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Der 21-jährige Kiryu Sugawa ist unzufrieden mit seinem Leben. Eigentlich würde er allein mit der Musik seiner Band Rising Phenix seinen Lebensunterhalt verdienen wollen. Die Realität schlägt jedoch immer wieder unerbittlich zu und hält ihn davon ab diesen Traum zu verwirklichen. Obwohl das heutige Tokyo unübersichtlich, voller Menschen und auch gefährlich sein konnte, würde er dennoch nie in einer anderen Stadt als dieser leben wollen. Hier ist er aufgewachsen, hier kennt er sich aus. Es war der Ort, der ihm alles für sein Leben bietet. Alle Möglichkeiten stehen ihm hier offen. Als er auf Masahito Tanakawa trifft, wird ihm ein sehr verlockendes Angebot gemacht sein Leben zu ändern. Die Frage ist nur, ob durch dieses Angebot wirklich alles besser werden sollte, denn Tanakawa war weitaus mehr als ein gütiger Wohltäter für Träumer. Aus der Gewohnheit heraus, er war schließlich sein ganzes Leben auf sich selbst gestellt, entscheidet sich Kiryu dafür allein mit Tanakawa zu verhandeln. Zum Wohle seiner Band. Seine Bandkollegen Taro, Ryo und Haru wissen davon allerdings nichts. Sie sind nach einem Konzert der Ansicht, dass ihnen ein glücklicher Zufall geholfen hatte und sie endlich groß raus kommen würden. Kiryu dagegen bleibt skeptisch.
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Seitenzahl: 409
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Until the End
1. Auflage, erschienen 11-2022
Umschlagillustration: Katrin Biallas
Text: Katrin Biallas
Layout: Romeon Verlag
ISBN: 978-3-96229-670-4
www.romeon-verlag.de
Copyright © Romeon Verlag, Jüchen
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Katrin Biallas
Until the End
ROMAN
Prolog
Rising Phenix
Vorwürfe
Verhandlungen mit allerlei Hindernissen
Der verhasste Spitzname
Das Herz der Dunkelheit
Plötzliche Verwandtschaft
Noch mehr Verhandlungen
Rockecke vs. …?
Glückliche Fügung – oder?
Künstlernamen
Eingriff ins virtuelle Leben
Erste Schritte
Neue Beziehungen
Don´t wanna think about
Inneres Grauen
Awake – Alive
Keep on, burning Soul!
Brieffreundschaft
Gefunden
The Core
Heilung
Zwischengelagert
Im Keller
Zeit, sich zu erheben
Weg des Schicksals
Ausgerechnet »Cracked Hell«?!
Rockstar
Zweite erste Schritte
Freundschaftsdienste
Der Phönix erhebt sich
Treffpunkt Tokyo Tower
Wer hat die besseren Karten?
Ein Traum
Epilog
Es war nur eine Nacht vergangen, aber es kam ihnen schon vor wie eine Ewigkeit. Sie wussten nicht, was sie jetzt erwartete. Und auch wenn sie nicht wussten, wohin das führen sollte, wenn sie jetzt ihrer Verzweiflung freien Lauf lassen würden, hätte das ausschließlich den Zweck, ihn zu belustigen. Würden sie sich jetzt die Köpfe einschlagen, wäre das auch nur ein Spaß für ihn gewesen. Und deshalb saßen sie schweigend beieinander. Würde einer von ihnen einen Ton von sich geben, würden sie sich kurz darauf wohl gegenseitig an die Hälse gehen. Und das würde ihnen in keiner Weise helfen. Bloß er würde wohl seinen Spaß daran haben. Und da sie das wussten, schwiegen sie sich weiter an.
Ein Vertrag sollte erfüllt werden, aber bis gestern wussten sie nicht einmal, dass es so einen Vertrag überhaupt gab! Sie waren überrascht gewesen, dass es vor einigen Wochen bergauf gegangen war. Aber auch das hatten sie nur ihm zu verdanken … Doch wenn man es recht bedachte, war es eher … Aber das konnten sie nicht denken. Das durften sie einfach nicht! Nicht einer von ihnen!
Die Gedanken sind frei, hieß es immer. Aber einer von ihnen wusste, dass er sich darüber hinweg setzen konnte. Wahrscheinlich saß er jetzt irgendwo in einem gemütlichen Sessel und amüsierte sich darüber, wie einfältig sie doch gewesen waren. Aber diese Dinge gingen einem von ihnen durch den Kopf. Die anderen waren immer noch damit beschäftigt, sich die Köpfe darüber zu zerbrechen, wie sie überhaupt hierher gekommen waren.
Ob das hier ihr Ende werden sollte? Es hieß zwar immer, man solle aufhören, wenn es am schönsten ist. Aber so hoch waren sie die Karriereleiter gar nicht hinaufgestiegen. Nur einen Moment den süßen Geruch des Erfolges riechen – davon hatten sie alle geträumt. Und als es so weit war, als sie gerade dabei waren zu begreifen, schlugen sie auf dem harten Boden der Realität auf. Sollte das denn wirklich schon ihr Ende sein? Aber niemand sprach diese Gedanken aus. Dennoch waren sie in ihren Köpfen. Und zwar im Kopf von jedem von ihnen, und sie wussten davon.
Je mehr Zeit verging, desto unruhiger wurden sie. Aber um Streit zu vermeiden, hatten sie sich, kurz nachdem sie gefangen worden waren, darauf geeinigt, zu schweigen. Denn es hätte ja doch keinem von ihnen genutzt, sich gegenseitig zu beschuldigen. Aber auch wenn sie sich die ganze Zeit über anschwiegen, sagte dieses Schweigen doch mehr, als Worte es hätten tun können. Und so wurden sie weiterhin von ihm beobachtet. Aber das konnten sie nur erahnen. Und er wusste, je mehr Zeit vergehen würde, desto schwieriger wurde es für sie. Denn er kannte sie alle und wusste, dass die wenigsten eine solche Prüfung bestehen konnten. Und so wartete er. Das machte ihm schon lange nichts mehr aus. Er war es gewohnt zu warten und wusste daher, dass es sich in den meisten Fällen lohnte. Und auch diesmal sollte es etwas geben. Er hatte es zwar schon lange nicht mehr erlebt, doch es sollte wohl spaßig werden. Die letzten Wochen waren schon sehr vielversprechend gewesen. Jetzt würde er, wie es so schön hieß, die Ernte einfahren. Wobei das wohl nicht gerade die treffendste Redewendung war. Schließlich würde er ebenfalls überrascht sein, wie diese ganze Geschichte ausgehen würde. Aber das gehörte nun mal dazu. »Berufsrisiko«, würde er dazu sagen.
Die Zeit zog sich immer weiter in die Länge. Was, wenn er sich überhaupt nicht mehr blicken ließ?! Aber hier zeigte sich mal wieder, dass man nicht unbedingt wissen musste, wie sein Feind aussah. Es reichte lediglich aus, zu wissen, dass es ihn gab. Aber das half ihnen nicht gerade, mit der Situation besser fertig zu werden. Wieso hatten sie nicht einfach so weitermachen können wie bisher? Wieso musste das Ganzeso aus dem Ruder laufen? Wieso hatte ausgerechnet er sich eingemischt? Hatte er sich überhaupt eingemischt? Oder war es doch vielmehr so, dass er erst aufgetaucht war, nachdem sie um Hilfe gebeten – ja fast gebettelt – hatten? Oder hatte er einfach eine gute Nase und wusste, wo die beste Beute war? Aber das war jetzt eh nicht mehr rückgängig zu machen. Er würde nicht verhandeln – nicht noch einmal. Sie würden das sicher auch nicht, wären sie jetzt in einer anderen Situation. Nein, jetzt waren sie von dem abhängig, was er mit ihnen vorhatte …
Sie wussten nicht, wie oft sie schon hier aufgetreten waren. Aber das war den Jungs von Rising Phenix egal. Sie kamen gern hierher, denn hier hatten sie zum ersten Mal als Band auftreten dürfen.
