Unter Wasser atmen - An Yu - E-Book

Unter Wasser atmen E-Book

An Yu

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Beschreibung

Ein Tauchgang zum Ursprung unserer Gefühle Eines Herbstmorgens findet Jia Jia ihren Mann leblos in der halbvollen Badewanne. Neben ihm liegt die Zeichnung einer rätselhaften Kreatur: halb Fisch, halb Mann. Obwohl der Tod ihres Mannes das Ende einer unglücklichen Ehe und den Beginn einer neuen Freiheit bedeutet, lässt Jia Jia diese Zeichnung nicht mehr los. Der Fischmann verfolgt sie in ihrem einsamen Alltag in der Millionenmetropole Peking und in ihren Träumen. Um seine Bedeutung zu entschlüsseln, begibt Jia Jia sich auf eine Spurensuche, die wertvolle Begegnungen mit sich bringt und sie bis ins Landesinnere Tibets führt – und in die Tiefen ihres eigenen Bewusstseins.

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An Yu

Unter Wasser atmen

Roman

Aus dem Englischen von Tanja Handels

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

1

Der orangefarbene Schal glitt Jia Jia von der Schulter und fiel ins Wasser. Er sank und wurde dunkler dabei, wie ein Goldfisch trieb er neben Chen Hangs Kopf. Jia Jia war erst vor ein paar Minuten ins Bad gekommen, einen Schal über jede Schulter geworfen, um ihren Mann zu fragen, welcher ihm lieber sei. Stattdessen fand sie ihn kopfüber in der halbvollen Wanne, das Gesicht im Wasser, den Hintern in die Höhe gereckt.

»Na so was, willst du dir die Haare waschen?«, hatte sie ihn gefragt.

Sie wusste nur zu gut, dass solche Scherze nicht seine Art waren. Aber war es einem ausgewachsenen Mann denn überhaupt möglich, in der Badewanne zu ertrinken? Sie fasste sein Handgelenk, suchte nach dem Puls, beugte sich vor, um zu sehen, ob Luftblasen aus seiner Nase kamen. Sie rief ihn beim Namen, stieg in die Wanne und packte ihn am Oberkörper, um ihn hochzuhieven, damit er wenigstens richtig herum saß. Aber er war starr wie ein kaputter Roboter und wollte sich nicht rühren.

Der Krankenwagen war unterwegs, das hatte man ihr zumindest gesagt. Jia Jia kniete sich auf die beigefarbenen Kacheln. Sie zog den Stöpsel heraus, um das Wasser abfließen zu lassen. Etwas anderes fiel ihr nicht ein; vielleicht würde Chen Hang ohne Wasser ja wieder Luft bekommen. Die Arme auf dem Wannenrand verschränkt, betrachtete Jia Jia ihren toten Mann, als hätte sie eine Skulptur im Museum vor sich. Solche Ruhe hatte sie noch nie erlebt. Das musste der erste Moment der Stille sein, den sie in vier Jahren Ehe mit ihm teilte: Selbst wenn sie schliefen, waren da immer noch Geräusche – sein Schnarchen, die Klimaanlage, der Verkehr draußen auf der Straße. Jetzt hörte sie absolut nichts. Es war, als würde sein hingekauerter Körper stetig grauer und dürrer, wie trockener, nicht glasierter Ton, der auseinanderzufallen drohte. Jia Jia verspürte einen plötzlichen Brechreiz und stellte fest, dass auch sie den Atem angehalten hatte. Sie drückte die Hand auf den Mund und versuchte, an etwas anderes zu denken. Wie lange es wohl dauerte, bis ein Körper nach dem Tod kalt wurde? Ein paar Minuten? Eine Stunde? Mehrere Stunden? Sie wusste es nicht. Die Feuchtigkeit legte sich wie Hände um ihren Hals, und das Marmorbad, das immer viel zu groß gewesen war, wirkte jetzt ganz klein, es schien sie beide zu ersticken. Jia Jia realisierte, dass Chen Hang nicht eine Sekunde darüber nachgedacht haben konnte, ob ein Ort wie dieser einem Tod angemessen war. Er hatte keinen Gedanken an seine Frau verschwendet, die ihn finden, dabei allein sein würde und zwangsläufig warten musste, bis jemand zu ihr in dieses Badezimmer kam. Er hatte sich nicht überlegt, wie diese ersten paar Minuten für sie sein würden, nachdem sie ihn gefunden hatte, nackt und tot, sonst hätte er doch sicher einen anderen Weg gewählt.

