwischen Backsteintrümmern, Ziegelscherben und verrosteten Autoteilen umher, die überall in den Hinterhöfen und winzigen Gärten herumlagen. Der Schnee deckte alles zu. Der Himmel ein tief hängendes, bleiernes Grau, unbarmherzig.

Als sich der Trauerzug in Marsch setzte und von der kleinen Häuserreihe abfuhr, war die Sicht in jede Richtung eingeschränkt, blieben die Flocken rasch auf den Scheiben kleben, wurden sämtliche Geräusche erstickt, verblasste das trübe Licht der Scheinwerfer im alles einhüllenden Weiß.

Resnick war im dritten Wagen und teilte sich den Rücksitz mit einem ernsten Mann in einem abgetragenen Anzug, den er für einen ehemaligen Arbeitskollegen von Peter Waites im Untertagebau hielt. Vor ihnen saß eine ältere, verkniffen dreinblickende Frau, sicherlich eine Verwandte, eine Tante vielleicht oder eine Cousine, aber nicht die einzige noch lebende Schwester, die im ersten Wagen mit Waites’ Sohn Jack saß. Jack. Der war mit seinen halbwüchsigen Söhnen aus Australien zur Beerdigung heimgekommen; und mit seiner Frau, die ihren neuen Schwiegervater nicht gemocht hatte seit jener ersten und letzten Begegnung und die froh gewesen war über die, grob geschätzt, zehntausend Meilen, die zwischen ihnen lagen.

Letzteres hatte Jack Waites am Vorabend Resnick im Vertrauen erzählt, als sie beide sich auf ein Bier getroffen und über die alten Zeiten geredet hatten, in denen Jack als junger Police Constable unter Resnick Dienst am Canning Circus in Nottingham getan hatte.

»Im Umgang mit anderen war er nie einer von der einfachen Sorte«, sagte Jack, »jedenfalls meistens nicht. Mein alter Herr.«

Resnick nickte. »Kann sein.«

Sie hatten im Black Bull in Bolsover gesessen, weil die Dorfkneipe in Bledwell Vale schon seit Langem mit Brettern vernagelt war. Der Ort selbst war großenteils heruntergekommen, verlassen bis auf ein paar wenige isoliert stehende Gebäude und die Häuserzeile mit den ehemaligen Sozialwohnungen des Coal Board, der staatlichen Kohlebehörde, wo Peter Waites den größten Teil seines Erwachsenenlebens verbracht hatte.

»Sie hätten mit ihm zusammenleben müssen«, sagte Jack Waites. »Dann wüssten Sie es.«

»Aus dir ist aber doch was geworden.«

»Aber nicht wegen ihm.«

»Sei nicht so streng, Mann. Nicht an so einem Tag.«

Jack Waites schüttelte den Kopf. »Zwecklos, die Wahrheit zu vertuschen. Meine alte Dame war es, die mich angetrieben und meinen Ehrgeiz geweckt hat. Friede ihrer Asche. Er hätte mich sonst in der Sekunde runter ins Bergwerk geschleppt, in der ich die Schule verließ. Und was wär ich dann jetzt? Arbeitslos wär ich und würde stempeln gehen wie die ganzen anderen armen Hunde hier. Entweder das oder im Callcenter in irgendeiner dieser Industriebruchbuden am Arsch der Welt jobben.«

Er war noch keine vierundzwanzig Stunden wieder im Land, und schon konnte man in seiner Stimme den regionalen Dialekt wieder durchschlagen hören wie das Leiern eines eingerosteten Getriebes mit zu viel Spiel.

Zwecklos zu streiten; Resnick hob sein Glas und trank. In dem, was Jack Waites gerade gesagt hatte, lag schon einiges an Wahrheit; sein Vater war unnachgiebig und hart gewesen wie der Streb vor Ort, wo er fast dreißig Jahre lang geschuftet hatte, bis schließlich nach stolzen und teils chaotischen Streikaktionen von zwölf Monaten Dauer, die fast das ganze Land zerrissen hatten, die Zeche endgültig geschlossen worden war.

 

Resnick war Peter Waites zum ersten Mal in den Anfangstagen des Streiks begegnet, und trotz aller Unterschiede zwischen ihnen waren sie irgendwie Freunde geworden. Waites’ Stimme war eine der lautesten gewesen, die sich fürs Durchhalten erhoben hatten, eine der lautesten in der Kette der pickets,der Streikposten, die mit Wut und Galle jene attackierten, die arbeiten gingen.

»Scab! Scab! Scab!« – Schufte! Sauhunde! Lumpenpack!

»Out! Out! Out!« – Raus! Raus! Raus!

Resnick, kurz zuvor zum Detective Inspector befördert, hatte ein Team zur Beschaffung von Informationen geleitet, dessen Aufgabe es war, Erkenntnisse über die maßgeblichen Akteure des Streiks zusammenzutragen, das Ausmaß der Unterstützung durch die Bevölkerung abzuschätzen und, soweit möglich, ein wachsames Auge auf eventuelle ernsthafte Eskalationen zu haben. Schon zu Beginn, von den ersten Arbeitsniederlegungen an, waren die Grubenbelegschaften in Nottinghamshire die am wenigsten militanten gewesen, die lustlosesten, und Peter Waites und ein paar andere hatten deshalb umso lauter geschrien und versucht, ihre Kameraden auf Linie zu bringen.

Um sie herum heizte sich die Stimmung auf: Fäuste wurden geschüttelt, Fenster gingen zu Bruch, Gegenstände wurden geworfen. Resnick fand, es sei an der Zeit für ein Gespräch.

»Ach du Scheiße!«, hatte Waites ausgerufen, als Resnick – zerknautschter Filzhut, den Gürtel des Regenmantels straff zugezogen, und draußen genug Regen, um die Arche Noah zu Wasser zu lassen – in Peters Stammlokal spaziert war und sich ihn vorgenommen hatte. »Bisschen riskant, was Sie da machen, finden Sie nicht?«

»Dann wissen Sie also, wer ich bin?«

»Bin ja nicht der Einzige mit Augen im Hinterkopf.«

»Gut, das zu hören.« Resnick streckte seine Hand aus.

Die fünf oder sechs Männer, die mit Waites am Tresen gestanden hatten, warteten ab, was dieser tun würde, und entspannten sich erst, als er die Hand des anderen ergriff.

»Ich geb einen aus«, sagte Resnick.

»Das macht in dem Fall eine Runde Shippos für alle«, sagte der Mann zu Waites’ Linken. »Wir sind pleite. Wir streiken nämlich. Oder haste das noch nicht mitgekriegt?«

»In Ordnung«, sagte Resnick.

Einer der Kumpel spuckte auf den Boden und marschierte davon. Die anderen hielten die Stellung. Ein wenig Geplänkel, keineswegs ­bösartig, und nach einer weiteren spendierten Runde zogen Waites und Resnick, wachsam von den anderen beäugt, an einen Tisch in der Ecke.

