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Friedrich Ani

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Beschreibung

Anis hintergründig-humorvolle und feinsinnige Erzählungen sind Unterhaltung ganz anderer Art. Ob Stüberlbesucher oder Polizist, ob die Öde einer Ehe oder die Langeweile eines Landbewohners: Man lacht über seine scharfen Beobachtungen und leidet im nächsten Moment mit den Unsichtbaren unserer Gesellschaft, die sich vom Leben noch nie etwas erwartet haben.

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Seitenzahl: 376

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Friedrich Ani

Unterhaltung

Geschichten

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Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

ZitateVorwort1. KapitelKardiggldingDas Stüberl-WunderBekenntnisse eines StüberlbewohnersKomplexer Disput gegen MitternachtBlutige MitternachtsbrezenBioherz mit BandnudelnZigeunerschnitzel und DemokratieDer große Spaten2. KapitelDas tätowierte HerzLicht in der FrauenstraßeDu edles LebenHaus mit offenem Fenster1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. KapitelAll die unbewohnten ZimmerAschenputtel weint nicht mehr1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel3. KapitelAlles gutDie SiebzigerDie ZehnerDer verzweifelte ErlöserLOMI LOMIAbschaffung der LandbevölkerungLustiger BosniakJob ohne ZukunftMagisches AsienRauskommen ist wichtigMorgen vielleicht4. KapitelHausverbot1. Kapitel2. KapitelAn den Fremdmünchner an sichDie verunglückte FahrzeugkontrolleKann ich jetzt gehen?Das plötzliche Zweifeln des Bierdeckels Holger an sich selbstDer verwirrte TrainerWas getan werden muss5. KapitelRupert1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. KapitelHeilig ist die Nacht und stillWie schön war doch die KinderzeitDAMENWAHL, LETALWo es dem Verbrecher schmecktDie Geburt des Herrn J.Das Zwitschern des MaulwurfsEine Liebe in BerlinEpilogUnser aller Nachbar
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Personen, die versuchen, in dieser Erzählung ein Motiv zu finden, werden belangt.

Personen, die darin eine Moral finden wollen, werden verbannt.

Personen, die in ihr eine Handlung zu entdecken versuchen, werden erschossen.

Juan Carlos Onetti, »Wenn es nicht mehr wichtig ist«

»Isses wahr?«

Lt. Theo Kojak

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Einige Geschichten erschienen bereits in Anthologien und Zeitschriften, teilweise in veränderter Form und unter einem anderen Titel. Manche Dialoge und Monologe, die ich ursprünglich für die Münchner Lesebühne »Schwabinger Schaumschläger« schrieb, habe ich für die Buchausgabe leicht überarbeitet.

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1

Kardigglding

Als Hauptkommissar Neidhard Kardigglding an den Tatort kam, brannten die Halogenscheinwerfer und tauchten den Hinterhof in ein hässliches Licht. Der Mann, der vor seinem silbergrauen Volvo lag, war enthauptet worden, vermutlich mit einer kolumbianischen Machete. Das war dieselbe Tatwaffe, mit der bereits sieben Menschen vor ihm den Kopf verloren hatten. Die Morde passierten innerhalb von fünf Wochen, und allmählich wurde es Zeit für einen Verdächtigen. Kommissar Kardigglding hatte mehrere zur Auswahl, und einen von ihnen, da war er sich sicher, würde er zu einem Geständnis bringen.

Kardigglding war der Mann für die harten Fälle. Ausgebildet bei der Kripo in Nürnberg und Hof, kam er als sechsundzwanzigjähriger Oberkommissar ins Münchner Morddezernat 4, wo er nach einem Jahr zum Hauptkommissar befördert wurde. Jetzt, mit einundfünfzig, hatte er den Ruf eines Superbullen, vom Innenministerium mehrfach belobigt und überhäuft mit Angeboten vom Bundeskriminalamt und dem Verfassungsschutz. Doch Kardigglding war kein Bürohengst, er war ein Macher, ein Ermittler, ein Vernehmer. In seinen Verhören kapitulierten die abgezocktesten Verbrecher. Einen Fall mit wasserdichten Beweisen zur Anklage zu bringen, bedeutete für ihn das höchste Glück.

Es war Kardigglding, der vor Jahren einen Junkie dazu brachte, den Mord an einer vierundachtzigjährigen Rentnerin zu gestehen. Die Frau war in einer Truderinger Seitengasse überfallen, beraubt und nach heftiger Gegenwehr mit einer 9-mm-SIG-Sauer erschossen worden. Zu dieser Zeit lag der Junkie auf der Toilette des Pasinger Bahnhofs, aber Kardigglding unterzog ihn einer derart unnachgiebigen Prozedur, dass er schließlich zusammenbrach und den Überfall in allen Einzelheiten schilderte. Der Mann wurde zu elf Jahren Gefängnis mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt. Der CSU-Politiker Beckstein, der damals Innenminister war, gratulierte Kardigglding persönlich zu dem Erfolg und würdigte einmal mehr die legendäre Schule der fränkischen Kriminalpolizei.

Unvergessen auch die Aufklärung des schrecklichen Verbrechens am Weltmeister im Gewichtheben, Sebastian Schädel. Der einhundertzehn Kilogramm schwere Sportler war mit brachialer Gewalt auf den noch offenen Balkon im achten Stock eines Hauses gezerrt worden, das gerade entkernt und saniert wurde. Der Täter stieß sein Opfer in die Tiefe, Schädel hatte offensichtlich nicht die geringste Chance, sich zu wehren. Nach drei Wochen intensiver Ermittlungsarbeit gelang Hauptkommissar Kardigglding der Durchbruch. Ein elfjähriger, an den Rollstuhl gefesselter türkischer Junge aus Neuperlach verstrickte sich in den Vernehmungen immer mehr in Widersprüche, bis er am Ende zugab, den Gewichtheber an den Beinen gepackt und neben sich her die Treppen in den achten Stock hinaufgeschleift zu haben. Sein Motiv: Eifersucht auf Schädels sportliche Triumphe. Der Junge – er hieß Mustafa Börü – wurde zu fünf Jahren Gefängnis mit anschließender Unterbringung in der Psychiatrie verurteilt. Das Gericht würdigte bei dem Strafmaß das Geständnis und den seelischen Konflikt des Angeklagten.

In seinem zweistündigen Porträt über Neidhard Kardigglding bezeichnete der Bayerische Rundfunk den Kommissar als »Grundpfeiler der Gesellschaft und Garanten für die Sicherheit in der Stadt München und im gesamten Freistaat«. Kardigglding mache das Leben in Bayern »jeden Tag ein Stück lebenswerter«. Der von der Tochter des Intendanten produzierte Film, den die Süddeutsche Zeitung ein »Musterbeispiel für investigativen Journalismus« nannte, erhielt sowohl den Bayerischen Fernsehpreis in der Kategorie Dokumentation als auch den Spezialpreis beim Filmfestival der Heimatvertriebenen in Wunsiedel.

