Valeris Verschwinden und andere Unzulänglichkeiten - Peter Vogl - E-Book

Valeris Verschwinden und andere Unzulänglichkeiten E-Book

Peter Vogl

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Beschreibung

Tony Valeri ist verschwunden! Der alte italienische Regisseur ist von einem Tag auf den anderen wie vom Erdboden verschluckt. Weder am Set in Los Angeles noch in seinem Bungalow in Las Vegas ist er aufzufinden. Der unerfahrene, aber motivierte Privatdetektiv Marcus Delacroix muss mit dem faulen und widerwilligen Ex-Hollywoodianer Mike Mangosu den Fall lösen. Die zwei werden von einem Unbekannten beauftragt. An schrägen und abgründigen Figuren herrscht kein Mangel, und dann wird auch noch ein Crewmitglied tot aufgefunden. Was haben ein einflussreicher Studioboss, ein windiger Pornoproduzent und zwei russische Brüder mit Valeris Verschwinden zu tun?

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Für Oliver

Peter Vogl

Valeris

Verschwinden

und andere Unzulänglichkeiten

© 2021 Peter Vogl

Umschlag: Edison Wormhole

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

 

Paperback

978-3-347-36864-4

Hardcover

978-3-347-36865-1

e-Book

978-3-347-36866-8

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

1. Hurra, wir leben

2. Das gebückte Kamel und der träge Löwe

3. Pronto Valeri!

4. Katz

5. Noemi

6. Valentine's Day

7. Shpek

8. Aus dem Buch von Stojan

9. Brüderchen, komm tanz mit mir

10. Paradiesvögel

11. Tohuwabohu

12. Colombo

Was diese uns’re schöne Welt

im Innersten zusammenhält?

Mit sowas halt ich mich nicht auf,

lass allen Dingen ihren Lauf.

Was mich dagegen wirklich stört,

um nicht zu sagen sehr empört:

Die Carbonara waren nicht ganz al dente.

Herr Wirt, ich bitt’ sie: Gehen’s in Rente.

Michael Mangosu, 2011

1. Hurra, wir leben

Das System kollabierte. Die politische, ökonomische und kulturelle Abwärtsspirale drehte sich immer schneller. Die Eliten und ihre Institutionen hatten versagt. Das Volk erhob sich und die transhumanistischen Technokraten fielen. Überall herrschten Verfall, Korruption, Hunger, Tod und Niedertracht. Im freien Spiel der Kräfte entstanden destruktive Drachen, die kein Ritter mehr erlegen konnte. Ritter wurden ohnehin vor Jahren als gefährlich für das Gemeinwohl eingestuft und abgeschafft. Jeder gegen Jeden, dann war plötzlich niemand mehr da. Das Land war leer … Endlich aufatmen? Niemand atmete mehr.

Mike ächzte enttäuscht und legte seinen Controller behutsam auf den Teppichboden. "34 Spielstunden umsonst. So ein Scheiß!" Am niedrigsten Schwierigkeitsgrad, auf dem Mike immer am liebsten spielte, war der Simulator noch recht lässig. Man musste einen kleinen Kontinent managen und hatte viele Ressourcen und Freiheiten. Doch auf der höchsten Schwierigkeitsstufe "Globus" klappte die Balance zwischen offener und geschlossener Gesellschaft überhaupt nicht mehr, und so war Mikes wohlwollende Spaßdiktatur zum Scheitern verurteilt. Zerstörerische Kräfte von Innen und von Außen hatten sein modernes, beinahe weltumfassendes Königreich in Schutt und Asche gelegt.

Mike war aus der virtuellen Welt wieder in die seines gemütlichen Holzhauses zurückgekehrt. Er erhob sich mit einem kurzen Stöhnen von seinem Sofa und nahm ein lauwarmes Stück Thunfischpizza mit auf den Weg. Vorbei an Videospielschachteln und alten Filmplakaten ging er durch die Vordertür nach draußen. Dort war zu Mikes Freude immer noch Tageslicht und immer noch Sommer. Er blickte auf die einsame Landstraße vor seinem Haus und freute sich. Was für ein Glück: Niemand würde heute kommen und morgen auch nicht. Er spazierte gemächlich an der Außenwand entlang bis zum Hinterhof. Das Gras stand noch immer viel zu hoch, ansonsten war es dort sehr beschaulich. Mike zog sich nackt aus, stieg entschlossen eine weiße Plastikleiter empor und sprang in den oberirdischen Pool. Auf dem Rücken treibend spürte er im belebenden, kühlen Wasser eine angenehme Sommerbrise auf seinem Bauch und im Gesicht vorbeiziehen. Eine frühsommerliche Aufbruchsstimmung lag dieser Tage in der Luft, von der Mike aber nichts merkte und auch nichts wissen wollte. Nach der ganzen Aufregung vor sieben Minuten erreichte Mike in seinem Pool wieder ein angenehmes Level an Tiefenentspannung. "Ich brauche kein Königreich, ich genüge mir selbst", sagte er sich überzeugt und ihm fiel ein Songtext von Paul Simon ein: "I've got nothing to do today but smile." Dabei lächelte Mike und erledigte somit bereits alles, was er sich für den heutigen Tag vorgenommen hatte. Das Königreich im Inneren. "The only living boy" in Austin, Texas.

Einige Stunden später wachte der alte Valeri mit einem wilden Schrecken auf. Um ihn war pechschwarze Finsternis. Kurz glaubte er, dass er vielleicht gestorben sei und stellte dann erleichtert, aber auch etwas enttäuscht fest, dass dem nicht so war. Valeri lag auf seinem Bauch und konnte sich in keine Richtung bewegen. Er wusste weder wo er war, noch warum er hier war. Das dumpfe, konstante Brummen könnte ein Motorengeräusch sein, dachte er. Ist er blind geworden, oder war hier einfach nur kein Licht? War er in Bewegung, oder lag er nur irgendwo herum? Über seinen gesamten Körper verteilte sich ein für ihn völlig neuartiges Gefühl des Unwohlseins, wodurch Valeri unfreiwillig verkrampfte und zu stöhnen begann. Kalter Schweiß lief von seiner Stirn über seine Nase und tropfte geräuschlos ab. Beide Arme fühlten sich an, als würde grober Stoff auf sie drücken. Er konnte nicht aufhören zu stöhnen. Das brummende Geräusch wurde leiser und hörte auf. Jetzt, da er stehen geblieben war, war sich Valeri überhaupt erst sicher, dass er sich vorher bewegt hatte. Sind das Schritte? Ein lautes Geräusch ertönte, dann drang ein klein wenig künstliches Licht zu ihm. Valeri konnte dadurch ein beiges Muster, ein Loch am Ende des Tunnels und dahinter ein paar Quadratzentimeter Metall erkennen. Zumindest war er also nicht blind, und nun war ihm klar: Er befand sich in einem Kofferraum und war darin halb sitzend, halb liegend in einen Teppich eingerollt. Für eine Sekunde glaubte Valeri, den Hauch von etwas Bekanntem wahrzunehmen. Dieser erdige, rauchige, Desinfektionsspray-artige Geruch – wenn er wirklich da war und nicht nur eingebildet – konnte nur von einem tausende Jahre alten Kreosotbusch stammen. Was heißen würde, dass er irgendwo in der Mojave-Wüste zwischen Los Angeles und Las Vegas sein müsste. Der ihm sehr vertraute Geruch war für Valeri wie ein kleiner Rettungsanker. Trotzdem lies die Übelkeit nicht nach und er musste erneut unfreiwillig stöhnen. Daraufhin knallte es und es war schlagartig wieder finster. Was sollte diese Teppich-Aktion? Früher, in seinen wildesten Zeiten in Italien, da kam es auch vor, dass Streiche in seinem engsten Freundeskreis so weit gegangen sind. Aber das war verdammt lange her. Ob es diesmal auch mit viel Gelächter und einer tollen Geschichte enden wird, die man immer wieder erzählen kann? Valeri war einst ein Zweckoptimist, heute nicht mehr. Er wollte sich unbedingt übergeben und damit von seinem körperlichen Leiden befreien, schaffte es aber nicht. Noch mehr Krämpfe, noch mehr Schweiß … So eine Übelkeit hatte er in seinen 76 Jahren trotz einiger Alkoholexzesse noch nie erlebt. Der Wagen fuhr weiter und das Motorengeräusch wurde noch lauter als zu Beginn. Valeri hoffte, dass sich sein Entführer als eine verbitterte Ex-Freundin herausstellen würde. Eine wutentbrannte Dame, die mit ihm eine offene Rechnung hatte, ihm aber letzten Endes nur einen Schrecken einjagen und ihn ein wenig demütigen wird. In Valeris vorletztem Film – wahrlich kein Meisterwerk – landete ebenso eine der Figuren in einem Teppich in einem Kofferraum. Kam der Furie von daher die Idee? Nach einiger Zeit blieb der Wagen ruckartig stehen, wodurch Valeri kurz rollte und dann wieder liegen blieb. Das Unwohlsein erreichte seinen absoluten Höhepunkt und er übergab sich endlich, was aber nicht so befreiend war, wie erhofft. Das Innere der Teppichrolle war eng und füllte sich schnell. Zunächst wurde sein Hals immer mehr von seiner warmen Magenbrühe bedeckt und dann auch sein Gesicht, sodass er sogar kurz Panik vor dem Ertrinken bekam. Die Nase füllte sich ebenso und dann ertönte das gleiche laute Geräusch von vorhin. Mit dem oben liegenden Mundwinkel konnte Valeri in der Kotzsuppe Luft schnappen und mit einem Auge erneut künstliches Licht erkennen. Der Kofferraumdeckel muss wieder geöffnet worden sein. War hier die Endstation?