»Um’s gleich zu sagen: So funktioniert das nicht.«

»Was genau?«

»Sie und ich, dass wir die Köpfe zusammenstecken. Das sieht aus, als hätten Sie mich in der Tasche. Als wär ich ein unsolidarischer Drecksinformant, der sich an einen Bullen ranwanzt. Ist das der Zweck der Übung? Dass ich mein Gesicht verlier? Weil wenn das so ist, haben Sie Ihr Geld zum Fenster rausgeworfen, damit das klar ist.«

Resnick schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht.«

»Sondern?«

»Es geht eher um eine Warnung.«

»Warnung?«, schnaubte Waites. »Sie besitzen die Frechheit …«

»So wie die Dinge gerade laufen, dass immer mehr Kerle aus South Yorkshire zur Verstärkung eurer Streikposten herkommen …«

»Die machen von ihrem demokratischen Recht Gebrauch …«

»Recht auf was? Backsteine durch die Fenster der Leute zu schmeißen? Autos anzuzünden?«

»Das hat es hier nicht gegeben.«

»Nein, vielleicht noch nicht. Aber das wird es.«

»Nicht, solange ich was zu sagen habe.«

»Hören Sie zu.« Resnick legte eine Hand auf Waites’ Arm. »Die Dinge eskalieren doch immer weiter, die Streikposten ziehen in wilden Haufen von einer Zeche zur anderen – was glauben Sie denn, was da ablaufen wird? Glauben Sie etwa, man wird es schön ruhig uns überlassen, damit fertigzuwerden? Der Polizei vor Ort? Es sind bereits genügend Verstärkungen von außerhalb da, und entweder ihr haltet euch entsprechend zurück, oder man karrt weitere heran, von überallher. Aus Devon und Cornwall. Aus Hampshire. Dazu die Met aus London.« Er schüttelte den Kopf. »Dass die Met hier aufkreuzt und den dicken Knüppel schwingt – ist es das, was Sie möchten?«

Waites fixierte ihn unbewegt. »Hier hereinzuspazieren und Flagge zu zeigen ist eine Sache – das kann ich verdammt noch mal respektieren. Aber hier reinzukommen und anzufangen zu drohen …«

»Ich drohe nicht, Peter. Ich sage nur, wie es ist.«

Mit einer für einen so stämmigen Mann erstaunlichen Leichtigkeit stand Resnick auf. Waites hob sein leeres Glas, drehte es um und stellte es hart auf den Tisch zurück.

Als Resnick zur Tür ging, ergoss sich ein Schauer von Verwünschungen über ihn.

 

Im Innern der Kirche war es klamm und kalt; die Wände mit Leimfarbe gestrichen, die Betkissen fadenscheinig, die Bänke blank poliert. Eine Christusfigur über dem Altar mit sehnigen Gliedmaßen, Schnittwunden im Gesicht und leeren, starren Augen. »Abide with Me – Bleibe bei mir.« Die Worte des Pfarrers, die einen Menschen rühmten, der seine Gemeinde mehr als die meisten geliebt habe, einen Ehemann und Vater, klangen trotz allem hohl. Eine Nichte im Sonntagsstaat stand auf und trug der schweigenden Versammlung stockend ein Gedicht vor, das sie in der Schule geschrieben hatte. Der ehemalige Bergmann, der mit Resnick im Wagen gefahren war, erinnerte sich, wie er und Peter Waites am selben Tag die Arbeit in der Schachtanlage begonnen hatten, zwei bekloppte grüne Jungs, die auf den Förderkorb zur Fahrt in die Finsternis unter der Erde warteten.

Resnick war eigentlich davon ausgegangen, dass sich Jack Waites dazu durchringen würde, etwas zu sagen; stattdessen blieb dieser entschlossen sitzen und hielt den Kopf gesenkt. Füße scharrend erhoben sich die Trauergäste, um das letzte Lied zu singen, und die Träger nahmen ihre Positionen ein.

Während sie die Kirche verließen und dem Sarg ins Freie folgten, war es die Stimme des Toten, die Resnick hörte. Eines Abends, vor gar nicht so vielen Jahren, hatten sie in seiner Stammkneipe gesessen. Waites hatte zuerst den Filter von seiner Zigarette abgekniffen, bevor er sie trotzig anzündete.

»Meine Lungen sind sowieso schon kaputt, Charlie. Da spielt es keine Rolle mehr, ob ich rauche oder nicht, egal, was die Leute sagen. Außerdem – wenn ich nur lange genug am Leben bleibe, um den Tod dieses verdammten Weibs noch zu erleben und auf ihrem Grab zu tanzen, ist mir alles andere total schnuppe.«

Dieses verdammte Weib: Margaret Thatcher. In Peter Waites’ Augen diejenige, die hauptverantwortlich für das Schicksal der Bergleute gewesen war. Nach dem Zusammenbruch des Streiks brachte er ihren Namen nie mehr über die Lippen. Nicht einmal, als er am Tag ihres Todes sein Glas auf ihr verhasstes Andenken erhob.

»Das sagt doch schon alles, was, Charlie? Stirbt in ihrem Bett im scheiß Ritz.«

Resnicks Füße hinterließen tiefe Abdrücke im Schnee, während er dem Sarg folgte.

Eine Amsel pickte unbekümmert und voller Hoffnung auf dem gefrorenen Boden am Rand des offenen Grabes herum. Jenseits der Friedhofsmauern gingen Himmel und Erde ineinander über.

Als der Sarg hinabgelassen wurde, entfaltete eine kleine Gruppe von Männern, die sich seit Beginn der Trauerfeier abseits gehalten hatte, eine Fahne, rot-schwarz-gold, die Farben der National Union of Miners, der Bergarbeitergewerkschaft.

»Was soll das?«, sagte Jack Waites zornig. »Was zum Teufel glaubt ihr, was ihr hier macht?«

»Wonach sieht’s denn aus?«, erwiderte einer von ihnen.

»Sag du’s mir.«

»Wir ehren einen Genossen.«

»Auf eure Ehrung ist geschissen! Hier macht ihr das jedenfalls nicht, verdammt noch mal.«

»Dad«, sagte Waites’ Ältester und zerrte ihn am Ärmel. »Dad, bitte nicht.«

Waites schüttelte ihn ab. »Einen Genossen ehren – das hättet ihr tun sollen, als er noch am Leben war. Fast dreißig Jahre arbeitslos, der arme Hund, nachdem eure Gewerkschaft mitgeholfen hat, den Bergbau in die Knie zu zwingen …«

»Red keinen solchen Quatsch daher.«

»Quatsch? Und ob ihr das gemacht habt. Ihr und Scargill, dieser arrogante Scheißkerl; der hat denen doch die Kumpel auf dem Silbertablett serviert, und ihr seid alle zu blind dafür gewesen.«

»Wenn ich du wäre, würde ich aufpassen, was ich sage«, ließ sich ein anderer Gewerkschaftler vernehmen und zeigte seine Faust.

»Ach ja? Wo ist er denn jetzt, euer Scargill, erzähl’s mir mal! Ein Luxusleben führt er in irgendeiner Luxuswohnung in London, und eure Gewerkschaft zahlt ihm über dreißigtausend Rente pro Jahr, und das schon Gott weiß wie lang. Während dieser ganzen Zeit hat mein alter Herr in einem der alten baufälligen Coal-Board-Häuser zusehen müssen, wie er sich über Wasser hält. Und da wollt ihr eine scheiß Fahne zu seinen Ehren hissen …«

»Jack«, sagte Resnick und ging zu ihm. »Lass es gut sein.«

»Da kann ich bloß Gott danken«, sagte der Gewerkschaftler und spie die Wörter aus, »dass dein Vater schon im Grab ist, weil wenn er das nicht wäre und dich hören könnte, würde er vor lauter Scham im Boden versinken und sterben.«

»Verpisst euch!«, sagte Waites mit bebender Stimme. »Verpisst euch, ihr Arschlöcher!« Er hatte Tränen in den Augen. Seine beiden Söhne hatten sich abgewandt.

Die Gewerkschaftler hielten zunächst die Stellung, zogen sich dann zurück und lehnten in einiger Entfernung ihre Fahne gegen die Friedhofsmauer. Der Schnee fiel jetzt nur noch sporadisch, ein trauriger Flaum, der langsam zur Erde torkelte.

Resnick nahm behutsam eine Handvoll Erde auf, spreizte dann die Finger und ließ die Krümel mit düsterer Miene hindurchrieseln.

 

2

Bledwell Vale verdankte seine Existenz, wie einige andere Dörfer im Norden von Nottinghamshire, eher der Ausweitung des Untertagebaus und des Schienennetzes gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts als irgendeinem geschichtsträchtigen Ereignis. Im Jahr 1895 kaufte die Gesellschaft, welche Eigentümerin der örtlichen Kohlengrube war, ein Stück Land und baute umgehend vier einander gegenüberstehende Zeilen von Reihenhäusern, zwölf Einheiten pro Zeile, jede mit Gasbeleuchtung und fließendem Wasser und mit Plumpsklo und Aschengrube im Hinterhof. Schon bald nachdem die Bergleute und ihre Familien eingezogen waren, gab es eine methodistische Kapelle und eine Schule. Schrebergärten. Eine Einrichtung der Berg­arbeiterwohlfahrt. Eine Nebenlinie der Bahn zur Zeche. Ein Pub.

