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Durch einen plötzlichen Todesfall in der Familie wird Kiryu mit seiner Vergangenheit konfrontiert. Von einem Tag auf den anderen machulzeit war für ihn nicht einfach. Familiäre Probleme trieben Kiryu in die Kriminalität, aus der er durch Zufall herauskam, und er trat der Schulband bei. So stressig diese Zeit für Kiryu ist, so überraschend ist es auch. Ihm läuft ein Hund zu, der, wie es aussieht, ausgesetzt wurde. Das Tier freundet sich schnell mit Kiryu an und will ihm nicht mehr von der Seite weichen. Um zu gewährleisten, dass dem Hund nichts zustößt, nimmt Kiryu ihn bei sich auf. Eine zufällige Begegnung bringt Kiryus Leben vollends durcheinander. Er trifft eine junge Frau, die ihm zeigt, dass eine andere Perspektive hilfreich ist. Kiryu lernt sich zu öffnen. Die Band erfährt den Ursprung und die Beweggründe für Kiryus Songtexte, sowie Details aus Kiryus Leben. Mit dieser gesteigerten Offenheit geht allerdings eine höhere Verletzlichkeit einher. Für Kiryu stellt sich die Frage, ob er den eingeschlagenen Weg bis zum Ende weitergehen will, oder ob er eine helfende Hand ergreift. Dieses Buch beschreibt die Entwicklung von Familienverhältnissen. Der Schulalltag und der Ursprung der Band Rising Phenix werden beleuchtet. Kiryu ist erwachsen geworden und geht Probleme anders an als in seiner Jugend.
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Seitenzahl: 502
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Narben
1. Auflage, erschienen 03-2024
Umschlaggestaltung: Romeon Verlag
Text: Katrin Biallas
Layout: ROMEON Verlag
Umschlagillustration: Katrin Biallas
ISBN (E-Book): 978-3-96229-604-9
www.romeon-verlag.de
Copyright © Romeon Verlag, Jüchen
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.
Katrin Biallas
Narben
ROMAN
Der Morgen danach
Stummer Schrei
Perfekte kleine Welt
Child of Ashes
Alone in the Dark
Erledigungen
Dunkler Traum
Stressbewältigungsmittel
Familienbande
Zerbrechliche Vergangenheit
„Was ich immer wollte …“
Andere Erwartungen
Familie über alles
Colors fade to gray
Termine
Meer aus Tränen
Halloween-Schreck
Die andere Vergangenheit
Akzeptanz
Im Eissturm
Welt voller Lügen
Aufnahmezeit
Herzensschmerz
Wo Zeit nicht zählt
Andere Verhältnisse
Allein sein
Alte Wunden
Ewiges Hin und Her
Tränen des Herzens
Federleichter Traum
Lichter in der Dunkelheit
Der Phönix erwacht
Nüchtern betrachtet
Der Startpunkt
Durch die Dunkelheit
Smashed Heart
Lebendige Vergangenheit
Epilog
Die Sonne blinzelte durch eine kleine Lücke im Vorhang. Das Zimmer lag trotzdem fast vollständig im Dunkeln. Kiryu drehte sich auf die Seite, weg vom Fenster, weg von dem kleinen ärgerlichen Lichtstrahl. Alles war ruhig, er konnte noch eine Weile schlafen. Ein kleiner, zufriedener Seufzer entfuhr ihm. Letzte Nacht war er erst spät nach Hause gekommen. Ihre Probe hatte länger gedauert als vorgesehen. Aber es lief zu gut, um mittendrin aufzuhören. Ein paar neue Songs waren auch entstanden. Einen Text hatten diese zwar noch nicht, oder nur einen unvollständigen, aber es hatte so viel Spaß gemacht, mit den Jungs daran zu arbeiten. Der Abend war ihm so unwirklich, so fantastisch erschienen. Wie ein Traum!
Ein neues Album war zwar in Planung, sollte aber erst im Winter fertig werden. Und jetzt im Sommer, wenn die Festival-Saison so gut wie vorbei war, wollte er diese sorglosen Tage genießen, so oft es ging. Wenn es in die heiße Phase mit der Veröffentlichung neuer Songs, Videodrehs und einer Tour ging, würde er kaum Gelegenheit haben, bis mittags zu schlafen und einfach in den Tag hineinzuleben. Er wollte sein Leben genießen und seinetwegen könnte diese ruhige Zeit ein wenig länger dauern.
Ein kleines Lächeln war auf seinem Gesicht zu sehen, als er sich auf den Rücken drehte. Doch plötzlich wurde er aus dem Schlaf gerissen. Sein Smartphone klingelte, doch das war nicht sein Weckton. Irgendjemand rief ihn an. Verschlafen tastete er danach und nahm den Anruf entgegen, ohne nachzusehen, wer ihn sprechen wollte.
„Hallo?“, brachte er verschlafen hervor.
„Kiryu, bist du es?“ Wie auf Knopfdruck hatte er sich im Bett aufgesetzt. Das konnte nicht möglich sein!
„Woher hast du meine Nummer? Warum rufst du an? Ich will nichts mehr mit euch zu tun haben!“ Auch wenn er noch recht müde klang, war der Zorn in seiner Stimme nicht zu überhören.
Ein Schluchzen erklang am anderen Ende. Kiryu wartete.
„Kiryu, dein Vater ist letzte Nacht verstorben“, hörte er schließlich. Dann brach seine Mutter in Tränen aus und weinte laut. All seine Wut war mit einem Mal verraucht. Tonlos brachte er ein „Ich rufe zurück“ heraus, und legte auf.
Auf einen Schlag stand seine ganze Welt Kopf. Er fuhr sich mit den Händen immer wieder durchs Gesicht und durch die Haare. Schließlich schlug er die Decke beiseite und stand auf. Allerdings wusste er auch jetzt nicht weiter und stand unschlüssig in der Tür zum Wohnzimmer, das Smartphone immer noch in der Hand haltend. Ratlos tappte er zum Sofa und setzte sich. Als er einen Blick auf sein Smartphone warf, sah er, dass es nicht einmal halb neun war. Vor nicht einmal vier Stunden war er nach Hause gekommen. An Schlaf war trotzdem nicht mehr zu denken. Ihm ging so vieles durch den Kopf. Denn natürlich war er geschockt darüber, dass sein Vater tot war. Aber er war auch erleichtert. Dieses Kapitel seines Lebens wäre nun endgültig abgeschlossen. Und zwar für immer. So vieles ging ihm auf einmal durch den Kopf und er kam zu dem Schluss, dass er sich ein paar Tage würde freinehmen müssen. Zwar trauerte er nicht sonderlich und bezweifelte auch, dass er es tun würde, nichtsdestotrotz brauchte er Zeit, um verschiedene Dinge zu organisieren und zu planen. Und jeder würde von ihm erwarten, dass er jetzt am Boden zerstört war und ein wenig Zeit für sich brauchte. Dabei hielt sich seine Trauer in Grenzen. Wenn überhaupt die Rede von „Trauer“ sein konnte.
Mit einem tiefen Seufzer ließ er sich zurück aufs Sofa fallen. Die Arme im Nacken verschränkt, starrte er zur Decke. Er würde sich um die Beerdigung kümmern müssen. Wahrscheinlich um alles Organisatorische und Finanzielle. Aber das konnte er in Kauf nehmen. Wenn alles vorbei wäre, könnte er hoffentlich sein normales Leben weiterführen. Dieser Zwischenfall sollte Ende des Jahres vorbei sein, dachte er sich.
Er griff nach seinem Smartphone und scrollte durch sein Adressbuch, dann rief er Hanako an.
„Wieso weckst du mich? Es ist noch viel zu früh, um aufzustehen“, begrüßte sie ihn verschlafen.
Kiryu musste unwillkürlich lächeln.
„Hi, Hana-chan. Ich … Mir ist etwas dazwischengekommen. Wir können heute nicht durch Harajuku ziehen …“
„Oh nein. Warum das denn?“
„Es … es ist was Familiäres. Wir holen das nach, okay?“ Hanako ließ diesmal allerdings mit einer Antwort auf sich warten. Er vermutete, dass sie gähnte und deshalb nichts sagen konnte. Deshalb schob er gleich noch hinterher: „Wir sehen uns später, ja?“
„Okay, bis dann“, antwortete sie verschlafen. Und erneut musste Kiryu lächeln.
Sie hatten heute Nachmittag vorgehabt, durch Shinjuku, vorrangig durch Harajuku zu streifen. Hanako hatte Liebeskummer und da Kiryu in solchen Dingen total überfordert war, hatte Hanako nach einer Reihe von Aufheiterungsversuchen einer Shoppingtour zugestimmt, selbstverständlich auf Kiryus Kosten. Kiryu fand es beeindruckend, dass Hanako sich nicht in ihrem Zimmer verkroch und schmollte, sondern stattdessen nach draußen ging und ihr Leben genoss. Er selbst hatte einer beendeten Beziehung nie sonderlich lange nachgetrauert. Und Probleme, ein Date zu bekommen, hatte er auch nicht, seit Rising Phenix so erfolgreich waren. Und davor, als er in Hanakos Alter war … Er dachte nur ungern an diese Zeit zurück. Deshalb schüttelte er den Kopf, um diese Gedanken schnell wieder los zu werden und beugte sich nach vorne. Die Arme stützte er auf den Oberschenkeln ab. Sollte er seine Mutter bereits zurückrufen? Was sollte er ihr sagen? Wieder fuhr er sich durch die Haare. Vielleicht sollte er erst einmal duschen, um richtig wach zu werden. Schlafen würde er eh nicht mehr. Und einen Kaffee brauchte er ebenfalls ganz dringend.