Innerhalb der bayerischen Polizei galt Kardigglding als Bluthund und als jemand – so der Polizeijargon –, »den man holt, wenn die Scheiße scheiße am Kochen ist«. Dies zum Beispiel war der Fall, als in der Nähe von Passau ein Landwirt seine Familie ausrottete und sich hinterher seelenruhig ins Gasthaus setzte, wo er bis vier Uhr morgens Weißbier trank. Nach Überzeugung von Kommissar Kardigglding hatte der Bauer Anselm Bledmannshofer zunächst seine Frau mit einem Hammer erschlagen, danach seine Schwester und zuletzt auch deren Mann. Alle arbeiteten auf dem Anwesen von Bledmannshofer. Nach Aussagen von Zeugen gab es zwischen den Familienmitgliedern seit Monaten heftigen Streit, bei dem es auch zu Gewaltausbrüchen gekommen sei. Wie Bledmannshofer dem Kommissar nach zwei Monaten gestand, habe er »die Bagasch« erst »ausradiert« und hinterher den Schweinen zum Fraß vorgeworfen, die die Leichen vollständig vertilgt hätten. Tatsächlich hatten die Spurensucher der Kripo keinerlei Überreste gefunden. Acht Wochen nach dem fürchterlichen Ereignis und der erfolglosen Tätersuche durch die niederbayerischen Kollegen hatte Kardigglding im Rahmen eines Amtshilfeantrags aus Landshut den Landwirt in sein Münchner Dezernat bestellt.

Dort fing der angetrunkene Mann wie so oft mit der Geschichte seines Bruders an, der sich in seiner Jugend nach Amerika abgesetzt und einen anderen Namen angenommen hatte, weil er sich für den eigenen schämte. Wie Bledmannshofer nicht müde wurde zu erzählen, sei sein Bruder Hans inzwischen ein großer Star in Hollywood, was ihm persönlich aber scheißegal sei, damit das klar war. Kardigglding ließ ihn reden, dann begann er mit seinem berüchtigten Verhör, mit dem auch das FBI die besten Erfolge erzielte. Nach kaum zwei Stunden wälzte der Landwirt sich auf dem Boden und schilderte in allen Einzelheiten sein Verbrechen. Er bat sogar seine Schweine um Verzeihung.

Noch am selben Abend ließ Kardigglding den geständigen Täter nach Niederbayern zurückbringen, wo er bald von einem Berliner Arzt psychiatrisch untersucht und für unbedingt zurechnungsfähig erklärt wurde. Die Darstellung seiner Tat entspreche »vollkommen einem tatsächlichen Erlebnishintergrund«. Aufgrund des Gutachtens des renommierten Psychiaters, der schon vorher durch seine präzisen Analysen vor allem bei der Verurteilung von Behinderten aufgefallen war und den die Süddeutsche Zeitung einmal »Deutschlands unbestechlichsten Gerichtsgutachter« nannte, wurde Anselm Bledmannshofer zu lebenslanger Haft verurteilt. Zwei Wochen später erhängte er sich in seiner Zelle. Als die Nachricht seines Todes durch die Presse ging, meldete sich eine Frau namens Elvira Bledmannshofer bei der Landshuter Zeitung. Sie erklärte, sie sei die Ehefrau des Landwirts und lebe mittlerweile gemeinsam mit ihrer Schwägerin und ihrem Schwager in Songkhla an der thailändischen Küste und habe durch Zufall die Meldung vom Tod ihres Mannes in einer deutschen Zeitung gesehen. Sie seien damals zu dritt abgehauen, weil ihr »Volltrottel von Ehemann« unberechenbar geworden sei.

In der Nachrichtensendung »Rundschau« im Bayerischen Fernsehen meinte Hauptkommissar Kardigglding daraufhin, die Identität der Anruferin müsse erst hundertprozentig geklärt werden. Sollte sich jedoch herausstellen, dass es sich tatsächlich um die Witwe des Landwirts handele, könne man daran nichts ändern. »Der Fall ist spätestens seit dem Freitod des als Täter verurteilten Mannes abgeschlossen«, sagte Kardigglding.

Was die Sache mit den geköpften Männern betraf, so arbeitete Kardigglding ruhig und zügig die Liste seiner Hauptverdächtigen ab. Da die Toten ohne Ausnahme Angestellte beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen waren, fand der Kommissar rasch eine Spur zu mehreren Drehbuchautoren, die nachweislich von den Redakteuren geknechtet, missachtet, schlecht bezahlt oder übersehen worden waren. Die Vernehmungen gestalteten sich ungewöhnlich einfach. Die Schreiberlinge, wie Kardigglding die Verdächtigen nannte, steigerten sich in derart atemberaubende Widersprüche hinein, dass der Kommissar allein drei von ihnen locker für fünf noch unaufgeklärte Morde im österreichischen Waldviertel hätte verantwortlich machen können. Sie waren kurz davor, alles zu gestehen. Aber es ging um die kopflosen Redakteure, und nachdem sein letzter Hauptverdächtiger, ein Autor, der sich von seinen Honoraren für unzählige Folgen der Reihen »Soko 5113« und »Die Rosenheimcops« eine Finca auf Mallorca, ein Apartment in Berlin und eine Achtzimmerwohnung in Quedlinburg gekauft hatte, aus dem Fenster gesprungen war, musste Kardigglding handeln. Die Presse saß ihm im Nacken, der Innenminister, die Intendanten von ARD und ZDF. Und der Bayerische Rundfunk ließ durchblicken, dass der Sender sein Beraterhonorar für die Serie »Unter unserem Himmel« streichen würde, falls der Kommissar nicht bald einen Täter präsentiere.

Da der theatralische Drehbuchautor aus einem Fenster im ersten Stock gesprungen war und dabei lediglich seine Kontaktlinsen verloren hatte, brauchte sich Kardigglding nicht weiter um ihn zu kümmern. Stattdessen ließ er einen Zeugen in sein Büro bringen, den er schon länger im Visier hatte. Der Mann war immer wieder in einem Pulk von Schaulustigen aufgefallen, und als er jetzt vor ihm saß, wusste Kardigglding, dass er wieder einmal den richtigen Riecher gehabt hatte. Der Mann war ein verhinderter Schriftsteller, er hatte sich unzählige Male mit halbgaren Drehbüchern bei Produktionsfirmen und Redaktionen beworben, er schrieb Hassbriefe an sämtliche Sender, und er war schon einmal in Urlaub in Südamerika gewesen.

Am nächsten Morgen hatte Kardigglding sein Geständnis. Der Täter – er hieß Max Geier, war sechsundfünfzig Jahre alt und arbeitslos – hatte zugegeben, mit einer zwei Kilo schweren und einen Meter langen Machete die acht Männer aus Wut und Verzweiflung enthauptet zu haben. Jedem von ihnen habe er aufgelauert und die Tat minutiös vorbereitet. Er bereue nichts.

Ein Jahr später sprach das Landgericht München 1 das Urteil: »lebenslänglich« für Max Geier. Das Magazin der Süddeutschen Zeitung widmete Hauptkommissar Neidhard Kardigglding ein ganzes Heft, und der Bayerische Rundfunk richtete dem verdienstvollen Staatsbeamten eine eigene Talkshow anstelle der »Münchner Runde« ein. Die Tatsache, dass es sich bei dem Verurteilten um einen blinden, contergangeschädigten, nur sechzig Kilogramm wiegenden Mann handelte, spielte sowohl bei der Urteilsfindung als auch im Verlauf der Berichterstattung eine eher untergeordnete Rolle.