In der Zeit zwischen den Kriegen wurden die Plumpsklos durch WCs ersetzt und die Gasbeleuchtung auf die modernere elektrische umgestellt. Als dann die Kohleindustrie nach dem Zweiten Weltkrieg verstaatlicht wurde, übernahm das National Coal Board die gesamten Liegenschaften und modernisierte sie noch einmal, installierte Bäder und Toiletten innerhalb der Häuser.

Schöne neue Welt.

Obgleich die profitabelsten Gruben in Nottinghamshire nicht auf jener ersten Schließungsliste auftauchten, die im März 1984 den Bergarbeiterstreik auslöste, wurde die Zeche von Bledwell Vale als ausgebeutet eingestuft. Weniger als ein halbes Jahr nachdem man den Streik zähneknirschend beendet hatte und die Männer, noch immer aufrührerisch, wieder an die Arbeit gegangen waren, wurde die Zeche dann geschlossen.

Ein für alle Mal.

Als Peter Waites starb, stand nur noch eine der alten Häuser­zeilen; die Schrebergärten waren längst überwuchert, der Bahnsteig so mit Unkraut zugewachsen, dass er nicht mehr zu erkennen war. Sowohl aus der Schule als auch aus der Kapelle waren alles Blei und alle Holzbalken, alles, was man wiederverwenden oder verkaufen konnte, herausgerissen worden. Im Gegensatz zu einigen anderen Gemeinden – wie beispielsweise Arkwright Town gleich hinter der Grenze zu Derbyshire, wo ungefähr fünfzig neue Häuser als Ersatz für die abgerissenen errichtet wurden und die Leute mit ihrer ganzen Habe einfach auf die andere Seite der Hauptstraße zogen – gab es für Bledwell Vale keine Wiedergeburt, kein neues Leben, keine zweite Chance.

Die Erde war noch dunkel und frisch auf Peter Waites’ Grab, die Blumen an seinem Grabstein noch nicht vom Wind verweht, als auch schon die ersten Bagger und Planierraupen anrollten.

Und so geschah es, dass am Morgen des dritten Tages der nichts ahnende Führer des Baggers beim Abräumen des Schutts am Ende der Häuserzeile auf etwas stieß, das unter dem rückwärtigen Anbau vergraben war und sogar für sein ungeschultes Auge eindeutig nach menschlichen Überresten aussah. Ein menschliches Skelett, insgesamt gut erhalten.

 

Resnick tapste barfuß ins Bad; Dizzy, der letzte Überlebende seiner Katzen, schlängelte sich zwischen seinen Beinen durch. Dann wartete er geduldig, bis Resnick wieder aus der Dusche getreten war, sich abgetrocknet und angezogen hatte und sich auf den Weg nach unten machte. Früher der wildeste, ausdauerndste Jäger, der nach einem nächtlichen Streifzug durch die nahen Gärten mit Feld- und Spitzmäusen, ab und zu mit einer Ratte, einmal sogar mit einem jungen Kaninchen zurückzukehren und die gesamte Beute voller Stolz Resnick zu Füßen zu legen pflegte, war Dizzy inzwischen domestiziert, so gut wie ans Haus gefesselt, durch Arthritis gehandicapt und folgte jetzt Resnick von einem Zimmer ins andere, und wann immer sein Herr außer Haus war, wartete er auf seine Rückkehr.

»Das blüht uns allen mal«, sagte Resnick und bückte sich, um den Kater hinter den Ohren zu kraulen. »He, mein armes altes Kerlchen.«

Resnick war nie ein großer Kinogänger gewesen; zu Beginn seines Ruhestands hatte er angefangen, sich nachmittags Filme im Fernsehen anzusehen, wobei er darauf achtete, während der Werbung für Treppenlifte und Krankenversicherungen das Zimmer zu verlassen, damit er sich nicht noch mehr ärgerte, um dann mit einem frischen Tee wiederzukommen – Kaffee war inzwischen strenger rationiert – und zuzugucken, wie Columbo in den letzten Filmminuten das Verbrechen aufklärte oder John Wayne in irgendeinem uralten Western heroisch und in Technicolor in den Sonnenuntergang ritt. Sein liebster dieser Filme – bei dem es ihm gelungen war, ihn zwischen Weihnachten und Ostern dreimal zu sehen – war Der Teufelshauptmann, in dem John Wayne als Captain Nathan Brittles gegen Ende in den ungewollten Ruhestand reitet und ihm die Armee den besten Reiter des Forts nachschickt, um ihn zu bitten, er möge doch zurückkehren und den Posten des Kommandeurs der Kundschafter im Rang eines Lieutenant Colonel übernehmen.

Gab es nur im Film.

Resnicks eigene Wiederbelebung war weniger glanzvoll verlaufen.

Ihn hatte ein Anruf erreicht, als er nach einem Sandwichlunch gerade Thelonious Monk am Klavier lauschte und versuchte, der Melodie von Smoke Gets in Your Eyes ihre allerletzten Geheimnisse zu entlocken. Eine brüske junge Person aus der Personalabteilung des Polizeipräsidiums hatte ihn informiert, dass man ihm, aufgrund seiner diesbezüglichen Anfrage, jetzt eine Teilzeitstelle als ziviler Ermittler der Direktion in der Inspektion Nottingham City an der North Church Street anbieten könne. Wo Resnick inzwischen schon seit einigen Monaten – zunächst drei Tage die Woche, dann vier, mittlerweile praktisch in Vollzeit – damit beschäftigt war, Zeugen zu befragen, Aussagen aufzunehmen, Papierkram zu erledigen und sich die ganze Zeit über zu zwingen, an die Tatsache zu denken, dass er keinen offiziellen Status mehr hatte, keine Amtsgewalt, keine Festnahmebefugnis.

Ab und zu schaute mal ein Beamter vorbei, der gerade in einer Ermittlung steckte und Resnicks Gedächtnis wegen des einen oder anderen Tatbestands anzapfte oder gar so weit ging, ihn um Rat zu fragen. Ansonsten zog Resnick den Kopf ein und machte mit dem weiter, was gerade anlag, wie trivial es auch sein mochte. Hauptsache, es hielt ihm den Treppenlift vom Leib.

Gegenwärtig war er mit der Endsachbehandlung eines Vorfalls im Stadtzentrum befasst, einer nächtlichen Auseinandersetzung, bei der ein zweiundzwanzigjähriger Student schwer verletzt worden war. Dieser war Zeuge einer lauten und potenziell gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen einem Ortsansässigen und dessen Freundin geworden, hatte das Mädchen gefragt, ob es Hilfe benötige, hatte versucht dazwischenzutreten. Woraufhin das Paar auf den Studenten losgegangen war, ihn gemeinsam mit umstehenden Kumpanen zu Boden geprügelt und ihm mehrere Fußtritte verpasst hatte, mit dem Ergebnis, dass er jetzt im Queen’s Medical Centre im Koma lag. Bislang hatte man zwei Männer und eine Frau der schweren Körperverletzung beschuldigt – Beschuldigungen, die gravierender werden konnten, falls sich an der aktuellen Situation etwas änderte.

An diesem Tag war es Resnicks Aufgabe, einige der etwa ein Dutzend Zeugen, die sich gemeldet hatten, noch einmal zu vernehmen; jeder von ihnen hatte eine etwas andere Sichtweise des Geschehens, eine andere Meinung, welche Person verantwortlich war.

Er biss in sein zweites Toastbrot und sah auf die Uhr. Noch fünf Minuten, höchstens zehn, dann sollte er sich auf den Weg machen. Außer wenn das Wetter wirklich fürchterlich war, hatte er es sich inzwischen zur Gewohnheit gemacht, zu Fuß von seiner Wohnung ins Stadtzentrum zu gehen; die etwa zwanzig Minuten entlang der Woodborough Road genügten, um den Kreislauf in Schwung und das Herz auf Trab zu bringen und die Gliedmaßen funktionstüchtig zu erhalten.