Die Bühne erwartete sie schon, heute Nacht würde das Publikum auf seine Kosten kommen! Und auch wenn sie schon seit ein paar Jahren versucht hatten aufzusteigen und es bis jetzt nicht geschafft hatten, dieser Klub hier war so etwas wie ihre Heimat – ihr Startpunkt.
Obwohl sie relativ beliebt waren, war bis jetzt niemand auf die Idee gekommen, sie unter Vertrag zu nehmen. Sie hatten ein paar Demos an Musikverlage geschickt, aber nie eine positive Antwort erhalten. Ihre Songs hatte Kiryu bis jetzt ausschließlich auf Japanisch geschrieben. Und sie hatten sich geschworen, sich dabei von niemandem reinreden zu lassen.
Sie kamen alle vier aus Tokyo. Kiryu Sugawa – der Sänger – hatte weiß gefärbte, kinnlange Haare mit einem leichten Blauschimmer und helle braune Augen, die fast ins Gold übergingen. Der Gitarrist Taro Okumoto war das, was die meisten Menschen wohl als quirlig bezeichnen würden. Er war ein grenzenloser Optimist, hatte blond gefärbte Haare, die fast so lang waren wie die von Kiryu. Und seine grauen Augen sprühten geradezu vor Leben. Er war es auch, der die Songs der Band komponierte, während Kiryu sich um die Texte kümmerte. Der Bassist Haru Edawa stach nicht besonders hervor. Er war der Ruhigste von ihnen. Seine schwarzen Haare, die er meistens im Nacken zusammengebunden hatte, bildeten einen starken Kontrast zu seinen klaren blauen Augen, die das Meer selbst in sich zu haben schienen. Und der vierte im Bunde war Ryo Shiota – der Drummer. Wenn es hart auf hart kam – und das geschah in letzter Zeit des öfteren – war er es, der die Band zusammenhielt. Wie Haru war auch Ryo ein geduldiger Typ. Doch so verschieden sie zu sein schienen, eines hatten sie alle gemeinsam: Sie alle kamen aus einem Viertel Tokyos, das nicht gerade die besten Aufstiegschancen bot. Und das schweißte natürlich zusammen. In der Schule war niemand von ihnen herausragend gut, weshalb sie sehr geringe Chancen auf einen Studienplatz hatten. Sie hatten entweder gerade so einen Abschluss erhalten oder waren Durchschnitt. Dennoch hatten diese vier Jungs ein herausragendes musikalisches Talent, das ihnen Hoffnung gab, irgendwann ein besseres Leben führen zu können. Sie hatten schon eine beachtliche Zahl an Fans. Und die waren einer der Gründe dafür, dass sie nicht längst aufgegeben und alles hinter sich gelassen hatten. Die Fans und ihre Träume. Aber es lag auch an ihren Freunden, die ihnen immer wieder Halt gaben.
Die letzten Soundchecks wurden durchgeführt – der Auftritt konnte beginnen.
Kiryu stand schon auf der Bühne. Das hier war seine Welt. Die leere Fläche vor der Bühne würde in spätestens einer Stunde voll sein – und zwar richtig voll! Sie würden ihnen zujubeln – genau wie schon so oft zuvor. Und nach dem Auftritt … würden sie alle wieder in ihr unscheinbares normales Leben zurückkehren. Er freute sich auf den Auftritt, aber er blickte ihm auch mit Wehmut entgegen. Würde es heute genauso enden wie die letzten Male zuvor? Er schloss die Augen und stellte sich alles vor: das Publikum, das ihnen zujubelte; seine Kehle, die sich irgendwann wie Sandpapier anfühlen würde – aber das war nie ein Problem gewesen, um einen guten Auftritt abzuliefern; und natürlich dieses berauschende Gefühl, den Himmel erobern zu können – als ob man fliegen könnte; dieses unbeschreibliche Gefühl puren Glücks. Sie würden heute Nacht auftreten und es würde der beste Auftritt werden, den sie je gebracht hatten!
»Kiryu!«, wurde er von Yuito aus seinen Tagträumen gerissen. Yuito und er kannten sich schon seit ihrer Kindheit. Sie waren im selben Wohnblock aufgewachsen. Aber während Yuito eine Anstellung als Kfz-Mechatroniker fand, wollte Kiryu schon immer auf die Bühne. Dennoch hatten diese unterschiedlichen Vorstellungen einer Zukunft ihrer Freundschaft nicht geschadet. Kiryu war schon immer ein Träumer gewesen, das wusste Yuito. Kiryu drehte sich zu seinem alten Freund um und sah ihn fragend an.
»Wir können jetzt anfangen.« Kiryu nickte nur darauf und begann gleich eine ihrer Melodien vor sich hinzusummen.
»Okay«, sagte Yuito noch einmal und Kiryu begann: »Und das Einzige, das mir noch … Das klingt komisch, Yuito.« Der Angesprochene sah sich ein weiteres Mal das Mischpult an, stellte ein paar Regler anders und nickte Kiryu dann erneut zu.
»Und das Einzige, das mir … Whuh! Das ist ’n Klang, Leute!« Und dann begann er richtig zu singen. Es war ihm egal, ob es a cappella war, das musste jetzt einfach sein:
»Und das Einzige, das mir noch bleibt,
Ist Erinnerung, die nichts mehr heilt …«
»Hey, hey, hey! Wer wird denn da schon ohne uns anfangen?!«, kam Taro mit der restlichen Band im Schlepptau auf die Bühne.
»Hi, Leute«, grüßte sie Yuito gleich. »Wir können gleich loslegen.«
Sie hatten nicht sehr lange gebraucht für den Soundcheck, schließlich hatte sich Yuito um die meisten ihrer Auftritte gekümmert. Sie wussten nicht, was sie ohne ihn getan hätten – und sie wussten es auch jetzt nicht. Geld für Ton- und Lichttechniker hatten sie nicht.
Die ersten Menschen kamen, und Taro und Ryo standen gespannt hinter der Bühne und beobachteten, wie es immer voller im Saal wurde. Kiryu saß währenddessen über ein paar Notizen und biss immer wieder auf das Ende eines Kulis.
»Dein neuer Song?«, fragte Yuito und setzte sich zu Kiryu.
»Ja, ich arbeite gerade am Feinschliff.«
»Hättet ihr den nicht mal proben sollen?« Yuitos Frage war durchaus berechtigt. Aber Kiryu wusste schon, wie es ablaufen sollte. Jeder Ton, jedes Wort, jede Bewegung, die er dazu auf der Bühne machen würde, stand für ihn schon fest.
»Wir hatten ihn schon geprobt, das hier ist nur für meine Performance.«
Yuito sah beeindruckt auf die Noten und lehnte sich dann auf dem Sofa zurück.
»Keine Sorge, das werden wir nicht verhauen. Nicht heute«, und wie zur Bekräftigung lächelte er Yuito wissend an. Yuito hatte die Hände gerade im Nacken verschränkt, als ein aufgeregter Taro hereingestürmt kam und ihnen sagte: »Komm, Kiryu! Es geht los!« Kiryu und Yuito wechselten einen Blick, dann ging Kiryu zum Bühnenaufgang. Die unruhige Masse war hinter der Bühne weniger zu hören als vielmehr zu spüren. Schon jetzt herrschte diese besondere Stimmung, von der auch die Jungs von Rising Phenix voll befallen waren.