Das Stüberl-Wunder

Spätestens vom 20. Dezember an geriet Tabor Süden in die Kältezone seiner jährlichen Weihnachtsstimmung. Jedes Jahr nahm er sich vor, seine Gedanken rechtzeitig mit phantasievollem Schaum zu imprägnieren, bevor der schwarze Staub sich wieder auf sie legte. Und jedes Jahr musste er – allerspätestens am 22. Dezember – feststellen, dass er barfuß und spärlich bekleidet durch die Polarnacht seiner Erinnerungen irrte, verfolgt von einem fremden Schatten, der er selber war.

Süden war längst über fünfzig, doch an diesen Tagen war er sechzehn Jahre alt und ein Kind, dessen Vater soeben das elterliche Haus verlassen hatte, um nie wiederzukehren. Damals, zwei Tage vor Heiligabend, verschwand Branko Süden spurlos, er hinterließ einen Abschiedsbrief, in dem er erklärte, der Tod von Tabors Mutter drei Jahre zuvor habe ihn für immer aus der Liebe verstoßen. Zur Erziehung seines Sohnes sei er nicht mehr fähig. Am Ende schrieb er einen Satz, an dem der junge Süden beinah verzweifelte, weil er ihn nicht begriff und zudem als eine verlogene Ausrede empfand. »Gott ist die Finsternis und die Liebe das Licht, das wir ihm schenken, damit er uns sehen kann.« Erst Jahre später näherte Süden sich diesem Gedanken an, und der Zorn auf seinen Vater verwandelte sich in eine Form von Mitgefühl, das ihm trotzdem nicht behagte. Sein Onkel Willibald und seine Tante Lisbeth kümmerten sich hingebungsvoll um ihn. Weihnachten jedoch war nie wieder ein frohes Fest für ihn, sondern ein frostiges, und er verbat sich jegliches Geschenk.

Über all dies sprach Süden nie – außer mit Martin Heuer, seinem Freund aus Kindertagen, mit dem er später im selben Beruf arbeitete. Seit Martins Selbstmord gehörte die Geschichte vom 22. Dezember Süden allein, er behielt sie für sich, und die Gedanken trieben wie Eisschollen in ihm, die, wie er längst wusste, auch durchs Aussprechen nicht geschmolzen wären.

»Und du?«, fragte Bellmann. »An was denkst du so mit deinem Bier? Hast Angst, es haut ab?« Er entblößte den Alptraum eines Zahnarztes.

Am Tresen des Aloha-Stüberls umklammerte Süden sein Bierglas und wusste nicht, warum. Auch warum er überhaupt hier saß, war ihm ein Rätsel. Noch in der Früh war er entschlossen gewesen, abends zu Hause zu bleiben, etwas zu essen, diverse Biere zu trinken, im Fernsehen einen Film anzuschauen, den er schon kannte, und, von den üblichen Heiligabend-Gedanken beschwert, kurz nach Mitternacht ins Bett zu sinken. Die Einladung seiner Chefin, sie und ihre Freundin in ein thailändisches Restaurant zu begleiten, hatte er ausgeschlagen. Edith Liebergesell, die eine Detektei leitete, bei der Süden seit seiner Rückkehr nach München als Vermisstensucher arbeitete, hatte ihn bereits letztes Jahr gefragt, ob er nicht Lust habe, Weihnachten »ganz entspannt« in einem angenehmen kleinen Lokal zu verbringen. Doch Süden glaubte grundsätzlich nicht daran, dass man vorab wissen konnte, wann man »ganz entspannt« sein würde, noch dazu, wenn jemand anderer es beschwor. So hatte er unangestrengt abgesagt und nicht erwartet, sie würde ihm noch einmal den Vorschlag machen. Zwischen ihr und Süden kam es gelegentlich zu subtilen erotischen Spannungen, bisher jedoch ohne Wendung zur Direktheit. Von den vier Frauen, mit denen er, seit er wieder in München war, ein Verhältnis gehabt hatte, verbrachte jede von ihnen Weihnachten mit Freunden oder der Familie, und nur eine hatte ihn gefragt, was er an den Feiertagen treibe. Er treibe nichts, hatte er erwidert.

Einen Suchauftrag hätte er sofort angenommen, aber in der Detektei blieben die Telefone stumm.

»Bier?« Der Wirt stützte sich mit einer Hand am Tresen ab, in der anderen hielt er ein halbvolles Weißbierglas. Er hatte gerötete Augen und Wangen, balancierte eine rote Brille auf der Nase, und sein enormer Schnauzbart bewaldete seinen Mund dermaßen, dass oft nur Bruchstücke von Sätzen sein Gegenüber erreichten. Beim Wort Bier gab es keinerlei Verständigungsschwierigkeiten. Süden nickte.

»Hast du das mitgekriegt?« Bellmann, einer der fünf Gäste an diesem frühen Abend im »Aloha«, bohrte seinen Zeigefinger in die Elefantenhaut seiner Schläfe und schien auf etwas hinauszuwollen. Er war ein massiger Mann mit Stoppelhaaren und einem silbernen Ring im linken Ohrläppchen. Unter seiner von bösen Wettern und Waschpulvern ausgebleichten Jeansjacke trug er ein rotkariertes Flanellhemd, wegen dessen dunklem Fleckenmuster der Hersteller garantiert nicht verklagt werden konnte. Der Designer hieß eindeutig Bellmann. Wieder floss ein Bierrinnsal aus seinem Mundwinkel und versickerte im Hemd, während Bellmann offensichtlich nach Worten kramte. Vielleicht drückte er mit seinem wulstigen Finger auf einen wichtigen Knopf. Plötzlich sprudelte es nur so aus ihm heraus, ungefähr in Südens Richtung, der direkt neben ihm am Tresen stand.

»Das glaubst du nicht, du glaubst es nicht. Das glaubst du einfach nicht, das kannst du nicht glauben, so was glaubt dir keiner, wenn du das erzählst, unglaublich ist das, absolut nicht zu glauben. Kannst du dir das vorstellen?«

»Was genau?«, sagte Süden, weil Weihnachten war, Zeit der Höflichkeit. Der Wirt stellte das Bier auf den Deckel und zog einen weiteren Strich, den dritten.

»Dass der da in den Bottich fällt aus zehn Metern Höhe. Fällt der da rein aus mindestens zehn Metern Höhe. Wieso fällt der da rein? Fällt rein, und sein Kollege muss ihn rausziehen. Das war in New York.«

»Wov… red…d…?« Mehr kam aus dem Mund des Wirts nicht heraus. Jeder wusste, was gemeint war. Außer Bellmann.