»Bewegung, Charlie, das ist es, was Sie jetzt brauchen«, hatte ihm ein Divisional Commander dringend geraten, als der ihn dummerweise bei seiner Abschiedsfeier, einem Abend mit Pints und Pasteten in der Masson Suite des Stadions von Notts County an der Meadow Lane, zu fassen kriegte. »Geist und Körper …«, hatte er ihm mit dem Finger gegen die Brust gestoßen. »Körper und verdammter Geist.«

Der arme Kerl, fünf Jahre jünger als Resnick, war einen knappen Monat später tot umgefallen; ein Zerebralaneurysma hatte die Blutversorgung seines Gehirns unterbrochen.

Die Uhr zeigte nun 8:07 an. Resnick unterbrach die Politur seiner Schuhe, um das Radio lauter zu stellen. Der neu ernannte Leiter der Inspektion beantwortete Fragen über die Auswirkungen einer weiteren zwanzigprozentigen Kürzung im Budget der Polizei.

»Wird das nicht dazu führen, dass man für die Menschen in der Grafschaft keinen ausreichenden Schutz mehr gewährleisten kann?«, fragte der Interviewer. »Dass sie also größeren Gefährdungen ausgesetzt sind? Dass es zu einem Anstieg bei Einbruch und anderen Straftaten kommt?«

»Nicht, wenn es nach mir geht«, schnaubte der Commissioner.

»Nämlich wie?«

»Indem wir das vorhandene Personal effizienter einsetzen, die uns zur Verfügung stehenden Kräfte besser nutzen. Einige Sesselfurzer hinter ihren Schreibtischen aufschrecken und sie wieder an die vorderste Front schicken.«

Na dann viel Glück, dachte Resnick.

Er überprüfte, ob er alles bei sich hatte, was er benötigte – Brief­tasche, Kleingeld, Schlüssel –, und erinnerte sich, dass er seine Lesebrille oben neben dem Bett gelassen hatte, auf einer Biografie von Duke Ellington, durch die er sich gerade durcharbeitete, jeden Abend ein paar Seiten vor dem Einschlafen.

Er steckte die Brille ein, vergewisserte sich, dass die Hintertür verschlossen war, und löschte das Küchenlicht. Das Radio ließ er an, als Abschreckung für Einbrecher, als Unterhaltung für den Kater. Er trat ins Freie, zog die Tür hinter sich ins Schloss und drehte den Schlüssel um. Schlug den Mantelkragen gegen den Wind hoch. Für später war Regen vorhergesagt, aus Westen hereinziehend.

 

»Bisschen spät heute Morgen, Charlie, sieht dir gar nicht ähnlich.« Andy Dawson, der für die Ermittlung zuständige Detective Sergeant, wartete schon hinter der Tür des Haupteingangs, einen Aktendeckel in der Hand. Resnick hatte kurz beim Stehcafé im Victoria Centre Market für einen doppelten Espresso gehalten und auf die Konsequenzen gepfiffen.

»Neue Zeugen haben sich gerade gemeldet«, sagte Dawson.

»Haben sich Zeit gelassen.«

»Hatten einen Urlaub in Florida gebucht. War wichtiger als so ein armer Hund auf der Intensiven. Wollen gegen zehn kommen.«

Er drückte Resnick den Aktendeckel in die Hand. Ein Beamter der alten Schule, der gar nicht so lange nach Resnick in die Polizei eingetreten war und stets nur das glaubte, was schwarz auf weiß auf dem Papier stand. Vorzugsweise in dreifacher Ausfertigung.

»Übrigens, Charlie, Bledwell Vale – hattest du nicht mal einen Spezi dort oben? Dessen Junge eine Zeit lang bei der Polizei war?«

»Hatte ist richtig. Warum fragst du?«

»Die reißen gerade den ganzen Ort ab, dachte, du hättest davon gehört. Wurde auch langsam Zeit. Jedenfalls – die haben offenbar eine Leiche entdeckt. Hinter einem der Häuser. Die glauben, das arme Schwein liegt schon ne ganze Weile da, wer auch immer es war.« Er hob die Schultern. »Dachte, dich interessiert’s vielleicht, mehr nicht. Die Obduktion ist für morgen Nachmittag angesetzt.«

Resnick nickte und stieß die Tür des Vernehmungsraums auf. Staub und verbrauchte Luft. Er öffnete das Fenster zur Straße und zum Lärm des Verkehrs, der zu schnell die Shakespeare Street in Richtung Mansfield Road entlangbrauste.

Die glauben, das arme Schwein liegt schon ne ganze Weile da, wer auch immer es war.

Zu viele sterben, dachte Resnick. Zu viele sind schon tot. Es bestand durchaus die Möglichkeit, dass er wusste, wer dieses besondere arme Schwein war.

 

3

Resnick war sich nur allzu bewusst, dass sein Kurzzeitgedächtnis nachließ – er war durchaus fähig, die kurze Fahrt zu Tesco Metro zu machen, um dann bei der Ankunft zu vergessen, aus welchem Grund er eine halbe Stunde zuvor aufgebrochen war –, doch sein Langzeitgedächtnis funktionierte bis jetzt noch ausgezeichnet. Ohne lange nachdenken zu müssen konnte er sich Namen und Gesicht jedes Polizeibeamten in Erinnerung rufen, der mit ihm am Canning Circus oder danach zusammengearbeitet hatte, jedes Vorgesetzten, ob gut oder schlecht, unter dem er seinen Dienst verrichtet hatte, und zwar von dem Morgen, an dem er in seine erste Uniform geschlüpft war, bis zum Tag seines Ruhestands. Er konnte die Stars von Notts County herunterrattern, die es ’91 unter Neil Warnock bis in die First Division geschafft hatten – Steve Cherry, Charlie Palmer, Alan Paris, Craig und Chris Short, Don O’Riordan, Paul Harding, Phil Turner, Dave Regis, Mark Draper und Tommy Johnson –, und, noch weiter zurückliegend, die komplette Besetzung des Duke Ellington Orchestra, das zu sehen und zu hören er im November 1969 quer durch das Land bis zur Free Trade Hall in Manchester gefahren war, im selben Jahr, in dem er, ein blutiger Anfänger, zum ersten Mal Streife ging. Und er konnte sich an den Namen der Frau erinnern, die auf dem Höhepunkt des Bergarbeiterstreiks 1984 verschwunden war: Jenny Hardwick.

Er erinnerte sich, sie bei zwei Gelegenheiten gesehen zu haben, das erste Mal relativ früh zu Streikbeginn, bei einer Gemeindeversammlung im Gebäude der örtlichen Bergarbeiterwohlfahrt, die er in der törichten Hoffnung besucht hatte, eine zunehmend vergiftete und aggressive Situation entschärfen zu können.

Die Spannungen zwischen den streikenden Bergleuten und der Polizei, zwischen den Familien der Männer in Dörfern wie Bledwell Vale, die trotz Einschüchterungen weiter zur Arbeit gingen, und denen, die sie auf dem Weg dorthin auf Schritt und Tritt ausbuhten und verhöhnten, waren unerträglich geworden und mitunter in Gewalt­tätigkeiten umgeschlagen. Als Resnick in der Versammlung etwas sagen wollte, wurde er niedergeschrien, trotz wütender Appelle von Peter Waites, man möge ihn anhören.

Waites hatte ihn und einige andere hinterher Jenny vorgestellt. Es war Jenny, die aus der Menge herausgestochen hatte. Dunkelhaarig, mittelgroß, Gesichtszüge eher markant als hübsch, strahlende, sehr intensive blaugraue Augen – und sie hatte keinerlei Hemmungen, Resnick deutlich die Meinung zu sagen.