»Und heute, nach unendlich langer Zeit, sind sie endlich wieder hier!« Die Menge tobte. Obwohl derjenige, der Rising Phenix gerade ansagte, nicht ganz recht hatte. Inzwischen war es fast zur Gewohnheit geworden, dass sie mindestens einmal im Monat im Cold’s Club auftraten.
»Ich präsentiere – die Unvergleichlichen, die Einzigartigen – Rising Phenix!«
Bei diesen Stichworten kamen sie auf die Bühne. Ein »guten Abend, Leute« ließ sich Taro auch nicht nehmen. Aber das war nun mal Taro. Die Menge bejubelte sie natürlich gleich. Als er wieder vom Bühnenrand zurückging, blieb er kurz neben Kiryu stehen, sagte »okay, sie gehören dir« und schnappte sich seine Gitarre.
»Seid ihr gut drauf, Leute?« Die Menge grölte.
»Was? Ich kann euch nicht hören! Seid ihr gut drauf?«, rief Kiryu ihnen zu. Und als Antwort bekam er ein noch lauteres Grölen als gerade eben.
»Okay, dann können wir jetzt anfangen!« Dann sah er einmal kurz zu Yuito, gab ihm ein Zeichen und der Auftritt begann …
Taro schlug sofort in die Saiten und spielte einen ihrer Standardsongs an. Kiryu stand mit geschlossenen Augen vorn an der Bühne und wartete. Es würde wirklich einer ihrer besten Auftritte werden. Die Menge tobte schon jetzt, nach ihrem ersten Song. Aber die vier wussten, dass es auch besser ging.
Am Ende der heutigen Show würden sich die Fans nicht mehr halten können vor Euphorie. Und das brachte Kiryu schon jetzt ein Lächeln auf die Lippen.
Yuito war immer wieder beeindruckt, wie die Jungs es schafften, ihre Fans so dermaßen zu begeistern und zu lenken. Er selbst war mehr der Typ, der aussah, als kümmerte ihn das alles nicht. Aber das störte ihn nicht, denn er wusste, dass er sich niemals so auf einer Bühne verhalten könnte wie die Jungs von Rising Phenix. Dieser Abend gehörte Kiryu, und er gönnte es ihm.
Und schon wieder hatten sie einen Song beendet. Sie spielten schon fast eineinhalb Stunden, und jetzt sollte endlich der Höhepunkt des Abends kommen. Yuito hatte diesen Song nie vorher gehört und er war gespannt, was sein bester Freund wieder zu Papier gebracht hatte. Aber so einfach machte es Kiryu dem Publikum nicht. Zuerst wollte er die Spannung etwas steigern.
Nach Luft schnappend stand er jetzt wieder in der Mitte der Bühne. Alle Spots waren allein auf ihn gerichtet. Schweiß stand auf seiner Stirn, aber er schien gerade taub für Erschöpfung zu sein. Es dauerte einen Moment, ehe er wieder sprechen konnte, aber die Menge wartete geduldig. Yuito dagegen wurde immer unruhiger, versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, auch wenn ihn niemand sehen konnte.
»So, Leute … hu, also diesmal … habt ihr mich echt geschafft.« Wieder machte er eine kurze Atempause. Seine Schultern hoben und senkten sich mit jedem Atemzug, den er tat. Aber für Kiryu war das LEBEN! Das hier und jetzt war alles, was er wollte. Und was er brauchte.
»Wollt ihr mehr?«, rief Taro dazwischen. Kiryu war immer noch nicht richtig zu Atem gekommen und war deshalb im Moment für jede Hilfe dankbar. Die Fans jubelten, wenn auch etwas zurückhaltend.
»Ne, Taro! … Ich glaub, die haben genug …«, gab Kiryu statt des Publikums zur Antwort.
»Hast recht. Ich glaub, wir gehen besser.«
Das war Yuitos Zeichen. Kiryu, Taro, Haru und Ryo wollten von der Bühne gehen. Aber plötzlich war es stockfinster in der Halle. Die Bühne war nur zu erahnen, die vier Jungs von Rising Phenix waren gar nicht mehr zu sehen. Voller Spannung warteten die Fans darauf, was als Nächstes geschehen sollte, und riefen immer wieder den Namen der Band. Der Auftritt konnte noch nicht vorbei sein – nicht jetzt und nicht so! Die Spannung war fast greifbar.
Auf der Bühne waren nach wie vor Bewegungen auszumachen, alle hofften, dass die Jungs jeden Moment einen neuen Song anspielen würden. Aber vorerst blieb es ruhig. Doch dann wurde es wieder heller auf der Bühne. Nur Kiryu war zu sehen. Er stand mit gesenktem Kopf am Mikro und schien auf irgendetwas zu warten. Er sah verändert aus, auch wenn niemand erklären konnte, was genau jetzt anders war. Es war eine Ahnung, aber die Fans wussten, dass diese Band nicht umsonst den Namen Rising Phenix trug.
»Irgendwann muss jeder sterben – irgendwann ist alles zu Ende«, begann Kiryu. Er klang sehr ruhig. Niemand traute sich, ihn jetzt zu unterbrechen – nicht einmal einer der Fans. In der Halle war es absolut still. Denn gerade fand eine der beeindruckendsten Showeinlagen der Band statt. Kiryu tat es zwar nur selten, aber wenn er es tat, lag die ganze Welt ihm zu Füßen.
Und mit fester Stimme sprach er weiter: »Auch ein Phönix wird sterben, doch …«, er sah zu Boden und drehte dem Publikum halb den Rücken zu. Dann drehte er sich wieder um.
Seine hellen braunen Augen schienen alles wahrnehmen zu können. Und mit jedem Wort, das er jetzt sprach, schien die Spannung bis ins Unermessliche zu steigen: »Doch aus der Asche steigen wir empor und beginnen ein neues Zeitalter!« Mit jedem Wort war er etwas lauter geworden. Und bei den letzten Worten hob er die Arme. Die Fans jubelten, so laut sie konnten. Taro und Kiryu hatten sich kurz einzig mit Zeichen verständigen können, weil es nicht anders ging. Aber jetzt – jetzt war es endlich so weit: Der neue Song wurde angespielt.
Taro und Ryo sangen Passagen der Strophen mit, aber den Refrain überließen sie ganz Kiryu:
»Und das Einzige, das mir noch bleibt,
Ist Erinnerung, die nichts mehr heilt.
Kann allein sein, will’s jetzt nicht,
Erinnerung, die mich erstickt.
Und ich frag:
Was gibt es noch?
Nur Schmerz! Nur Schmerz!«
Die ersten vier Verse waren sehr melodisch. Dann wurde seine Stimme fast schrill und endete bei den letzten Worten in einem Grölen. Die tiefen Akkorde von Ryo ließen aber nicht zu, dass es disharmonisch klang.
Die Menge tobte, Kiryu war glücklich, und ihr Auftritt hier nach dem nächsten Song vorbei … Als sie wieder hinter der Bühne waren, sah man den vieren die Erschöpfung deutlich an. Aber sie sahen alle glücklich aus.
»Wow! Und das hattet ihr so echt noch nicht mal geprobt?!«, kam Yuito auf sie zu.
»Ich meine …«, die richtigen Worten waren ihm eben ausgegangen. Aber Yuito war für sie fast so etwas wie ein Bandmitglied. Mit ihm verstanden sie sich genauso gut wie untereinander, manchmal besser.