»Was? Was? Was ist?« Bellmann trank einen Schluck Bier, und Süden dachte, dass andere in so einem Schluck ertrinken würden. Dann starrte Bellmann das leere Glas an, beugte sich noch weiter über die Theke, legte beide Arme darauf und schüttelte den Kopf. »Was willst du, Charly? Hör lieber zu, ich sag dir, der ist da vom Dach in den Container oder Bottich oder Container gestürzt. Gestürzt. Gestürzt. Aus zehn Metern Höhe. Da war Salpetersäure drin, verstehst du das, Charly? Da fällt der rein, und sein Kumpel muss ihn rausziehen. Ist bei uns nie passiert. Nie ist das passiert. So was passiert bei uns nicht.«

In der Zwischenzeit stellte der Wirt ein frisches Bier vor Bellmann und warf einen Blick auf den Gast bei der Tür, der an einem Stehtisch stand, dunkles Bier und Schnaps trank und keinen Laut von sich gab. Die beiden anderen Gäste saßen neben Bellmann am Tresen, schienen aber nicht weiter zuzuhören. Manchmal wechselten sie ein Wort. Süden überlegte, nach seinem dritten Glas zu verschwinden. Vom Zuhören leierten allmählich seine Ohren aus.

»Elf Jahre war ich Dachdecker, elf Jahr’ lang unterwegs, ich kenn mich aus. Bei uns ist nie einer runtergefallen, kein Einziger in elf Jahren, und da drüben in Amerika sind sie zu blöd zum Arbeiten. Bei uns hätt’s das nicht gegeben, verstehst du das, Charly, bei uns wissen die Kollegen, was sie tun müssen und so weiter und so weiter und so weiter. Die wissen das genau, ganz genau wissen die das. Salpetersäure! Der eine ist natürlich fast verbrannt, der andere … Keine Ahnung. Wahrscheinlich ist meine Frau in einen Bottich mit Salzsäure gefallen und hat sich aufgelöst. Wahrscheinlich. Wer weiß das? Sie ist weg, unauffindbar, so ist das.«

Mit einem Ruck wandte er sich an Süden, als wüsste er über dessen Beruf Bescheid. Dabei wusste er nicht einmal Südens Namen. »So, und wieso passiert da nichts? Wieso sagt die Polizei, da muss man warten, da ist kein Hinweis auf ein Verbrechen oder einen Selbstmord. Sagt die Polizei. Selbstmord macht die Inge nicht, so was macht die nicht, das traut die sich nicht. Aber wo ist die hin? Ich wart jetzt seit genau … seit genau … seit Nikolaus, genau. An Nikolaus ist sie aus dem Haus und kommt nicht wieder. Das ist doch ein Witz und nicht lustig. Wo ist die? Wie heißt du? Wo ist die? Sag was?«

»Süden.«

»Was? Was? Was ist?«

»Er heißt Süden«, sagte der Wirt vollkommen verstehbar.

»Ja und?« Bellmann wuchtete seinen Körper in die ursprüngliche Position. Er schnaufte, hob die Hand und steuerte mit dem Zeigefinger wieder auf seine rechte Schläfe zu. »Das ist jetzt egal, wie der heißt. Süden oder Südwesten, meine Frau ist weg, keine Ahnung, in welche Himmelsrichtung, darum geht’s.«

»Die Polizei hat nicht nach ihr gesucht«, sagte Süden.

»Hat sie nicht!«, schrie Bellmann.

»Schr… hi… ni… ru…«, sagte der Wirt vermutlich.

»Die Polizei sagt, sie ist bei ihrer Schwester in Schwabing. Aber da ist die nicht. Die war nicht dort. Ich war da. Die Schwester sagt, sie weiß nichts. Das sagt die, weil die Inge zu ihr gesagt hat, sie soll das sagen. Das ist alles abgekartet. Ich war in der Kurfürstenstraße, da war ich persönlich im Haus, und die Karla lügt mir die Hucke voll.«

Süden sagte: »Die Polizei hat mit Inge gesprochen.«

»Du bist ja der Weise von Giesing. Freilich hat die Inge mit der Polizei gesprochen. Aber die Polizei hat nicht mit der Inge gesprochen, so rum. Verstehst du das nicht? Die Polizei war bei der Karla, die sagt, die Inge wohnt vorübergehend bei ihr, aber im Moment ist sie nicht da. Im Moment! Und zwei Stunden später ruft die Inge bei der Polizei an und sagt, es ist alles in Ordnung, sie braucht einfach mal Abstand. Stand ab. Die braucht einen Standab, so ist das. Das war das, was die Polizei mir erzählt hat, und auch, dass sie die Inge gebeten haben, sie soll mich anrufen und mir das selber sagen von dem Standab. Hat sie nicht gemacht. Ich fahr also in die Kurfürstenstraße dreiundzwanzig, klingel und rumpel in die Wohnung rein. Glaubst du, ich bleib draußen stehen wie ein Hausierer? Ich bin kein Hausierer, hast du gedacht, ich bin ein Hausierer, oder was? Oder was?«

»Nein«, sagte Süden.

Bellmann sah ihn nicht an. »Die war da nicht, die Karla wollt’ schon die Polizei holen. Meine eigene Schwägerin. So schaut’s aus. Ich hab zu ihr gesagt, wenn sie die Inge versteckt, schmeiß ich sie vom Dach. Das mach ich auch noch, ich geh zu der Karla hin, gegen mich hat die keine Chance. Ich nehm die mit aufs Dach und lass die Schwerkraft wirken. Was ist dann? Gezeter und Geheul ist dann. Ich will meine Frau wiederhaben. Jetzt wart ich noch eine Stunde, und wenn sie dann nicht auftaucht, fahr ich zu der Karla, und dann geht’s hurtig rauf aufs Dach. Und jetzt einen Obstler zur Verdauung.«

»Ich kann in die Kurfürstenstraße gehen und mich erkundigen«, sagte Süden.

»Halt’ dich da raus«, sagte Bellmann.

»Das ist sein Beruf«, sagte der Wirt. Aus unverständlichen Gründen stolzierten die Worte geradezu aus seinem Bartgebüsch heraus. »Er war früher bei der Kripo, Vermisstenstelle. Der Mann kennt sich aus, der findet deine Inge, hundertprozentig.«

»Warum sitzt du dann noch da? Fahr hin, bring mir die Inge wieder.«

Süden trank und schwieg. Bellmann drehte den Zeigefinger an seiner Schläfe. Vielleicht war die Haut zu dick, und er drang nicht durch. Im Radio sangen die Hooters »Karla with a K«. Süden überlegte, ob der Song ein Zeichen war.

»Ich bin dafür, du fährst jetzt los«, sagte Bellmann zu seinem Bierglas, das sich nicht von der Stelle rührte. Unvermittelt, als wäre ihm der Irrtum plötzlich bewusst geworden, drehte er den Kopf. »Ich bin dafür, du fährst jetzt los, Süden, gib Gas. Riess heißt die Frau, Karla Riess, kannst du dir das merken? Riess mit zwei s und Karla mit K vorn. Karla, alles klar?«

»Lass den Mann in Ruhe«, sagte der Wirt sehr nah vor Bellmann.

»Bring mir die Inge wieder, Süden.« Vielleicht hatte Bellmanns Finger den Knopf der Sanftmut gedrückt, seine Stimme klang weich und ein wenig verzagt.

Süden legte einen Zehn-Euro-Schein auf den Tresen, rutschte vom Hocker und zog den Reißverschluss seiner Lederjacke zu. Dann verknotete er seinen grauen Schal und setzte die graue Wollmütze auf, in der er nach eigener Einschätzung wie der Dorftrottel von Unterzeismering aussah. »Kurfürstenstraße«, sagte er. »In zwei Stunden bin ich zurück.«

»Dann ist Heiligabend«, sagte der Mann an der Tür, und alle schauten ihn verblüfft an.