Am Morgen, beim Frühstück, hatte Chen Hang, seufzend und mit einem Bissen eingelegter Gurke im Mund, vor sich hin gebrummelt, es sei vielleicht keine schlechte Idee, ihre jährliche Reise nach Sanya wieder aufzunehmen. Es war das erste Mal seit Wochen, dass ihm etwas Erfreuliches über die Lippen kam. Vergangenes Jahr hatte er den Urlaub ohne Angabe von Gründen abgesagt – ein erstes Anzeichen, wie Jia Jia damals fürchtete, dass er zusehends das Interesse an ihr und dieser Ehe verlor. Geliebt hatte er sie nie, das war ihr klar. Sie war ja nicht dumm. Aber sie hatten einander lebenslange Partnerschaft versprochen, die, wenn schon nicht von Liebe, dann doch von dem erklärten gemeinsamen Ziel zusammengehalten wurde, eine Familie zu gründen. Solange er ihr nur versicherte, dass er mit ihr verheiratet bleiben wollte, hatte sie alles andere verzeihlich gefunden.

»Wann fahren wir?«, fragte sie spontan, während Chen Hang noch an seiner Gurke kaute. »Ich fange gleich nach dem Frühstück an zu packen.«

»Wann du willst. Ich nehme erst mal ein Bad.«

»Ein Bad?«

Jia Jia kannte Chen Hang als einen Mann, der nie badete: Er fand keinen Gefallen daran, im warmen Wasser zu liegen, er duschte lieber und war fest davon überzeugt, dass es der Sauberkeit zuträglicher war. Sie wollte sich schon näher erkundigen – schluckte rasch hinunter, trank etwas Wasser und setzte zum Reden an –, beschloss dann aber, doch lieber zu schweigen, weil sie fürchtete, ihn mit ihrer Frage zu verärgern und ihn so früh am Tag schon in schlechte Stimmung zu versetzen.

»Pack aber nicht zu viel ein«, ermahnte er sie, hob seine Schüssel an den Mund und verspeiste den letzten Rest Congee in einem Rutsch.

Jia Jia hörte ihn den Stöpsel in den Abfluss stecken und das Wasser aufdrehen. Es war November, sie war gerade damit fertig geworden, die Kleiderschränke für den Winter umzuräumen. Sie klappte Chen Hangs Koffer auf, erklomm einen Stuhl und streckte sich nach seinen Sommersachen im oberen Schrankfach, wollte sich nicht ablenken lassen, aus Angst, sonst etwas von ihm zu vergessen. Das durfte ihnen nicht die Reise verderben. Soll er ruhig baden, beschloss sie, soll er etwas Zeit für sich haben.

An diesem Punkt ihrer Ehe fiel es ihr nicht weiter schwer, für Chen Hang zu packen. Als Jia Jia sich das erste Mal um seinen Koffer gekümmert hatte, vor den Flitterwochen, war es ein Fiasko gewesen. Sie hatte viel zu viele Socken eingepackt, dafür aber sein Schachspiel vergessen. Nach dieser Reise hatte sie schnell gelernt, die Sachen im Koffer so zu ordnen, wie er es mochte: die Unterwäsche zusammengerollt, die Polohemden gefaltet, das Schachspiel so eingepasst, dass es auch noch sicher lag, wenn der Koffer aufgegeben wurde, und oben rechts ein freies Eckchen für seine Zigarren, die er eigenhändig aussuchte.

Diesmal lag die größere Herausforderung darin, ihre eigenen Habseligkeiten zusammenzupacken. Sie hatte keine Zeit gehabt, sich neu einzukleiden – was Chen Hang ihr sonst immer auftrug, bevor sie verreisten.

»Geh shoppen«, sagte er dann. »Hol dir ein paar von den neuen Sachen aus den Schaufenstern. Dann siehst du am Strand hübsch aus. Und bist glücklich.«

Vielleicht sollte sie morgen noch shoppen gehen. Aber Chen Hang hatte ihr ausdrücklich aufgetragen, nicht zu viel einzupacken. Gab es finanzielle Probleme? Lief irgendetwas falsch in der Firma? Wieder wollte sie ihn beim Baden stören und ihn fragen. Warum badest du jetzt? Du badest nie. Stimmt etwas nicht bei der Arbeit? Sie war immerhin seine Frau, nicht seine Geliebte, sie hatte ein Recht, das zu wissen. Aber wie so oft im Umgang mit ihm fürchtete sie, etwas aufzustören, was er lieber begraben halten wollte.

Schließlich entschloss sie sich, trotzdem nach ihm zu sehen, sich zu überzeugen, dass das Baden ihn entspannte. Womöglich öffnete er sich ihr dann ja von sich aus. Also hatte sie die beiden Schals ausgewählt, einer orange, der andere mit Blumenmuster, noch ein paar Minuten abgewartet, ihr Lächeln aufgesetzt und vorsichtig die Badezimmertür geöffnet.