Das zweite Mal war auf einer Open-Air-Veranstaltung im Spätherbst jenes Jahres in Blidworth gewesen, wo es schon so kühl war, dass man ihren Atem kondensieren sah, wenn sie sprach. Vor ihr hatten die Redner von Entbehrung und Not gesprochen, von der Notwendigkeit, die Verluste des Unternehmens zu verringern, und davon, letztlich doch jedes Angebot anzunehmen, das das Coal Board unterbreiten würde. Aber als Jenny Hardwick das Wort ergriff, hatte sie wenig am Hut mit Beschwichtigungen. Sie richtete ihre Ansprache an die anwesenden Ehefrauen und Mütter und machte ihnen unmissverständlich klar, dass es ihre Pflicht als Frauen sei, alle diejenigen ihrer Mannsbilder, die noch zur Arbeit gingen, davon zu überzeugen, dass sie die Arbeit niederzulegen und sich dem Streik anzuschließen hätten.

Von Anfeuerungsrufen angestachelt, war sie gerade richtig in Fahrt gekommen, als einer der arbeitenden Kumpel, das Gesicht noch vom Staub der Tagschicht verklebt, nach vorn und aufs Podium sprang und sie anbrüllte, sie solle ihr verdammtes Maul halten und zurück nach Hause gehen, wo sie hingehöre.

»Hier gehöre ich her«, hatte Jenny Hardwick geantwortet. »Und hier werde ich bleiben, bis dieser Streik vorbei ist und die Kumpel gewonnen haben!«

Unter allgemeinem höhnischen Geschrei hinkte der Zwischenrufer mit gesenktem Kopf davon, während Jenny den Applaus genießen durfte.

Danach hatte Resnick sie nie wieder zu Gesicht bekommen, hatte kaum etwas über sie gehört, bis dann, kurz vor Jahresende, von einem seiner verdeckten Ermittler das Gerücht kam, sie sei verschwunden. Sie habe die Fliege gemacht, spekulierten einige, und vielleicht war das gar keine so große Überraschung; angeblich waren sie und ihr Mann hinsichtlich des Streiks konträrer Ansicht gewesen und hatten kaum noch miteinander geredet – zumindest sagten das die Leute. Als sie dann, nachdem schon viel zu viel Zeit verstrichen war, schließlich offiziell als vermisst geführt wurde, stellte man Nachforschungen an, auf lokaler Ebene und eher zurückhaltend. Es gab Dringlicheres zu tun, Wichtigeres. Nichts wurde gefunden. Keinerlei Hinweise.

Hat sich verpisst und tschüs, soll ihr Mann im Dorfpub gesagt haben. Aber da war er schon gut bezecht gewesen, weshalb man das nicht zu ernst nehmen durfte.

Die Kinder, drei an der Zahl, alle unter elf, waren eine Zeit lang bei ihrem Dad geblieben, dann aber zur Oma an die Nordseeküste bei Mablethorpe gezogen: ein Eis, wenn sie sich ordentlich benahmen, Eselreiten am Strand, frische Luft; an guten Tagen erhaschte man sogar einen Blick aufs Meer selbst.

Abgesehen von ein paar vereinzelten Sichtungen, von denen nicht eine bestätigt werden konnte, gab es keine eindeutigen Erkenntnisse dazu, wohin Jenny gegangen sein, wo sie sich aufhalten konnte.

Bis heute?, fragte sich Resnick. Bis heute?

Er würde seine Meinung für sich behalten, kein Wort sagen, einfach abwarten.

 

Die forensische Untersuchung des Skeletts wurde penibel und bedachtsam durchgeführt. Routine. Nach all diesen Jahren unter der Erde gab es jetzt überhaupt keinen Grund zur Eile. Aus Größe und Form der Hüfte und der Beckengürtel erschloss man das Geschlecht; aus dem Oberschenkelknochen die Körpergröße; aus Form und Größe des Schädels die Ethnizität; aus der unvollständigen Fusion des Schlüsselbeins und der Abwesenheit von Zacken an den Rändern der Wirbel ermittelte man das Alter.

Laut gerichtsmedizinischem Befund handelte es sich um das Skelett einer weiblichen Weißen, zwischen vierundzwanzig und achtundzwanzig Jahre alt, ungefähr eins fünfundsechzig groß; es hatte zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahre unter der Erde gelegen.

Es gab Anzeichen für zwei unterschiedliche Frakturen der Unterarmspeiche, wovon die erste höchstwahrscheinlich aus der Kindheit stammte. Aufschlussreicher waren die Indizien für eine erhebliche Gewalteinwirkung auf der Schädelrückseite, welche der Frau nach Meinung des Gerichtsmediziners eher zu Lebzeiten als post mortem beigebracht worden sein dürfte, weil lebendes Knochenmaterial anders breche als totes.

Eine Verletzung durch stumpfe Gewalteinwirkung, schloss der Forensiker, höchstwahrscheinlich das Ergebnis mindestens eines Schlages mit einem schweren Gegenstand, wenn nicht mehrerer Schläge, und mit sehr großer Wahrscheinlichkeit die Todesursache.

Trotz aller Mutmaßungen und Indizienbeweise war eine eindeutige Identifizierung noch nicht möglich. Die gerichtsmedizinische Untersuchung der Zähne förderte Hinweise auf eine Wurzelkanalbehandlung sowie eine Porzellankrone zutage, doch war es schwierig, an Jennys zahnärztliche Unterlagen heranzukommen. Von den drei Zahnarztpraxen in der unmittelbaren und weiteren Umgebung hatte eine vor fünfzehn Jahren zugemacht; das Gebäude wurde nun von Privatleuten bewohnt, und es gab keinerlei Informationen darüber, ob die Unterlagen irgendwo aufbewahrt oder vernichtet worden waren. Die zweite Praxis war auf die andere Seite der Grafschaft nach Retford umgezogen; wegen diverser Probleme beim Transport waren die Unterlagen nur nach 1998 vollständig. Die dritte war noch in Betrieb, allerdings inzwischen Teil eines größeren Konsortiums, das sich um Privatpatienten bemühte und in einer Hochglanzbroschüre Zahnweißung, unsichtbare Spangen und Keramikveneers versprach, all die Sachen, welche die moderne Zahnkosmetik für das perfekte Lächeln anbietet.

»O nein«, sagte die Sprechstundenhilfe auf die Anfrage. »Vor dreißig Jahren? Nein, das glaube ich nicht. Unsere ganzen Unterlagen sind digitalisiert.« Dinge, die viel älter waren als sie selbst, so legte ihre Miene nahe, waren für sie schwer vorstellbar.

Einer der Zahnärzte der Gemeinschaftspraxis – Chinese, tadellose Aussprache, Public School und anschließend University of Bucking­ham – war entgegenkommender. Alle Karteiblätter aus der alten Praxis seien in Kisten verstaut und würden im Untergeschoss aufbewahrt. Garantieren könne man aber nichts …

Nach mehreren Stunden des Suchens fanden sie eine verblichene Patientenakte, die nach Schimmel roch und sich feucht anfühlte: eine Karteitasche mit kaum leserlichen Behandlungsnachweisen, darunter eine Röntgenaufnahme, die mehrere Füllungen und einige Wurzelkanalbehandlungen des ersten Backenzahns in der rechten Hälfte des unteren Zahnbogens zeigte.

Treffer.

Name und Adresse sauber in die Kopfzeile geschrieben, die Tinte jedoch fast gänzlich verblichen: Jennifer Elizabeth Hardwick, 7 Station Row, Bledwell Vale, Notts.

Jennifer Hardwick.

Jenny.

Lost and then found.

 

Es bereitete Resnick nicht im Geringsten Vergnügen zu erfahren, dass sich seine begründete Vermutung hinsichtlich der Identität der Leiche als richtig erwiesen hatte. Weitaus lieber wäre ihm gewesen, Jenny Hardwick wäre den grellen Lichtern der Großstadt gefolgt, wie manche angedeutet hatten, wäre irgendwo anders gelandet, an einem anderen Ort, in einem anderen Land womöglich, mit einer neuen Identität, einer neuen Familie vielleicht, einem neuen Leben.