»Vi… Gl…«, rief Charly ihm hinterher. Dann sagte er noch etwas zu Bellmann, doch die Worte schlugen diesmal keine Schneise durch den Schnauzer.

Auf der Tegernseer Landstraße ging Süden in nördlicher Richtung und stieg an der nächsten Haltestelle in die 25er Tram. Er fuhr bis zum Ostfriedhof und nahm von dort die 17er bis zum Sendlinger-Tor-Platz, an dem auch die Detektei Liebergesell lag. Mit der 27er Tram gelangte er schließlich nach Schwabing, wo er an der Haltestelle Nordendstraße ausstieg. Bis zum Haus in der Kurfürstenstraße 23, in dem die Schwester der verschwundenen Inge Bellmann wohnte, waren es keine fünf Minuten. Süden klingelte, niemand öffnete. Nach dem vierten Versuch knackte die Sprechanlage. »Was ist?«, fragte eine Frau.

»Mein Name ist Süden, ich möchte gern mit Ihrer Schwester sprechen, Frau Riess.«

Nach einem ausführlichen Schweigen sagte Karla Riess: »Wer sind Sie?«

»Ich bin Detektiv, Ihr Schwager sorgt sich um seine Inge.«

»Da fängt er ja früh mit an. Sie ist nicht da. Ich weiß nicht, wo sie ist.«

»Kann ich kurz zu Ihnen in die Wohnung kommen?«

»Sind Sie betrunken? Nein. Auf Wiedersehen.«

In diesem Moment kam ein älterer Mann in einem Lodenmantel aus dem Haus. Süden hielt ihm die Tür auf und ging hinein. So schnell er konnte – Südens Körper hatte nichts Gazellenartiges an und in sich –, eilte er die Treppe hinauf, bis er hinter einer geschlossenen Tür im zweiten Stock die Stimme hörte. »Hallo? Wieso sagen Sie nichts mehr? Die Inge ist nicht bei mir. Hallo? Hallo?«

Süden klopfte an die Tür. »Ich bin hier, Frau Riess. Sie brauchen keine Angst zu haben, ich bleibe im Treppenhaus, ich möchte nur kurz mit Ihnen sprechen.«

Er stellte sich so ans Geländer, dass sie ihn durchs Guckloch sehen konnte. Widerwillig zog sie die Tür einen Spaltbreit auf. Sie war etwa einen Meter sechzig groß, Mitte dreißig, nicht direkt schlank, falls Süden sich nicht verschaute, hatte ein rundes, helles Gesicht und kurzes schwarzes Haar. Sie trug einen weißen Morgenmantel und war barfuß. Hinter ihr im Zimmer hörte Süden immer wieder ein metallisches Klacken.

»Entschuldigen Sie meinen Überfall«, sagte er. »Ich habe Ihren Schwager in einer Kneipe getroffen, und er fing von seiner Geschichte an …«

»Seiner Version der Geschichte«, unterbrach ihn Karla.

»Wo ist Ihre Schwester, Frau Riess?«

Sie zögerte, warf einen schnellen Blick hinter sich, wo etwas klirrte. »Ich weiß es wirklich nicht. Sie war hier, das ist wahr, aber dann ist sie weg und meinte, wenn ich nicht wüsste, wo sie ist, brauch ich nicht zu lügen. Meine Schwester ist neununddreißig, und sie will noch am Leben sein und nicht bloß einen Alltag verwalten. Als der Franz arbeitslos wurde, musste sie Doppelschichten in der Klinik einlegen, sie ist Krankenschwester. Da kann sie rackern, soviel sie will, viel bleibt da eh nicht hängen. Der Franz kriegt Arbeitslosengeld, und Inge hat zu ihm gesagt, das ist keine Basis. Er muss sich einen neuen Job suchen, in dem er nicht ständig Schwindelanfälle kriegt. Ich weiß nicht, was da auf einmal mit ihm passiert war. Das hatte er früher nicht, er hat Dachdecker gelernt, und er mochte seine Arbeit. Und plötzlich, nach zehn oder wie vielen Jahren, hat er diese Schübe, ihm wird schwindlig, er kriegt Höhenangst. Ein Wahnsinn bei dem Beruf. Sein Arzt konnte ihm auch nicht helfen. Ein Drama. Ihn hat das natürlich frustriert, er machte Fehler, noch mehr Fehler, und einmal wär er fast vom Dach gefallen. Sechs Stockwerke tief. Ein Kollege hat ihn im letzten Moment festgehalten. Aber der Polier, der grad in der Nähe war und den das eigentlich gar nichts anging, sah die Situation, und Franz musste zu einem Alkoholtest. Der war nicht negativ. Das war’s. Seitdem säuft er zu viel, lässt sich gehen, wird immer dicker und kümmert sich einen Dreck um seine Frau. An Nikolaus hatten die beiden wieder mal einen heftigen Streit, er hat zugeschlagen, das hat er bisher nie getan, soweit ich weiß. Da ist die Inge weg. Zu mir hat sie gesagt, sie braucht dringend Abstand, und zwar für länger. Das hab ich der Polizei gesagt, und die haben gesagt, alles in Ordnung, dann soll sie ihren Abstand haben, aber wenigstens ihrem Mann Bescheid geben. Darauf kann der Franz lange warten.«

Hinter ihrem Rücken ertönte mehrmals hintereinander ein metallisches Klacken. Süden sah sie an und wartete ab. Karla stieß einen Seufzer aus. »Ich hab Besuch, Sie verstehen schon …« Sie senkte die Stimme und legte die Handgelenke über Kreuz, um eine Fesselung anzudeuten.

»Handschellen«, sagte Süden, machte einen Schritt auf Karla zu und sprach ebenfalls leise. »Sie haben einen Mann ans Bett gefesselt. Oder eine Frau.«

»Ist schon ein Mann. Wir haben beide sonst nichts vor an den Feiertagen. Das machen wir jedes Jahr, das Spiel …«

»Dann frohe Weihnachten«, sagte Süden.

»Ihnen auch. Was werden Sie dem Franz mitteilen?«

»Er soll sich keine Sorgen machen.«

»Und er soll nicht auf die Idee kommen, noch mal hier reinzuschneien.«

Süden nickte und stieg die Treppe hinunter, obwohl es ihm schwerfiel, nicht eine Weile an der Tür zu horchen.

Als er eine halbe Stunde später wieder ins Aloha-Stüberl kam, sang Bata Illic, was bestimmt die härteste Form der Begrüßung war. Vornübergebeugt am Tresen hockte Franz Bellmann, den Kopf auf den Armen. Er zwinkerte Süden zu und hob den Zeigefinger.

»Sei… Fra… intere… ih… ni… meh…«, sagte der Wirt. Zur Sicherheit wiederholte Süden den Inhalt des Satzes in Richtung Bellmann. »Deine Frau interessiert dich nicht mehr.«

Bellmann schüttelte oder bewegte den Kopf ein wenig.