Sie hätte ihn gleich fragen sollen, noch am Frühstückstisch. Jetzt musste sie all ihre Fragen herunterschlucken, zurück in den Magen. In dieser Hinsicht hatte sich also eigentlich nichts geändert, und dieser Gedanke erfüllte Jia Jia mit unbändigem Abscheu und Ekel vor dem Mann, von dem sie sich hatte heiraten lassen. Unfähig, es noch weiter zurückzuhalten, stürzte sie zur Toilette, erbrach sich und kniff dabei fest die Augen zu. Er hatte sie betrogen. Sie verlassen. Das einzige Versprechen gebrochen, das er ihr je gegeben hatte. Alles an ihm schien ihr erbärmlich abstoßend: die selbst im Tod noch finsteren Brauen, der wie ein Sack herabhängende Bauch, der kahl werdende Kopf.

Als sie wieder aufsah, entdeckte sie ein Blatt Papier, das auf einem Stapel Handtücher neben dem Waschbecken lag. Es war in der Mitte gefaltet und öffnete und schloss sich sanft in der Stille des Badezimmers. Als wäre das Blatt lebendig. Jia Jia griff danach und legte eine Zeichnung frei – eine Gestalt, der Körper eines Fischs mit einem Menschenkopf. Die Zeichnung war von Chen Hang, sie kannte seinen groben Stil nur zu gut.

Die geschwungene Wirbelsäule zog sich mitten durch den Körper des Wesens, außen war es von Schuppen bedeckt. Selbst aus der kruden Zeichnung wurde ersichtlich, welche Kraft die große Schwanzflosse hatte. Das ganze Bild war hastig gemalt, aber im Gegensatz zum Rest war der menschliche Teil mit großer Präzision ausgeführt worden. Der Kopf wirkte wie ein detailliertes Portrait. Alles war da: die Falten, die leicht hervorschauenden Nasenhaare, die geschwollenen Ringe unter den Augen. Es war der Kopf eines Mannes, dessen Blick direkt durch den Betrachter hindurch zum fernen Horizont ging. Er hatte etwas von einem Passfoto, kein Lächeln, kein Stirnrunzeln. Nichts daran war besonders, bis auf die übergroße, kahle Stirn vielleicht. Er zeigte keinerlei Anzeichen einer interessanten Vergangenheit oder einer aufregenden Zukunft.

Jia Jia musste an einen Traum denken, von dem Chen Hang ihr erzählt hatte. Er war allein in Tibet gewesen, um, wie er es formulierte, »dem ganzen Mist spirituell zu entfliehen«. Chen Hang war kein religiöser Mensch, auch wenn er in jedem Tempel und jeder Kirche, die er besuchte, Geld in die Opferstöcke warf, unternahm aber immer wieder solche Reisen, ganz allein. Jia Jia wusste, dass er das brauchte, wollte sich aber lieber nicht ausmalen, wozu. Normalerweise beruhigte sie sich damit, dass sie ja seine Frau war, die Frau in seinem Haus, und er ein Mann, der sich seine Lebenspartnerin mit großer Sorgfalt ausgesucht hatte, ein Mann, der die Frau seiner Wahl nie verlassen würde, auch wenn sein Herz hin und wieder in einem anderen Bett Ruhe fand. Und darum hatte sie auch vor jeder Reise für ihn gepackt, ihn an der Tür verabschiedet und dann darauf gewartet, dass er wiederkam.

Diese letzte Reise, vor etwa einem Monat, war die erste, die Chen Hang nach Tibet geführt hatte. Eines Nachts hatte er Jia Jia von dort aus angerufen und ihr einen Mann geschildert, der ihm im Traum erschienen war.

»Es war gar kein richtiger Mann«, sagte er. »Eigentlich war es ein kleiner Fisch, der auf einer Platte lag, und alle aßen von ihm. Wir haben ihn alle gegessen, bis aufs letzte Stückchen Fleisch. Sogar die Gräten. Aber als wir uns über den Kopf hermachen wollten, fing der plötzlich an zu reden. Mensch, bin ich erschrocken! Eigentlich wundert es mich, dass ich davon nicht aufgewacht bin. Als er zu reden anfing, habe ich gemerkt, dass er gar kein Fisch ist. Sondern ein Mann. Der Mann hat geredet, gelacht und uns erzählt, er sei spät dran, wir sollten nicht mit dem Essen auf ihn warten. Ich höre immer noch sein brüllendes Gelächter.«

An den Rest des Traums hatte er sich nicht mehr erinnert, und er wusste auch nicht, wer der Mann war. Auch Jia Jia hatte in dem Moment nicht weiter darüber nachgedacht. Der einzige Gedanke, an den sie sich erinnerte, war der, dass Chen Hang wohl allein gewesen sein musste, wenn er sie mitten in der Nacht anrief, dass er zumindest auf dieser Reise also keine andere Frau im Bett gehabt hatte. Genau genommen hatte sie seinen Traum bis jetzt total vergessen, denn seit Chen Hang aus Tibet zurück war, hatte er weder den Fisch noch den Mann wieder erwähnt.