»Das war der Hammer!«, platzte es dann endlich aus Yuito heraus. Yuito hätte es nie gedacht, aber heute Abend hatten die Jungs wirklich den besten Auftritt geliefert, den er je gesehen hatte. Und er musste es wissen, schließlich hatte er zu den ersten Fans von Rising Phenix gehört. Aber jetzt ging es nach Hause. Morgen früh würden sie die Anlage mit allem Drum und Dran abbauen, jetzt wollten sie nur noch schlafen. Sie waren alle erschöpft, und das sah man ihnen jetzt deutlicher an als noch vor einer Minute …
Sie wollten sich gleich treffen, um zu proben. Aber er wusste nicht, ob er wirklich hingehen sollte. Ein paar Tage waren seit dem Konzert im Cold’s Club vergangen. Und seine Stimmung hatte sich seitdem nicht mehr verbessert. Es war genauso gekommen, wie er es befürchtet hatte. Deshalb saß er jetzt schon eine ganze Weile auf dem Bett seines kleinen, schäbigen Zimmers und dachte nach. Nein, eigentlich versuchte er, einen Ausweg für sich zu finden. Er wusste zwar nicht, was mit ihm los war, aber ihm war klar, dass es etwas Ernstes war. Es konnte ja nicht normal sein, dass er sich manchmal Tage nach einem Konzert so überflüssig vorkam. So richtig unnütz und einfach taub.
Diese Traurigkeit und Taubheit konnte man in seinen Augen ebenfalls sehen. Und um sich aus dieser Spirale von Traurigkeit, Verzweiflung und Selbstvorwürfen zu befreien, hatte er angefangen, Texte zu schreiben. Sie waren nicht besonders gut, das wusste er, aber für ihn dennoch ein wichtiges Ventil. Und wenn er sich heute einige der alten Texte durchlas, überkamen ihn wieder diese schmerzhaften Erinnerungen. So war es auch bei dem Text, den er schon die ganze Zeit in seinen Händen hielt. Er hatte keinen Titel, aber so war es eh bei den meisten Texten, die er schrieb. Für ihn war ein Titel nicht wichtig. Wichtig waren ihm die Worte – und die damit ausgedrückten Stimmungen:
Seh’ zurück in dieses Loch,
Nur Abscheu, die mich frisst,
Will weitergehen, bleibe doch,
Vergangenheit verfolgt mich ewig …
Seh’ zurück zu diesem Schein,
Heuchler, Blender kommen her.
Ich soll gehorchen, mich verstellen,
Nur ihr Wille, der regiert …
Seh’ zurück, kanns nicht ändern,
Vergangenheit zerfrisst mich hier,
Will nicht zurück zu diesen Blendern,
Will nur hier weg, nur fort …
Manchmal war es auch so, dass ihn die Worte nicht mehr erreichten. Sie prallten einfach an ihm ab. War er denn wirklich so kaltherzig geworden? Nein, wahrscheinlich würde er von den meisten Menschen eher als Sensibelchen bezeichnet werden.
Kiryu dachte nicht gerne zurück an seine Kindheit. Und wäre die Band nicht da, würde er wohl mal wieder auf der Straße sitzen. Er war in keinem sehr guten Elternhaus aufgewachsen. Die meiste Zeit des Tages hatte er auf den Straßen Tokyos verbracht. Zu seinen Eltern hatte er nie ein gutes Verhältnis gehabt. Seit er ausgezogen war und auf eigenen Beinen stand, war es ihm finanziell zwar nie wirklich besser gegangen – eher das Gegenteil – aber er würde dennoch nie zurückwollen. Dafür war einfach zu viel passiert. Yuito war mit ihm im selben Wohnblock aufgewachsen. Sie hatten zusammen die Straßen Tokyos unsicher gemacht, als sie noch zur Schule gegangen waren. Aber Yuito hatte ein weitaus besseres Verhältnis zu seiner Familie. Für Kiryu dagegen war die Band jetzt seine Familie.
Er schloss die Augen und lag jetzt ganz ausgestreckt auf seinem Bett. Die Tapete an den Wänden war an einigen Stellen schon verblichen. Ein Tisch mit zwei Stühlen stand gegenüber dem Bett an der Wand unter dem einzigen Fenster im Raum. Ein Bad hatte er ebenfalls, wenn man dieses Kabuff unbedingt so bezeichnen wollte. Darin befand sich so etwas wie eine Dusche, die fast den gesamten Raum einnahm. Aber er hatte fließendes Wasser und meistens auch Strom. Ein paar Tassen, Teller und Besteck gehörten außerdem zu seinem Inventar – alles sauber gestapelt im Fensterbrett. Der Kühlschrank stand direkt darunter. Ein Stück neben dem Bett stand noch ein Schrank. In ihm befanden sich seine ganzen Klamotten. Seine Wohnung war zwar nicht die nobelste, aber sauber und ordentlich. Und er musste wenig Miete bezahlen.
Er wollte sich nichts vormachen, denn im Grunde lebte er immer noch in den schlechten Verhältnissen, die er schon sein ganzes Leben lang kannte. Und Yuito? Der hatte es geschafft. Er hatte ein geregeltes Einkommen, eine schicke Wohnung und, wie es aussah, auch eine Freundin. Alles Dinge, von denen Kiryu bis jetzt nur geträumt hatte. Ob er jemals so weit kommen würde, wie Yuito jetzt war? Er würde so gerne mehr aus seinem Leben machen.
Es klopfte an seiner Tür. Er setzte sich schnell auf seinem Bett auf und bat seinen Gast herein.
»Hi, Kiryu«, grüßte ihn Yuito gleich.
»Yuito! Was machst du denn hier?«
»Ich wollte einfach mal nach dir sehen. Hier.« Yuito reichte Kiryu einen Plastikbeutel.
»Was würde ich nur ohne dich tun?!«
»Ich schätze, du würdest verhungern«, und dann schmiss sich Yuito neben Kiryu aufs Bett.
Kiryu bediente sich gleich mal an einem Sandwich. Er hatte tierischen Hunger. Aber Yuito wunderte das nicht – schließlich war Kiryu dauernd knapp bei Kasse.
»Du kannst mich aber nicht ewig mit durchfüttern«, brachte Kiryu zwischen zwei Bissen heraus.
Yuito winkte ab: »Ist doch kein Problem.« Kiryu sah betreten zu Boden.
»Habt ihr heute nicht Probe?«, wechselte Yuito dann abrupt das Thema. Kiryu wollte eigentlich nicht darauf antworten. Aber dann sagte er mit einem Seufzen: »Ich wollte eigentlich nicht hin …«
»Nicht hin?« Kiryu hatte gewusst, dass Yuito so reagieren würde. Deshalb seufzte Kiryu erneut und nickte vorsichtig. Jetzt würde er sich wieder anhören müssen, dass es doch seine Band war, dass er nicht immer davonrennen könne, dass er mal etwas durchhalten müsse … Und dazu gehörte nun mal auch, zu den Proben zu gehen. Aber Kiryu hatte sich diese Predigt jetzt schon so oft anhören müssen, dass Yuito wusste, dass es jetzt sinnvoller war, nichts zu sagen. Also seufzte Yuito einmal tief, stand auf und ging Richtung Tür. Kiryu sah ihm fragend nach, sagte aber keinen Ton.
Yuito blieb an der Tür stehen und drehte sich zu Kiryu um: »Was ist? Kommst du?«, und öffnete die Tür.