Süden sagte: »Mach dir keine Sorgen. Sie braucht Abstand und kommt eines Tages wieder.«

Bellmann blickte in die Ferne – vielleicht wie früher, als er auf den Dächern der Stadt den Blick schweifen ließ.

Die beiden anderen Männer am Tresen waren nicht mehr da. Süden drehte sich zur Tür um. Beim Hereinkommen hatte er nicht auf den Mann am Stehtisch geachtet. Der Mann war jetzt ein anderer. Er war schmächtig, dürr, hatte eine Knollennase, Tränensäcke und ein kurioses Haarnest auf dem Kopf. Er trug eine türkisfarbene Bomberjacke, deren Reißverschluss halb geschlossen war. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, aber er schien guten Mutes zu sein und schon auf Süden gewartet zu haben. Neben seinem Bierglas lag eine Schachtel Salem ohne Filter, darauf eine Streichholzschachtel.

Als Süden wie hypnotisiert zu ihm ging, bemerkte er, dass die schwarzen englischen Halbschuhe des Mannes blitzblank geputzt waren.

Süden glaubte nicht, was er sah.

Er glaubte es nicht, weil der Mann mit dem bleichen Gesicht und den eigenartig leuchtenden Augen vor etwa zehn Jahren in Berg am Laim in einen Müllcontainer geklettert war und sich mit seiner Dienstpistole – Heckler & Koch, neun Millimeter – in den Kopf geschossen hatte.

Süden stand vor dem Mann, mit dem er in Taging aufgewachsen war und der seine Kindheit kannte wie kein Zweiter, vor allem jene Tage seiner Jugend, an denen sein Leben sich für alle Zeit veränderte.

Sein Freund war anwesend, als seine Mutter beerdigt wurde, und er wich nicht von seiner Seite, als sein Vater am 22. Dezember für immer verschwand. Sie beendeten gemeinsam die Schule und beschlossen aus purer Ratlosigkeit, zur Polizei zu gehen und später Fahnder in der Vermisstenstelle zu werden. Sie blieben die besten Freunde. Noch heute redete Süden manchmal mit ihm, und sein Freund antwortete ihm, daran gab es keinen Zweifel.

Süden schwieg, und Martin Heuer sagte: »Du nähst Schuhe für so viele und läufst selber immer noch barfuß rum.«

Seit seiner frühen Jugend hatte Süden ihn mit Dylan-Songs belästigt. In einem hieß es: I make shoes for everyone, even you, while I still go barefoot.

»Klauen jetzt schon die Toten von Dylan?«, sagte Süden und bestellte zwei frische Biere, die Charly in Windeseile servierte.

Dann hoben sie gleichzeitig ihre Gläser.

»Möge es nützen!«, sagte Martin. Irgendwann vor einer Ewigkeit hatte er gelesen, dass dies die Übersetzung von Prosit sei.

»Möge es nützen!«, sagte Süden.

Sie tranken und schwiegen lange und tranken und hörten den Liedern aus dem Radio zu, die alt und unsterblich waren.

In jener Nacht träumte Süden von seinem Vater und seiner Mutter, aber am nächsten Morgen wusste er nichts mehr davon. Er wunderte sich nur, dass er so unbeschwert aufstand.

Bekenntnisse eines Stüberlbewohners

Ich zum Beispiel wäre wahnsinnig gern oft nüchtern. Wer will das hören? Das ist eine Sache der Glaubwürdigkeit, dass man sich mit Äußerungen zum eigenen Innern zurückhält. Sollte für andere genauso gelten. Rolf zum Beispiel. Paradebeispiel: ehemaliger Lehrer, jetzt Müllabfuhr, Dienstschluss 13 Uhr, textet Gäste zu, die er nicht einmal kennt. Nicht, dass ständig neue Gäste ins Enzianstüberl kämen, das wäre utopisch und zwecklos auch, da der Laden schon mit den Stammgästen überfüllt ist. Ich zum Beispiel, das nur am Rande, stehe wahnsinnig gern allein an einem Tisch, trinke ein Bier und am Ende das achte, mehr oder weniger textlos den kompletten Abend über, und gehe anschließend nach Hause. Natürlich lege ich Höflichkeit an den Tag und sage: Gimma noa Hoibe, Laura, bittschön. Das muss sein, zustandsunabhängig.

Das unterscheidet mich von Diversen, von Manuel zum Beispiel. Knallt sein leeres Glas auf den Tresen und baut darauf, dass die Laura die Luft rauslässt. Macht sie, weil sie eine geübte Wirtin ist und die Zeichen der Zeit versteht, zumindest die von Emanuel, die andererseits wahrscheinlich sogar der Yeti verstehen würde. Damit ist jetzt nichts gegen die Laura gesagt, niemals.

Wenn die Laura lächelt, herrscht immer gute Laune. Nicht bei ihrem Zahnarzt vermutlich, das hat seine Gründe. Wenn die Laura – so stelle ich mir das an meinem Tisch schweigend, aber wachsam vor – in der Praxis eines Dentisten lächelt, dreht der sich auf seinem Stuhl stundenlang im Kreis aufgrund professionellen Entsetzens. Man muss aber wissen, dass Lauras Zahnarzt dem Enzianstüberl noch nie seine Aufwartung gemacht hat, jedenfalls nicht in meiner Anwesenheit. Und ich bin jeden Tag da, außer Mittwoch.

Am Mittwoch gehe ich ins Belgradstüberl, aus Tradition und einem Bedürfnis nach Abstand zum Enzianstüberl heraus. Das tut gut. Sollten viel mehr Gäste praktizieren. Mal Abstand halten, mal was anderes sehen, mal die Wände wechseln. Obwohl: von den Wänden her gesehen nehmen sich das Enzianstüberl und das Belgradstüberl nicht viel, eigentlich gar nichts.

Im Belgradstüberl waren früher hauptsächlich Jugoslawen, das liegt auf der Hand, aber auch der eine oder andere Giesinger, der schon mal im Urlaub auf dem Balkan war und seither von einer Slibowitz-Abhängigkeit gequält wird, die wiederum den nach wie vor im Belgradstüberl verkehrenden Restjugoslawen insgesamt öfter mal auf den Magen schlägt. Das Problem ist offensichtlich: Der Bürgerkrieg machte keinen Unterschied zwischen dem netten Serben von nebenan und dem Kroaten von nebenan und allen anderen von nebenan. Der Krieg hat die Stammkundschaft im Belgradstüberl dramatisch dezimiert. Dazu kam, dass bei zwei Messerstechereien unter eigentlich Giesingern, also in Giesing seit fast eineinhalb Generationen beheimateten Restjugoslawen acht Landsleute starben. Doppelt tragisch: Kein einziger von denen war am Krieg beteiligt gewesen. Das waren Männer wie du und ich, Zaungäste des Weltgeschehens am Tresen des Belgradstüberls, als ein vom Slibowitz geistig pulverisierter Urgiesinger die falschen Sätze aus seinem Mund rieseln ließ. Dies führte zu einem schusswechselartigen Wortwechsel unter ehemals Originaljugoslawen und schließlich zum Zücken mehrerer Messer. Der Rest ist bekannt und stand in den Zeitungen.