Ein paar hundert Kilometer weiter westlich saß am Abend zuvor die kleine, blonde Kimberly in ihrem hellblauen Nachthemd mit einem Plüschhasen im Bett und musste wieder einmal an ihren Zimmernachbarn Howard denken. "In zwei Monaten feiern wir alle seinen dreißigsten Geburtstag in diesem verrückten Tollhaus", erinnerte sie sich. "Ich will mit meinem Geschenk nicht mehr so lange warten. Vielleicht gefällt es ihm gar nicht. Ich war noch nie in seinem Zimmer, in all den Jahren." Sie warf den Hasen zu Boden und erhob sich vom Bett. "Verdammt, was soll die Warterei, ich bin schließlich kein 14-jähriges Kind mehr, sondern eine erwachsene Frau. 22 schon!" Kimberly schnappte sich das halbvolle Tablettenröhrchen von der Kommode und tapste zur Tür. Sie schlich über den Flur. Draußen vor dem Haus schimpfte der Hausherr sehr laut mit jemandem, aber das interessierte sie in diesem Moment nicht. Ihr Herz klopfte fast so laut wie ihre Finger an Howards Zimmertür. Er antwortete nicht. "Ist er nicht da? Er ist doch um die Zeit immer in seinem Zimmer. Seit ich hier bin. Jeden Abend." Sie klopfte etwas lauter, aber es kam wieder keine Antwort. Ihre dünnen Finger glitten über eine goldbeschichtete Edelstahlkugel. Als ihr das Herz fast schon im Hals steckte, nahm sie die Kugel fest in die Hand, drehte sie, und verschaffte sich so Zutritt zu einem schummrigen Raum. Der schlaksige, blasse Howard saß mit dem Rücken zu ihr auf einem Gaming-Sessel an seinem Schreibtisch vor zwei Bildschirmen und hatte eine merkwürdige Apparatur auf seinem Kopf. Kimberly entspannte sich wieder. Die Grenze war nun endlich überschritten und ihr Herz wechselte wieder in einen normaleren Takt. "Es ist nur Howard. Mein alter Kumpel Howie. Der keiner Fliege etwas zu Leide tun kann."

Howards Apparatur versetzte ihn ganz woanders hin. Er stand in einer Ritterrüstung mitten am Hauptplatz eines Dorfes. Von allen Seiten versammelten sich die einfachen Leute um ihn. Geschundene Körper mit müden Gesichtern schleppten sich aus ihren Häusern, Hütten und Baracken zusammen auf die Straße. Alle versammelten sich um ihn: Die Unterdrückten, Marginalisierten, Ausgebeuteten, Geknechteten, Verachteten, Verspotteten, Sanktionierten und anderweitig Ausgegrenzten. Sie alle kannten den Plan und kriegsrelevante Informationen waren schon zur Genüge gesammelt. Fackeln, Sicheln, Heugabeln, Äxte und kleine Schwerter ragten gen Himmel. Eine Texteinblendung erschien am Horizont: "Der Tag ist gekommen, meine Freunde! Wir werden sie aus ihren Villen, Palästen und Tempeln treiben und auf die Straße werfen. Ihre Statuen zerstören und ihre Texte verbrennen! Bei der Asche unserer Eltern, für unsere Kinder und Kindeskinder: Heute werden wir alle zu Ruhm und Ehre gelangen! Die alte Welt wird auf den Kopf gestellt und kein Stein wird auf dem anderen liegen bleiben. Denn heute, meine Freunde …" Howard spürte eine warme Hand auf seinem Unterarm und zuckte erschrocken zusammen.

Er riss sich das Headset vom Kopf und sah die Hälfte eines vertrauten Gesichtes. Kimberly hielt sich die Hände vor den Mund und sah ihn mit ihren großen, aufgerissenen Augen an.

» Ich bin's nur. Ich wollte dich nicht erschrecken, tut mir leid! «, wimmerte sie sanft.

» Was machst du in meinem Zimmer, Kim? «

» Hier, bitte. Die wollte ich dir bringen. «

» Meine Kopfwehtabletten? Danke. Die hättest du mir morgen auch bringen können. «

» Äh … Ja, ich dachte, du brauchst sie vielleicht jetzt. Damit du einschlafen kannst. «

» Nein, alles gut. «

Howard war immer noch perplex und starrte Kimberly an, die schüchtern und verlassen im Raum stand.

» Hi, Kim. «

Kimberly lächelte.

» Hi, Howie. «

Es folgte ein Moment der Stille, den Howard durchbrach.

» Sonst noch was? «

Kimberlys Herz sank ein wenig weiter und hatte somit innerhalb weniger Minuten einen ordentlichen Weg zurückgelegt.

» Was ist das für ein Ding? «

Howards Augen leuchteten auf. Er freute sich sichtlich, von seiner Apparatur erzählen zu dürfen.

» Ein Virtual-Reality-Headset. Die Entwickler-Version. Nächstes Jahr werden drei verschiedene VR-Brillen auf den Markt kommen, von drei verschiedenen Herstellern. Drei neue Wege, wie wir aus dieser idiotischen, korrupten und langsam degenerierenden Welt flüchten können, die unsere Eltern uns hinterlassen haben. «

» Wie du schon wieder daherredest. So schlimm ist es doch nicht. Es geht uns doch gut. «

Als Kimberly mit ihren dünnen Fingern Howards schwarze Haare aus seinem Gesicht strich und zurücklegte, und dabei kurz seinen Kopf streichelte, wich der Zorn aus seinem Gesicht.

» Ich dachte, du möchtest auch raus hier? «, fragte Howard sanft.

» Ja, doch. Haben wir ja letztens d'rüber gesprochen. Was schaust du dir mit dem Virtual-Ding an? «

» Ich spiele mein Spiel. «

» Was für ein Spiel? «

» Setz es dir mal auf. «

» Darf ich? «

» Klar, Kim. Pass auf, ist verkabelt. «

Kimberly nahm sich einen Sessel aus der Ecke des Zimmers, platzierte sich neben Howards Gaming-Sessel und lies sich von ihm behutsam die VR-Brille aufsetzen.

» Heiliger Bimbam! «

Howard lachte und freute sich über Kimberlys überschwängliche Reaktion.