»Wohin?«
»Äh … zur Probe?!« Aber Kiryus Antwort darauf war bloß ein fragender Blick. Mit einem erneuten Seufzer ging Yuito zurück zu Kiryu, packte ihn am Arm und zog ihn zur Tür mit der Begründung: »Du gehst da jetzt hin!«
Eine halbe Stunde später standen sie im Proberaum von Rising Phenix. Dieser Proberaum war eigentlich nur ein Keller. Doch zumindest würden sie hier niemanden stören. Als Kiryu und Yuito vor der Tür standen, drangen leise Geräusche durch. Sie probten wohl wirklich. Kiryu hatte ein schlechtes Gewissen … Aber umkehren konnte er jetzt nicht mehr. Außerdem konnte er nicht einfach verschwinden, solange Yuito bei ihm war.
Die Musik verstummte, als Yuito die Tür öffnete. Taro drehte sich um, als er merkte, dass jemand in der Tür stand.
»Kiryu! Bist ja doch gekommen«, sagte er schließlich. Er war nicht sehr begeistert, Kiryu zu sehen.
»Hi, Leute«, brachte Kiryu heraus und trat ein paar Schritte auf sie zu.
»Ich geh dann mal …« Und schon war Yuito wieder verschwunden.
»Wie kommt’s, dass du hier bist, Kiryu?«, stichelte Taro.
»Jetzt lass es gut sein, Taro. Er ist da, also können wir auch weiter proben«, schlichtete Ryo. Haru schwieg. Kiryu wusste genau, dass es das Beste wäre, sich jetzt zu entschuldigen oder zu schweigen. Er zog es vor, zu schweigen.
Die ganze Zeit herrschte angespannte Stimmung. Die Probe verlief fast reibungslos. Aber das war nur ein äußerer Schein. Die Band kämpfte wieder einmal um ihre Existenz. Und diesmal schien es wirklich ernst zu werden.
Nach der Probe blieb Kiryu etwas unschlüssig im Raum stehen.
»Ich … Leute, ich … äh …«, druckste er herum.
»Geh nur, Kiryu. Geh nur. Du warst ja schon immer ein Einzelgänger«, fing Taro wieder an.
»Jetzt lass es doch, Taro«, versuchte Ryo wieder zu schlichten.
»Nein, Ryo! Der Kerl soll endlich mal zu dem stehen, was er sagt! Ich meine …«
»Du glaubst, ich würde immer weglaufen?«, unterbrach ihn Kiryu. Taro sah mit einem vernichtenden Blick zu Kiryu, der die Frechheit besessen hatte, ihn so einfach zu unterbrechen. Aber dann fand er seine Sprache wieder und fuhr fort: »Ja! Ja, ich glaubte, dass du immer wegrennst. Du kommst kaum zu den Proben, du ziehst doch nur dein eigenes Ding durch! Du bist ein Einzelgänger, Kiryu! Wieso hängst du eigentlich immer noch mit uns ab? … Weißt du, manchmal zerfließt du regelrecht in Selbstmitleid. Und diesen ewigen Emo-Style kann ich langsam nicht mehr ab!«
»Taro, das reicht jetzt«, klinkte sich Ryo wieder ein.
»Er hat doch aber recht … «, gab jetzt auch Haru von sich. Ryo schien schon am Verzweifeln …
»Denkt ihr wirklich so von mir?« Kiryus Frage war an alle drei gerichtet, was Ryo etwas verdutzte.
Taro schien schon wieder beleidigt. Und obwohl der Trotz in seiner Stimme mehr als deutlich herauszuhören war, achtete Kiryu allein auf seine Worte: »Ja, das denke ich wirklich von dir!« Damit wollte Kiryu nach draußen gehen. Aber an der Tür blieb er doch einen Augenblick stehen, als ob er wüsste, dass noch etwas Wichtiges gesagt werden würde.
Emo-Style – Taro hatte damit nicht sein Äußeres gemeint. Das würde überhaupt nicht zutreffen. Taro hatte eher Kiryus Einstellung und seine Stimmungen gemeint. Er war zwar nicht depressiv, aber manchmal übermannte ihn einfach diese traurige Stimmung. Er wusste selbst nicht, seit wann genau er das hatte, aber zumindest wusste er seit einiger Zeit, dass es eine Vorstufe von Depression war. Einen Namen hatte die auch, aber den hatte er vergessen. Es war nicht ganz so heftig, aber dennoch nicht zu unterschätzen. Und ausgerechnet das störte Taro. Aber sollte er sich etwa verstellen, damit es nicht mehr so auffiel? Irgendwem würde es ja doch wieder auffallen. Und wenn er es schon versuchte, würde er ja doch wieder vor sich selbst davon laufen. Und das wollte er nicht mehr. Wenn ihm Yuito und jetzt noch die Band vorwarfen, er würde vor allem und jedem – in erster Linie vor sich selbst – wegrennen, würde es wohl nicht so gut ankommen, sich jetzt zu verstellen … Was er auch tat – es schien nie der richtige, nie SEIN Weg zu sein …
»Wir wissen, dass wir gut sind, Kiryu«, setzte Taro schon wieder an. »Auch ohne dich!« Das hatte gesessen. Ryo und Haru sahen böse zu Taro. Aber dieser wich ihren Blicken aus, indem er weiter zu Kiryu sah. Er wusste, dass Ryo und Haru gleicher Meinung waren. Sie waren wirklich gut und mit Kiryu als Sänger vielleicht sogar Spitzenklasse. Aber auch ohne ihn würde die Band existieren. Aber ob sie genauso gut wären wie jetzt, wusste keiner von ihnen zu sagen.
Kiryu verließ ohne ein Wort den Proberaum. Haru wollte ihn zurückrufen, aber Ryo hielt ihn mit einem Kopfschütteln auf. Haru war sich allerdings nicht so sicher, ob es wirklich eine gute Idee war, Kiryu jetzt allein zu lassen … Vielleicht würden sie es ja irgendwann bereuen …
Kiryu irrte durch die Straßen. Eigentlich benötigte er nur eine halbe Stunde zu Fuß zu seiner kleinen Wohnung. Jetzt war er schon über zwei Stunden in der Stadt unterwegs, aber das war ihm gar nicht klar. Er war die ganze Zeit ziellos umher gelaufen und bemerkte erst jetzt, dass es schon dunkel war. Er sollte wohl besser nach Hause gehen, doch da wartete gleichermaßen niemand auf ihn.
Er suchte sich den nächsten U-Bahnhof und wollte die erste Bahn nehmen, die er kriegen konnte. Er würde eh nicht vor Mitternacht zu Hause sein. Aber das war ihm jetzt egal. Sicher dachten alle, er wäre schon längst wieder daheim. Auf der Treppe zu den Gleisen wurde er von einem älteren Mann angerempelt, aber Kiryu entschuldigte sich trotzdem schnell mit einem »sorry«. Der Mann war kurz stehen geblieben und sah Kiryu etwas unschlüssig hinterher. Doch dann schien er eine Chance für Was-auch-immer zu sehen und folgte ihm wieder nach unten.
»Junger Mann«, hatte er ihm auf halbem Wege hinterhergerufen.
»Ich hab doch gesagt, es tut mir leid«, stieß Kiryu hervor. Aber sein Verfolger ließ sich damit nicht so einfach abschütteln.
»Ich glaube, ich kann Ihnen helfen.« Kiryu blieb stehen und drehte sich zu dem Mann um, der vier Stufen über ihm auf der Treppe stand. Sein Grinsen gefiel ihm nicht.