Niemand gab dem Urgiesinger die Schuld an dem Gemetzel, obwohl dies juristisch möglich gewesen wäre, meiner Einschätzung nach, auch wenn ich kein Jurist bin, sondern juristisch eher unbeholfen, was bei meiner Scheidung drastisch zutage trat. Andererseits konnte damals niemand damit rechnen, dass meine Frau dermaßen brutal gegen mich vorgehen würde – fast jugoslawisch, bildlich gesprochen und ohne einem der übrig gebliebenen Restjugoslawen im Belgradstüberl zu nahe treten zu wollen.

Ist eh riskant: zu nahe treten. Manche Leute erschrecken leicht, andere geraten rasch in Verwirrung, wieder andere neigen zu sofortiger Aggressivität oder sie benutzen einen augenblicklich als Kübel, in den sie ihren Weltekel kotzen. Wer will das? Niemand, und nicht nur ich nicht.

Mittwochs Belgradstüberl. Das gehört zum Ritual der Existenz an sich. Ich stehe nah bei der Tür am Stehtisch, trinke ein Bier, bestelle bei Drago ein zweites bis siebtes, spreche nicht. Lausche der Musik, Schlagern aus der Zeit meiner fernen Jugend, Bata Illic und Konsorten. In solchen Momenten danke ich Gott, dass Bier wirkt. Manchmal verbeuge ich mich deshalb vor dem HERRN, und die Gäste – ausschließlich männliche Restjugoslawen – betrachten mich und schütteln den Kopf und wenden sich wieder ihrer Sprache zu. Babylonisches Sprachengewirr, Bata Illic gegen den Rest der bewohnten Welt.

Nach einer Stunde zirka denke ich ans Enzianstüberl. Passiert beinahe zwangsläufig, und es ist schön und anheimelnd. Erst durch Abstand entsteht wahre Liebe. Meine Frau hat das nie begriffen, obwohl ich mir alle Mühe gab, es ihr zu beweisen. Ich liebte sie wahnsinnig, aber sie sagte, ich sei wahnsinnig, wenn ich im Gasthaus sitze und ihr Liebesbriefe schreibe – anfangs auf gutem Papier, später elektronisch mit Hilfe finnischer Qualitätsware. Der Sinn des Abstands blieb meiner Frau derart verborgen, dass sie mich noch am Scheidungstag vor dem Richter wie einen kopfamputierten Grottenolm behandelte. Blöderweise bestand mein kompletter juristischer Beistand aus einem silbernen Flachmann, den Drago am Abend zuvor bis zum Anschlag mit Slibowitz gefüllt hatte, damit ich, seinen Worten zufolge, »die Strapazen des Krieges« besser ertragen würde. Klappte nur bedingt. Ist aber inzwischen Jahre her und geht die meiste Zeit in meinem Kopf verschütt.

Am Tisch bei der Tür widme ich die Dauer vom dritten bis zum siebten Hellen fast ausschließlich meiner Erinnerung ans Enzianstüberl. Eine Phase der Wehmut und der Vorfreude – ein Empfinden im Kopfesinnern, das ich mit niemandem teilen kann und möchte. Erst in diesem Loch von Belgradstüberl wird mir das Ewig-Kosmische des Enzianstüberls bewusst, ich erkenne dessen einzigartige Leucht- und Strahlkraft und gerate jedes Mal in die Nähe eines Gefühlsausbruchs ätnaischen Ausmaßes.

Zurück zum Rolf. Lehrer gewesen, Kinder gehasst, kein Lehrer mehr gewesen. Bildet sich aber ein, der halben Welt das deutsche Bildungssystem, die bayerische Bildungspolitik, PISA-Studien und die Leitartikel der FAZ erklären zu müssen. Das macht man nicht. Ich zum Beispiel würde niemals jemandem das deutsche Scheidungswesen, das bayerische Unterhaltsrecht, den Sinn von Eheverträgen und die Briefe von Rechtsanwälten eintrichtern wollen, bloß weil ich in einem anderen Leben darin ausgebildet wurde und daran gescheitert bin. Man behält sein Leben für sich, vor allem auf begrenztem Raum und in der Gegenwart von Leuten, deren inneres Gebaren man nicht im Geringsten einschätzen kann. Plötzlich spuckt einer wie ein Lama durch die Gegend oder zückt ein Messer oder bricht in Tränen aus wie vor kurzem der Matthias.

Was das sollte, war schwer zu beurteilen. Plötzlich tropfte es aus seinen Augen, als würde es von seiner Stirn abwärts regnen hinter der Haut. Mitten am Tresen, neben ihm Emanuel, wortlos natürlich, auf der anderen Seite Raimund, ergriffen, aber auch verdutzt. Die Laura kam extra um den Tresen herum, um ihren Arm um den sich in einen Schluckauf hineinweinenden Matthias zu legen. Sekunden des Schweigens ringsum. Eine bayerische Band sang ein Lied aus dem Lautsprecher. Matthias weinte stumm. Immerhin. Er schluchzte nicht. Sein Mund blieb zu. Natürlich zitterten seine Lippen. Aus der Nase hing allmählich Rotz, was ihm niemand übelnahm.

Es war vielleicht der Weltschmerz. Die bayerische Band spielte noch einen Song, während Matthias den Rotz hochschlunzte, in die Runde schaute und Gesichter sah, deren Mienenspiele ihm möglicherweise unheimlich erschienen, da er sie noch nie gesehen hatte. Daraufhin wankte er zur Toilette und sperrte sich ein. Etwa fünf Minuten später kam er zurück. Sein Gesicht war bleich wie eh und je, er hielt sich an der Kante des Tresens fest, um seinem Gleichgewicht eine Chance zu geben, und gelangte auf den Barhocker, ohne nach hinten zu kippen und als erster Genickbruch in die Geschichte des Enzianstüberls einzugehen. Hingebungsvoll stellte Laura ihm einen Schnaps hin – vom Haus, fügte sie hinzu, als könnte das Stamperl von gegenüber aus der Fahrschule herübergerollt sein.

Über den Vorfall hat bis heute niemand ein Wort verloren, auch ich nicht, obwohl ich davon überzeugt bin, dass nicht nur der Weltschmerz die Tränen aus Matthias Augen presste. Ihm fehlt der Abstand, er sieht das Schöne nicht mehr an seinem Platz am Tresen. Er bräuchte einen Tag woanders, das würde ihm Kraft und Zuversicht geben, ganz sicher, und er käme mit leuchtenden, saharasandtrockenen Augen ins Enzianstüberl zurück und würde sich auf seinen Hocker schwingen wie Lawrence von Arabien auf sein Kamel. Neben mir am Stehtisch bei der Tür im Belgradstüberl ist auf jeden Fall noch Platz. Fragen müsste er mich allerdings schon, ob ich ihn mal mitnehmen würde. Weil ich zum Beispiel dränge mich niemandem auf.

Komplexer Disput gegen Mitternacht

Die Frage ist doch: War Hitler ein Nazi?

Bitte?

War Hitler ein Nazi? Nur weil er Mitglied der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei war.

Bitte?

Wo bist du Mitglied?

Nirgends.

ADAC.

Nein.

Videothek.

Was?

Mitgliedsausweis für eine Videothek.

Schon lang nicht mehr.

Aber du hattest mal einen.

Ja.