» Wo bin ich denn hier? «

» In meinem Spiel, das hab ich gemacht. «

» Das alles hast du gemacht? Hör auf. «

» Ja! Vom Gras auf dem Boden bis zum Himmel. Und vom Schloss hier links bis zum Ende der Stadt: Alles von mir. «

» Woooow. «

» Die ganzen Texte hab auch ich geschrieben. Alles was du machst, sehe ich parallel auf meinem LCD-Bildschirm. «

» Ich mache ja gar nichts, ich stehe hier nur rum. Die Leute schauen mich schon komisch an. «

» Hier, nimm den Controller. Probier einfach die Knöpfe durch. «

» Haha, dem hätte ich fast eine verpasst. Coole Sache, wirklich coole Sache. Was ist mit dem dicken Typen, der vor dem Schloss steht? «

» Das ist ein General des Königs. Den musst du töten. «

» Warum, was hat er mir getan? «

» Die Frage ist eher, was hat er nicht getan? Er ist dein Feind. «

» Okay, der muss wohl leider weg. «

» Genau. Daran führt kein Weg vorbei. «

» Wie mache ich das? «

» Deine Gefolgsleute stehen schon hinter dir. «

Kimberly lernte das Spiel überraschend schnell und befolgte alle Hinweise, die sie von Howard bekam.

» Ha! Gewonnen!! Du so "Pass auf, das ist voll schwer" und ich so "PAAAM!!" Weg isser! Was muss ich als nächstes machen? «

» Du könntest dir den nächsten General vornehmen, oder … «

» Ehh … Muss man hier immer kämpfen, oder kann man in deiner Welt auch andere Sachen machen? «

» Ja, schon. Es gibt ein Gesellschaftsleben, du kannst alle in deiner Stadt kennenlernen und mit ihnen sprechen. Mitten im Dorf gibt es sogar eine Kulturszene. «

» Darf ich mein Pferd irgendwie anpassen? Das sieht ein bisschen langweilig aus. «

» Nein, sorry, das geht noch nicht. Reite mal hier hin. «

» Galopp, Galopp, Galopp, reite mein Pferdchen! Auf zu neuen Abenteuern! «

» Ich mag deine Motivation. «

» So groß … So viele Leute hier … Da hast du bestimmt sehr lange dran gearbeitet. «

» Über die letzten zwei Jahre immer wieder, ja. «

» Also circa seit ich hier wohne. Und das hast du mir nie gezeigt? Darf ich dich was fragen? «

» Sicher. «

» Du hast ein eigenes Spiel gebastelt, mit einer riesigen Stadt, in der du mit allen sprechen kannst. Aber du lebst doch schon in einer großen Stadt, in der du mit allen sprechen kannst. «

» Meine Stadt ist besser. Du gehst doch auch nie raus. «

» Würde ich manchmal gerne, aber sie lassen mich nicht. «

» Ich weiß. Entschuldigung. Das sind richtige Bastarde. Kim, soll ich mit ihnen sprechen, vielleicht … «

» Nein! Lass das lieber. Mir geht es gut, mach dir keine Gedanken. Hey, ein Gasthaus! Hier drin ist es nett. Nette Musik. «

» Oh, danke. «

» Jetzt sag nicht, die ist auch von dir? «

» Jep. Hab ich mit einem Musikprogramm gemacht und ins Spiel eingefügt. «

» Wer ist die Tänzerin, die so tut, als würde sie singen? «

Howard antwortete nicht und sein Gesicht wurde rot, was Kimberly zum Glück nicht sehen konnte. Er räusperte sich.

» Wen meinst du? «

» Na die Frau da, du musst sie doch auf deinem Bildschirm sehen. Die auf dem Podest steht und so dahintänzelt. Sie bewegt ihre Lippen, aber es kommt nichts dabei heraus. «

» Ach so, die, ja. «

» Die sitzen und stehen alle um sie herum und schauen ihr dabei zu. Haha, die sieht aus wie ich. Moment mal. Howard, das bin ich! «

Kimberly drehte ihren Kopf samt Headset zu Howard, der starr auf seinem Stuhl saß. Sie nahm die VR-Montur von ihrem Kopf und schaute Howard an, der ihr verunsichert und verkrampft zulächelte. Kimberly sah sich die Tänzerin auf Howards Bildschirm an, wie sie sich grazil um die eigene Achse drehte und dabei angehimmelt wurde.

» Wunderschön «, sagte sie.

» F-Findest du? «

» Ja. Wie hast du mein Gesicht so gut hinbekommen? Hast du so ein fotografisches Gedächtnis? «

» Nein, glaube nicht. «

Kimberly freute sich.

» Die anderen Leute sehen irgendwie alle langweilig aus. Nicht böse sein Howie, dein Spiel ist wirklich beeindruckend. Ich meine nur: Im Vergleich zu mir sehen die alle … fast unterentwickelt aus. «

» Bei dir habe ich mir am meisten Mühe gegeben. «

Kimberly lächelte Howard an.

» Danke. Hey, der da sieht aus wie du «, sagte sie, während sie auf den Bildschirm zeigte.

» Mit dem habe ich früher gespielt, dann habe ich zu der Figur gewechselt. «

Howard zeigte Kimberly einen stattlichen Ritter in einer majestätischen Rüstung, mit großer Kinnpartie und blondem, lockigem Haar.

» Neee, der Typ geht gar nicht. Ich mag den anderen lieber. Der ist zwar kleiner, aber er ist spannender. Der sieht aus, als hätte er interessante Sachen zu erzählen. Sag, du hast mir keine Stimme gegeben und auch keinen Text, so wie allen anderen. Wieso? «

Kimberlys Stimme klang traurig und leicht beleidigt zugleich.

» Weil der König deine Stimme geraubt hab. «

» Wow. Kann der Magie? «

» Er nicht, aber seine Königin, die Hexe. «

» Verdammt. Kannst du meine Stimme bitte retten? «

» Alleine nicht, kann ich mir nicht vorstellen. Aber wir beide zusammen, vielleicht. «

» Können wir das Spiel gemeinsam spielen? «

» Ja, das geht. Hab aber nur ein Headset, einer muss am Bildschirm. «

» Wechseln wir ab? Du bist dran mit Headset, okay? «

Howard setzte sich das VR-Headset auf.

» Gerne. Du kannst die Tänzerin sein und ich bin der kleine Typ da, den du interessant findest. «

» Du bist du und ich bin ich. So möge es sein, Ritter Howard. Wusste der König, dass er eine Hexe heiratet? «

» In der Tat, Verehrteste. Es ist seine zweite Ehe. Im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte hat er einer Vereinigung mit dem Hexenweib aus dem fernen Osten zugestimmt. «

» Komischer Mann. Was ist mit seiner ersten Königin passiert? «

» Ähm … Ich bin gerade nicht in Stimmung, dir den Friedhof in meinem Spiel zu zeigen. «

» Oje, sie ist tot? «

» Ja, leider. Verdammt traurige Geschichte. «

Kimberly merkte, dass Howard aufrichtig traurig klang und glaubte dadurch zu verstehen, wer die erste Königin wirklich war.

» Oh … Ich habe sie zwar nicht gekannt … Sie ist gestorben, Howie, aber wir leben noch. Das könnten wir feiern, wenn du magst. Oder wir können auch was anderes gemeinsam machen. «

Howard griff schnell mit zwei Fingern unter sein Headset und wischte sich eine Träne von der Wange. Er räusperte sich.

» Ich hab den Friedhof in meiner Welt schon lange nicht mehr besucht. Wenn du mich begleiten willst … «

» Ja komm, reiten wir hin. «

Die Tänzerin schwang sich zu dem kleinen Ritter auf das Pferd und ritt mit ihm gemeinsam zu einem Friedhof in einem entlegenen Wald. Gemeinsam standen sie vor dem Grab der ersten Königin und schwiegen eine sehr lange Zeit. Kimberly hielt es irgendwann nicht mehr aus.

» Howie, schau mal her. «

Howard sah zu der Tänzerin, die aber nichts machte. Also setzte er sein Headset ab und sah, wie sich Kimberly in seinem halbdunklen Zimmer in ihrem hellblauen Nachtkleid um die eigene Achse drehte. Sie hatte die rechten Finger über ihrem Kopf und streckte die linke Hand zur Seite.

» Mache ich es richtig? Tanze ich so wie sie? «

» Viel schöner sogar. «

Kimberly strahlte.

» Howie? «

» Ja? «

» Ich muss dir was beichten. Deine Tabletten hab ich gestern heimlich vom Esstisch stibitzt. «

» Ich weiß. «

Kimberly hörte auf, zu tanzen.