»Was wollen Sie?« Es klang vielleicht etwas unhöflich, aber dieser Kerl schien sich an Kiryus ruppigem Ton nicht zu stören und grinste weiterhin dieses komische Grinsen. Als ob er etwas wüsste, das Kiryu verborgen blieb.
»Ihnen helfen!«, erwiderte er und stieg die Treppe langsam zu Kiryu nach unten. Der schwarze Anzug, den er trug, schien altmodisch, aber gut gepflegt. Er hatte graue, fast weiße Haare, die er streng nach hinten gekämmt hatte. Nur der Dreitagebart störte den Eindruck des durch und durch gepflegten älteren Herren. Er war etwas kleiner als Kiryu, aber neben ihm hätte sich auch der größte Hüne klein gefühlt. Diese Augen gaben jedem das Gefühl, ein kleines unbedeutendes Nichts neben diesem Mann zu sein.
»Wieso?«, fragte Kiryu nach einer kurzen Pause, die ihm wie eine Ewigkeit vorkam. Er sah diesem komischen Alten die ganze Zeit in die Augen, auch wenn es ihm schwerfiel. Aber dieser Mann wich seinem Blick nicht aus. Es war, als ob sie kämpfen würden. Ein Duell, das bloß mit den Augen ausgefochten wurde. Wer dem Blick des anderen zuerst auswich, hätte verloren.
»Weil du Hilfe zu brauchen scheinst.«
»Nein, danke. Kein Interesse«, erwiderte Kiryu darauf und wollte sich schon zum Gehen umdrehen. Aber dieser Mann hielt ihn zurück. Wie genau, konnte Kiryu danach nicht mehr sagen. Es war Kiryu ja nicht einmal aufgefallen, dass dieser Kerl in einer sehr vertrauten Form plötzlich mit ihm sprach. Als würden sie sich bereits kennen. Er wusste nur noch, dass etwas in ihm nicht zuließ, dass er jetzt ging.
Dieser Abend würde sein Leben verändern, das wusste er …
Es war kurz nach Mitternacht und er saß allein in einem U-Bahnwaggon. Glücklicherweise hatte er einen Zug erwischt, der ihn direkt nach Hause bringen würde. Nach dem, was am Bahnhof passiert war, wollte er nicht noch stundenlang durch Tokyo laufen.
Ihm ging dieses Gespräch einfach nicht mehr aus dem Kopf:
»Ohne einen Wink des Schicksals wirst du deine Ziele niemals erreichen«, hatte dieser komische Typ ihm versucht zu erklären.
»Und das sollen Sie sein?!«, unterbrach ihn Kiryu. Der Typ ihm gegenüber zuckte die Achseln: »Nenn es, wie du willst. Aber eins ist sicher: Ich kann dir helfen.« Kiryu sah ihn als Antwort darauf fragend an.
»Lass es mich so ausdrücken, Junge: Was immer du dir wünscht, ich kann dir helfen, es zu bekommen: Geld, Ruhm … oder was du sonst willst.« Die Augen dieses Kerls leuchteten merkwürdig auf. Kiryu glaubte, etwas Rotes darin zu sehen.
»Sind Sie etwa jemand, der Wunder wirken kann oder so? So ein zweiter Jesus?«
»Nenn es, wie du willst, Junge.« Sein Ton war immer noch ganz locker, aber Kiryu spürte, dass sein Gegenüber ungeduldig wurde. Doch er war zu müde und hatte daher keine Lust, sich alles selbst zu denken. Der komische Typ seufzte und fuhr dann fort: »Weißt du, Junge, ich hab’s nicht so mit dem Göttlichen. Da gibt es, wie ich finde, Besseres. Aber jetzt mal zum Geschäftlichen …«
»Mo-, Moment mal, ich hab Ihnen doch gar nicht zugestimmt«, unterbrach Kiryu schon wieder. Aber sein Gegenüber fuhr unbeirrt fort: »Aber du bist interessiert, oder?!« Schon wieder war in seinen Augen dieses Leuchten zu sehen. War das Licht hier wirklich so komisch? Sahen seine Augen etwa ebenfalls rötlich aus hier unten? Doch Kiryu sah diesen komischen Kauz weiterhin nur fragend an.
Interessiert war er, und das sah man ihm auch an, es gab allerdings ein großes Aber …
»Ist ja jetzt auch egal. Hör dir erst mal die Bedingungen an, dann kannst du dich entscheiden.« Kiryu sagte wieder nichts darauf. Er befürchtete so langsam, dass jedes Wort von ihm eine Zustimmung sein könnte, egal, wie er es meinte.
»Die Laufzeit beträgt vorerst ein Jahr. Danach kannst du ja immer noch entscheiden, ob du weiter machen willst.« Ein schmieriges Lächeln unterstrich seine Worte. Dieser Mann war brandgefährlich, wurde Kiryu jetzt klar.
Ein Zug fuhr in den Bahnhof ein und ließ kein Wort zu. Kiryu hatte einen Augenblick Zeit nachzudenken.
»Und was soll ich dafür tun?«, fragte Kiryu endlich. Allerdings hatte er jetzt Angst, dieser komische Typ könnte das als eine Einwilligung verstehen.
»Du machst einfach weiter wie bisher«, das sollte Kiryu als Antwort genügen. »Aber ich verlange schon etwas mehr als ein Tschüss, wenn alles vorbei ist.«
»Und wenn ich vorzeitig aussteigen will?«
»Darüber verhandeln wir besser in meinem Büro. Komm doch morgen irgendwann, wenn du Zeit hast, zu mir.« Der Ton war immer noch äußerst freundlich. Dann reichte dieser komische Kauz Kiryu eine Visitenkarte und verschwand. Wohin genau, wusste Kiryu nicht zu sagen. Der Kerl verschwand einfach, während Kiryu die Karte wegsteckte. Und jetzt saß Kiryu allein in einem U-Bahnwaggon und war fast zu Hause. Als er schließlich seine eigenen vier Wände betrat, war es fast eins.
»Irgendwann, wenn du Zeit hast«, hatte dieser Typ gesagt. Aber ob er wirklich hingehen würde, wusste er jetzt nicht.
Er hatte es gerade so geschafft, seine Taschen zu leeren, und ließ sich so, wie er war, auf sein Bett fallen. Er war in einen traumlosen Schlaf gefallen und war mehr als überrascht, dass er um kurz nach sechs wieder wach war. Er konnte nicht mehr schlafen, aus welchen Gründen auch immer. Also stand er auf, nachdem er sich eine Weile hin und her gewälzt hatte, ohne wieder einschlafen zu können. So früh am Morgen war in der Stadt noch nicht viel los. Er schlenderte durch die Straßen und wollte sich irgendwo eine Kleinigkeit zu essen besorgen. Durch die Straßen Tokyos irrte er in letzter Zeit sehr oft. Meistens, um den Kopf frei zu kriegen. Danach würde er direkt auf Arbeit gehen, seine Schicht würde eh bald anfangen. Seinen Chef würde es zwar wundern, dass er schon so früh da war – schließlich bekam er kein Geld für seine Überstunden − aber er musste jetzt einfach raus hier.
Man konnte allem Möglichen entfliehen, aber nicht seinen eigenen Gedanken. Sie verfolgten einen, sie kamen immer wieder. Und seine Gedanken quälten ihn jetzt schon so lange. Immer und immer wieder zerbrach er sich seinen Kopf darüber, wie er der Band helfen konnte, ob sie nicht doch besser ohne ihn dran wäre … Und plötzlich hatte er die Chance, dass er seinen Bandkollegen wirklich helfen konnte. Wenn er es denn konnte.