Er zwang seinen abschweifenden Geist zurück zu der vor ihm liegenden Aufgabe, glich zweimal die Liste der Zeugen mit den bereits bearbeiteten Aussagen ab und notierte sich diejenigen, bei denen es sich seiner Meinung nach lohnte, sie sich erneut anzusehen. Das Paar, das auf Urlaub in Florida gewesen war, konnte mit etwas dienen, was zunächst wie eine positive Identifizierung ausgesehen hatte: zwei Handyfotos von der gegenüberliegenden Straßenseite, die einen der Beschuldigten zeigten, wie er dem an der Bordsteinkante liegenden Studenten gegen den Kopf trat. Allerdings waren Blitzausleuchtung und Bildschärfe von einer solchen Beschaffenheit, dass jeder kompetente Verteidiger die Beweiskraft der Aufnahmen vor Gericht erfolgreich angezweifelt hätte. Inzwischen beratschlagte die Familie des Studenten mit den Ärzten im Krankenhaus über die Einstellung der lebenserhaltenden Maßnahmen bei ihrem Sohn.

Was Jenny Hardwick anging, so hatte man mittlerweile bestimmt den Coroner informiert und Vorkehrungen für die Eröffnung und anschließende Vertagung der Gerichtsverhandlung zur Ermittlung der Todesursache getroffen; in der Zwischenzeit würde eine Untersuchung eingeleitet werden, um die näheren Umstände ihres Todes zu ermitteln. Damit würde man, wie Resnick spekulierte, entweder die in der Nähe von Hucknall stationierten Cold-Case-Ermittler beauftragen oder die neuerdings auf Bezirksebene operierende Gruppe für Organisierte Schwerkriminalität, zu der Beamte aus vier Grafschaften gehörten (Nottinghamshire, Leicestershire, Derby und Northamptonshire) und die ihre Zelte – einen flotten Spaziergang durch Forest Fields entfernt – in Hyson Green aufgeschlagen hatten.

So oder so, es ging ihn nichts an.

 

4

Darauf bedacht, ihn nicht zu wecken, begann Jenny, sich langsam unter dem schweren Arm ihres Mannes hervorzuschieben. Fast hatte sie sich schon befreit, als er knurrte und ihr sein Gesicht zuwandte, den Mund offen, den schalen Gestank von Bier im Atem. Sie hob rasch seinen Arm hoch, rutschte zur Bettkante und zog sich das T-Shirt, das sie als Nachthemd getragen hatte, zügig über den Kopf.

»Wo willst’n hin?«, nuschelte er.

»Nirgendwohin. Schlaf weiter.«

»Wie spät ist’s eigentlich?«

»Fünf oder so. Viertel nach.«

»Dann komm wieder rein. Komm wieder ins Bett.«

»Ich kann nicht. Schlaf.«

Brummelnd ließ er sich zurücksinken und schloss die Augen.

Die Dielen unter ihren Füßen waren kalt.

Sie zog Jeans an, zwei Pullover, einen über den anderen, ein Paar dicke Socken. Sie konnte draußen Schritte vorbeigehen hören, gedämpfte Stimmen, die ersten Männer, die sich zur Zeche aufmachten, die Streikposten dieses Tages.

Bis sie ihre Stiefel gefunden und angezogen hatte, schnarchte ihr Mann bereits wieder. Im hinteren Zimmer schliefen alle drei Kinder noch fest; der Jüngste, Brian, hatte den Daumen im Mund und machte leise saugende Geräusche; Mary, das Mädchen, hielt einen zerzausten alten Teddy an seinem einzigen noch verbliebenen Ohr fest. Colin lag auf dem Rücken, den Mund offen, schnarchte leise, eine perfekte Miniaturausgabe seines Vaters.

Jenny stieg schnell die Treppe hinab und verließ das Haus.

 

Frost glänzt auf den Dächern der am Straßenrand geparkten Autos. Jennys warmer, grauer Atem wirbelt durch die Luft. Einige Schritte voraus öffnet sich eine Tür und ein Mann tritt ins Freie; einen Moment lang wird sein Gesicht vom Flurlicht beschienen – keiner, den sie kennt. Ein Dutzend oder mehr der Streikposten aus Yorkshire sind schon seit einer Woche im Dorf einquartiert, andere in den umliegenden Dörfern, wieder andere, so heißt es, kampieren auf den nahe gelegenen Wiesen. Seit die Polizei angefangen hat, Straßensperren zu errichten und den südwärts gerichteten Verkehr zurückzuschicken, gibt es eine neue Taktik; den Transport von Koks und Kohle zu unterbinden und die Einstellung der Arbeit in den Gruben von Notts zu erzwingen hat noch immer Priorität. Über fünfzig Prozent der Kumpel in Nottinghamshire, eher sechzig, weigern sich bislang, den Streik zu unterstützen, und gehen weiterhin zur Arbeit. Trotz aller Auseinandersetzungen ist es Jenny bis jetzt gelungen, mit der Situation zurechtzukommen; ihr Mann ist noch immer einer der Arbeitswilligen.

Mehr und mehr Gestalten schließen sich an und nehmen Schritt auf, meistens Männer, aber auch ein ansehnliches Häufchen Frauen, unter ihnen Gesichter, die sie wiedererkennt, Ortsansässige, Bekannte von Abenden im Pub, von der Wohlfahrt, von den Schultoren.

Eine Frau mit einem fest um den Kopf gebundenen Tuch steuert auf sie zu, berührt sie am Arm.

»Bist du das, Jenny?«

»Entweder ich oder mein Geist.«

»Hab dich hier bei uns noch nie gesehen.«

»Nein, tja, ich dachte, es ist jetzt vielleicht an der Zeit.«

»Dein Barry …?«

»Frag mich nicht.«

Sie sind mittlerweile etwa eineinhalb Kilometer vom Dorf entfernt, die Straße windet sich immer weiter bergauf; vierzig oder fünfzig sind sie jetzt, andere kommen hinzu, Nachzügler; ein paar mit Autos, die meisten zu Fuß. Oben sehen sie deutlich die Scheinwerfer der Schachtanlage, darunter Silhouetten, eine Kette uniformierter Polizisten, Schulter an Schulter. Sie riegeln den Zugang ab, warten.

Die Stimmen um Jenny herum werden lauter, je näher sie kommen, und sie kann spüren, wie die Wut wächst. Männer rufen zum Streik auf, einige von ihnen lachen, machen Scherze, lachen und sind zugleich wütend. Jetzt erkennt sie den einen oder anderen eindeutig wieder; Peter Waites vom Streikkomitee reißt beide Arme hoch und tritt vor die anderen, führt sie an.

»Maggie, Maggie, Maggie! Out! Out! Out!«

»Maggie, Maggie, Maggie! Out! Out! Out!«

Sie sind jetzt fast bei der Polizeikette, und Jenny kann den Ausdruck in den Gesichtern der Beamten lesen: einige von ihnen argwöhnisch, die Jüngeren beinahe verängstigt – ihr war bis jetzt nicht klar gewesen, dass sie so jung sein würden, noch nicht trocken hinter den Ohren –, wieder andere großspurig, randvoll mit Selbstsicherheit, erwartungsfroh, wann es endlich losgeht; doch die meisten ausdruckslos, starren einfach über die Köpfe hinweg, als wären die anderen – wer auch immer die sind, die die Konfrontation mit ihnen suchen – gar nicht vorhanden.

Ein Schrei geht von hinten nach vorn, schnell von einem zweiten gefolgt: der erste der Busse, welche die arbeitswilligen Männer befördern. Wie auf ein Signal hin beginnt die Polizeikette sich vorzuschieben, die Menge zurückzudrängen, und zum ersten Mal erkennt Jenny, wie viele es sind, wie viel an Verstärkung dahinter bereitsteht.

»Halt dich fest!«, sagt eine Frau dicht neben ihr. »Halt dich an meinem Arm fest!«

Die erste Polizeikette teilt die Menge, drängt sie beiderseits zurück, schafft einen Korridor für die Busse. Die Leute um Jenny drücken dagegen, stoßen sie vorwärts, ein Ellbogen fährt ihr schmerzhaft in die Seite. Von irgendwoher der erste Stein.

Unter großem Beifall fliegt ein Polizeihelm davon.

»Scab! Scab! Scab!«

»Out! Out! Out!«

Als sich der erste Bus nähert, trommeln Fäuste gegen die Fenster, und die Rufe schwellen noch stärker an; Spucke läuft die Scheiben hinab, die Gesichter der Männer im Innern bleiben unbewegt, starren geradeaus. Ihr Mann ist nicht dabei, ist nicht unter denen, die sie sehen kann.