Nach einer gefühlten Ewigkeit war er endlich im Bezirk Nerima angekommen. Bis jetzt war es ein richtig schöner Tag gewesen. Der Spätsommer zeigte sich von seiner schönsten Seite.
Es war so merkwürdig, nach so langer Zeit wieder hier zu sein. Die letzten dreizehn Jahre hatte er diesen Teil der Stadt gemieden, so gut es ging. Wenn er sich jetzt so umsah, hatte er die Straßen schlechter in Erinnerung, als sie wirklich waren. Oder im letzten Jahrzehnt war hier einiges auf Vordermann gebracht worden.
Er schlug den bekannten Weg ein. Alles war ihm so vertraut. Und dennoch sah es so fremdartig für ihn aus. Es war für ihn ein undefinierbares Gefühl, durch die Straßen zu laufen. Ihm kamen gute und auch weniger gute Erinnerungen in den Kopf. Eine klare Entscheidung, ob es ihm hier gefiel oder nicht, konnte er allerdings nicht treffen. Und der Anlass, weswegen er heute hier war, half nicht gerade dabei, dass ihm das leichter fiel. Gedankenverloren ging er die Straße entlang. Hier in Nerima war es viel ruhiger als in Shibuya oder Shinjuku. Er konnte gemächlich seinen Weg fortsetzen und musste nicht befürchten, dass er anderen in die Quere kam oder jemanden aufhielt. Und das sagte ihm aus einem unerfindlichen Grund zu. Vielleicht sollte er in ein ruhigeres Viertel Tokyos ziehen, die Welt schien sich hier langsamer zu drehen, ihm kam alles viel entspannter vor. Doch schon im nächsten Moment schalt er sich einen Narren, solche Gedanken zu haben. Er würde niemals hierhin zurückkehren. Er wollte es nicht. Er hatte sein eigenes Leben. Im Herzen Tokyos.
Und das sollte auch so bleiben!
Als er um eine Ecke bog, kam ihm eine Gruppe Grundschulkinder entgegen. Fröhlich redeten sie miteinander und wären sogar fast in ihn hineingelaufen, aber er konnte ihnen noch ausweichen. Unbeirrt ging er weiter, als er die Kinder hinter sich gelassen hatte. Er war fast am Ziel. Und seine Laune sank mit jedem Schritt, dem er diesem näher kam. Mit einem tiefen Seufzer bog er um eine letzte Häuserecke, blieb stehen und sah hinauf zu dem Wohnblock, in dem er aufgewachsen war. Er wollte nicht hier sein, doch er musste es. Es würde kein angenehmes Treffen werden, das wusste er schon jetzt.
Der Aufzug hielt an. Die Türen hatten sich kaum geöffnet, als er bereits auf den Flur trat. Seine Mutter stand in der Wohnungstür und erwartete ihn. Auch sie sah angespannt aus. Kiryu ging zu ihr und begrüßte sie kühl. Kiryu hatte keinen Nerv dafür, etwas vorzuspielen. Er betrat die Wohnung und zog seine Schuhe wortlos aus. Seine Mutter hatte ihm lediglich zugenickt. Alles sah so aus, wie er es in Erinnerung hatte: Gegenüber der Eingangstür ging es ins Wohnzimmer. Links von ihm befand sich das Badezimmer, rechts die Küche. Der Flur war recht klein und fast quadratisch. Und weil alle Türen verschlossen waren, war es nicht sonderlich hell hier. Dennoch fand sich Kiryu ohne Probleme zurecht. Nachdem er seine Schuhe verstaut hatte, ging er ins Wohnzimmer. Seine Mutter war derweil in der Küche verschwunden.
Als er im Wohnzimmer stand, ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen. Alles war so still – so anders, als er es gewohnt war. Und er hatte keine Angst. Als er noch hier gewohnt hatte, war seine größte Befürchtung, dass sein Vater ihn bemerkten würde. Diese Anspannung war immer noch nicht vollends von ihm abgefallen, obwohl er diesmal nichts zu befürchten hatte. Er war nicht gerade gelassen und musste tief ein- und ausatmen. Die Furcht, verletzt zu gehen, war inzwischen wesentlich geringer. Er könnte die Wohnung jederzeit verlassen. Nichts hielt ihn hier. Seine Familie – und er zählte seine Mutter nicht dazu – würde ihn freudig erwarten. Er wusste, dass es seine Pflicht war, hier zu sein. Mehr nicht.
Während er sich ein paar Fotos ansah, die in Regalen standen oder an den Wänden hingen, wurde sein Verlangen, diese Wohnung so schnell es ging zu verlassen, größer und größer. Er sah Bilder von sich und seinen Eltern vor einem Tempel – höchstwahrscheinlich von den Feierlichkeiten eines Shichi-go-san. Und er sah viele Fotos aus seiner Grundschulzeit. Es schien, als sei er ausnahmslos fröhlich gewesen. Ebenso seine Eltern, die – hier allein seine Mutter, dort sein Vater – ebenfalls häufig lächelnd zu sehen waren. Von seiner Zeit in der Mittelschule sah er nur zwei oder drei Aufnahmen, von ihm als Oberschüler überhaupt keine. Das wunderte ihn nicht im Geringsten. Schließlich ging es ihnen alles andere als gut in dieser Zeit. Das hätte er auch nicht festhalten wollen.
Sein Blick fuhr weiter zu einem kleinen Tisch, der vor dem Sofa stand. Auf ihm lagen viele Dokumente verstreut: Krankenhausunterlagen, Rechnungen und Broschüren einiger Beerdigungsfirmen. Er ging näher zum Tisch und nahm sich eine der Broschüren, um sie sich genauer anzusehen. Auch wenn dieses Institut mit sehr günstigen Preisen und einem hervorragenden Service warb, kostete eine Beerdigung dennoch über eine Million Yen. Geld, das seine Mutter aller Wahrscheinlichkeit nicht hatte.
„Oh, die habe ich von einer Nachbarin bekommen. Entschieden habe ich mich noch nicht“, sagte seine Mutter in fast entschuldigendem Ton und reichte ihm eine Tasse Kaffee. Kiryu ignorierte die Geste allerdings und fragte stattdessen: „Wo ist er eigentlich?“ Ihm war es aus zwei Gründen egal, für welches Institut sich seine Mutter entscheiden würde:
Es interessierte ihn überhaupt nicht, wer seinen Vater unter die Erde bringen würde.
Er müsste so oder so für alle Kosten aufkommen.
Er hatte zwar die finanziellen Mittel dafür, es lief ihm dennoch zuwider, dass sein Vater eine Beerdigung bekommen würde, die dieser einfach nicht verdient hatte.
„In der Pathologie. Im Krankenhaus.“
„Bis wann musst du eine Entscheidung getroffen haben?“ Endlich sah er seiner Mutter ins Gesicht. Ihre Augen waren verquollen, ihre Haare zwar zusammengebunden, aber dennoch zerzaust. Vermutlich hatte sie die ganze Nacht kein Auge zugetan und nur geweint. Die beiden Male, die sie am Tag zuvor telefoniert hatten, klang es jedenfalls so, als hätte sie auch da Mühe gehabt, ihre Tränen zurückzuhalten. Und Kiryu kam nicht umhin, Verachtung für seine Mutter zu empfinden. Er verstand nicht, dass sie diesem Ekel so nachtrauern konnte. Und dass sie ihm so viel Zuwendung und Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Seine Mutter blickte ihn zuerst ratlos an, dann zuckte sie die Schultern. Schließlich ging sie zum Sofa und setzte sich. Die beiden Tassen stellte sie, ohne genauer hinzusehen, auf dem Tisch ab. Kiryu seufzte innerlich und hockte sich an den Tisch. Noch einmal warf er einen Blick auf die ganzen Unterlagen. Auf einigen Briefköpfen war deutlich „Letzte Mahnung“ zu lesen. Er würde sich beim nächsten Mal darum kümmern müssen. Denn wahrscheinlich war er diese Woche noch öfter hier. Er stellte seine Tasse an einen anderen Platz und nahm ein paar der Broschüren, faltete sie zusammen, um sie in seine Gesäßtasche stecken zu können. Dann stand er auf mit den Worten: „Okay, ich sehe mir die mal an und werd auch direkt eins buchen. Ist das für dich in Ordnung?“
„Ja, das … Mach wie du es für richtig hältst …“ Wieder war die Stimme seiner Mutter so leise, fast vorsichtig.
Ein weiteres Mal sah sich Kiryu im Wohnzimmer um. Und an der Tür zu seinem alten Zimmer blieb sein Blick hängen. Plötzlich stürzten Gefühle auf ihn ein, die er seit über zehn Jahren für überwunden gehalten hatte. Es schmerzte, wenn er daran dachte, wie er die letzten Tage hier verbracht hatte, bevor er auszog. Dabei hatte er geglaubt, diese Pein endlich abgeschüttelt zu haben.