Plötzlich fiel ihm etwas ein. Die Visitenkarte hatte er gestern achtlos weggesteckt, ohne sie sich genauer anzusehen. Die Frage war jetzt, ob er sie noch bei sich hatte oder zurück zu seiner Wohnung laufen musste. Nachdem er sämtliche seiner Taschen durchsucht hatte, fand er die Visitenkarte allerdings. Dann sah er sie sich genau an: Dee. MONIO Cooperations
»Wir können alles, so lange Sie
auch bereit dazu sind!«
Kiryu stand die ganze Zeit mitten auf dem Fußweg. Einige Leute liefen verärgert murrend an ihm vorbei, andere rempelten ihn an. Doch Kiryu ließ sich davon nicht stoppen, er ging lediglich einige Schritte zur Seite.
Der Slogan war ungewöhnlich. Aber nachdem, was Kiryu erlebt hatte, durchaus passend. Es war zwar ein gutes Stück von hier aus bis ins Zentrum von Shinjuku zu laufen, aber er ging trotzdem los. Das bisschen Kleingeld, das er bei sich hatte, wollte er nicht für den Bus oder die U-Bahn verschwenden.
Um 8.45 Uhr stand er vor dem Bürogebäude, in dem »Dee. MONIO Cooperations« saß. Irgendwie war es ja abzusehen, dass sie ausgerechnet in einem der oberen Stockwerke des Hochhauses waren. Der Pförtner würdigte ihn nur eines kurzen Blickes, beschäftigte sich dann aber weiter mit seiner Zeitung. Und so schlenderte Kiryu zum Aufzug und ließ seine Gedanken ein wenig schweifen. Ein paar Minuten würde es schon dauern, bis er oben angekommen war. Kiryu wurde allmählich nervös. Es fühlte sich für ihn an, als sei er auf dem Weg zu einem Bewerbungsgespräch. Als Band waren sie bisher erst einmal vorgeladen worden. Ihnen war gesagt worden, dass die Chancen gar nicht so schlecht stünden, dass etwas von ihnen veröffentlicht würde. Damals hatte er sich nicht so unbehaglich gefühlt. Allerdings war er da auch nicht allein. Jetzt war er dabei, etwas zu entscheiden, das die Band ebenfalls betraf. Und das weckte sehr viel Unbehagen in ihm. Als er dann endlich vor dem Büro dieses komischen Kauzes stand, sah ihn dessen Sekretärin genauso an wie der Mann unten im Eingangsbereich. Es war ein Blick, der ausdrückte: »Du bist nicht mein Problem.«
»Haben Sie einen Termin?« Kiryu schüttelte mit dem Kopf. Die Sekretärin seufzte und forderte Kiryu auf, Platz zu nehmen.
»Wen darf ich anmelden?«
»Sugawa, Kiryu Sugawa.«
Erstaunt sah ihn die Sekretärin an, verschwand schnell im Büro, um kurz darauf wieder herauszukommen. Dann bat sie Kiryu gleich hinein.
Von hier aus konnte man ganz Tokyo überblicken. Ein riesiger Schreibtisch dominierte den Raum, der von Grünpflanzen flankiert wurde, die fast bis zur Decke reichten. Der alte Mann saß hinter dem Schreibtisch und hatte mit etlichen Dokumenten zu tun. Er hatte nicht einmal aufgesehen, als Kiryu gerade einen Schritt in das Büro getan hatte und er ihn auch mit »guten Morgen, Kiryu« begrüßte.
Im Nachhinein kam es Kiryu schon seltsam vor, dass dieser Typ, Masahito Tanakawa war sein voller Name, gleich seinen Namen gewusst hatte. Kiryu hatte ihm seinen Namen jedenfalls nicht gesagt. Dennoch nahm er sofort Platz, als ihm ein Stuhl angeboten wurde. Sie saßen sich jetzt genau gegenüber. Kiryu ließ Tanakawa nicht ein einziges Mal aus den Augen. Er konnte sich aber nicht so wirklich erklären, wieso er so misstrauisch war. Tanakawa kümmerte sich noch um ein paar Verträge, wie es aussah. Dann wandte er sich endlich Kiryu zu: »So, da du dich entschieden hast herzukommen, vermute ich, dass du interessiert bist?!« Es war weniger eine Frage als vielmehr eine Feststellung. Kiryu sagte nichts darauf und sah Tanakawa weiter schweigend an.
»Gut, kommen wir gleich zum Geschäftlichen.« Wieder brachte Kiryu keinen Ton heraus. Er saß einfach da und tat nichts weiter, als den komischen Typen, den er in der Nacht zuvor getroffen hatte, anzustarren. Was er hier tat, wusste er selbst nicht zu erklären. Aber eins war klar: Das hier war das unangenehmste Gespräch, das er je geführt hatte.
Tanakawa zog aus einem Papierstapel, wie es für Kiryu aussah, wahllos ein Blatt heraus und schob es vor Kiryu.
»Ich hatte meine Sekretärin vorab schon einmal gebeten, mir diesen Vertrag herauszusuchen.«
»Sie haben das schon mal gemacht?«, fragte Kiryu dazwischen. Sein Misstrauen gegenüber Tanakawa ließ einfach nicht nach. Aber das war gut so – das wusste er. Wenn sein Misstrauen jetzt stärker war als letzte Nacht, würde er Tanakawa nie voll und ganz vertrauen. Sein Instinkt hatte ihn in dieser Hinsicht noch nie im Stich gelassen.
»Ja, aber das ist inzwischen schon lange her.« Wieder hatte Tanakawa dieses komische Grinsen im Gesicht.
»Und was ist aus dem armen Schwein geworden?« Eigentlich hatte er sich diese Frage nur im Geiste stellen wollen. Jetzt war sie ihm doch rausgerutscht …
Tanakawa sah ihn kurz irritiert an, als ob er befürchtete, Kiryu könnte bereits zu viel wissen, antworte ihm aber nicht. Kiryu bohrte nicht weiter nach. Manchmal ließ sich das Ungewisse besser verkraften als die Wahrheit. Das hatte er gestern schließlich am eigenen Leib erfahren. Die Wahrheit konnte wehtun. Und zwar verdammt weh.
Er las sich den Vertrag einmal durch, dann noch einmal. Sollte das denn wirklich ein Vertrag sein?! Die Formulierungen waren an einigen Stellen mehr als zweideutig geschrieben. Zudem konnte er nicht wirklich erkennen, was er für die Vertragserfüllung tun musste. Also fragte er nach: »Was soll das eigentlich mit ›Der Vertragspartner ist nicht aufgefordert, seine Schuld dann zu begleichen, wenn es von uns gefordert wird, soweit eine Erfüllung vonseiten des Vertragspartners zum gegebenen Zeitpunkt nicht möglich ist. Sollte allerdings der Fall eintreten, dass ein Abschluss des Abkommens unausweichlich ist, müssen beide Vertragspartner, ob sie zu diesem Zeitpunkt in der Lage sind oder nicht, die Beziehungen beenden, soweit es die Bedingungen von Paragraf soundso fordern.‹ Heißt das, ich hab eine Frist oder so was?«
»Nein, nein«, Tanakawa lächelte das Lächeln eines Mannes, der einem kleinen Kind etwas ganz simples und allgemein Verständliches erklärt. »Wenn ich eine Vertragserfüllung von dir fordere und du kannst sie zu diesem Zeitpunkt nicht bringen, hast du Zeit, bis du so weit bist. Aber dann musst du erfüllen. Sollte allerdings einer der besonderen Fälle aus diesem Paragrafen eintreten, müssen wir beide den Vertrag erfüllen, egal, ob wir wollen oder nicht.«
»Aha! Und hier: ›Die von Dee. MONIO Cooperations gebrachten Leistungen sind in jeder Hinsicht als Vertragserfüllung zu betrachten. Die vom Vertragspartner geforderten Leistungen müssen von Dee. MONIO Cooperations in jedem Fall erbracht werden. Laut Paragraf soundso, Absatz derundder, hat Dee. MONIO Cooperations die Wünsche zu erfüllen. Bei besonderen Forderungen (siehe Faust’sche Klausel) sind die Bedingungen aus Paragraf soundso anzuwenden.