Also: Ungefähr zweiundneunzig Prozent der Leute, die einen Mitgliedsausweis einer Videothek haben, leihen sich Pornos aus. Liegt auf der Hand. Harte Pornos, weil die anderen kriegst du problemlos im Internet. Also: Lauter Pornografen, die sich schmutzigstes Zeug reinziehen, und was machst du?

Was?

Leihst du dir schmutziges Zeug aus? Echt schmutziges Zeug?

Nein.

Haha.

Nein.

Ich glaube dir. Ich glaube dir völlig. Aber wenn jemand kommt und sagt, du bist ein Pornograf, was machst du dann? Dann schaust du blöd. Genau wie jetzt. Du schaust blöd, weil du den Zusammenhang nicht verstehst. Und der Zusammenhang ist: Du bist Mitglied in einer Videothek, die von schmutzigen Pornos lebt. Bist du deswegen ein schmutziger Pornograf? Ich würde sagen: Nein. Bist du nicht.

Es gibt einen Unterschied zwischen der NSDAP und meiner Videothek.

Der ist doch graduell.

Was ist der?

Darum geht’s nicht. Der Hitler war in der Partei, logisch, so wie du in der Videothek. Aber war er deswegen ein Nazi?

Er hat Millionen Menschen vernichtet und die Welt in Schutt und Asche gelegt.

Kann ja sein.

Ist so.

Kann ja sein. Aber wenn der kleine Ali aus Bagdad erwachsen ist, geht der dann zu seinem Vater und sagt: Vater, warum hat der Nazi Bush die Welt in Schutt und Asche gelegt? Was sagt dann der Vater? Dann sagt der Vater: Der Bush war kein Nazi.

Was?

War der Bush ein Nazi? Nein, er war bloß Republikaner, im amerikanischen Sinn. Verstehst? Und Lyndon B. Johnson, war der ein Nazi? Hat Vietnam in Schutt und Asche gelegt. Und keine Autobahnen gebaut! War ein Scherz. Verstehst, was ich sagen will: Wieso muss der Hitler ein Nazi gewesen sein? Vielleicht war er nur ein Parteimitglied.

Hitler war ein Verbrecher.

Es gibt Leute, die behaupten, Uli Hoeneß ist ein Verbrecher, weil er Steuern hinterzogen hat.

Du kannst doch jetzt nicht von Hitler direkt zu Hoeneß kommen.

Siehst du doch, dass ich’s kann.

Aber wieso?

Damit du verstehst, was ich meine. Dass das die Grundfrage ist: War Hitler ein Nazi?

Du spinnst. Du bist irre.

Wenn du kritische Fragen aufwirfst, die manchen Leuten nicht passen, heißt’s gleich: Du spinnst, du bist irre. Ab in die Psychiatrie! So läufts. Schöne Grüße an Herrn Mollath.

An wen?

Mollath. Den sie in der Psychiatrie versenkt haben, weil er die Machenschaften seiner Frau mit Schwarzgeldgeschäften aufgedeckt hat. Ich spinn nicht. Ich denk nach.

Bist du sicher, dass das Denken ist, was da in deinem Kopf vorgeht?

Der Hitler war Politiker, kapierst du das nicht? Wie der Bush. Wie der Johnson. Kim Yong Il. Stalin. Die machen ihre Arbeit. Die ist natürlich grausam, diese Arbeit, absolut abzulehnen. Tun wir ja auch alle. Wählen die Grünen. Dann lassen die Grünen Bomben in Jugoslawien abwerfen. Dumm gelaufen. Wählen wir halt beim nächsten Mal die SPD. Die schickt Waffen nach Israel, das ist erlaubt. Israel ist der Erzfreund. Seit 45 natürlich, vorher nicht.

Was? Was?

Die einzige Partei, die keinen Krieg weltweit unterstützt, ist die FDP. Das fällt bloß niemandem auf. Die FDPler sind die letzten Pazifisten im Land.

Hä?

Du musst dich mehr informieren, sonst wird das nichts mehr mit dir. Du verkümmerst. Das fängt schon an.

Hitler war ein Nazi.

Das sagst du so, weil das die einfachste Lösung ist. Wer nicht für mich ist, ist gegen mich. Aug um Aug, Zahn um Zahn. Wollt ihr den totalen Krieg? Ja freilich. Und da fragst du mich, wie ich so schnell von Hitler auf den Hoeneß komme.

Was hat der Hoeneß mit dem totalen Krieg zu tun?

Der Hoeneß als Verbrecher an sich. Hier geht’s um die Katalogisierung von Menschen. Das musst du doch verstehen in deinem Alter. Wie alt bist du eigentlich?

Vierundfünfzig.

Das ist ja Wahnsinn. Und dann stehst du hier und stellst mir solche Fragen.

Ich stell dir keine Fragen.

Weil dir keine einfallen.

Was?

Du kommst nicht mehr mit.

Nazis waren also die anderen, aber Hitler war kein Nazi.

Das wissen wir nicht. Das ist ja die Frage, die ich in den Raum stelle. Darüber müssen wir nachdenken.

Müssen wir nicht.

Wieso nicht?

Weil wir wissen, dass Hitler ein Nazi war.

Du drehst dich im Kreis, mein Freund. Geh mal raus an die frische Luft, eine rauchen.

Ich rauche nicht.

Dann geh zum Nichtrauchen raus.

Sei doch du einfach still.

Ich bin der Wirt, ich kann reden, solang ich will.

Dann red mit dem Herbert.

Hab ich schon.

Und?

Er versteht mich.

Das glaubst du.

Ich weiß das. Herbert! War der Hitler ein Nazi? Da hörst du’s.

Ich hör gar nichts.

Freilich nicht! Weil der Herbert seit einer Woche über die Frage nachdenkt.

Ehrlich?

Nimm dir mal ein Beispiel an ihm. Trinkst du noch eins?

Ja.

Versuch einfach mal, deine eingefahrenen Bahnen zu verlassen. Die landläufigen Meinungen beiseitezulegen. Sei subtil.

Was?

Subtil. Weißt du nicht, was subtil heißt?

Doch.

Also.

Was ist subtil an der Frage, ob Hitler ein Nazi war?

Du fängst an, mir leidzutun. Zum Wohl. Trink langsam, damit du dich nicht verschluckst.

Ich verschluck mich schon nicht. Und was ist, wenn wir zu dem Schluss kommen, dass Hitler kein Nazi war?

Dann haben wir ein Ergebnis und können uns einer neuen Frage zuwenden.

Welcher zum Beispiel?

Zum Beispiel der Frage: Warum war Hitler kein Nazi?

Aha.

Oder der Frage: Warum wurde er jahrzehntelang als Nazi verunglimpft? Wer hat davon profitiert?

Was?

Irgendjemand muss einen Nutzen davon haben, Leute als Nazis zu bezeichnen.

Guido Knopp.

Wer ist das?

Du kennst Guido Knopp nicht?

Nie gehört, den Namen.

Schaust du nicht fern?

Wann denn? Ich bin immer hier.

Du hast keinen Fernseher?

Nein. Was hat dieser Kopp …

Knopp.

Was hat der davon, Leute als Nazis hinzustellen?

Vergiss es einfach.

Ist er Jude?

Weiß ich nicht.