„Ich habe alles so gelassen, wie es war. Ich habe nichts umgeräumt oder weggeworfen“, hörte er seine Mutter wie aus weiter Ferne mit ihm sprechen. Wie aus einem schlechten Traum erwacht, schüttelte er den Kopf, um diese merkwürdigen Gefühle abzuschütteln. Er hatte kein Interesse daran, nachzusehen, ob seine Mutter die Wahrheit sagte. Vermutlich tat sie das. In Wirklichkeit wollte Kiryu nicht prüfen, ob es stimmte. Denn das würde bedeuten, dass er sich seiner Vergangenheit stellen müsste. Und das wollte er auf keinen Fall!
„Ist noch irgendwas? Denn ansonsten werde ich jetzt gehen.“ Seine Mutter gab ihm nur ein Kopfschütteln als Antwort. Er atmete tief durch, und ging zur Tür. Als er gerade in den Flur trat, rief seine Mutter ihm nach: „Kiryu, wir sind nicht gerade im Guten auseinandergegangen. Ich hoffe, dass du deine Meinung uns gegenüber – deiner Vergangenheit gegenüber – noch änderst. Es ist doch schon so lange her …“
Kiryu sah seine Mutter an. Sein Blick war steinern und mit tonloser Stimme entgegnete er ihr bloß ein: „Nein!“ Dann verließ er die Wohnung. Er musste hier so schnell wie möglich weg. Und ohne zu rennen, hatte er die Wohnung eiligen Schrittes verlassen. Den Aufzug hatte er hinter sich gelassen und war die Treppen hinuntergelaufen. Die Bewegung war bitter nötig, um nicht vollends durchzudrehen.
Er war heilfroh, als er endlich wieder auf der Straße stand. Und er hatte Hunger. Seit heute Morgen hatte er nichts mehr gegessen. Auf dem Weg zum Bahnhof würde er eh an ein paar Automaten vorbeikommen. Oder er holte sich etwas in einem der zahlreichen Lebensmittelläden, bevor er nach Hause fuhr.
Er hatte sich spontan für Onigiri entschieden. Und er hatte schnell einen Automaten gefunden, der seinen Appetit stillen konnte. Mit dieser Verpflegung schlenderte er zurück Richtung Bahnhof.
Das Treffen mit seiner Mutter hatte ihm mehr abverlangt, als er erwartet hatte. Und nach so langer Zeit in seinem alten Zuhause zu sein, hatte mit einem Schlag so viele schlechte Erinnerungen aufleben lassen, dass er all das erst sortieren musste. Wäre er in sein altes Zimmer gegangen, hätte er wahrscheinlich angefangen, vor Wut zu schreien oder zu weinen. Oder beides … Was auch immer er in seinem Zimmer gefunden hätte, es hätte ihn in eine Zeit zurückgeschleudert, die für ihn einzig Schmerz bedeutet hatte.
Er seufzte ein weiteres Mal tief. Bis zum Bahnhof war es nicht mehr weit. Dabei war ihm nicht mehr danach, so schnell es ging nach Hause zu kommen. Und Hunger hatte er auch keinen mehr. Er fühlte sich momentan überfordert. Von allem. Er brauchte eine Pause. An einer kleinen Mauer blieb er deshalb stehen und sah sich nach einem Mülleimer um. So etwas gab es hier wohl nicht, musste er feststellen. Er könnte die Onigiri auch mit zum Bahnhof nehmen und sie dort irgendwo entsorgen. Oder er nahm alles mit nach Hause. Aber das wollte er aus irgendeinem Grund nicht. Er musste sich allerdings nicht mehr den Kopf darüber zerbrechen, was er mit seinem nicht länger benötigten Essen tun sollte, weil ein Hund auf ihn aufmerksam geworden war. Er stand nur etwas mehr als einen Meter von ihm entfernt und sah erwartungsvoll zu Kiryu.
Der Hund reichte Kiryu vielleicht bis zu den Knien, hatte rötlich braunes Fell auf dem Kopf und auf dem Rücken, während Schnauze und Bauch einen helleren Ton hatten. Kiryu konnte nicht sagen, ob es grau oder beige war. Vielleicht auch eine Mischung aus beidem. Der gekringelte Schwanz war an einigen Stellen beigegrau, an anderen hatte das Fell dort ebenfalls diese rötlich braune Farbe. Das linke Ohr des Hundes war nach vorn geklappt, während das rechte aufrecht stand. Es erinnerte Kiryu ein wenig an die Ohren eines Akita-Inu. Doch dieser Hund hier war auf keinen Fall ein Akita. Zumindest kein reinrassiger.
Kiryu zeigte dem Hund wortlos sein angebissenes Onigiri, worauf dieser in freudiges Schwanzwedeln verfiel. Also streckte Kiryu seinen Arm noch ein Stück weiter aus und versuchte, den Hund zu sich zu locken, damit dieser sich den Reisball holen konnte. Der aber blieb an Ort und Stelle stehen. Kiryu überlegte einen Moment, was er tun sollte, und warf kurzerhand dem Hund den Reisball zu. Dieser fing ihn auch, als wären sie beide ein lange eingespieltes Team. Mit hoch erhobenem Haupt trabte der Hund mit seinem Onigiri im Maul davon. Kiryu wickelte das zweite Onigiri, das er sich geholt hatte, noch aus, und legte es vor die Mauer. Er würde es ja eh nicht mehr essen, da konnte es genauso gut dieser Hund haben.
Als Kiryu seinen Weg fortsetzte, konnte er recht bald Schritte hinter sich hören. Der Hund war schnell zurückgekommen. Kiryu drehte sich im Gehen um, woraufhin ihn der Hund mit einem erneuten Schwanzwedeln und dem Onigiri im Maul ansah. Wie es aussah, hatte er heute noch einen neuen Fan gewonnen. Und das brachte ein kleines Lächeln in sein Gesicht.
Er lag ausgestreckt auf dem Sofa. Über Kopfhörer hörte er laut Musik. Genauer gesagt lief ein Song in Dauerschleife. Kiryu wusste nicht weiter. Die Flyer, die er von seiner Mutter bekommen hatte, lagen auf dem Tisch neben ihm verstreut. Er hatte sie noch nicht genauer angesehen, dabei sollte er sich so schnell wie möglich darum kümmern. Er hoffte bloß, dass die nächsten Wochen möglichst unspektakulär an ihm vorbeiziehen würden. Ein, vielleicht zwei Monate, dann wäre der ganze Spuk vorbei, so glaubte er. Er war nicht daran interessiert, für seinen Vater zu beten und ihm nur das Beste im Jenseits zu wünschen. Oder an all den anderen Ritualen, die zu Trauerfeiern und Beerdigungen gehörten. Anstandshalber würde er wohl bei der Beerdigung die gesamte Zeit anwesend sein. Mehr Umgang mit seiner Familie brauchte er nicht.
Seine Wohnungstür wurde plötzlich geöffnet und Taro, Haru und Ryo traten ein. Kiryu hatte sie zuerst gar nicht bemerkt. Die Musik war nicht gerade leise und er war völlig in Gedanken vertieft, sodass er nicht auf das achtete, was um ihn herum passierte. Erst, als ihn jemand an der Schulter antippte, sah er auf und setzte sich schnell auf.
„Hey, Kiryu“, grüßte Ryo ihn fröhlich. Die Musik war für alle hörbar, als Kiryu die Kopfhörer auf seine Schultern hatte gleiten lassen. Durch die Kopfhörer war die Musik nicht sehr laut, so nah wie die Band bei ihm stand, reichte es dennoch, dass Ryo in besorgtem Ton fragte: „Ist alles in Ordnung? So haben wir dich ja schon lange nicht mehr erlebt …“ Kiryu drehte sich zu Ryo, Haru und Taro und sah die Jungs entschuldigend an. Sein linkes Bein, das eben noch an der Rückenlehne gelehnt hatte, ließ er angewinkelt und legte seinen linken Arm darauf. Die Musik hatte er schnell ausgestellt.
„Hi, Leute. Ja, alles gut. Ich war heute nur bei meiner Mutter.“ Er wollte gelassen klingen, seine Stimme war dennoch monoton. Ein „Oh“ wie aus einem Mund bekam er von den dreien als Antwort. Zum Glück wollte gerade niemand genauer wissen, was er dort gemacht hatte. Denn Taro fragte voller Begeisterung: „Was hast du dir da eben angehört?“
„Der Song heißt Silent Scream. Ist von einem deutschen Künstler, glaube ich.“
„Was echt? Cool! Wie heißt der?“ Kiryu hatte jedoch keine Gelegenheit zu antworten, weil sich Taro bereits zu ihm aufs Sofa gesetzt – wohl eher geworfen hatte – und selbst nachsah. Haru warf zwar ein, dass sie nicht hier waren, um sich über ein paar Songs auf Spotify auszutauschen, doch Taro ließ sich nicht von seinem Vorhaben abbringen. Kiryu kümmerte das wenig. Sie kannten alle Taros Begeisterung für Deutschland und deutsche Musik. Natürlich nicht jede Musik, aber er hatte ein paar Lieblingsbands. Die Texte verstand er meistens zwar nicht, die Songs klangen für ihn trotzdem gut, egal ob er den Text verstehen konnte oder nicht. Kiryu wandte sich an Haru und Ryo, ließ Taro nach weiterer Musik suchen und fragte sie, was er ihnen anbieten könnte, als er sich vom Sofa erhob. Taro würde nach weiteren Songs dieses Künstlers in Kiryus Account suchen, das kannten sie alle schon. Da konnte sich Kiryu wenigstens um Ryo und Haru kümmern.