2

Leo stand allein hinter dem dunklen Holztresen seiner Bar und schenkte einen Drink für seinen letzten Gast ein. Er trug ein weißes Hemd, darüber eine schwarze Weste und eine burgunderrote Fliege; die Ärmel hatte er bis zu den Ellbogen hochgerollt, seine Hände waren feucht vom Gläserspülen. Auf dem Plattenspieler fand Billie Holiday ein Ende, und Leo trocknete sich langsam die Hände ab und ersetzte sie durch Chet Baker. Er achtete sehr darauf, sich immer ruhig und kultiviert zu verhalten, seine Bewegungen auf die für seine Arbeit unverzichtbaren zu beschränken – es hatte Jahre gedauert, diese Kunst zur Perfektion zu bringen. Er lachte nur selten laut, war aber trotzdem nie unfreundlich, und manchmal, wenn es nicht zu voll in der Bar war, ließ er sich auch auf Unterhaltungen ein. Keiner kannte seinen richtigen Namen; ihm reichte es, »Leo« zu sein. Diese Art der Zurückhaltung gefiel ihm – eine professionelle, unbeteiligte Rolle, die er in seiner Bar spielen konnte. Und sie hatte den zusätzlichen Vorteil, dass ein englischer Name dem Lokal eine gewisse Eleganz verlieh.

Der Abend neigte sich dem Ende zu, nur eine Frau Anfang dreißig, die in den letzten Wochen fast jeden Abend in die Bar gekommen war, saß noch an dem Tresen. Leo hatte ihren verstorbenen Mann gekannt, Chen Hang. Das Paar lebte in der Wohnanlage auf der anderen Straßenseite; auch das Büro des Mannes war ganz in der Nähe, darum war er Stammgast in der Bar gewesen. Manchmal war er allein gekommen, meistens aber in Begleitung. Und ganz selten hatte er seine Frau dabei gehabt, die aber immer nur so lange geblieben war, wie sie brauchte, um ein Glas Wein zu leeren. Sie trank ausschließlich Wein.

Leo legte Wert darauf, seine Gäste immer ganz genau zu beobachten, und war stolz darauf, einschätzen zu können, in welcher Stimmung sie waren, ob sie Kunden oder Freunde bei sich hatten und wie sie jeweils von ihm behandelt werden wollten. An Chen Hang konnte er sich genau erinnern: ein glatt rasierter Mann, dessen Hautton selbst im Winter dunkel blieb und in dessen Mandarin sich nur gelegentlich ein südlicher Einschlag mischte. Die meisten Menschen hätten seine Herkunft sicher nicht in Frage gestellt, aber Leo, der in Peking geboren und aufgewachsen war, beobachtete als Barkeeper schon seit Jahren die Menschen. Chen Hang war groß für jemanden aus dem Süden, mit breiten Schultern und einer schweren Statur. Aber jedes Mal, wenn er die Bar verließ, senkte er den Kopf, zog die Schultern hoch und beschleunigte seine Schritte ein kleines bisschen. So viele Häuser und Wohnungen er auch besitzen mochte, er würde nie durch die Straßen der Stadt schlendern, als gehörten sie ihm: eine Eigenschaft, die »typisch Peking« war, selbst bei den ärmsten Einwohnern. Dieses ganz spezielle Gefühl von natürlichem Anrecht hatte sich bei ihm nie eingestellt.

Seine Frau war anders. Sie hatte etwas an sich, das Leo nicht deuten konnte, etwas Entrücktes, das er sehr erfrischend fand, als ginge das Treiben der Welt sie gar nichts an. Obwohl sie nicht auffallend attraktiv und eher klein war, ließen ihre klaren Züge, ihr zartes Gesicht und die abfallenden Schultern Leo an die Frauen auf alten Tuschezeichnungen denken. Nicht schön, aber unfassbar feminin. Chen Hang hatte offenbar erkannt, dass Jugend und Schönheit vergänglich waren, und darum hatte er sich sie zur Frau gewählt: eine liebenswürdige Frau, die man als Mann zu Abendeinladungen mitnehmen konnte, um dort festzustellen, dass man, auch wenn die Frau schon älter war, schnell im Mittelpunkt stand, weil man das edelste, geschmackvollste Beiwerk besaß. Wenn er sie in die Bar mitbrachte, dann immer, um zu beweisen, dass er nicht nur beruflich, sondern auch im Privaten erfolgreich war. Ihre Beherrschtheit war allumfassend, und ihr Lächeln schien Leo immer elegant, obwohl ihre Vorderzähne ein klein wenig vorstanden. Es war, als wäre ein Deckel über ihre Gefühle gestülpt, und dieser Deckel hielt stand, selbst wenn sie innerlich kochte.