» Du hast es gemerkt? Warum hast du nichts gesagt? «

» Wenn du Kopfschmerztabletten brauchst, sollst du welche haben. Ich kann mir immer neue besorgen, das macht mir nichts. «

» Du bist süß. «

» Äh … Danke. «

Howard fragte sich, warum Kimberlys Stimme immer höher wurde und inspizierte das Plastikröhrchen.

» Viel hast du ja nicht genommen. «

» Hatte kein Kopfweh. «

» Nein? «

» Nö, nie gehabt. Du, Howie … Die Tänzerin … «

» Ja? «

» Ihre Figur stimmt nicht. «

» Bitte ? «

» Ihr Körper. Das Gesicht ist super, aber der Körper ist so … Na ich weiß auch nicht, falsch eben. «

Kimberly nahm ihr Nachtkleid mit beiden Händen und zog es sich über ihren Kopf aus. Nun stand sie in ihrer ganzen, jungen Pracht und mit zugespitzten Brüsten vor Howard. Das letzte bisschen Unsicherheit verflog in ihr, als sie sah, wie Howard sie ansah und sein Kinn langsam nach unten wanderte.

» So, hier. Jetzt kannst du die Tänzerin nachbessern. «

Howard saß wie versteinert in seinem Gaming-Sessel. Kimberly ging zu ihm, kniete sich vor ihn, nahm den Controller aus seiner Hand und legte ihn auf den Schreibtisch. Dann legte sie ihre Hand auf seinen Arm.

» Bist du sicher? «, fragte Howard halb flüsternd.

» Ja. Du nicht? «

» Doch, aber … Was ist mit m… «

» Schhhhh. Genug geredet. Du musst nichts machen, wenn du nicht willst. Entspann dich einfach. «

Mike saß seelenruhig und zufrieden in seinem Wohnzimmer neben einer leeren Pizzaschachtel auf dem Sofa, pfiff eine alte Melodie und spielte auf einem Keyboard die Begleitung dazu. Dann wechselte er vom Pfeifen zum Singen und traf beinahe auch den höchsten Ton. Hach, was würde er alles geben, um Falsett singen zu können. Plötzlich platzte eine heftige Dissonanz in Gestalt einer Frau in Mikes menschengemachtes Paradies und die Harmonie verließ abrupt den Raum. Mike fiel vor Schreck fast das Keyboard vom Schoß.

» Lula?! «

Die in Jogginghose und Spaghettiträger-Top gehüllte Störerin hatte einen trüben Blick und schleppte sich in Mikes Richtung. Dabei hatte sie beide Hände voll zu tun: In der rechten lag ein Smartphone und dafür, dass sie in der linken eine riesige Dose mit "Monster Energy" transportierte, wirkte sie äußerst energiebefreit.

» Ey, Mike. «

» Was zur Hölle machst du im Nebenzimmer? Wie lange bist du schon da? «

» Äh … Seit Samstag. Hör mal, ich muss dir was Wichtiges … «

» Du bist seit Samstag hier und ich merke einen Tag lang ni… Was ist heute für ein Tag? «

» Montag. «

» … und ich merke zwei Tage nicht, dass du überhaupt da bist? Was hast du zwei Tage lang da drinnen gemacht? «

Lula präsentierte ihr Smartphone mit halb zerbrochenem Bildschirm als Antwort.

» Gespielt und so. Und mit Freundinnen geschrieben, die haben mir voll geholfen. Salzstangen sind da übrigens auch drin. Hab aber eh welche übrig gelassen. Ja, und dann hast so laut und so falsch gesungen, also bin ich raus und wollt's dir sagen. Uncool. «

» Selber uncool. Wo hast du bitte geschlafen? «

» Na neben dir im Bett, wie immer. Du schläfst so fest, du hast mich gar nicht bemerkt. «

» Ich bin davon ausgegangen, dass sich im Umkreis von zwanzig Meilen außer mir kein zweibeiniges Lebewesen befindet, und dann springst du auf einmal raus. Schreck lass nach. «

» Ah-hah. Gut, wenn du dich beruhigt hast, weil ich muss dir was Schlimmes sagen. «

» Was denn, ist da noch wer drinnen? Hat sich dein dämlicher Cousin auch im Nebenzimmer versteckt und hat bei mir im Bett gepennt? «

» Lass Gus in Ruhe. «

» Also, was ist so wichtig? «

» Ich will nicht noch länger in dieser Holzhütte versumpfen. «

» Versumpfen? Das Thema schon wieder. Baby, glaub mir: Der Sumpf, der ist da draußen. Hier haben wir alles was wir brauchen und noch viel mehr. «

» Ich fühl mich hier so … Bäh. «

» Dann schau eben nicht 15 Stunden am Tag auf dein Handy. «

» Mike, komm, seit ich zu dir gezogen bin, liegst du hier nur herum, frisst, schaust Filme und spielst Videospiele. «

» Das stimmt nicht, das hab' ich vorher auch schon gemacht. «

» Du arbeitest fast gar nicht mehr an deinem Filmmuseum. Und wer baut überhaupt ein Museum mitten ins Nirgendwo? Wer soll hier rauskommen und dir einen Eintritt zahlen? Nichts an dir und nichts, was du machst, ergibt Sinn. Ich kenne auch niemanden außer dir, der in einem Museum lebt. «

» Also erstens stehst du gerade in einem Wohnhaus-Schrägstrich-Privatmuseum. Zweitens: Was willst du mir sagen? Dass du endlich interessantere Leute kennenlernen willst? «

» Nein, ich will wen Normalen kennenlernen. Also ich mach's jetzt kurz: Es ist vorbei. Mit uns. «

» Ernsthaft? «

» Ja, ernsthaft. «

» Okay. Finde ich super, dass du das zur Sprache bringst. Mir ist nämlich schon aufgefallen, dass in letzter Zeit unsere negativen Interaktionen den positiven überwiegen. Oder wie siehst du das? « Dass Mike ihr sanft zulächelte, irritierte Lula dermaßen, dass sie bei ihrem nächsten Angriff etwas weiter ausholen musste.

» Du fragst, was ich dir sagen will? Ich will dir damit sagen, dass du ein Freak bist. «

» Danke. «

» Das war kein Kompliment. «

» Doch ist es, aber so weit bist du leider nicht im Kopf, um das zu begreifen. Und ich zweifle seit ein paar Wochen schon ernsthaft daran, ob du es jemals begreifen wirst. «

» Ja, was auch immer. Ich bin weg, Gus holt mich ab. «

» Für immer, will ich hoffen. «

» Fick dich, ernsthaft. «

» Schau, Mädel. Du bist ein Mensch, der jeden Morgen sein Horoskop liest, damit du weißt, was dich erwartet. Und dann steckst du im Gruppenchat mit deinen doofen Freundinnen den Kopf zusammen, die sich offenbar ausschließlich über ihre Beziehung zu ihren ebenso doofen Partnern definieren. Ich liebe es, wenn ihr alle stundenlang eure Hirne kurzschließt, in der Hoffnung dass ihr dabei irgendwann einen halbwegs intelligenten Gedanken zustande bringt.«

» Du bist ein selbstherrliches, selbstgefälliges, egozentrisches Arschloch. «

» Holla! Gleich drei Worte, die du sicher vorher noch nie in deinem Leben verwendet hast. Es gab wohl wieder ein Meeting. Respekt! Du, das hätte eh nie funktioniert mit uns. Du hast das erkannt und dich vor mir getraut, es zu beenden, gratuliere. Ernsthaft. «

» Du bist nicht der richtige für mich. «

» Stimmt genau, und das hefte ich mir ans Revers. «

» Was ist ein Revers schon wieder? «

Mike tippte sich auf die Brust.