Wenige Minuten später saßen sie alle auf dem Sofa und beratschlagten sich. Taro war weiter fasziniert von dem Musiker, den Kiryu gefunden hatte. Und dass es auch noch ein Deutscher war, empfand er als das Sahnehäubchen.
Eigentlich hatten sie heute über ihr neues Album sprechen wollen. Aber Kiryu war absolut nicht in der Stimmung sich Gedanken über ihre Musik zu machen. Er wollte im Moment bloß das konsumieren, was andere kreiert hatten, anstatt selbst kreativ zu werden. Es war, als würde ihn etwas blockieren. Als hätte er gar nicht die Kraft, sich neue Texte einfallen lassen zu können. Unbemerkt blieb das nicht. Schließlich war Kiryu normalerweise die treibende Kraft, wenn es um den Stil und den Aufbau eines neuen Albums ging.
„Ich weiß, es geht uns nichts an“, begann Ryo. Er klang äußerst besorgt und musterte Kiryu die ganze Zeit unentwegt. „Wieso warst du bei deiner Mutter? Ihr hattet doch jahrelang keinen Kontakt mehr. Wieso jetzt plötzlich?“
Kiryu schenkte ihm ein müdes Lächeln und stand langsam auf, um sich etwas zu trinken zu holen. In erster Linie tat er das, um Ryo nicht ins Gesicht sehen zu müssen. Dass sein Glas leer war, kam ihm zugute.
Seine Stimme klang diesmal fester, als er Ryo antwortete: „Mein Vater ist gestorben. Und meine Mutter hatte mich gebeten, vorbeizukommen, um ihr mit ein paar Unterlagen zu helfen.“ Als er zurück beim Sofa war, sah er jedem ins Gesicht. Er seufzte, als er sich setzte, und erzählte weiter: „Die Beerdigung werde ich wohl organisieren und bezahlen müssen. Danach gehe ich noch den restlichen Papierkram mit ihr durch und helfe beim Kistenpacken. In ein paar Wochen ist der Spuk dann hoffentlich vorbei und es ist alles wie vorher.“
„Oh, mein Beileid? Schätze ich …“, brachte Taro als Erstes ein Wort heraus. Ryo und Haru schwiegen. Sie wussten alle, in welchen Verhältnissen Kiryu aufgewachsen war und wie er auch jetzt zu seinen Eltern stand. Verübeln konnte ihm das niemand. Es war … keine besonders glückliche Kindheit für ihn gewesen. Und wenn er sich wieder verstärkt um seine Mutter und die Beerdigung seines Vaters kümmern musste, würde das sicherlich alte Wunden aufreißen.
„Jetzt seht mich nicht so bedröppelt an. Es war nur mein Vater, niemand, der mir sonderlich nahe stand.“ Kiryu klang endlich wieder normal. Er wollte nicht weiter über dieses Thema sprechen. Und die Band schien zu verstehen. Stille breitete sich zwischen ihnen aus. Keiner wusste so recht, was sie jetzt tun sollten. Ihre heutige Tagesaufgabe würden sie nicht erfüllen können. Über Kiryus Eltern wollte auch niemand reden. Und so überlegte jeder für sich, wie sie dieser Situation entfliehen könnten.
Nach einer Lösung mussten sie nicht lange suchen, weil Hanako zu ihnen stieß: „Kiryu, bist du da? Ich hab uns was zum Abendessen … Oh, hi!“ Überrascht blieb sie stehen und sah die vier an.
„Hi, Hana-chan“, begrüßte Kiryu sie als Erstes.
„Du bist ja zuhause?! Hattest du deshalb keine Zeit?“
„Naja, also …“, begann Kiryu unbeholfen.
„Wir wollten gerade gehen“, half Ryo ihm aus seiner misslichen Lage. „Wir reden später weiter, okay?“ Kiryu nickte ihm zu. Hanako war bereits zur Küchenzeile gegangen und stellte dort ihre Einkaufstüten ab, während Kiryu die Band verabschiedete. Er entschuldigte sich mehrmals, dass sie nicht über das Album hatten sprechen können. Seine Bandkollegen nahmen ihm das nicht übel. Und Taro bedankte sich überschwänglich für den Musiker, den Kiryu gefunden hatte und bat fast im gleichen Atemzug darum, dass Kiryu ihm Bescheid gab, falls er noch andere deutsche Musiker und Songs fand.
Als er seine Wohnung wieder betreten hatte, tappte er zum Sofa und ließ sich darauf fallen.
Hanako setzte sich eilig zu ihm und reichte ihm eine Bento-Box.
„Ich dachte, ihr seid im Studio oder Proberaum“, äußerte Hanako ihre Gedanken.
„Ja, so war es geplant. Aber … na ja …“, suchte Kiryu nach Worten. Er wollte Hanako nicht erzählen, was ihn umtrieb. Sie sollte nicht mit seinen Problemen belastet werden. Und so versuchte er, das Thema zu wechseln und hatte Hanako nach ihrem Tag und der Schule gefragt.
Hanako hatte begonnen, lang und breit von ihrem Wochenende zu berichten. Kiryu zauberte das ein Lächeln ins Gesicht. Hanako kannte ihn so gut, dass sie genau wusste, wann er über ein schwieriges Thema reden wollte und wann nicht.
Den Abend mit Hanako zu verbringen, war eine wunderbare Ablenkung. So hatte dieser anstrengende Tag wenigstens einen angenehmen Abschluss. Hanako hörte er irgendwann bloß mit einem Ohr zu. Sie warf mit so vielen Namen um sich, die er gar nicht alle zuordnen konnte. Doch das machte nichts. Es tat ihm gut, dass seine Schwester jetzt bei ihm war. Und dass sie über so normale Dinge wie ihre Unternehmungen am Wochenende oder ihre Schulfächer sprach.
Er fühlte sich so erschöpft, Hanako schaffte es dennoch jedes Mal, seine Laune zu heben. Und er musste zum Glück nicht darüber reden, was ihn die letzten zwei Tage so beschäftigt hatte. Er wusste ja selbst nicht, wie er ihr das beibringen sollte, bei dem, was gerade in ihm vorging …
Es war ein wunderschöner, sonniger Tag. Der Spätsommer hatte die Regenwolken vertrieben. Und Kiryu kam bei der Hitze in seinem schwarzen Anzug fast um. Regen wäre bei diesen hohen Temperaturen nicht besser gewesen. Es war warm – zu warm für Kiryu. Er bevorzugte die Kälte. Am liebsten würde er gehen, doch es stand ihm nicht zu, dies zu entscheiden. Das hier war schließlich die Beerdigung seines Vaters. Er hatte sich, so weit ihm das möglich gewesen war, um alles gekümmert für den heutigen Tag. Und bei der Gelegenheit hatte er sich gleich einen Anzug besorgt. Für seine Mutter hatte er ebenfalls neue Kleidung gekauft. Sie stand mit steinerner Miene neben ihm und betete. Niemand hatte ihr heute anmerken können, wie viel Kraft ihr dieser Tag abverlangte. Nicht einmal Kiryu. Ein kleiner Teil in ihm fand es zwar furchtbar, dass seine Mutter so litt, dieser Teil war zum Glück sehr leise.
Er war nicht freiwillig hier. Er wollte heute nicht hier sein – er musste es.
Auch wenn er nicht mehr so sehr aufs Geld achten musste, hatte er dennoch eine der günstigeren Beerdigungshallen gebucht. Alle Traditionen wurden beachtet, alle Rituale wurden durchgeführt. Das war seiner Meinung nach genug. Der Mönch war sogar ziemlich nett, fand er. Seine Mutter hatte trotzdem mehr erwartet. Dabei hatte Kiryu fast zwei Millionen Yen ausgegeben. Die Blumen allein hatten wahnsinnig viel gekostet. Der Altar hatte etwas hermachen sollen. Denn auch, wenn ihm alles, was mit der Beerdigung seines Vaters zusammenhing, zuwider war, wollte er dennoch alles so stilvoll wie möglich haben. Das hatte er seiner Mutter aber nicht gesagt und stattdessen die Schimpftirade über sich ergehen lassen. Er hatte ihr keine Widerworte gegeben, er hatte sich nicht entschuldigt, er hatte gar nichts gesagt. In seinen Augen war es die beste Reaktion, die er dazu hätte haben können. Alles andere wäre in einem unnötigen Streit geendet.
„Betest du denn gar nicht?“
„Wozu?“, fragte er genervt. Er wollte hier weg und sah nicht ein, dass er diese Gefühle verstecken sollte, wo sie allein waren. Die restliche Trauergesellschaft war bereits gegangen. Andere Familienmitglieder oder Freunde waren nicht anwesend gewesen.