Nach Chen Hangs Tod hatte sie sich angewöhnt, immer etwa fünfzehn Minuten vor dem Schließen in die Bar zu kommen und Leo damit zu zwingen, sie ein bisschen länger geöffnet zu halten. Die Frau schob die Tür gerade so weit auf, dass ihr schmaler Körper hindurchpasste, und ging dann bis ans Ende des Tresens, stellte ihre Handtasche auf den Barhocker neben sich, bestellte ein Glas Wein, löste ihren Dutt und ließ die Haare lang herunterfallen. Meistens war sie schon angetrunken. Anfangs war es Leo schwergefallen, das zu bemerken, weil sie mit niemandem sprach und ihre Bewegungen immer anmutig blieben. Erst als sie eines Abends nüchtern hereinkam, stellte er einen klaren Unterschied in ihrem Verhalten fest. Sie hielt den üblichen Ablauf ein – Ende des Tresens, Handtasche auf den benachbarten Barhocker, ein Glas Wein, Haare lösen –, zog dann aber einen Stapel Unterlagen hervor und setzte eine Lesebrille auf. Nicht das Lesen selbst verriet ihre Nüchternheit, sondern vielmehr der konzentrierte Gleichmut in ihrer Miene: neugierig und entschlossen in einem, wie ein Kind, das sich in seinen ersten Roman vertieft.

Heute aber war sie besäuselter als sonst. Sie ließ sich auf den erstbesten Platz fallen, und warf die Handtasche auf den Boden. Dann bestellte sie einen Cognac, und Leo servierte ihn ihr mit einem Glas Wasser. Den Blick fest auf den Drink geheftet beugte sie sich vor, legte die Lippen an den Rand des Glases und nahm einen Schluck.

»Ah … ja, das ist besser. Etwas Stärkeres ist mir eigentlich lieber. Ihnen nicht?«, sagte sie.

»Ich trinke immer ein Glas von diesem Cognac vor dem Schlafengehen«, antwortete Leo.

»Nein, nicht nur vor dem Schlafengehen. Also, ich schlafe sowieso nicht viel.« Sie nahm noch einen Schluck, betrachtete ihr verschwommenes Spiegelbild in ihrem Glas und strich sich mit dem Finger ein paar Mal über die Augenringe. »Wahrscheinlich habe ich mich einfach nur daran gewöhnt, Wein zu trinken. Wissen Sie, bei einer Frau wie mir wirkt das wohl elegant. Aber manchmal brauche ich eben etwas mit mehr Wumms.« Sie hob ihre Tasche vom Boden auf und stellte sie auf den Barhocker. »Seien Sie bitte so lieb und halten mir den Platz frei. Ich brauche ein bisschen frische Luft.«

»So frisch ist die Luft heute aber nicht«, sagte Leo.

Sie zog eine Atemschutzmaske aus der Manteltasche und wedelte damit in Leos Richtung, dann öffnete sie die Tür.

 

Es schneite, und es war sehr kalt, selbst für eine Dezembernacht in Peking. Der Smog verschmutzte den Schnee, der in sonnenblumenkerngroßen Flocken herabfiel. Um ein Uhr morgens hatte sich die Straße längst unter einem hellgrauen Baldachin zum Schlafen gelegt. Jia Jia zögerte und holte Luft, erlaubte dem Winter, ihr die Lunge zu füllen, bevor sie ihn wieder ziehen ließ. Sie überlegte, die Maske aufzusetzen, entschied sich dann aber dagegen und steckte sie wieder in die Manteltasche. Sie zündete sich eine Zigarette an und lauschte der schlafenden Stadt. Seltsam geräuschlos war es in dieser Nacht, das passte zum dunklen, dräuenden Himmel. Gleich auf der anderen Straßenseite stand ihr Wohnhaus, riesig und abweisend.

Einen Monat war es jetzt her. Die Sanitäter hatten Chen Hang gar nicht erst ins Krankenhaus bringen müssen, um ihn für tot zu erklären. Aber selbst nach ausführlichen Untersuchungen konnten die Ärzte keine Todesursache feststellen. Chen Hangs alte Eltern waren aus Fujian nach Peking gekommen und hatten nach einer Woche beschlossen, dass es unzumutbar sei, die Beisetzung ihres Sohnes noch länger hinauszuzögern, und Chen Hang umgehend in das Familiengrab gebracht werden solle (andernfalls sei seine Seele für immer verloren). Außerdem hätten sie schon viel zu viel Zeit in diesem Hotel in Peking verbracht, und Chen Hangs Mutter finde keinen Schlaf, wenn sie nicht im eigenen Bett liege. Darum verkündete Chen Hangs Vater mit einem herrischen Schlag auf den Tisch, die Todesursache solle auf der Sterbeurkunde seines Sohnes offen bleiben. Er sei tot, das Warum spiele keine Rolle. Er wolle nicht, dass man sich noch weiter an der Leiche seines Sohnes zu schaffen mache. Das alte Ehepaar wickelte die Urne in ein Stück grauen Stoff und verstaute sie sorgfältig im Gepäck. Sie weigerten sich, Jia Jia zur Beisetzung mit nach Hause zu nehmen, nannten sie eine Plage und verlangten, sie solle sich von jetzt an von der Familie Chen fernhalten.