» Ein Teil eines Anzugs, wo man Auszeichnungen anbringen kann. «

» Du bist so ein eingebildetes Arschloch, das ist nicht auszuhalten. Du hast noch nie in deinem Leben einen Anzug angehabt. «

» Da bin auch stolz darauf. Der Anzug ist die Uniform, in der die Männer in den Kapitalismus-Krieg geschickt werden. Ihr Frauen macht nicht mit und dürft euch individueller anziehen. Da spiele ich nicht mit. «

» Warum sagst du dann "Revers", wenn du keines hast? «

» Das ist eine Redewendung, du schlichte Gurke. «

» Du scheiß Homo! «

» Bitte keine schwulenfeindlichen Ausdrücke in meinem Haus. «

» Also lebe wohl, Mike Mangosu, du impotenter Schlappschwanz. «

» Du kannst gerne noch ein bisschen bleiben und mich beschimpfen. Das ist das erste Mal, dass diese Beziehung unterhaltsam und interessant ist. Merkst du das Feuer, Baby? Spürst du, wie es lodert? Hurra, wir leben! «

» Gus ist da. Also mach's gut, Freak. «

» Du auch, Lula. Fang mal an, dein Leben aufzuräumen und arbeite an dir selbst, vielleicht bist du dann irgendwann eine Frau, die mich wirklich interessiert und mich verdient. «

Lula ging durch die Vordertür nach draußen und Mike folgte ihr. Gus wartete in seinem alten Cabrio auf Lula.

» Cousin Gus! Du bist mein Held! Lass dich nicht von gesellschaftlichen Konventionen aufhalten. Leb dein Leben! Fick die Lula, wie und wie oft du magst! Eure Kinder werden ein toller Beitrag zum Genpool sein, ich sehe sie schon vor mir. «

Lula und Gus rauschten mit bitterer Miene ab und Mike entschied sich wieder einmal zum Lachen anstatt zum Weinen. Er kannte seine innere Uhr nach einer Trennung mittlerweile gut. Im Falle von Lula, die ab dem Tag an für immer weg war, rechnete er mit einem bis maximal zwei Tagen zwischen Betrübtheit und Traurigkeit. In seiner ersten Nacht als Single träumte Mike von einem stolzen Fels auf einer Insel, an der ein dreckiger, kleiner Kutter mit einer Prolo-Sirenenstimme vorbeizog. Der Kutter hatte einen großen weißen Spaghetti-Träger als Segel und transportierte in der Mitte einen bronzenen Kelch. Mike war sofort nach dem Aufwachen amüsiert darüber, wie schön unsubtil seine Träume waren. Es hätte nur noch gefehlt, dass der Kutter von "Monster Energy" gesponsert oder gar auf diesen Namen getauft gewesen wäre. Eine halbe Minute später war dieser Gedanke und der flüchtige Traum vergessen, und einen Tag danach auch Lula erfolgreich verdrängt. Doch leider sollte Mike bald erneut in seinem Inselleben gestört werden.

2. Das gebückte Kamel und der träge Löwe

Am übernächsten Morgen erwachte Marcus Delacroix in einer uniformen Vorstadtsiedlung in Austin in einem schneeweißen Doppelbett. Seine Verlobte Vicky blieb regungslos liegen, während Marcus in ein mit männlichen und weiblichen Pflegeprodukten überfülltes Bad huschte. Dort reinigte er nicht nur sein Kauwerkzeug gründlich – sogar mit Zahnseide – und duschte sich, sondern bearbeitete seine Haare mit mehreren Mitteln und kämmte sie schließlich zurück, bis sie wie eine Haube perfekt saßen. Danach finalisierte er seine körperliche Morgenroutine mit mehreren Wässerchen, von denen nicht mal Vicky wusste, für was sie alle gut waren. Noch angegossener als die Haare saßen das weiße Hemd und die dunkle Hose. Eine dünne, rosafarbene Krawatte rundete das Gesamtbild einwandfrei ab: Hier trat ein Mann der Tat ans Tagewerk.

Auf dem ansonsten leeren Flur gab er Vickys neuer, potthässlicher Designer-Stehlampe unabsichtlich einen Tritt. Oh nein! Das kalte Metall gab ein helles Geräusch von sich und Marcus sah, wie Vicky sich daraufhin im Bett räkelte. Das versetzte ihn in ziemliche Panik, hatte er seiner Herzensdame doch versprechen müssen, sie in der Früh nie wieder aufzuwecken – es sei denn, er würde etwas "Megatolles" für sie bereithalten. Um einer erneuten Konfrontation aus dem Weg zu gehen, setzte Marcus zur Flucht an. Obendrein würden Überraschungsgeschenke, die der aus einer wohlhabenden Akademikerfamilie stammenden dunkelblonden Schönheit würdig wären, seinen aktuellen finanziellen Rahmen sprengen.

Im Wohnzimmer lag noch mehr potentiell Explosives ganz offen herum, in Form des "Happy Wife, Happy Life"-Katalogs. Marcus machte kurz Halt und stellte mit Grauen fest, dass er mehr oder minder auf Seite 30 und 31 dieses Katalogs lebte. Dieser seltene Moment des kontemplativen Innehaltens wurde ihm zum Verhängnis, denn Vicky hatte es mittlerweile bis zum Kühlschrank geschafft und mit » Mrgn. Bist du noch da? « ihren ersten Konversations-Fangarm ausgeworfen. Marcus hasste sich in dem Moment, denn nur noch zwei Meter hatten gefehlt und er wäre bei der Tür und draußen gewesen.

» Guten Morgen, Vic. Ja, ich muss weg. Schmitt schreibt mir gerade, dass wir einen wichtigen Fall an Land gezogen haben. «

Vicky schien vom einen auf den anderen Moment aufzuwachen und schaltete auf einen Redefluss um.

» Und er will dich dafür? Dann knie dich rein! Vielleicht bekommst du endlich eine Beförderung und wir können raus aus der Gegend. Ich hab dir doch erzählt: Victor und Marion sind Richtung Innenstadt gezogen. Da wo die jetzt wohnen, gibt's tolle Restaurants, tolle Shops … «

Marcus setzte zu einem seltenen Guten-Morgen-Kuss an, wurde von Vicky aber mit beiden Händen abgeblockt.

» Nicht um die Zeit, Marcus. «

» Sorry, ich vergaß. «

» Ja, und in unserer Siedlung? Ein Haufen alte Leute und ein paar Buffet-Schuppen. Oh, und ich wollte eigentlich nichts sagen … «

» Das wär mal was «, flüsterte Marcus zu sich selbst.

» Hast du was gesagt? «

» Nein, meine Traube, gar nichts. «

» Also als wir Papa und Mama in Houston besucht haben am Wochenende … Wie wir mit deinem uralten Honda vorgefahren sind. Das Gesicht von meinem Vater werde ich so schnell nicht mehr vergessen. «

» Vic, ich muss los, tut mir leid. «

» Marcus, ich sitze den ganzen Tag alleine hier rum und du bist nie da. «

» Bitte nicht das jetzt wieder, Vicky. Bitte. Ruf die Marion an, mach was du willst. «

» Die letzten Male wolltest du nicht mit mir diskutieren, weil du nach der Arbeit zu müde warst. Jetzt bringe ich das extra wegen dir am Morgen zur Sprache, und es ist dir auch nicht Recht. Also was willst du von mir? «

» Weißt du, was ich an dir toll finde, Vicky? «

» Na alles, hoffe ich. «

» Ich find's toll, dass ich dir nie einen Wunsch von den Lippen ablesen muss, weil du immer alles so überdeutlich sagst. Das kannte ich vorher gar nicht. «

» Du bist in der Früh immer so ätzend. Deshalb schlafe ich auch sonst immer bis Mittag. «

» Aber warum denn? Ganz und gar nicht, meine Liebe. Ich bin ausgeschlafen, frisch und fröhlich. Wir sprechen noch darüber, versprochen. «

» Von deinen Versprechen kann ich mir nichts kaufen, Marcus. Geh jetzt bitte, ich will mit meinem Vater telefonieren. «

Marcus wollte endlich die Tür hinter sich schließen, was Vicky veranlasste, ihren Lautstärkeregler nach oben zu drehen.

» Ohne Verabschiedung, einfach so?! «, rief sie. » "Fick dich, Vic", oder was soll das jetzt? «

Marcus biss die Zähne fest zusammen und schaffte es dann zu sagen:

» Ich wünsche dir einen wunderschönen Tag. Grüß deinen Vater von mir. «

» Ja, danke. Bye «, entgegnete Vicky trocken.

Marcus' Reifen drehten durch, dann gewannen sie Haftung und er rauschte ab. Sofort begann er, mit seiner Windschutzscheibe zu schimpfen.