„Er war immerhin dein Vater.“
„Tja, jetzt nicht mehr. Wir müssen schließlich alle irgendwann sterben …“ Jegliche Emotion war aus seiner Stimme verschwunden. Mit leerem Blick sah er zu seiner Mutter, die den Tränen nahe war. Innerlich seufzte er, hielt aber den Mund. Wenn sie sich jetzt streiten würden, würde er erst wer weiß wann nach Hause gehen können. Also zwang er sich, ruhig zu bleiben, schloss einen Moment die Augen und sah sich auf dem Friedhof um. Auf den Wegen waren vereinzelt Besucher zu sehen. Diese waren allerdings so weit weg, dass er nicht einmal Gesichter erkennen konnte.
„Du hättest ihm helfen können. Wir haben so oft gefragt, ob du uns finanziell unterstützen kannst.“
„Ihr habt gebettelt.“ Kiryus Worte waren schärfer als beabsichtigt.
„Du hättest seine Behandlung einfach bezahlen können, dann wäre er jetzt nicht tot.“ Ein Schluchzen entfuhr seiner Mutter.
„Der Kerl hat mich geschlagen“, antwortete er mit aufgebrachtem Ton. „Oft genug ohne Grund. Wieso hätte ich ihm da helfen sollen?“
„Du bist herzlos, Kiryu“, erwiderte seine Mutter mit tränenerstickter Stimme.
„Genau wie du bei mir damals.“ Seine Stimme war kalt, sein Blick verurteilend. Und es tat ihm nicht leid darum.
Die letzte Woche hatte er sehr oft zu seiner Mutter gehen müssen. Allein um ein gutes Foto seines Vaters zu finden, hatten sie beide mehrere Stunden gesucht. Er hatte mit ihr alles Nötige für die Beerdigung besprochen. Was Geld betraf, ließ er sie gänzlich unbehelligt. Sie entschied, was sie für die Beerdigung haben wollte, und Kiryu kümmerte sich um die Rechnung. Er wollte nicht, dass sie ein schlechtes Gewissen wegen der hohen Kosten bekam. Mit dem Krankenhaus hatte er ebenfalls alles geklärt wegen der Überführung in die Beerdigungshalle. Natürlich musste seine Mutter bei dieser Prozedur voll mit einbezogen werden. Das Krankenhauspersonal hatte Kiryu schließlich nie gesehen. Die einzige Angehörige, die seinen Vater regelmäßig besucht hatte, war seine Mutter. Dieser Tag war schwer für sie gewesen. Noch nie hatte er seine Mutter so apathisch erlebt. Sie hatte kaum ein Wort gesagt und handelte die ganze Zeit roboterartig. Sie hatte kaum mit jemandem gesprochen, Fragen und Aufforderungen mit einem Nicken beantwortet und schweigend alles unterschrieben.
Kiryu hatte vorgeschlagen, dass sie sich Hilfe für die Trauerbewältigung suchen könnte. Doch seine Mutter hatte vehement abgelehnt. Das würde sie in ein schlechtes Licht rücken. Ihr ging es schließlich gut, so weit man das sagen konnte. Kiryu wusste nicht, ob er nicht feinfühlig genug war oder ob seine Mutter tatsächlich glaubte, dass sie in Ordnung wäre. Er hatte jedenfalls keinen weiteren Versuch unternommen, dieses Thema anzusprechen. Wenn sie sich nicht helfen lassen wollte, konnte er das nicht ändern. Er hatte schließlich ein eigenes Leben. Und wie es aussah, war er dabei, sich mit diesem Hund beim Bahnhof Nerima anzufreunden.
Seit er das erste Mal seine Mutter besucht hatte, war dieser Hund immer wieder aufgetaucht.
Zuerst hatte Kiryu an einen Zufall geglaubt. Inzwischen schien der Hund sogar auf ihn zu warten. Dabei hatte Kiryu ihm nur zwei- oder dreimal etwas von seinem Snack abgegeben. Er fürchtete allerdings, dass dieser Hund inzwischen einen regelmäßigen Futterspender in ihm sah. Noch war er nicht sonderlich zudringlich zu Kiryu. Stattdessen hatte er angefangen, Kiryu zu begleiten, wenn er zu seiner Mutter oder zurück zum Bahnhof ging. Dieser Hund, der wohl keinen Besitzer zu haben schien, lief wie selbstverständlich neben Kiryu her, wartete an den Ampeln an den Kreuzungen mit ihm und verhielt sich generell so, als würden sie zusammengehören.
Als sich Kiryu früh an einem Abend wieder auf den Weg nach Hause begab, streichelte er den Hund zur Begrüßung zwischen den Ohren, als er das Haus verlassen hatte. Der Hund ließ es mit sich geschehen und Kiryu fiel erst im Nachhinein auf, was er da getan hatte. Und wie der Hund reagiert hatte. Dieser Hund sah wohl langsam so etwas wie ein Herrchen in ihm. Auf dem Weg zum Bahnhof hatte er an einem Automaten etwas zu essen für sich und für den Hund geholt. Gemeinsam aßen sie die Onigiri an der selben Mauer, an der Kiryu und der Hund sich das erste Mal begegnet waren. Als er seinen Weg zum Bahnhof fortsetzen wollte, verabschiedete sich Kiryu mit den Worten: „Ich komme morgen wieder, okay?“ und streichelte den Hund ein letztes Mal. Er dachte nicht weiter darüber nach, doch etwas in ihm machte sich Sorgen, dass dem Hund etwas passieren könnte. Er mochte das Tier. Für einen Streuner war er sehr lieb. Zumindest bei ihm. Und zwischen ihnen war die letzten Tage eine unausgesprochene Freundschaft entstanden, die Kiryu nicht sang- und klanglos beenden wollte. Doch das war vorerst nebensächlich. Es gab noch immer vieles zu sortieren – Unterlagen wie Kleidung. Und die Beerdigung war mit jedem Tag näher gerückt.
Als er den Ausgang des Friedhofs fast erreicht hatte, fühlte er sich plötzlich sehr erschöpft. Und das sah Yuito, der an seinem Auto auf ihn wartete, wohl auch. Kiryu seufzte tief und grüßte seinen alten Freund knapp: „Hi, sorry noch mal, dass ich dich heute so lange beanspruche …“
Yuito winkte nur ab: „Ach, geht schon.“ Dann musterte er Kiryu einen Augenblick. „Geht´s dir gut?“ Kiryu antwortete lediglich mit einem Nicken und stieg ein.
Sie fuhren eine Weile schweigend. Kiryu starrte bloß aus dem Fenster. Ab und an entfuhr ihm ein Seufzer, weshalb Yuito besorgt zu ihm sah, ihn jedoch nicht ansprach.
„Hör mal, ich weiß, du standest deinem Vater nicht sonderlich nahe … Aber wenn du reden willst …“, begann Yuito irgendwann während der Fahrt.
„Der Kerl ist mir egal. Es kotzt mich nur an, dass meine Mutter immer noch so an dem hängt. Oh, und sie hat mir vorgeworfen, dass ich Schuld an seinem Tod hätte.“
„Oh, das … Was?“
„Hast richtig gehört. Nächste Woche werde ich mich um die restlichen Angelegenheiten kümmern, dann hab ich hoffentlich meine Ruhe.“ Seine Stimme war tonlos. Und er hatte Yuito nicht angesehen. Sein Blick war auf die Umgebung gerichtet. Aus irgendeinem Grund konnte er seinem besten Freund gerade nicht in die Augen sehen.
Für Kiryu dauerte es eine gefühlte Ewigkeit, ehe sie bei seiner Wohnung angekommen waren. Als Yuito den Motor abgestellt hatte, blieb Kiryu einen Moment sitzen. Etwas war noch zwischen Yuito und ihm. Etwas, das gesagt werden sollte.
„Kiryu, ich weiß, das ist gerade nicht leicht für dich …“, begann Yuito von Neuem. „Aber wenn du reden willst …“
„Nicht nötig“, erwiderte Kiryu kalt. Dann stieg er aus und ging in seine Wohnung, ohne sich noch einmal zu Yuito umzudrehen.
So abweisend und unterkühlt war er sonst nie gewesen. Erst recht nicht bei Yuito. Dieser ganze Tag zehrte an ihm. Er musste sich plötzlich mit so vielen Problemen herumschlagen. Von einem Tag auf den anderen war seine kleine Welt in tausende Bruchstücke zerfallen. Er wusste nicht, was er tun sollte – wie er sich verhalten sollte. Das alles war ohne Vorwarnung auf ihn eingestürzt. Als er in seiner Wohnung war, lief er rastlos von einem Raum in den anderen, ging mehrmals zum Kühlschrank, oder lief ins Bad, um sofort wieder ins Wohnzimmer zu gehen. So unruhig kannte er sich gar nicht mehr. Am liebsten hätte er laut aufgeschrien. Einfach alles herausgebrüllt. Aber er hielt sich zurück. Das konnte er hier nicht machen. Seine Nachbarn wussten zwar, dass er Musiker war und deshalb von Zeit zu Zeit in der Wohnung sang. Das, was er jetzt nötig hatte, sollte er besser im Proberaum umsetzen. Oder in einem Tonstudio.
Es war erst früher Abend, und da Kiryu inzwischen frustriert davon war, in seiner Wohnung ziellos herumzutigern, entschied er sich, nach draußen zu gehen. Wenn er schon nicht stillsitzen und einen klaren Gedanken fassen konnte, war es allemal besser durch die Straßen Tokyos zu wandern, als weiterhin hier zu bleiben und Frust zu schieben.