Die Vorstellungen des Vertragspartners zur Umsetzung des Vertrages müssen berücksichtigt werden.‹ Wenn so etwas hier drin steht, wie wollen Sie das dann umsetzen?«
»Das ist ein Standardvertrag, Junge«, gab Tanakawa entnervt zurück.
»Ich will das aber trotzdem wissen«, bohrte Kiryu ungeduldig. Kiryu hatte zwar nicht den besten Schulabschluss, aber er wollte sich auf keinen Fall übers Ohr hauen lassen. Tanakawa würde mit ihm kein leichtes Spiel haben. Das bemerkte der jetzt auch. Vielleicht würde er Tanakawa doch dazu bringen, sein wahres Gesicht zu zeigen. Aber eigentlich glaubte er selbst nicht daran. Tanakawa war wohl eher ein Mensch, der andere aus der Reserve lockte.
Als Antwort bekam er schließlich: »Das wirst du dann schon sehen.« Für Tanakawa war das Thema damit erledigt. Und Kiryu hörte jetzt auf zu bohren. Er würde hier ja doch nicht weiterkommen.
»Die Details besprechen wir dann ein andermal«, wurde Kiryu vertröstet. Er saß da und sah zum Fenster hinaus. Ganz Tokyo erstreckte sich unter ihnen. Tanakawa wartete geduldig, bis er den Vertrag unterschrieb oder unverrichteter Dinge gehen würde.
»Also, Sie helfen mir, egal, was ich verlange?«
»So steht es im Vertrag, ja«, bekam er von Tanakawa schnell eine Antwort. Dann wurde Kiryu schon nach draußen geschickt.
Kaum hatte er den Vertrag unterschrieben, mit seinem Stempel versehen und war aufgestanden, kam schon die Sekretärin ins Büro: »Darf ich Sie nach draußen bringen?«
So langsam kam Kiryu zu dem Schluss, dass ihn mehr dieser merkwürdigen Dinge erwarten würden. Deshalb machte er sich jetzt keine weiteren Gedanken über den Auftritt der Sekretärin. Er versuchte es zumindest. Doch bevor er Masahito Tanakawas Büro verließ, drehte er sich noch einmal zu ihm um und fragte: »Woher wussten Sie eigentlich, wie ich heiße? Ich habe Ihnen nie meinen Namen gesagt.«
Tanakawa grinste schon wieder dieses überlegene Grinsen wie bei ihrer ersten Begegnung und antwortete dann: »Weiß du, Kiryu, das Wichtigste über meine zukünftigen Klienten bekomme ich sehr schnell heraus.«
War es Kiryu nur so vorgekommen oder hatte sich die Luft bei diesen Worten um ein paar Grad abgekühlt? Ihm lief eine Gänsehaut den Rücken hinunter.
Tanakawa war nicht zu unterschätzen, das stand fest. Wenn er doch wüsste, mit wem oder was – er war sich nicht mehr so sicher wie gestern Abend, das alles hier vernünftig erklären zu können – er es überhaupt zu tun hatte. Aber in seinem Leben war schon zu viel schiefgegangen, als dass er sich nicht an jeden greifbaren Strohhalm klammern würde. Und so verließ er mit einem tiefen Seufzer das Gebäude und trat hinaus auf die überfüllten Straßen Tokyos. Jetzt hatte er sich endgültig dem Kommerz unterworfen – seine Seele gehörte ab heute einem anderen …
Er hatte den Fußweg gerade betreten, als Tanakawas Sekretärin ihm hinterhergerannt kam: »Herr Sugawa!« Er blieb stehen und drehte sich zu ihr um. Sie hatte einen Zettel in der Hand und war leicht außer Atem.
»Ihr nächster Termin«, sagte sie bloß, dann überreichte sie Kiryu den Zettel. In einer kleinen sauberen Schrift war »Do. 15.00 Uhr – Hr. Tanakawa« darauf geschrieben. Kiryu bedankte sich kurz, aber die Sekretärin war schon wieder auf dem Rückweg. Also zuckte er die Achseln und wollte zur Arbeit.
Es kam, wie er es hatte kommen sehen: Kaum hatte er den kleinen, schummrigen Lebensmittelladen betreten, in dem er arbeitete, brüllte ihn sein Chef auch gleich an. Aber dieses Mal prallte das alles von ihm ab. Er war längst taub für das Gebrüll geworden. Und außerdem hatte er bereits gewusst, was passieren würde. Dass er allerdings gleich aus dem Laden geschmissen wurde, und das nicht nur im sprichwörtlichen Sinn, hatte er nicht ahnen können. Kiryu wurde hochgehoben und aus dem Laden katapultiert. Er hatte das seinem Chef gar nicht zugetraut. Die restlichen Angestellten sahen wortlos zu. Aber Kiryu war ihnen nicht böse. Mit diesem Choleriker wollte sich niemand anlegen.
Kiryu war schmerzhaft auf dem Hintern gelandet, und während er wieder aufstand, musste er sich diese Schimpftirade weiter anhören. Ein paar Passanten hatten das ganze Schauspiel mitverfolgt. Eine Frau hatte Kiryu gefragt, ob er in Ordnung wäre.
Er hatte zwar mit einer Standpauke gerechnet, aber dass er direkt gefeuert werden würde, wäre ihm nicht im Traum eingefallen. Schließlich war er heute bloß zehn Minuten zu spät zur Arbeit erschienen.
Sein Lohn wurde ihm noch ausgezahlt, aber eigentlich von der Frau des Ladenbesitzers nach draußen gebracht. Dann war die Sache endgültig erledigt. Die 5.500 Yen würden zwar schnell wieder aufgebraucht sein, aber das war ihm jetzt egal. Er hatte jetzt Besseres damit vor als zu sparen oder seine Miete endlich mal pünktlich zu zahlen. Und so zog er durch die Straßen Tokyos, kaufte sich einen Lebensmittelvorrat, ordentliche Kugelschreiber und Bleistifte, etwas Notenpapier und ein kleines Buch, in das er in Zukunft seine Texte schreiben wollte. Und schon war nur noch ein gutes Drittel seines Lohnes übrig. Damit machte er sich dann auf, nachdem er den Rest nach Hause gebracht hatte, und ging in ein Internet-Café. Er wollte so schnell wie möglich irgendwo auftreten. Er musste einfach auf die Bühne. Denn aus irgendeinem Grund – vielleicht wegen der Gewissheit, dass er in kurzer Zeit auf der Straße sitzen könnte, wenn sie nicht bald Erfolg hatten oder er einen neuen, besseren Job fand – konnte er jetzt nicht tatenlos herumsitzen.
Als er so im Netz herum surfte, drifteten seine Gedanken allmählich ab. Er wollte sein eigener Herr bleiben, er wollte sich nicht verkaufen, seine Texte und die Band erst recht nicht. Und das würde er Tanakawa morgen auch sagen. Dieser Vertrag war eine Sache zwischen Tanakawa und Kiryu – sonst niemandem! Der Band wurde damit nur geholfen, mehr nicht.