» Wie wäre es dir am genehmsten, Vicky? Wenn ich alle großen Fälle im Büro mache, achtzig Stunden die Woche arbeite und irgendwie gleichzeitig die ganze Zeit zu Hause bin? Du blödes, faules Luder! An mich immer die Ansprüche stellen UND an die Eltern UND an alle anderen. Aber an dich selbst? NEIN! Das wär zu schwierig. Daaaas würde unser kleines Täubchen viel zu sehr belasten. Alles muss ich machen, ALLES! Ruf deinen Vater an, BITTE! Heul dich wieder bei ihm aus. Ich werde mich demnächst bedanken beim lieben Papa. DANKE, SIR! Danke, dass sie ihrer kleinen Prinzessin drei Jahrzehnte lang ihren Arsch nachgetragen haben. Dass sie ihr alles gekauft haben und alles für sie gemacht haben. Danke, dass sie bis zum kleinsten Hindernis alles aus ihrem Weg geräumt haben. Und DANKE, dass ich das jetzt ausbaden darf. DANKE für diesen durch und durch unfähigen Menschen. Ein einziges Mal bitte ich dich, Vicky, dass du eine dringende Überweisung machst. "Hilfe Marcus, ich bin zwar fast 30 aber trotzdem zu blöd für eine Überweisung. Und es ist 2015, aber e-banking ist mir viel zu hoch! Kannst du mir bitte noch die Schuhe binden, damit ich nicht auf mein spitzes Näschen falle?" DANKE dir, Vicky! In meiner Freizeit rede ich gerne mit herablassenden Bankangestellten, die mich dann für deine Fehler belehren wollen. Und wenn du nur noch ein Mal, EIN EINZIGES MAL was von "instabilen Verhältnissen" in Verbindung mit meinem Gehalt quasselst … Instabile Verhältnisse AM ARSCH! Soll ich darüber lachen oder weinen, Vicky? Instabiler wie du geht nicht! Einmal Sonne, einmal Regen. Einmal so, dann wieder so. Manisch-depressiv nennt man das! Fuck! «

Marcus merkte erst jetzt wirklich, wie sehr seine Schläfen schmerzten und dass er über der Geschwindigkeitsbegrenzung unterwegs war. Er fuhr wieder langsamer und atmete drei Mal tief durch. "Riecht schon etwas modrig hier drin, der Neuwagengeruch von Schmitts Audis wäre mir viel lieber." Marcus schluckte den restlichen Ballast wieder einmal runter und merkte dann, dass sein Lenkrad und auch die Armaturen von einigen seiner Spucktröpfchen frisch benetzt waren. Er fuhr rechts ran, holte aus dem Seitenfach der Tür einen Spray und das kleinste von drei Wischtüchern heraus, und kümmerte sich darum.

Eine Stunde später sah die Welt für Marcus schon um einiges besser aus. Er hatte ein gutes Gespräch mit dem Big Boss Warren Schmitt und vor allem hatte er von diesem die bislang wichtigste Mission seiner noch jungen Karriere erhalten. Er war auf dem Weg zu seiner ersten Zielperson, die fast am äußersten Rand von Austin wohnte.

» "Uuuuuh, schaut mich an, ich bin im mittleren Management. Hab ein eigenes Büro bekommen." Gratulation, Victor. Fährst mit deinem neuen Lincoln vom Papa in die Arbeit und bist dann der dritte Kasper von links in deiner Arschlochfirma. Was ich gerade so mache, fragst du? Nun, lieber Victor: Ich wurde beauftragt, einen verschwundenen Hollywood-Regisseur zu finden. Ganz dicker Fisch, ganz große Nummer. Richtiger High-Profile-Shit ist das. Kannst du dir das überhaupt vorstellen? Glaube nicht. Geh nur weiter Sachen eintippen auf deinem 2000-Dollar-iMac, irgendwann kommt sicher mal was raus dabei, keine Sorge. «

Aus dem Nichts ertönte Vickys Stimme: "Marcus, Schatz, du hast dein Ziel erreicht!" Marcus stoppte den Wagen. Vor einem Jahr fand er die Idee noch süß und lustig. Mittlerweile bereute es Marcus jedoch außerordentlich, dass er auf Vickys Wunsch ihre Stimme aufgenommen hat, um sie danach für sein Navigationssystem zu verwenden. Aber hätte er in den Einstellungen wieder auf die Standard-Frauenstimme zurückgewechselt, hätte das nur wieder mächtig Ärger gegeben. Zu allem Überdruss war Vicky wieder mal im Unrecht: Hier wohnte weit und breit niemand. Obwohl, doch: Ein relativ großes Holzhaus stand vor einer kleinen Hügellandschaft am Horizont, an dem die Morgensonne sich erhob. Texas vermochte es einfach immer wieder, verdammt idyllisch zu sein, so auch hier. "Ob meine 32-jährige Zielperson wirklich dort wohnt? Sieht eher nach dem Rückzugsort eines ungeselligen Pensionisten aus." Es gab nur einen Weg, das herauszufinden. Keine Zeit mehr für Idylle, Bewegung war angesagt. Marcus fuhr bis zu dem überraschend neuwertigen Holzhaus vor, stellte den Motor ab und stieg aus dem Auto in den Sand.

Auf der Veranda war keine Klingel und auch keine Glocke angebracht. Lautes Klopfen an der massiven Eingangstür brachte nichts. Marcus beschloss, durch die Fenster zu schauen, konnte jedoch nur geschlossene Vorhänge erblicken. Musik kam von weiter hinten. Er rief zweimal » Hallo «, während er an der Außenwand entlang hinters Haus ging, und somit immer weiter in ein fremdes Grundstück vordrang. In Momenten wie diesen wünschte sich Marcus eine Handfeuerwaffe. Schmitt meinte jedoch, dass er sich eine Waffe erst verdienen müsse. Beweisen wollte sich Marcus auf jeden Fall, aber dabei keine Zahl in einer Statistik werden. "Immerhin sitzt in Texas fast jeder hundertste Mann im Gefängnis. Die meisten davon wegen schwerer Körperverletzung, die im Schnitt alle acht Minuten stattfindet. Wenigstens wird trotz der vielen Waffenbesitzer nur alle sieben Stunden jemand umgebracht." Hinter dem Haus war niemand zu finden. Eine sanfte Country-Ballade ertönte von einem USB-Stick aus einer Anlage. Endlosschleife und Stromversorgung. Theoretisch könnte die Musik seit Monaten laufen. Das Gras war schon so lange, dass es sich hingelegt hatte. "Die Fußabdrücke in der Wiese können nicht sehr alt sein. Im Pool schwimmen einige Blätter. Am Boden des Beckens ist Schmutz, aber nicht übermäßig viel. Bis vor Kurzem hat hier noch jemand gewohnt, oder er nimmt es mit der Instandhaltung seines Eigentums nicht so genau. Ich muss sicher gehen, ob ich hier richtig bin." Klopfen an der nicht weniger massiven Hintertür brachte ebenso kein Ergebnis. Marcus meinte, er hätte sein Glück einstweilen genug herausgefordert und beschloss, weiterzufahren. Wenn nötig, würde er Schmitt anrufen um zu fragen, wie gesichert die Informationen bezüglich des Wohnorts seiner Zielperson waren.

Ein Mann öffnete ruckartig die Vordertür des Holzhauses. Er war in Marcus' Alter und hatte ein rotes Hawaiihemd über einem babyblauen Shirt an, das einen kleinen, aber deutlichen Fettschwimmreifen zurückhielt. Basierend auf seinem ersten optischen Eindruck hatte Marcus schnell analysiert, dass von diesem Mann wenig bis gar keine Gefahr ausgehen wird, also entspannte er sich wieder etwas. "Der sieht weniger nach krimineller Energie und mehr nach Paradebeispiel für männliche Domestizierung aus." Das offenbar aus einem Nickerchen entrissene Dickerchen stand vor ihm und begrüßte ihn mit » Was zur … Von überall tauchen Leute auf. «

» Schönen guten Tag. Ich hoffe, ich störe nicht. «

» Oh nein. Hey, ich hab wirklich null Interesse an Jehovas Königreich. Mach's gut! Und gebt den kranken Kindern gefälligst ihre Medikamente! «, sagte er, als er sich wieder nach drinnen bewegen wollte.