Ziellos streifte er wenig später durch Shibuya, wie er es früher so oft getan hatte, um auf andere Gedanken zu kommen. Er hatte seine Kopfhörer mitgenommen, hörte aber die ganze Zeit nur den selben Song: „Perfect World“ von Simple Plan. Die Musik gab den Takt und die Geschwindigkeit vor, in der er sich bewegte. Er wusste nicht, wie oft er diesen Song jetzt gehört hatte, während er ziellos umhergeirrt war, dennoch schaltete er irgendwann die Musik aus. Insgeheim hatte er erwartet, dass Takuhiro jeden Moment um die nächste Ecke biegen würde und ihn fröhlich begrüßte. Nach über einer Stunde, die er durch die Straßen gelaufen war, verflüchtigte sich diese Hoffnung allmählich. Kiryu holte sich irgendwann an einem der zahlreichen Imbissbuden ein schnelles Abendessen und setzte seinen Weg fort. Nach Hause wollte er noch nicht gehen. Da hätte ihn eh nur Ratlosigkeit und Stille erwartet. Allein deshalb streifte er noch ein wenig umher. In Shibuya und Shinjuku gab es wohl nie einen Unterschied zwischen Tag und Nacht – hier waren immer viele Menschen unterwegs. Doch so konnte Kiryu wenigstens in der Masse untertauchen.
Als er aus einer Seitenstraße auf eine Hauptstraße bog, blieb er vor einem hohen Bürogebäude stehen. Er war erst vor ein paar Tagen hier gewesen. Schließlich hatten Rising Phenix oft genug mit Gil, oder zumindest seiner Kanzlei zu tun. Es sah sogar so aus, als würden Menschen zu dieser späten Stunde dort arbeiten. Er wollte es daher auf einen Versuch ankommen lassen und ging zum Eingang. Dass ihm geöffnet wurde, überraschte Kiryu nicht. Dass er allerdings, kaum dass er seinen Namen genannt hatte, zu Gil vorgelassen wurde, umso mehr.
Das Büro lag weit oben. Kiryu hatte eine gute Aussicht auf die Stadt. Die schlichte, stilvolle Einrichtung erinnerte ihn ein wenig an Tanakawas Büro. Auch, wenn die Ereignisse mehr als zehn Jahre zurücklagen, würde er wohl niemals vergessen können, wie hilflos er sich in dessen Büro gefühlt hatte. In Gils Büro war es dagegen eher so, als befände er sich in Takuhiros Wohnung, die ebenfalls sehr weit oben lag. Er konnte es nicht anders nennen, er fühlte sich hier sicher.
„Guten Abend, mein junger Freund. Wie komme ich denn zu der Ehre deines Besuchs?“, wurde er freundlich von Gil begrüßt.
„Hi, Gil. Entschuldige die Störung, ich war gerade in der Gegend“, versuchte Kiryu seine Ratlosigkeit, was er hier tun sollte und Überraschung, dass ausgerechnet Gil mit ihm sprach, zu überspielen. Gil ging um seinen Schreibtisch herum und steuerte eine Sitzgruppe an. Im Gehen hatte er Kiryu bedeutet, sich zu setzen.
„Was kann ich dir anbieten? Möchtest du einen Kaffee? Oder Tee?“ Kiryu gab sich mit Wasser zufrieden, Gil setzte sich mit einer Tasse Tee zu ihm.
„Also, was ist dein Anliegen, Kiryu?“, fragte Gil lässig. Er saß in herrschaftlicher Pose in seinem Sessel und blickte Kiryu mit einem wohlwollenden Lächeln an. Da Kiryu selbst nicht so genau wusste, wieso er hergekommen war, druckste er herum. Er hatte gar nicht darüber nachgedacht, was ihn hier erwarten würde. Doch Gil schien seinen Mandanten besser zu kennen als dieser sich selbst.
Denn mit nur einer Frage traf er bei Kiryu genau den wunden Punkt: „Wie geht es der Familie?“ Gils Ton war ungezwungen. Freundlich. Ähnlich dem, den Kiryu von Takuhiro kannte. Und natürlich wusste Gil, dass Kiryu unverheiratet, ja sogar single war und keine Kinder hatte. Es war eine reine Floskel, auf die Kiryu dennoch keine Antwort fand und herumstammelte. Dann seufzte er einmal tief und sagte schließlich: „Mein Vater ist vor Kurzem gestorben. Und wie es aussieht, habe ich jetzt die Verantwortung für meine Mutter.“
„Mein Beileid“, antwortete Gil trocken. Das Lächeln war allerdings nie aus seinem Gesicht verschwunden.
„Benötigst du Hilfe bei der Kündigung einiger Verträge? Ich weiß, dass manche Banken überkorrekt handeln und damit für Frust auf allen Seiten sorgen.“
„Nein, das ist es nicht … Oder eher: Nicht nur.“ Kiryu begann daraufhin, von der letzten Woche zu berichten. Er hatte sich um so viele Dinge kümmern müssen und befürchtete nun, dass er irgendwo etwas vergessen hatte. Gil hörte sich die komplette Geschichte geduldig an. Er unterbrach Kiryu nicht, nickte ab und an und nippte an seinem Tee. Und diese kleine Geste erzeugte in Kiryu ein Gefühl, verstanden zu werden. Als er zu Ende erzählt hatte, sah er erwartungsvoll zu Gil. Fast so, als könnte ihm dieser alle Antworten geben. Gil hatte sich keinen Millimeter gerührt und lächelte Kiryu weiterhin zuvorkommend an. Doch es war nicht mehr das unpersönliche Lächeln eines Anwalts, sondern wärmer. Diesmal ehrlich und freundlich. Sollte er mit seiner Geschichte tatsächlich einen Nerv bei Gil getroffen haben? Bei diesem Eisklotz?!
„Nun, ich bin kein Notar. Aber für mich klingt es so, als hättest du alles getan, was dir möglich gewesen ist und was auch deine Pflicht war.“
„Hoffentlich“, brachte Kiryu resigniert hervor. Er musste jetzt zugeben, dass es gutgetan hatte, über alles, was die letzten Tage passiert war, zu sprechen. Seit er vom Tod seines Vaters erfahren hatte, hatte er mit niemandem darüber geredet. Zu viele Termine und zu wenig Zeit für sich selbst hatten dafür gesorgt, dass er mit den Gedanken überall war, nur nicht bei seinem eigenen Leben und seinen eigenen Problemen. Seit für die Trauerfeier und Beerdigung alles organisiert war, hatte er mehr Zeit gefunden, über alles nachzudenken und ein paar Gedanken zu sortieren.
„Wie lange nimmst du dir eine Auszeit?“
„Wie bitte?“ Kiryu war verwirrt. Er würde nie und nimmer eine Pause davon brauchen, Musik zu machen.
„Du hast offensichtlich gerade sehr viel um die Ohren. Deshalb nahm ich an, du würdest dir für die nächsten Wochen eine Auszeit nehmen. Denn aus dem, was du mir beschrieben hast, schließe ich, dass du gerade zwei Leben führst: Dein gewohntes als Musiker und ein zweites, bei dem du dich um den Nachlass deines Vaters kümmerst. Und ich weiß nur zu gut, wie viel Aufwand die Verwaltung eines Nachlasses haben kann.“
Kiryu sah nachdenklich in sein Glas. Er hatte es die ganze Zeit in Händen gehalten, bisher allerdings keinen Schluck daraus getrunken. Er hatte nicht daran gedacht, dass sie als Band für dieses Jahr ebenfalls ein paar Sachen geplant hatten. Und wegen ihres neuen Albums wollten sie sich außerdem noch beratschlagen. Zeit hatten sie bisher nicht gefunden. Meistens war es Kiryu, der keine Zeit hatte oder kurzfristig absagen musste. Und wenn er so darüber nachdachte, war es vielleicht gar nicht verkehrt, sich eine kleine Pause von allem zu nehmen.
Als er aufstand, leerte er das Glas in einem Zug und bedankte sich bei Gil für dessen Zeit. Dann wollte er sich auf den Weg zur Tür begeben, hielt aber kurz inne und fragte: „Sag mal, Gil, könnte ich mir eigentlich einfach so ein Haustier besorgen? In den Mietwohnungen meiner Nachbarn ist das nicht erlaubt. Aber der Punkt ist: Ich wohne ja nicht zur Miete.“
Gil sah ihn überrascht an, doch schnell zeigte sich ein kleines Lächeln in seinem Gesicht und er fragte „Willst du dir jetzt auch ein Kätzchen holen wie Taku? Lass mich das prüfen. Ich denke, es sollte kein Problem sein, wenn die Wohnung eh dir gehört.“
Kiryu bedankte sich ein weiteres Mal und verließ endlich die Kanzlei. Vielleicht hatte er ja bald einen pelzigen Mitbewohner.