Das war nicht weiter schlimm. Sie hatte sowieso nicht hingewollt.

Seither schien es, als ginge alles um sie herum unerbittlich weiter seinen Gang. Von Chen Hangs Anwalt erfuhr Jia Jia, dass ihr Mann ihr, bei all seinem Reichtum, nichts als die gemeinsame Wohnung und den Betrag von sechzigtausend Yuan hinterlassen hatte, der für den Winter auf ihr Konto überwiesen worden war. Kurz nach der Hochzeit hatte er ein Testament gemacht, in dem er den Großteil seiner Besitztümer seiner Ursprungsfamilie vermachte.

In seinen besten Zeiten hatte Chen Hang für sie gesorgt, aber für den Todesfall hatte er keine Vorsorge getroffen. Jia Jia begriff sehr schnell, dass die vergangenen Jahre ihres Lebens, ihre besten Jahre, verschwendet gewesen und von einem selbstsüchtigen Mann mit in den Tod genommen worden waren und dass sie jetzt, verpackt in diese Urne, auf einen Friedhof gebracht wurden, zu dem sie nach Aussage seiner Eltern keinen Zutritt hatte. Sie hätte ihm früher ein Kind schenken sollen. Dadurch wäre sie ihm wichtiger geworden. Aber sie war noch jung gewesen, als sie heirateten, und als sie dann dreißig wurde und sich dafür bereit fühlte, war längst eine gewisse Distanz zwischen ihnen entstanden, die immer größer wurde. Damals war ihr das noch nicht so klar gewesen, aber jetzt erkannte sie, dass das Fundament ihrer Ehe schon vor seinem Tod brüchig geworden war. All die Nächte, die er anderswo verbracht, die Reise, die er abgesagt hatte, die Urlaube, in die er ohne sie gefahren war. Das war nicht weiter schlimm, hatte sie sich gesagt, es wird sich mit der Zeit schon alles finden. Aber wo stand sie jetzt mit alldem? Sie fühlte sich heimatlos, es war albern gewesen, sich jemals einzubilden, Chen Hang könnte ihr ein Zuhause schenken. Eine leere Wohnung war kein Zuhause.

Sie hatte überlegt, die Wohnung zu verkaufen, aber Chen Hang hatte immer eisern darauf beharrt, Immobilien seien die sicherste Investition, darum hatte sie sich mit einem Makler in Verbindung gesetzt, der einen Mieter für sie finden sollte. Der Makler meinte, ihre Wohnung sei zu groß und damit uninteressant für Büroangestellte, die meist alleinstehend waren oder nur eine kleine Familie hatten. Größere Familien mieden das Zentrale Geschäftsviertel eher. Gut, räumte sie ein, dann bieten Sie sie auch zum Verkauf an. Der Makler hatte recht schnell einen Interessenten aufgetan, der ein faires Angebot für die Wohnung machte, und sie hatte den Vertrag eines Abends bei einem Glas Wein in allen Einzelheiten studiert, aber dann war beim Beantragen der Hypothek etwas schiefgegangen, und der Käufer hatte einen Rückzieher gemacht.

Jia Jia hatte das Gefühl, bis auf eine unvermiet- und unverkaufbare Wohnung, etwas Bargeld und die Zeichnung eines Fischmanns nichts zu besitzen; und selbst diese Dinge gehörten eigentlich nicht richtig ihr, weil sie alle im Besitz ihres Mannes gewesen waren. Fieberhaft suchte sie die Zimmer nach etwas ab, das sie wirklich ihr Eigen nennen konnte. Es war ein Trost für sie gewesen, auf ein paar ihrer alten Bilder zu stoßen, die an den Wänden hingen oder in der Abstellkammer gestapelt lagen.

Chen Hang hatte ihre Malerei immer unterstützt – bis sie versuchte, ihre Arbeiten über die Galerie einer Freundin zu verkaufen.

»Wir haben doch darüber gesprochen, Jia Jia«, sagte er da zu ihr. »Ich möchte nicht, dass du in die Welt hinausgehst und alles Mögliche unternimmst, um Geld zu verdienen. Lass mich für meine Frau sorgen. Natürlich kannst du malen! Aber ich begreife nicht, warum du meinst, du müsstest deine Bilder verkaufen. Wie eine hungerleidende Künstlerin.«

Sie saß auf dem Sofa im Wohnzimmer, während er vor ihr auf und ab ging und auf sie herabsah.

»Das macht einfach keinen guten Eindruck«, setzte er noch hinzu.