»Ihr Judasse! Ihr scheiß Judasse!«

Drei Busladungen insgesamt, und sie können nichts tun, um sie aufzuhalten.

»Sauhunde! Verräter! Gottverdammte Scheißkerle!«

Kaum dass die Busse das Tor passiert haben, wird es hinter ihnen geschlossen; die Anspannung versickert langsam wie Wasser auf einem Mullpolster. Ein letzter Stein, in Richtung der sich zurückziehenden Phalanx der Polizisten geworfen, fällt weit vor seinem Ziel zu Boden. Alle Energie entweicht aus ihrem Körper, und Jenny wendet sich ab. Was haben sie erreicht? Nichts haben sie erreicht.

Sie weiß, dass so zu denken zu rein gar nichts führt.

»Maggie, Maggie, Maggie …«

Nach Hause, die Kinder wachen gleich auf.

 

5

Catherine Njoroge war gebürtige Kenianerin; als sie elf war, wanderte ihre Familie nach England aus, entwurzelt durch die gewalttätigen Unruhen, die auf die Wiederwahl von Daniel arap Moi zum Präsidenten folgten. Nachdem sie die Schulzeit – während der sie sich den allerenglischsten Akzent angeeignet hatte, inzwischen angereichert mit der charakteristischen Färbung der East Midlands, wo sie seit einiger Zeit lebte – bravourös hinter sich gebracht hatte, schaffte sie an der University of Nottingham eine 2,1 in Politik und Geschichte; 0,3 Prozentpunkte hatten zum Einser gefehlt. Da sie nicht gewusst hatte, was sie als Nächstes tun wollte, welchen Weg sie einschlagen sollte, hatte Catherine monatelang geschwankt, ehe sie sich in das Anwerbungsprogramm der Nottinghamshire Police für Hochschulabgänger aufnehmen ließ. Ihre Eltern waren darüber keineswegs glücklich gewesen.

Ihre Mutter war Ärztin, ihr Vater Anwalt, und beide hatten gehofft, dass sich die Tochter nach einem gehobeneren Beruf umschauen würde. Im Staatsdienst vielleicht oder sogar in der Politik. Im diplomatischen Dienst. Auch die Möglichkeit, mit einer juristischen Laufbahn ihrem Vater nachzufolgen, hätte durchaus bestanden. Etwas, das ihren Begabungen würdig gewesen wäre und den Status der Familie innerhalb der Gemeinschaft widergespiegelt hätte. »Würdig« auch in einem weiteren Sinn. Insbesondere ihr Vater hatte ihr immer wieder eingebläut, dass sie eine Verantwortung gegenüber anderen habe, gegenüber jenen, die vom Schicksal weniger begünstigt und weniger privilegiert waren als sie.

»Du bist schuld, Daddy«, hatte sie gesagt und seine Missbilligung weggelächelt. »Du hättest mich nicht mit einem so ausgeprägten Pflichtgefühl großziehen sollen.«

Und so war sie jetzt, mit dreiunddreißig, bei der Kriminalpolizei, vor anderthalb Jahren zum Detective Inspector befördert. Erst vor Kurzem war sie zur East Midlands Serious Organised Crime Unit versetzt worden; die räumliche Entfernung von ihrem alten Arbeitsplatz betrug zwar nur einen guten Kilometer, aber sie hatte sich von Kollegen trennen müssen, mit denen zusammenzuarbeiten sie gewohnt war, und fand sich nun in einer eher disparaten Gruppe mit Beamten aus vier Grafschaften wieder, in einer anderen Umgebung mit einer neuen Befehlskette.

Ihr unmittelbarer Vorgesetzter war Martin Picard, ein Beamter aus Leicestershire, Detective Chief Inspector, gerade mal zwei Jahre älter als Catherine und ganz offen aufs eigene Fortkommen bedacht. Der Leiter der Gruppe – und Ziel von Picards keineswegs seltenen Hinterhältigkeiten – war Andrew Hastings, ein Detective Superintendent mit insgesamt zwanzig Jahren Berufserfahrung, fünfzehn davon in Nottingham.

Dass ihm die Führung einer relativ hochkarätigen und prestigeträchtigen Gruppe übertragen worden war, stellte sowohl einen Beweis dar für das Ansehen, das Hastings allgemein genoss, als auch eine Ehrung für all die Jahre, in denen er umsichtig seinen Dienst verrichtet hatte. Er gehörte weder zu den schneidigen noch zu den öffentlichkeitssüchtigen Vorgesetzten, sondern galt vor allem als gut organisiert und zuverlässig, wenn auch insgesamt als ein wenig langweilig. Genau der Mann, der benötigt wurde, um das zu leiten, was manche noch immer als ein Experiment betrachteten, das man aus der Notwendigkeit heraus, durch Bündelung von Erfahrung so ökonomisch wie möglich zu arbeiten, den Direktionen der vier Grafschaften zugeschoben hatte.

 

Zwei Tage nach der Identifizierung von Jenny Hardwicks Leiche zitierte Hastings Martin Picard in sein Büro.

»Diese Ermittlung wird eine ganz große Sache, Martin; das Medieninteresse ist schon jetzt riesig, wegen der Umstände, unter denen die Leiche des Mädels gefunden wurde. Fast dreißig verdammte Jahre unter der Erde. Das wäre doch ein passender Fall für euch, würde ich meinen.«

»Warum für uns?«, fragte Picard zurückhaltend. »Das ist doch eher was für die Cold-Case-Leute, oder?«

»Möglich. Aber so, wie jetzt alles rund um den Streik wieder aufgerollt wird – dieses ganze Gerede, die Unabhängige Kommission für Beschwerden gegen die Polizei werde sich die Ermittlungen von damals noch mal vornehmen –, da geht der oberen Etage ganz schön die Muffe. Wenn wir das übernehmen, erweckt das den Eindruck, dass die Sache seriös gehandhabt wird. Weil wir nicht so schnell Mist bauen.«

Picard konnte das nachvollziehen; die Cold-Case-Ermittler waren in seinen Augen ein Haufen abgehalfterter Pensionäre, die sich jede Woche die BBC-Serie New Tricks ansahen und sich einbildeten, darin würde die Biografie ihres eigenen traurigen kleinen Lebens gezeigt.

Dennoch war er nicht überzeugt und zeigte es auch.

»Was ist los?«, fragte Hastings. »Eigentlich dachte ich, Sie würden mir die Hand abbeißen, um den Fall zu kriegen.«

Picard schüttelte den Kopf. »Trotzdem würde ich lieber noch mal drüber nachdenken.«

»Dann denken Sie mal drüber nach. Bloß nicht bis in alle Ewigkeit.«

So wie Picard es sah, konnte die Geschichte – wenn die Unabhängige Kommission grünes Licht für ihre eigenen Ermittlungen gegen die Verantwortlichen der Katastrophe von Hillsborough bekam und sich dabei gleich den Streik der Bergleute genauer betrachtete, wie beispielsweise die »Schlacht von Orgreave« und dergleichen –, dann konnte die Geschichte eindeutig gefährlich werden. Besonders dann, wenn die Kommission, wie es gerüchteweise hieß, neue Vollmachten erhielt, um einzelne oder alle betroffenen Polizeibeamten und Angestellten unter Eid aussagen zu lassen.

Was dann aus den Protokollen und Akten zum Vorschein kommen würde, konnte er sich gut vorstellen: Nicht gerade vieles, was makellos glänzte. Begibt man sich auf die Suche nach Dreck, findet man auch welchen. Folglich würde es keine Rolle spielen, dass Picard zu dem Zeitpunkt, als der Streik begann, gerade erst eingeschult worden war; sollte die Polizei bei dem Ganzen schlecht wegkommen, dann war es sehr wohl möglich, dass er, wenn er jetzt Ermittlungen in der gleichen Gegend leitete, zum Schluss ebenfalls sein Fett wegkriegen würde.