» Ich bin nicht von den Zeugen. «

Der Wahlhawaiianer drehte sich wieder um.

» Sorry, ich dachte mit deiner Aufmachung … «

» Michael Mangosu? «

» Kein Geringerer. Und wer bist du? «

» Marcus Delacroix. «

» Marcus "de la Croix", was macht du auf meiner Veranda? «

» Darf ich reinkommen? «

» Nein. Worum geht's bitte? «

» Okay. Es könnte ein paar Minuten dauern, aber von meiner Seite kein Problem. «

» Ein paar Minuten? Nah. Ganz konkret: Was. Er. Wollen? «

Marcus räusperte sich und richtete sich die Krawatte.

» Nicht mal zwei Monate lang kann man in diesem Land seine Ruhe haben «, sagte Mike. » Ich will nicht unfreundlich sein, aber … «

» Antonio Valeri ist verschwunden. «

Mikes Miene wurde todernst und seine Stimme auf einmal schnell und fordernd.

» Valeri? Wieso? Wer bist du? Wo ist Valeri? «

» Mein Name ist Marcus Delacroix. Antonio Valeri a.k.a. Anthony Valentine wird seit Montagabend vermisst. Wo er ist, das will ich herausfinden. «

» Hier ist er nicht. Warte kurz. «

» Wen rufst du an? «

» Valeri, am Handy. «

» Das haben wir schon probiert. Er hebt nicht ab. «

» Na ja, mich kennt er. Bei dir hebt vielleicht nicht jeder ab. … Scheiße. Weder Mobil noch Festnetz. Was ist heute für ein Tag? «

» Mittwoch. «

» Okay. Vielleicht macht Valeri einfach irgendwo Urlaub. Er muss sich ja bei niemandem mehr abmelden. Der Mann hat gerne seine Ruhe, so wie ich. Und müssen nicht 48 Stunden oder so vergehen, bevor irgendwelche Behörden aktiv werden? «

» Nein, das ist falsch. Das gilt weder für die Polizei und schon gar nicht für private Ermittler. «

» Du bist Privatdetektiv? Cool. Auf eigene Faust? Ein einsamer Streiter, alleine gegen den Rest der Welt? «

» Auf andere Faust. Kommst du mit? «

» Ja, klar. «

» Du, wir fahren vielleicht länger weg. Hast du alles erledigt, alles abgedreht? «

» Ja, Herr Papa. «

» Das Radio hinterm Haus ist noch eingeschalten … Sohnemann. «

» Das bleibt so. Die Vögel und die Grillen stehen drauf. «

Marcus stieg wieder in seinen Honda ein, doch Mike zögerte und blieb stehen.

» Michael? «

» Mr. Delacroix, du bist von keiner Regierungsbehörde, oder? «

» Nein. Warren Schmitt Detektivbüro. «

Mike schaute auf seinem Handy nach.

» Hast du einen Ausweis? «

» Einen Personalausweis. «

» Keine Dienstmarke? «

» Nein. «

» Nette Homepage. An der mobilen Version müsst ihr aber noch arbeiten. Erzähl mir was von Antonio Valeri. «

Marcus seufzte.

» 76 Jahre alt, geboren in Sorrent, Italien. 162cm, Drehbuchautor, Regisseur, Kettenraucher, drei Mal verheiratet. Seit 1985 wohnhaft in den USA. Letzte bekannte Adresse in Lake Las Vegas, Nevada. Seit 1986 amerikanischer Staatsbürger. In den 1960ern hat er in Italien Kunstfilme und Dramen gedreht, danach ist er zu Mittelklasse-Genrefilmen gewechselt, dann hat ihn Menahem Katz nach Hollywood geholt … «

» "Mittelklasse", pah. Hast du eine Ahnung. Okay, und jetzt irgendwas, das nicht in der Wikipedia steht. «

Marcus rang nach einer Antwort.

» Wie hieß seine dritte Frau? «, fragte Mike.

» Perla. «

» Wann ist die gestorben? «

» Vor einem halben Jahr. «

» Wer ist sein allerbester Freund auf der Welt? «

» Äh … War das nicht auch Perla? «

» Ich bitte dich «, höhnte Mike.

» Menahem Katz? «

» Oy! Letzte Chance. «

Etwas entnervt ging Marcus ein Licht auf.

» Ach so, ich weiß schon, wie dumm von mir: Michael Mangosu. «

» Das war jetzt aber knapp für dich «, sagte Mike und setzte sich auf den Beifahrersitz. Er reichte Marcus die Hand.

» Mike. «

Marcus nahm sie an.

» Marcus. «

Er startete den Wagen.

» Übrigens, Mike: Die Zeugen Jehovas nehmen sehr wohl Medikamente. Sie lehnen nur Bluttransfusionen ab. Was du meinst sind "Christian Scientists." Das sind die Leute, die versuchen Krankheiten wegzubeten und die ihren Kindern so lange die notwendigen Medikamente verweigern, bis sie sterben. «

» O-Kay. Freut mich auch, dich kennenzulernen, Marcus. «

Marcus trat auf das Gaspedal und die zwei fuhren los.

» Du fährst mit Gangschaltung, statt mit Automatik? «

» Ja. Ich hab' gerne was zu tun beim Fahren. «

» Aha. Muss es auch geben. Vielleicht will es der alte Haudegen noch mal wissen und dreht irgendwo sein letztes Meisterwerk. Also ich würd' mir keine Sorgen machen. «

» Unser Auftraggeber sieht das anders. «

» Schmitt? «

» Schmitt ist mein Boss. Der Auftraggeber hat Schmitt kontaktiert, der hat mir den Fall anvertraut. «

» Bist du Schmitts rechte Hand? «

» Äh … «

» Also "Nein", verstanden. «

» Du bist kein Fan von Smalltalk, wie ich merke. «

» Überhaupt und gar nicht. Du etwa? Bei medium talk fängt's überhaupt erst an, spannend zu werden. Smalltalk ist für kleine Menschen. Und du hast mir doch beim Einsteigen gleich mal von sterbenden Sektenkindern erzählt. «

» Was hast du vorhin gemeint, als du gesagt hast, dass man keine zwei Monate Ruhe haben kann? «

» Na ja, vorgestern hatte ich mir eigentlich vorgenommen, zwei Monate durchgehend niemanden zu sehen. «

» Was hat dich zu dieser Entscheidung geführt? «

» Die Trennung von meiner Freundin. «

» Oh, tut mir leid. «

» Egal. Schnee von gestern. Ich hab' sie rausgeworfen. «

Marcus grinste und gab sich Mühe, das zu verstecken.

» Wirklich, hast sie einfach so vor die Tür gestellt? «

» Na ja, so was zeichnet sich ja ab. Ich hab wirklich eine Engelsgeduld, aber wenn die zu lange strapaziert wird, dann kann ich auch irgendwann nicht mehr. Die kommt zu mir, nimmt den ganzen Ballast ihres Lebens mit, wirft ihn mir vor die Füße und erwartet dann, dass ich ihr idiotisches, verkorkstes Leben aussortiere. So als ob das meine Aufgabe wäre. Egoistisch und dumm. Wenn du es alleine nicht schaffst, glücklich zu werden, dann verlange erst gar nicht, dass dich dein Partner glücklich macht. «

Marcus' Grinsen verschwand und er wurde nachdenklicher.