Damit war ihr Beruf zum Hobby geworden.

 

Jia Jia nahm einen letzten Zug von ihrer Zigarette und ging in die Bar zurück. Sie meinte, von der kalten Luft einen etwas klareren Kopf zu haben. Der Barkeeper war dabei, Gläser abzutrocknen und sie wieder an ihren Platz im Regal zu räumen. Er hatte große Hände mit langen, dünnen Fingern, deren Gelenke ein wenig vorstanden, wie beim Bambus.

»Möchten Sie noch etwas?«, fragte er.

»Sie sind ja schon beim Aufräumen. Ich habe zu viel getrunken.«

»Gläserspülen ist meine persönliche Art der Meditation.« Er klopfte sich zwei Mal mit dem Zeigefinger an die Schläfe und zwinkerte ihr zu. »Darf ich Ihnen Gesellschaft leisten?«, fragte er dann und griff mit der einen Hand zwei Gläser, mit der anderen eine fast leere Cognacflasche.

Er schenkte ein, und sie stießen an.

»Ich habe das mit Ihrem Mann gehört«, sagte er betreten.

»Sind Sie verheiratet?« Jia Jia beugte sich über den Tresen, um sein Namensschild zu entziffern. »Leo?«

»Oh, nein«, sagte Leo.

»Warum nicht?«, fragte sie.

Darüber schien er nachzudenken und antwortete nicht gleich.

»Ach, vergessen Sie’s«, sagte sie. »Es war dumm von mir, Sie das zu fragen, Herr Leo mit dem englischen Namen. Männer brauchen da ja nichts zu überstürzen. Sprechen Sie Ihren Namen so aus, ja? Liii-ooh?« Sie räkelte sich auf ihrem Barhocker. »Aber irgendwann müssen Sie doch heiraten. Sie brauchen ein Zuhause, wo Sie hingehen können, wenn Sie Ihre Bar zusperren. Ich würde es nicht gern sehen, wenn Sie als einsamer alter Mann enden, Herr Leo.«

»Haben Sie sich zu Hause gefühlt, als er noch da war?«, fragte Leo, die Augen fest auf sie gerichtet.

Jetzt war es Jia Jia, die nicht gleich antworten konnte; sie war erschrocken darüber, dass er sie so provozierte, und auch nicht ganz sicher, wie er das meinte. Hatte Chen Hang ihm bei einem seiner Abende hier erzählt, dass er das Interesse an seiner Frau verloren habe? Oder hatte Leo etwas bemerkt, weil er sie beobachtet hatte, als sie zusammen in der Bar waren? Ihre Hand erstarrte kurz, aber sie führte das Glas an die Lippen, bevor Leo etwas merken konnte. Unvermittelt gingen die Lampen aus, die über dem Tresen hingen.

»Entschuldigung.« Leo ging zum Sicherungskasten in einer Ecke des Raumes.

»Darf ich hier drinnen rauchen?«, fragte Jia Jia und holte ein frisches Päckchen Zigaretten aus der Handtasche.

»Wenn sonst niemand da ist, dürfen Sie«, sagte er.

Jia Jia ließ die Zigarette zwischen den Fingern ruhen. »Er hat mir eine Wohnung vermacht«, sagte sie nach kurzer Zeit, schob sich die Zigarette zwischen die Lippen und zündete sie an. »Ziemlich eindrucksvoll, groß, mit allem Drum und Dran. Das war doch nett von ihm. Finden Sie nicht?«

Ein schwaches Licht ging an, und Leo kam zurück zum Tresen.

»Besser kriege ich es nicht hin.« Er deutete auf das Licht. »Wir müssen wohl noch etwas warten, bevor ich es noch mal mit der Sicherung versuchen kann.«

»Macht nichts, ich gehe sowieso gleich.«

Jia Jia hätte gern noch einen Drink bestellt. Aber was in aller Welt machte sie hier? Verplemperte Geld in einer teuren Bar, als könnte Chen Hang ihr Konto in ein paar Monaten wieder auffüllen. Und wo war eigentlich ihr Stolz geblieben, dass sie immer noch hoffte, Chen Hang werde für sie sorgen? Unvermittelt machte sie ihre Zigarette aus, verlangte die Rechnung und drückte Leo beim Bezahlen einen zusätzlichen Hundert-Yuan-Schein in die Hand. Sie raffte ihre Sachen zusammen und ging, voller Sorge, der Hunderter könnte für das zusätzliche Glas Cognac, das er ihr eingeschenkt hatte, womöglich nicht ausreichen. Sie würde es beim nächsten Mal begleichen.