Er saß vor dem kleinen Couchtisch und sortierte alle Briefe, die bei seiner Mutter in den letzten Wochen und Monaten eingegangen waren. Alle Rechnungen legte er auf einen Stapel, alle anderen Papiere auf einen anderen. Um die restlichen Unterlagen würde sich seine Mutter kümmern müssen. Das meiste musste lediglich abgeheftet werden. Und er hatte überhaupt keine Ahnung, wo er die richtigen Ordner fand. Im Wohnzimmer hatte er jedenfalls keine gesehen. Er vermutete zwar, dass in einem der Schränke alle Ordner zu finden waren, durchsuchen wollte er diese dennoch nicht. Er war hier schließlich nicht zuhause. Nicht mehr.
Als er damit fertig war, alles zu sortieren, holte er sein Smartphone aus der Hosentasche und öffnete seine Banking-App. Zumindest hatte er das vor. Auf dem Weg hierher hatte er Musik gehört und auf Pause gedrückt, als er bei der Wohnung seiner Mutter angekommen war, ohne die App zu schließen. Einen Moment starrte er auf den Bildschirm seines Smartphones, auf dem ihm „Ashe‘s Children“ von Knotlamp angezeigt wurde. Es war der einzige Song, der ihm von dieser Band gefiel. Und er passte viel zu gut zu seiner derzeitigen Situation. Schließlich besann er sich darauf, was er eigentlich tun wollte, schloss die Musik-App und suchte nach seiner Banking-App. Seine Mutter kam mit zwei Tassen Kaffee ins Wohnzimmer, als er eine bezahlte Rechnung gerade beiseite legte und sich die nächste griff. Vorsichtig stellte sie die Tasse neben die Papiere, worauf Kiryu mit einem leisen „Danke“ reagierte. Seine Mutter stand einen Augenblick neben ihm und sah ihm zu. Schließlich fragte sie: „Kannst du das einfach so bezahlen? Die Überweisungsgebühren sind mit Sicherheit enorm. Sollten wir nicht besser zur Bank gehen?“
„Nein, die App reicht völlig. Den Rechnungsstellern ist es eh egal, von wem das Geld kommt, und die Überweisungsgebühren sind kein Problem. Es ist mir gerade echt zu umständlich, noch weitere Bankkonten zu eröffnen, die vier, die ich habe, reichen mir völlig …“, antwortete er kühl, fast abwesend in seine Arbeit vertieft. Es kam ihm fast so vor, als würde er mit seiner Mutter reden, wie es Gil manchmal mit ihm tat. Völlig distanziert, ohne eine Gefühlsregung.
„Ich hab gesehen, dass du noch ein paar Sachen unterschreiben musst. Das liegt alles hier“ und er zeigte auf einen kleinen Stapel Papiere. Seine Mutter nahm ihn und setzte sich damit aufs Sofa, um sich alles wortlos durchzulesen. Kiryu bezahlte derweil weiter Rechnungen.
Nach der fünften Rechnung entfuhr Kiryu ein Seufzer. Es war unbeabsichtigt und er hatte es gar nicht richtig wahrgenommen. Seine Mutter hatte dennoch sofort aufgesehen und musterte ihn.
„Du musst das nicht tun, weißt du?“
Er konnte die Art, wie sie die Worte gesagt hatte, nicht richtig einordnen. Es klang fast wie Trotz. Oder sie hatte versucht, unbeteiligt zu klingen und nicht den passenden Ton getroffen.
„Ich fürchte, ich habe keine Wahl“, erwiderte er tonlos. Dass er hier war, betrachtete er als seine Pflicht. Er wollte nicht hier sein und verbarg das nicht. Wenn er alle Rechnungen bezahlt hatte, würde er gehen.
„Jetzt kümmerst du dich! Jetzt hast du auf einmal keine Wahl! Aber als wir dich brauchten, warst du nicht da!“ Diesmal war der Vorwurf in ihrer Stimme nicht zu überhören. Kiryu blickte auf und versuchte, einen Moment in ihrem Gesicht zu lesen. Dann fragte er in diesem weiterhin unterkühlten Ton: „Und wo warst du, als ich dich gebraucht hatte? Was war, als du mir hättest helfen sollen?“
„Das … das tut doch jetzt nichts zur Sache …“ Hilflos sah sie zu Kiryu. Sie konnte seinem durchdringenden Blick kaum standhalten.
„Ich war allein, als ich noch hier wohnte. Die ganze Zeit! Ihr seid nie für mich da gewesen. Ich hab mich so oft abgeschoben gefühlt. Als würde ich nur stören. Ich habe die ganze Welt gehasst, für das Leben, das ich hatte. Aber ich habe die Klappe gehalten. Immer. Weißt du, wie oft er mich verprügelt hat? Fast jedes Mal, wenn er getrunken hatte. Und du weißt ja, wie oft das war. Aber du hattest nichts davon mitbekommen. Du warst schließlich genug mit dir selbst beschäftigt. Und ich habe alle Verletzungen versteckt. Vor jedem. Niemand sollte erfahren, was ich durchmachen musste. Niemand sollte erfahren, was für eine kaputte Familie wir waren.“ Aus dem anfänglich vorwurfsvollen Ton war schnell ein immer leiserer geworden. Seine Mutter sah ihn nicht an. Sie sah sich die Briefe an, stand dann auf und ging in die Küche. Es war ihr schlicht unangenehm, dass Kiryu sie so offen auf die Vergangenheit ansprach.
Kiryu atmete tief durch und bezahlte die letzte Rechnung. Als er damit fertig war, blickte er sich ratlos im Wohnzimmer um. Schließlich erhob er sich und ging zu seinem alten Zimmer. Bisher hatte er es vermieden, dort hineinzugehen. Und auch, wenn er es sich nicht eingestehen wollte, er hatte Angst davor. Es war die nackte Angst, in all diese schlechten Erinnerungen einzutauchen und keinen Ausweg mehr finden zu können. Als würde er in ewiger Dunkelheit versinken.
Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit, die er mit auf der Klinke abgelegter Hand dastand, ehe er die Kraft aufbringen konnte, durch die Tür zu gehen.
Als er jetzt in diesem Raum stand, fühlte er sich nicht weniger ratlos als eben. Er ließ seinen Blick über die Einrichtung schweifen, die tatsächlich dieselbe war – genau wie seine Mutter gesagt hatte. Das Bett stand am anderen Ende des Zimmers, links vom Fenster. Rechts davon stand ein Schreibtisch. Gegenüber der Tür war ein Kleiderschrank, ein Bücherregal stand an der Wand links von ihm. Es war keine sonderlich opulente Einrichtung, aber sie war ausreichend. Als Teenager hatte er eh nur hier geschlafen und den Tag irgendwo in Tokyo verbracht. Er hatte im Grunde nicht hier sein wollen. Und wenn er sich umsah, wusste er nicht mehr zu sagen, ob die Einrichtung so lieblos aussah, weil er so selten hier war. Oder ob er so wenig Zeit hier verbracht hatte, weil es nicht einladend war.
Kiryu blieb vor seinem alten Schreibtisch stehen und betrachtete die verstreut darauf liegenden Sachen: Ein paar Stifte, leere oder kaum befüllte Notizbücher, ein paar alte Schulhefte. Und ein altes Foto. Es zeigte ihn und die Band. Yuito hatte es gemacht. Vor 16 Jahren. Es war das erste offizielle Bild, das sie als Band zeigte. Und Kiryu musste zurückdenken, als er in die damalige Schulband aufgenommen wurde:
»Es war ein verregneter Nachmittag. Nach Hause wollte er nicht, bei diesem Wetter hatte er keine Lust, durch die Stadt zu streifen. Und deshalb wandelte Kiryu ziellos im Schulgebäude umher. Die meisten Schüler waren bereits nach Hause gegangen. Und Lehrer traf er auch keine. Es war, als hätte er die Schule für sich allein.
Er spähte in verschiedene Räume, versuchte irgendwie, die Zeit bis zum Abend zu vertreiben.
Doch er verweilte nirgendwo länger als zehn Minuten. Normalerweise würden er und Yuito den Nachmittag in Tokyo verbringen. Yuito hatte heute allerdings keine Zeit. Und ausgerechnet heute wusste Kiryu nichts mit sich anzufangen. Irgendwann war er auf seiner Wanderung zum Proberaum der Schulband gelangt. Gitarren standen herum, das Schlagzeug war komplett aufgebaut und Mikrofone aufgestellt. Kiryu sah sich ein wenig im Raum um, probierte dann alles ein bisschen aus. Er hatte kein großes Talent, um mit einer Gitarre umgehen zu können. Schlagzeug spielen, hatte ihm mehr Spaß gemacht. Doch dann, als er bemerkt hatte, dass wirklich alles angeschlossen und funktionstüchtig war, versuchte er sich im Singen.
Zuerst kam ihm ein Song von Girugamesh in den Kopf, bei dem er zum Glück textsicher war. Und er fand, es klang gut. Also versuchte er einen anderen Song. Diesmal von D´espairs Ray. Auch da gefiel ihm, was er hörte. Und zum ersten Mal seit Monaten stahl sich ein Lächeln in sein Gesicht. Es machte ihm richtig viel Spaß, er überlegte sich sogar, wie er sich bewegen würde, wenn er auf einer Bühne stehen würde. Mit Publikum würde alles sicher noch besser sein.
Als Nächstes versuchte er sich an einem Song von the GazettE. Doch gerade, als er zum Refrain angesetzt hatte, trat jemand zu ihm in den Proberaum. Dieser Jemand war ein Stück kleiner als Kiryu, hatte eine chaotische Frisur und lebhafte graue Augen.