» Da ist was dran. «

» Kein Material für eine Beziehung. Ohne Selbstreflexion. Vielleicht war sie unglücklich, weil ihr Leben den falschen Rhythmus hat. Ich will die Ruhe, sie wollte mehr Action. Ich lebe am äußersten Rand von Austin, sie wollte so weit ins Zentrum wie möglich. Aber ich mag diese Stadt, wirklich. Eine chillige, weltoffene Studentenstadt, und das mitten in Texas. Das gibt's nur einmal auf der Welt. «

» Bisschen zu viel Studenten mittlerweile. «

» Generell viel zu viele Menschen. In der Innenstadt halte ich's nicht mehr aus, da möchte ich mit einer Machete durchgehen und alle umsäbeln. Die ganzen Hipster aus Kalifornien ziehen jetzt hier her und treiben die Preise in die Höhe. Der Hype kommt uns teuer. Egal, jedenfalls ist meine Ex scheiße. Das hätte ich aber bei ihrer engen Musikwahl schon erahnen müssen. Diese Frau ist so stumpf wie die Musik, die sie hört. Unkultiviert. Kein Sinn für Filme, für gute Musik, für meine wundervollen Keyboardkünste … «

» Du spielst Klavier? «

» Ja, aber nur noch zu Hause. Die Bars und Clubs in Austin sind nett und alles, bin gerne dort aufgetreten. Aber wenn noch ein einziges Mal ein Typ zu mir gekommen wäre, der sich "Piano Man" von Billy Joel wünscht, hätte ich ihm eine reinhauen müssen. «

» Die Gigs waren aber nicht dein Job, oder? «

» Nein, zum Spaß. «

» Was arbeitest du, wenn ich fragen darf? «

» Du darfst mich alles fragen. Nichts. «

» Wie, nichts? «

» Ich bin raus aus dem Hamsterrad. War nie glücklicher. «

» Und wie kommt das Geld rein? «

» Es kommt fast nie was rein. Hier und da mal ein Tantiemen-Scheck. Ich lebe von dem Geld, das ich schon verdient habe. «

» Du hast einen einzigen Roman geschrieben und ein paar Jahre als Drehbuchautor gearbeitet. «

» Ah, zu mir hast du auch ein Briefing bekommen, fühle mich geehrt. Ja, stimmt. Das Buch hat fast nichts eingebracht. Die Hollywood-Industrie hat sich nicht für meine genialen Werke interessiert, die waren nicht massentauglich. Ich durfte die meiste Zeit nur miese Manuskripte überarbeiten. Die paar Mal, als sie wirklich einen Film oder einen TV-Pilot draus gemacht haben, wurde ich im Vorspann und Abspann nicht mal namentlich erwähnt. «

» Das ist blöd. «

» So ist das eben, hab' ich hinter mir. Richtig gute Kohle kam dann mit Freedom Freaks. «

» Die Reality-TV-Serie? Wundert mich nicht. Je dümmer und flacher, desto mehr Leute kann man dafür begeistern. «

» Da hast du einerseits Recht, andererseits: Pass auf, was du sagst. Ich war immerhin Co-Creator der Serie. Die ersten zwei Staffeln waren innovativ und gut. «

» Und dann? «

» Dann sind die Anzugleute gekommen und haben es ruiniert. Hast du's mal gesehen? «

» Eine einzige Folge. Die Vicky war damals ein Fan, für ungefähr eine Woche. Ich habe sie gerade kennengelernt und sie hat mich praktisch gezwungen, mir eine Folge anzusehen. Ich hab mich schnell mental ausgeklinkt, um ehrlich zu sein. Diese Charaktere fand ich … ziemlich unerträglich. Waren die alle echt? «

» Einhundertprozentig. Alle Aussteiger, Gegen-den-Strom-Schwimmer und Systemverweigerer die du da gesehen hast, waren echt. Aber es war "Scripted Reality." «

» Also eine Mischung aus echten und geschriebenen Dialogen. «

» Genau. Ich und die Produktionsfirma hatten es als Dokumentation geplant, dann hat sich der Sender durchgesetzt und es wurde eine Serie. Und immer, wenn etwas groß und erfolgreich wird und viel Geld im Spiel ist, werden allerlei Arschlöcher angezogen wie Fliegen von der Scheiße. Plötzlich wollten alle mitreden und mitnaschen, und schließlich haben sie mir mein Baby weggenommen. «

» Die "Anzugleute." «

» Auf die hat man leider gehört, weil sie einen Anzug anhatten und damit Kompetenz ausstrahlten, die sie eigentlich nicht hatten. Also stand ich vor der Wahl: Entweder ich verstümmle mein ursprüngliches Projekt aktiv selbst mit, um so die Anzugmenschen und die Werbeindustrie zu befriedigen, oder ich werde lieber doch kein Arschloch und verkaufe meine Seele nicht stückchenweise für viel Geld. «

» Wenn du es so formulierst, klingt es nicht mehr ganz so schwer. Du bist ausgestiegen. «

» Jo, hab mich von meinem Vertrag auszahlen lassen und war weg. Aber weißt du, was schade ist? «

» Was? «

» Ein Arschloch bin ich trotzdem geworden. «

Marcus lachte.

» War vielleicht am besten so «, sagte er. » Komfort ist der Feind von Erfolg. Du musst immer hungrig bleiben, dann kannst du viel mehr erreichen. «

» Für einen halben Tag hatte ich alles erreicht, was ich jemals wollte. Meine Ex war weg und ich hatte meine heilige Zen-Ruhe. Dann hast du geklopft. «

» Oh. Verzeihung, der Herr. «

» Ist ja nicht deine Schuld. Offenbar hatte das Universum einen anderen Plan für mich. Ich muss, oder wir müssen, Antonio Valeri finden. «

» Das klingt so, als wäre es deine letzte Mission. Wenn wir Valeri finden, hast du dann alles erreicht, was du vom Leben wolltest? «

» Na ja, schon «, sagte Mike. » Hab doch alles, was ich will. Mehr zu wollen wäre verwegen. «

» Nach einem Buch und einer Serie soll's das mit 32 schon gewesen sein mit der Karriere, oder wie? «

» Wer braucht Karriere? Weißt du, was der absolute Hammer ist? Ich hab mir das mal ausgerechnet: Wenn ich meinen Konsum auf das allernötigste reduziere, nirgendwo hinfahre und nichts mache, und jeden Tag eine Zwei-Dollar-Tiefkühlpizza mit einer Vitamintablette esse, dazu Wasser oder Billiglimo trinke … «

» Bist du in sieben Jahren tot. «

» Nein, du Depp. Dann muss ich nie wieder arbeiten gehen, für den Rest meines Lebens! «

» Der sieben Jahre beträgt. «

» Ha-ha. Neider. «

» Faulpelz. «

» Streber «, schimpfte Mike.

» Okay, ernsthaft: Eine Karriere macht man ja nicht nur für Geld. «

» Sondern? Damit mich andere anschauen und bewundern? Frauen sind da viel intelligenter als wir, wenn es um Berufswahl und so geht. Die ruinieren nicht ihren Körper und ihren Geist für eine Karriere, sind gesünder und leben länger. Weil genau das ist die Idiotie des Mannes der alten Schule. Strampeln bis zum Umfallen und allen zeigen wollen, was man nicht für ein harter Hund ist. Und selbst wenn man alles hat, was man wollte, es hört nie auf. Bis dann entweder die Erleuchtung kommt, oder der Tod. Da mache ich doch nicht mit, bin ja nicht mein eigener Feind. «

» Wenn du meinst. «

» Und wie ich das meine. «

» Bevor wir zu Schmitt fahren, muss ich kurz noch zu Hause vorbei. «

Marcus fuhr vor sein Haus und stellte den Motor ab.

» Warte bitte hier. «

» Okay, Boss «, sagte Mike und zwinkerte ihm zu.

Marcus stieg aus dem Wagen und Mike fragte sich, wie seine neue Bekanntschaft aus der Reihe von identischen, weißen Reihenhäusern seines sofort erkennen konnte. Er sah, wie Marcus von einer Frau mit verschränkten Armen empfangen wurde, die anfing zu gestikulieren und mit ihm diskutierte. Mike konnte nur Bruchstücke von Vickys lautem Gezeter verstehen.

» Wie lange, hast du gesagt ?! «, rief sie.

» Du weißt doch, dass ich bei dem Job unregelmäßige Arbeitszeiten habe «, sagte Marcus.

» Ja, sehr toll. Ich soll mich wahrscheinlich noch darüber freuen, dass du tagelang weg bist, oder was? Du bist so unsensibel, wirklich. Ich würde ja gerne nach oben ins Schlafzimmer gehen und die Tür hinter mir absperren, aber halt, Moment! Hier gibt es gar keine Stiege und kein nach oben, und das Schlafzimmer ist gleich neben der Wohnküche! Danke für alles, Marcus! «