Die Bürgersteige waren leer, es hatte aufgehört zu schneien. Jia Jia ging langsamer, überquerte die Straße zu ihrer Wohnung, wo sie lange duschte und sich dann hinlegte. Im Bett fing sie unter der Decke an zu weinen. Das Gebläse der Luftfilteranlage wurde heftiger. Draußen vor dem Fenster flirrten die Gebäude, während der Smog sich von neuem sammelte. Und sie weinte weiter, stumm, nur manchmal schluckte sie schwer, wenn es gar nicht mehr anders ging, bei aller Trauer höchst bemüht, die winterliche Stille nicht zu stören.

3

Es war noch dunkel, als Jia Jia erwachte. Sie setzte sich auf, angelte mit den Füßen nach ihren Hausschuhen. Sie waren weg. Jia Jia tastete noch ein wenig weiter, fand aber nichts. Als sie auf den Boden sah, stellte sie fest, dass es auch ihn nicht mehr gab, dass an seine Stelle die Oberfläche eines tiefen Meeres getreten war, als säße sie auf der Reling eines Schiffs und sähe zu, wie sich der sternenlose Himmel im Wasser spiegelte. Die Dunkelheit kräuselte sich wie Seide. Jia Jia erhob sich aus dem Bett, trat auf das, was einmal Boden gewesen war, und sank hinein in plötzliche, feuchte Kühle, die nur kaltes Wasser sein konnte. Sie drehte sich auf der Stelle wieder um, wollte nach dem Bett greifen, aber das war schon nicht mehr über ihr. Von Wasser umgeben suchte sie nach irgendeinem Halt. Sie hielt die Luft an und tauchte, tief, immer tiefer.

Die Zeit verschwamm, verlor an Bedeutung. Jia Jia hatte keine Ahnung, in welche Richtung sie tauchte. Sie konnte ihren Körper nicht mehr sehen. Falls sie abwärts schwamm, würde sie dann wieder Boden unter den Füßen haben, wenn sie den Grund ihres Wohnhauses erreichte? Einen Versuch war es wert, dachte sie. Nach einer gefühlten Ewigkeit durchdrang ein weißer Lichtstrahl das Wasser. Die Sonne! Das musste die Sonne sein, die in der Ferne aufging. Fremd wirkte dieser gebrochene Lichtstrahl, als käme er aus einer anderen Dimension, aber Jia Jia schwamm trotzdem darauf zu, zerrte an ihrem Schlafanzug, riss ihn sich vom Leib und rief mit dumpfer Stimme um Hilfe.

Als sie dem Licht näher kam, entdeckte sie unter sich eine kleine silbrige Gestalt, die immer im Kreis herum schwamm. Sie meinte, einen winzigen Fisch mit spitzem Schwanz zu erkennen, der regelrecht glitzerte. Er schwamm wie wild umher – ein Jungtier, das erst noch lernen musste, mit den Flossen zu schlagen.

Jia Jia richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Licht, drängte darauf zu und ließ den silbernen Fisch zurück. Das Licht wurde heller. Sie tauchte auf und fand sich auf dem Fußboden ihrer Wohnung wieder, nackt, den Schlafanzug neben sich verknäuelt, durchgefroren bis ins Mark. Durch das Rollo stach die Morgensonne, der Himmel war hellblau, und draußen im Park hatte sich ein Grüppchen mittelalter Frauen eingefunden, die zu Diskoklängen tanzten.

Nach und nach gewöhnten sich Jia Jias Augen an das Licht. Sie zitterte. Wie ferngesteuert griff sie nach der Zeichnung auf dem Nachttisch. Sie registrierte erleichtert, dass das Blatt trocken war, lehnte den Kopf ans Bett und musterte den Fischmann. In seinem Blick sah sie etwas Lebloses, wie bei einem Beutetier, das gejagt wird und längst aufgegeben hat.

Jia Jia faltete die Zeichnung zusammen, bekam das Bild aber nicht mehr aus dem Kopf. Dieses Wasser, was war das gewesen? Sie wusste schon nicht mehr, wie es ausgesehen hatte, spürte nur noch, wie beißend kalt es ihre Haut hinterlassen hatte. Über Nacht musste wohl die Heizung ausgefallen sein. Jia Jia fror. Die Wohnung war zu groß. Sie musste ausziehen, beschloss sie, so bald wie möglich. Sie konnte es nicht ertragen, allein hier zu sein.

Jia Jia konnte nicht mehr sagen, wann sie zuletzt, und sei es auch nur sich selbst gegenüber, zugegeben hatte, sich wirklich vor etwas zu fürchten. Natürlich hatte sie Furcht empfunden, das war ja klar, aber sie hatte schon in sehr jungen Jahren begriffen, dass ihre Schwäche nur noch mehr Kummer für ihre Familie bedeutete: mehr Sorgen für ihre Großmutter, mehr Tränen für ihre Tante, mehr besorgtes nächtliches Geflüster zwischen den beiden.

An dem Tag, als ihre Mutter starb, war Jia Jia gerade auf die Mittelschule gekommen.