Bei jedem anderen als Hastings hätte er sich vorstellen können, dass man ihn vorsätzlich in die Scheiße reiten wollte, aber Hastings, da war er sich sicher, hatte nicht eine einzige machiavellistische Ader im Leib.

Oder doch?

Vielleicht war er ja gerissener, als er aussah.

Nein, dachte Picard, ich passe. Ich gebe den Job an jemand anderen weiter.

 

Catherine Njoroge war an ihrem Schreibtisch und überflog die Berichte, die bislang zum Tod eines zweiundsiebzigjährigen Mannes bei ihr gelandet waren, den man in der Nähe seiner Wohnung mit, wie festgestellt worden war, schweren Verletzungen an Kopf und Körper umherirrend gefunden hatte. Drei Tage später war er im Krankenhaus gestorben. Seine Söhne, Zwillinge, die beide bei ihm im Haus gewohnt hatten, beide ledig, waren festgenommen und befragt worden. Bis jetzt war »kein Kommentar« das Einzige gewesen, was beide gesagt hatten.

»Ein Patrizid«, sagte Picard, während er ihr über die Schulter blickte. »Das ist doch der Fachausdruck, oder?«

»Wir wissen noch nicht, ob es einer ist, Sir, oder?«

»Aber klar wissen wir das, Herrgottnochmal. Wie auch immer – klappen Sie’s wieder zu, geht Sie nichts mehr an.«

Überrascht sah sie zu ihm auf.

»Eindeutiger Fall, waren hinter dem Geld des Alten her, irgendwas in der Art. Ihr Team soll das übernehmen. Ihr Exteam. Sie müssen jetzt größere Brötchen backen.«

Catherine machte den Vorgang zu.

»Jenny Hardwick«, sagte Picard. »Kennen Sie den Namen?«

Catherine nickte. »Das ist die Frau, deren Leiche kürzlich gefunden wurde, im Norden der Grafschaft. War als verschwunden gemeldet – wann? Vierundachtzig? Seitdem hatte keiner was von ihr gehört.«

»Richtig. Bis sie mehr oder weniger in ihrem eigenen Hinterhof wiederaufgetaucht ist.«

Catherine räusperte sich; der Beginn einer Erkältung. »Entschuldigung, aber ich verstehe nicht, was Sie mir sagen wollen. Ich soll Ihnen bei der Ermittlung assistieren?«

Picard lächelte. Bilderbuchlächeln, dachte Catherine.

»Mehr als das«, sagte er.

Sie holte Luft. »Warum ich?«

»Sie strecken hier schon lange genug Ihre Beine unter den Tisch und dürften sich allmählich zurechtgefunden haben. Zeit, mal was Größeres anzupacken als immer nur Pipifax. Zeigen Sie uns, was Sie können. Stellen Sie unter Beweis, was in Ihren Zeugnissen steht, in all den Belobigungen.«

Catherine riss sich zusammen, biss sich auf die Zunge.

»Andrew und ich haben das selbstverständlich durchgesprochen. Wäre was für mich, meinte er, potenziell großes öffentliches Interesse, mediale Aufmerksamkeit. Ein natürlicher Gedanke, schätze ich. Aber ich dachte: Nein, warum nicht Catherine? Zeit, dass dieses Licht unter seinem Scheffel hervorkommt.«

Wieder dieses Lächeln, schleimiger als zuvor.

Du Mistkerl, dachte sie. Ich seh doch, was du vorhast. Du denkst, entweder läuft sich das Ganze in einem Chaos falscher Spuren und Sackgassen tot, oder der Schuss geht nach hinten los, und alles fliegt jemandem gewaltig um die Ohren. Und zwar mir. Sonst hättest du das nie im Leben delegiert. Von vornherein zum Scheitern verurteilt, das Ganze.

»Vielen Dank, Sir«, sagte sie. »Ich weiß das zu schätzen. Ein Vertrauensbeweis. Solange Sie sich sicher sind.«

»Selbstverständlich.« Er streckte eine Hand aus. »Natürlich werde ich ein wachsames Auge auf die Sache haben. Berichterstattung direkt an mich. Wenn es also etwas geben sollte, wo Sie Ihre Zweifel haben …«

»Vielen Dank, Sir.«

»Schauen Sie sich um, stellen Sie sich Ihr eigenes Team zusammen. Jemand mit Erfahrung wäre nicht verkehrt. Zwei von den jungen motivierten DCs, die die Lauferei erledigen. Inspektion B, da könnten Sie sich mal umsehen. Ortskenntnisse und so was.«

»Jawohl, Sir, vielen Dank«, sagte sie wieder; Macbeths Worte vom »giftigen Kelch« klangen ihr in den Ohren.

 

Es dauerte eine gute Stunde, ehe sie an Charlie Resnick dachte, der, wie sie glaubte, gerade tief im Bauch der Inspektion Nottingham City vor sich hin darbte. Wenige Minuten später rief sie ihn an.

 

6

Bei ihrer ersten Begegnung hatte man Catherine Njoroge gerade zum Sergeant befördert und der Ermittlungsgruppe Raub der Inspektion City zugeteilt, wo Resnick kurz zuvor zum Gruppenleiter ernannt worden war. Es hatte nach einem für ihn merkwürdigen Karriereschritt ausgesehen, einem bestenfalls seitwärts gerichteten, weil er zuvor eine ganze Reihe von Jahren die Kripo vom Canning Circus aus geführt hatte und mit Schwerkriminalität, einschließlich Mord, befasst gewesen war. Aber die Polizei war nicht zum ersten Mal von einer Umstrukturierung durchgeschüttelt worden, und obwohl Gerüchte besagten, dass es das Angebot einer weiteren Beförderung geben würde, wonach er voll im Tagesgeschäft hätte bleiben können, hatte Resnick, aus welchen Gründen auch immer, abgelehnt.

»Charlie?«, erzählte einer seiner damaligen Kollegen Catherine, als sie sich nach ihm erkundigte. »Der hat die Zeichen der Zeit erkannt. Hat begriffen, wie die Zukunft aussieht, mit so hoffnungsvollen Talenten wie Ihnen, denen die Unidiplome aus dem Hintern kommen, und nicht mit solchen Typen wie ihm und mir. Dinosaurier – das ist es, was wir sind. Zumindest denken das die hohen Tiere. Charlie nimmt sich einfach aus der Schusslinie, bevor sie ihn mit verbundenen Augen davorstellen.«

»Charlie«, sagte ein anderer, »der schnuckelt doch mit dieser Jungen von der Mordkommission herum, der Glückspilz. Jetzt hat er jemanden, der sich um ihn kümmert auf seine alten Tage.«

Doch so kam es nicht. Auf dem Heimweg von einer Konferenz in London war Lynn Kellogg angeschossen und tödlich verwundet worden, direkt vor dem Haus, in dem sie und Resnick zuletzt zusammengelebt hatten. Catherine war dem Team zugeteilt worden, das in diesem Mord ermittelt hatte.

Wann immer sie Resnick damals sah, war er ihr wie eine Hülse vorgekommen, hohl und ausgetrocknet, leer gedroschen. Erst in letzter Zeit hatte es bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen sie sich begegnet waren, den Anschein, als wäre das Leben allmählich wieder in ihn zurückgekehrt, als würde ab und zu wieder ein wenig Feuer in seinen Augen aufblitzen.

»Charlie«, sagte sie, als sie anrief, »du hättest jetzt nicht vielleicht Zeit für einen Kaffee, nehme ich an?«

 

Sie saßen auf einer der Bänke, von denen man den Old Market Square überblicken konnte, und hielten vorsichtig ihre Pappbecher aus dem Pelham Street Deli. Man hatte den Platz, wie so vieles andere auch, neu gestaltet, hatte ihn neu »designt«. Ein fließender und entspannender öffentlicher Raum, in dessen organischer Form sich klassische Förmlichkeit widerspiegelt … In Resnicks Augen hatte man ihn einfach all dessen beraubt, was ihn interessant gemacht hatte – Blumenbeete, Fontänen, Musikpavillon –, und eine riesige offene Fläche hinterlassen, ohne Charakter oder besondere Merkmale.