Kiryu sah diesem Jungen in die Augen. Er war nicht in Kiryus Jahrgang, wahrscheinlich ein oder zwei Jahre jünger. Der Junge sah zu Kiryu, blinzelte und schritt entschlossen auf Kiryu zu mit den Worten: „Du wirst unser neuer Sänger!“ Kiryu war von dieser stürmischen Aktion mehr als irritiert. Er betrachtete diesen Jungen noch einmal eingehend, dann verließ er den Proberaum. Ein „Nein, danke“ entfuhr ihm, als er auf selber Höhe mit diesem Jungen – der wohl zur Schulband gehörte – war, und schlug den erstbesten Weg ein.
Ein paar Tage später tauchte dieser Junge vor seinem Klassenraum auf: „Hey, Kiryu, da will dich so ein Knirps namens Taro sprechen“, rief ihm ein Klassenkamerad zu. Kiryu stand mit einem genervten Seufzer auf und ging hinaus in den Flur. Denn auch, wenn er niemanden näher kannte, der Taro hieß, konnte er sich nur zu gut denken, wer ihn sprechen wollte.
„Was willst du?“, fragte er gereizt. Er hatte keinen Nerv für Nettigkeiten.
„Werd bitte der neue Sänger der Schulband. Bitte!“
„Wieso sollte ich? Was ist mit dem alten passiert?“
„Der hat seinen Abschluss gemacht. Und jemanden, der so gut zu uns passen würde wie du, ist bisher nicht aufgetaucht.“ Taro war total euphorisch, obwohl Kiryu alles andere als freundlich zu ihm war. Ja, nicht einmal höflich.
„Ich habe nein gesagt“, antwortete er unfreundlich. Er hatte Taro bereits seinen Rücken zugedreht und wollte zurück ins Klassenzimmer gehen, als Taro ihm nachrief: „Aber du kannst voll gut singen!“
Mit nur zwei Schritten war Kiryu zurück bei Taro, drückte ihn gegen die Wand und funkelte ihn böse an. In bedrohlichem Ton sagte er: „Halt gefälligst du Klappe! Du versaust den schlechten Ruf, den ich mir hier aufgebaut habe!“ Der Jüngere ließ sich davon nicht beeindrucken. Als Kiryu von ihm abgelassen hatte, ordnete er seine Schuluniform und sah herausfordernd zu Kiryu.
„Okay, ich sage nichts. Aber nur, wenn du zu unserer nächsten Probe kommst. Andernfalls werde ich überall herumerzählen, was für eine engelsgleiche Stimme du hast.“
Kiryu entfuhr ein genervter Seufzer, er ging auf das Angebot aber ein. Wenn er sich lächerlich machen würde, dann wenigstens nur vor kleinem Publikum. Sollte der Knirps eben bekommen, was er wollte, er würde ja eh nicht Teil der Schulband werden, dachte Kiryu jedenfalls.
Haru und Ryo waren nicht sonderlich begeistert, als ein paar Tage später Taro mit Kiryu im Schlepptau den Proberaum betrat. Taro war Feuer und Flamme für Kiryu – unabhängig von dessen Ruf.
„Ach echt? Kiryu Sugawa kann singen?! Und das auch noch so, wie wir es für unseren Stil brauchen?“ Harus Skepsis war verständlich. Kiryu selbst hätte nie von sich gedacht, dass er Teil einer Band werden würde.
„Okay, zeig mal, was du kannst“, forderte Ryo ihn auf. Taro riet ihm, einen der Songs zu nehmen, die er beim letzten Mal gesungen hatte. Kiryu war das nur recht. Es war für ihn aber mehr als ungewohnt, dass er Zuhörer hatte. Entsprechend zurückhaltend war er mit seiner Stimme. Das kam erwartbarerweise nicht sonderlich gut an, weshalb Haru abfällig kommentierte: „Also, sonderlich gut ist das nicht …“
Als Kiryu dann aber zur zweiten Strophe von Girugameshs „Gokusou“ ansetzte, sang er laut und kräftig. Haru und Ryo sahen ihn verblüfft an. Sie waren sprachlos. Nicht nur darüber, dass Taros Begeisterung gerechtfertigt war. Sondern auch, wie gut Kiryus Gesang klang. Er klang fast so gut wie der Girugamesh-Sänger. Der Rest ist Bandgeschichte.«
Kiryu sah einen Moment auf das Foto, schließlich hob er seinen Blick. Seine Mutter stand in der Tür und sah zu ihm. Kiryu erwiderte ihren Blick, sagte jedoch kein Wort. Sie auch nicht. Dieser kurze Augenblick war unwirklich für ihn. Seine Mutter hatte ihn auf eine sehr merkwürdige Weise angesehen. Er konnte diesen Gesichtsausdruck nicht deuten. Wortlos legte er das Foto zurück auf seinen Schreibtisch, dann ging er an seiner Mutter vorbei und ins Wohnzimmer. Sie folgte ihm, sagte aber immer noch nichts.
„Ich habe alle Rechnungen bezahlt. Falls neue kommen, sag Bescheid“, verkündete er kühl. Er nahm sein Smartphone vom Tisch, und wollte sich von seiner Mutter verabschieden. Um seine Schuhe anzuziehen, war er stehen geblieben. Dass seine Mutter ihm gefolgt war, hatte er nicht mitbekommen.
„Warte, Kiryu!“ Er hielt augenblicklich inne, drehte sich aber nicht noch einmal zu ihr um.
„Ich könnte Hilfe gebrauchen, wenn ich die Kisten packe …“ Mehr sagte sie nicht. Kiryu hatte verstanden. Er nickte ihr zu, dann verließ er die Wohnung.
Als er auf der Straße stand, schloss er die Augen und atmete tief ein. Er hatte mit den Tränen zu kämpfen, wusste jedoch nicht genau wieso. Der Hund, der auf der anderen Straßenseite im Schatten auf ihn gewartet hatte, kam erfreut zu ihm. Kiryu hockte sich vor ihn und streichelte das Tier zur Begrüßung. Einen letzten Blick warf er hinauf zur Wohnung seiner Mutter, und wollte nach Hause gehen. Für einen Augenblick hatte es für ihn so ausgesehen, als hätte jemand am Fenster gestanden. Kiryu widmete sich schnell wieder seinem pelzigen Freund und ging mit ihm zum Bahnhof.
Er saß auf seiner Couch und sah ins Leere. Neben ihm lag ein Schreibblock, auf dem er einen neuen Songtext angefangen hatte. Die passenden Worte wollten ihm einfach nicht einfallen. Es kam ihm vor, als wollte ihn die Schwere seines Herzens erdrücken. Und dass er einige Verse auf Englisch geschrieben hatte, machte dabei keinen Unterschied:
This bad dream should end
I don´t wanna feel this way
Darkness graps my heart again
I feel weak and all alone
Shattered dreams inside my heart
Dass er nach langer Zeit Texte von der Düsternis in ihm schrieb, war zwar heilsam, zeigte aber auch, dass es ihm gerade alles andere als gut ging. Alte Wunden waren wieder aufgegangen und wie es sich anfühlte, waren sie nicht gut verheilt. Er kämpfte mit der gesamten Situation …
Die Wohnungstür ging auf und Hanako kam zu ihm. Sie begrüßte ihn wie immer fröhlich, Kiryu brachte dagegen nicht mehr als ein „Hi“ heraus. Er klang müde, obwohl er außer dem Besuch bei seiner Mutter keine anderen Termine gehabt hatte. Hanako sah einen Moment irritiert zu ihm, legte ihre Tasche am Sofa ab und schlang ihre Arme um seine Schultern.
„Du bist in letzter Zeit so oft schlecht gelaunt, Bruderherz“, sagte sie in fast vorwurfsvollem Ton. Kiryu musste unwillkürlich lächeln. Doch das sah Hanako nicht. Er strich ihr vorsichtig über den Unterarm und entschuldigte sich mit: „Sorry, ich hab gerade ein bisschen viel um die Ohren.“
„Stress mit Mama hast du nicht oder?!“ Ihr Ton war alarmiert, wussten sie beide zu gut, wie penibel Frau Kyoura in manchen Dingen sein konnte. Doch er konnte sie beruhigen: „Nein, es ist …“ Er war sich nicht sicher, ob er Hanako erzählen sollte, was los war. Er wollte sie nicht beunruhigen.
„Es ist meine Familie“, erklärte er unbeholfen. Ein „Oh“ war alles, was Hanko erwiderte.
„Lieb von dir, dass du dir Sorgen machst, aber es geht mir gut.“ Hanako schien zwar skeptisch zu sein, ob Kiryu ehrlich zu ihr war, doch sie bohrte nicht weiter nach und ging zur Küchenzeile. Denn wie jedes Mal, wenn sie Kiryu besuchen kam, hatte sie für sie beide etwas zum Abendessen mitgebracht. Kiryu las noch einmal den Text, den er angefangen hatte, dann räumte er den Block beiseite und ging zu Hanako.
„Du musst mir bei den Englisch-Hausaufgaben helfen“, verkündete sie, kaum dass Kiryu neben ihr stand.
„Okay, dann zeig mal her.“
„Lass uns erst essen“, warf Hanako ein.